Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken

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Kapitel 8: Seidenstücker als Girimânanda


von Ulrich Steinke

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Zitierweise / cite as:

Steinke, Ulrich: Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken. -- Kapitel 8: Seidenstücker als Girimânanda. -- Fassung vom 28. Juni 1996. -- URL: http://www.payer.de/steinke/steink08.htm. -- [Stichwort].

Letzte Überarbeitung: 28. Juni 1996

Anlaß: Magisterarbeit, Universität Tübingen, 1989

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8.0. Übersicht



Seidenstücker stimmte grundsätzlich mit Grimm's Lehrauslegung überein, jedoch nicht mit dessen Pfadbeschreitung. Aber noch beging er den Pfad. Er nahm einen religiösen Namen an [ob die Namensannnahme mit einer Zeremonie verbunden war, weiß ich nicht] und veröffentlichte als Girimânanda (siehe Anhang) zwei kleine Büchlein, die konkrete Anleitungen gaben, wie man sich im buddhistischen Verhalten schulen konnte.

Girimananda: Buddhistische Predigten von Girimânanda : 1.Predigt: Eine erste Einführung in die Lehre. -- Augsburg: Sphinx-Verlag, 1923. -- 24 S.

Girimananda: Der weltliche Anhänger des Buddha : Winke und Unterweisungen für buddhistische Laien. -- Augsburg: Sphinx-Verlag, 1923. -- 26 S.

Das eine, "Eine erste Einführung in die Lehre" sollte den Auftakt bilden zu einer Serie "Buddhistische Predigten", die in Abständen von einem bis zwei Monaten erscheinen sollten (was jedoch nie geschah). Sie waren nicht als Vorträge oder Vorlesungen gedacht, sondern als

"unmittelbare[r] Niederschlag eines tiefen religiösen Empfindens und Durchdrungenseins, wie es ein Mensch in jahrelanger Vertiefung in die Lehre des Buddha erleben kann."
[Umschlagseite innen].

"Echte Religiosität ist nicht eine Verfassung des Geistes, die sich hin und wieder im Leben, sagen wir an den Feiertagen einstellen und auswirken soll sondern ein beständig lebendiger Zustand des Gemütes, der das ganze Leben des Menschen erfaßt und durchzieht, wie der Duft einer Blume die Luft nach allen Seiten durchdringt. Mit anderen Worten: Religion darf nicht eine Begleiterscheinung unseres Lebens, sondern unser ganzes Leben selbst soll Religion, soll von religiösem Geiste durchtränkt sein."
[S. 19].

Die Predigt darf als gelungen bezeichnet werden, weil sie die wesentlichen buddhistischen Grundgedanken klar und präzise darlegt und die Ideale erstrebenswert macht.

Nicht weniger erbaulich und vor allem hilfreich ist Girimânanda's zweites Büchlein, "Der weltliche Anhänger des Buddha". Unter anderem wird darin sinnlichen Naturen empfohlen, sich Leichenbetrachtungen vorzustellen. [S. 23].


8.1. Leichenbetrachtungen


Folgendes Erlebnis zeugt davon, daß Seidenstücker ein tiefreligiöser Mensch war, der die empfohlenen Übungen selbst erlebt hatte:

"Als Einführung in die Phänomenologie der Vision sei ein Erlebnis berichtet, das der Verfasser vor einigen Jahren hatte und das nicht nur an sich in mehrfacher Hinsicht sehr lehrreich, sondern auch dazu angetan ist, auf den Charakter einiger buddhistischer Meditationsübungen ein äußerst helles Schlaglicht zu werfen. Da ich an jenem Tage körperlich ein wenig unpäßlich war, hatte ich seit früh keine feste Nahrung zu mir genommen; dieser Umstand sei besonders vermerkt, weil das Fasten vermutlich für das Zustandekommen des Phänomens nicht ohne Bedeutung gewesen ist. Seit etwa zehn Uhr vormittags bis zum Einbruch der frühen Dämmerung hatte ich mich fast ausschließlich mit einem berühmten buddhistischen Lehrtext - dem Satipa.t.thâna-Sutta beschäftigt, in dem bekanntlich u.a. die sogen. »Leichenbetrachtungen« enthalten sind, also jene Betrachtungen, in denen der Zerfall des menschlichen Leichnams in den verschiedenen aufeinander folgenden Stadien dem Meditierenden vorgestellt wird. Und gerade diesen »Leichenbetrachtungen« hatte damals meine Aufmerksamkeit in der Hauptsache gegolten. Als es dämmerig wurde, brach ich, ohne Licht zu machen, meine [362] Arbeit ab, um ein wenig auszuspannen. Ich setzte mich auf einen Stuhl so nieder, daß ich den Kachelofen in etwa ein Meter Entfernung vor mir, die Fenster des Zimmers hinter mir hatte und versuchte einen möglichst passiven (also rezeptiven) Zustand zu gewinnen, indem ich, so gut es ging, die Denktätigkeit ausschaltete. Dabei war ich vollständig wach und fühlte keine Spur von Müdigkeit. Wie ich nun eine Weile so regungslos dasaß, den Blick auf den Ofen vor mir gerichtet, erhellte sich plötzlich das Gesichtsfeld vor mir und auf diesem hellen Grunde bildete sich ein Etwas und nahm dann, in schärfester Ausprägung, feste Gestalt an: Ein äußerst schön geformter menschlicher Körper, in der Blüte der Jahre, stand in klarster Anschaulichkeit vor meinem Blick. Aber nur wenige Augenblicke verharrte das Gebilde unverändert; dann setzte, deutlich wahrnehmbar, eine Wandlung ein, die bis zum Ende der Vision in reißender Schnelligkeit - ohne an Deutlichkeit abzunehmen - sich fortsetzte: Der Körper veränderte sich zusehends, verlor seine Schönheit, wurde welk und alt, die Haut schorfig, das Gesicht runzelig, das Haar strähnig und grau, dann spärlich und weiß; der Körper gebeugt, alt, schließlich ganz greisenhaft und ein steinaltes Gesicht mit geöffneten zahnlosen Munde glotzte mich an. Dann verfiel, mit einem Schlage, die Gestalt in wahrhaft erschreckender Weise: Das Gesicht fiel tief ein, wurde fahl und leichenhaft; der Körper begann sich mit Leichenflecken zu bedecken, und nun bot sich meinem Blick der ganze Greuel der sich vollziehenden und fortschreitenden Verwesung in einer ganz erstaunlichen Schärfe und Deutlichkeit dar; nichts wurde mir erspart: der Körper zerfiel rapid und von dem jauchigen eklen Haufen löste sich Teil auf Teil los, fiel bröckelnd ab, bis schließlich ein nacktes Gerippe hohläugig mich angrinste.

In diesem Augenblick wurde mir das Phantasma, dessen Wandlungen ich bis dahin mit größter Aufmerksamkeit verfolgt hatte, unangenehm; ich erhob mich und sah, wie das Gebilde plötzlich verblaßte, die Konturen merklich matter wurden und die Helle des Gesichtsfeldes abnahm. Dieser wahrgenommene Schein wurde zu einem unbestimmten Wogen und Flimmern und verschwand dann vollständig. Vor mir stand wieder der Ofen, in dessen Kacheln sich das verglimmende Tageslicht in mattem Wiederschein reflektierte.

Diese Vision, über deren subjektiven Charakter ich mir trotz ihrer scharfen realistischen Ausprägung selbstverständlich keinen Augenblick im Zweifel war, bedeutete für mich geradezu eine Offenbarung über das Wesen der buddhistischen Meditation... [363] Damals nun hatte ich für mich den Beweis dafür gewonnen, daß ein solches Sichverdichten einer rein gedanklichen Vorstellung zu einer subjektiv-realen Wahrnehmung nicht nur möglich ist, sondern unter bestimmten Bedingungen tatsächlich eintritt. In diesem Falle wird also die Meditation zur Kontemplation, zur Betrachtung im eigentlichen Sinne. Niemand wird leugnen, daß eine solche subjektiv-reale Wahrnehmung des Meditations-Objektes eine ganz andere, ungleich tiefere Wirkung ausübt, als bloßes Nachsinnen über den Gegenstand. Und doch besteht noch ein deutlicher Unterschied zwischen der »Leichenbetrachtung« im altbuddhistischen Sinne und der damals von mir aufgenommenen »Wahrnehmung«: Während nämlich in meinem Falle eine passiv aufgenommene *(Anm...) Vision vorlag, zu deren Zustandekommen außer dem Fasten wohl auch die durch das Anschauen der matt reflektierenden Ofenfläche bewirkte Monotonisierung des Gesichtssinnes beigetragen haben mag, handelt es sich bei der buddhistischen »Leichenbetrachtung« um eine durch Konzentration aktiv bewirkte Vision, die beliebig hervorgerufen werden kann, sobald die gesteigerte Konzentration das Denken auf das betreffende Objekt richtet."
[Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921). -- S. 361-363].


8.2. Arbeit als Redakteur und Glaubenswechsel


Seidenstücker arbeitete ab 1924 für den Schloß-Verlag. Kürzere Auszüge aus seinen Übersetzungen des Vinaya-Pitaka wurden veröffentlicht. Er schrieb größtenteils Rezensionen für die Zeitschrift für Buddhismus und Der Pfad. 1927 erschienen keine Ausgaben, dafür aber 1928 ein letztes Heftchen von Der Pfad und ein gut 400 Seiten umfassender Jahrgang von der Zeitschrift für Buddhismus. Außerdem legte man den ersten Jahrgang (von 1914) leicht gekürzt neu auf (wobei die Probenummer 0 zur Nummer 1 wurde und sich die Zählung verschob).

In Asia Major veröffentlichte er "Beiträge zur birmanischen Wortkunde". Auch für die Orientalistische Literaturzeitung schrieb Seidenstücker ein paar Rezensionen. Während Karl Seidenstücker 1903 Bertholet's "Pastorengebrüll" noch als leeres Geschwätz abgetan hatte, bescheinigt er ihm hier einen "im wesentlichen richtig orientierenden Überblick" und gesteht sogar ein

"Daß die Geschichte des Buddhismus durch kein Blutvergießen befleckt worden sei (p.28), ist ein früher auch von mir weitererzähltes Märchen...",

das er dann entlarvt.

Weiter stimmt Karl Seidenstücker Bertholet zu:

"Die Geschichte des Buddhismus, sagt B. (p.28), zeigt in ihrem Fortschritt vom Hinayana zum Mahayana, »daß auf die Dauer eine Religion es sich einfach nicht leisten kann, ohne Gott zu sein«. Diese Auffassung findet heute meine ungeteilte Zustimmung; B. hätte nur noch hinzufügen sollen, daß auch der sog. »südliche Buddhismus« doch nur mehr in der Mehrzahl seiner geistlichen Vertreter, also sozusagen offiziell, rein atheistisch im Sinne Buddha's geblieben ist, während in seiner volkstümlichen Ausprägung animistischer Geisterglaube und -kult unüberwunden blieb und üppig weiterwuchern konnte."
[Orientalistische Literaturzeitung 32 (1929), Nr 7. -- S. 583].

Es läßt sich nicht mehr genau ermitteln, was alles Seidenstücker bewogen hat, sich dem Katholizismus zuzuwenden. Er war bis 1928 die meiste Zeit in München und konnte es sich nur selten leisten, nach Hause zu gehen. Seine Töchter meinen, daß der Übergang allmählich stattfand und etwa 1924 begann. Ab 1928 war er wieder in Leipzig. Er ließ seine Kinder konfirmieren, war selber jedoch überzeugter Katholik geworden, der regelmäßig zur Messe in die Kirche am Jägerplatz ging. Er schloß Freundschaften mit einigen Pastoren, mit denen er leidenschaftlich über religiöse Themen sprach. Pastor Johannes Nicolai nahm sogar etwas Sanskrit-Unterricht bei ihm.


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