Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken

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Kapitel 12: Übersetzerische Arbeiten


von Ulrich Steinke

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Zitierweise / cite as:

Steinke, Ulrich: Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken. -- Kapitel 12: Übersetzerische Arbeiten. -- Fassung vom 28. Juni 1996. -- URL: http://www.payer.de/steinke/steink12.htm. -- [Stichwort].

Letzte Überarbeitung: 28. Juni 1996

Anlaß: Magisterarbeit, Universität Tübingen, 1989

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12.0. Übersicht



Die Übersetzungen von Quellentexten bilden aus indologischer Sicht das Hauptwerk von Seidenstücker. Als überzeugtem Buddhisten kam es Seidenstücker darauf an, den Geist der Lehre zu verbreiten. Dies spiegelt sich in der Auswahl seiner Texte wider: Er übersetzte aus dem Pâli-Kanon zunächst alle für das Verständnis wesentlichen Teile des Sutta-pi.takas. Rahmenerzählungen oder Suttas, die eher kulturgeschichtlich interessant gewesen wären, stellte er zurück.

Aus dem Abhidhamma hat Seidenstücker nichts übersetzt

"Der Abhidhamma enthält wertvolle Gedanken... Aber für eine Erforschung des Buddhismus in seiner erfaßbar ältesten Gestalt kommen diese Schriften nicht in Betracht."
[Zeitschrift für Buddhismus 9 (1931). -- S. 198 Fußnote].

Allerdings übersetzte er das Sângîti-Sutta, das die Sarvâstivâdins aufgrund seines Inhalts zum Abhidhamma zählen.

An außerkanonischen Stücken übersetzte er nur aus Milindapanha (das in Birma als Teil des Khuddakanikâya als kanonisch angesehen wird) und eine Kammavâcâ (die de facto auch kanonischen Status hat).

Ab Mitte der zwanziger Jahre hatte Seidenstücker begonnen, auch das Vinaya Pitaka zu übersetzen und eine Ausgabe des Suttavibhanga angekündigt, gedruckt werden konnte jedoch nur der Anfang des Bhikkhuvibhanga bis zu den Pâcittiya-Vergehen. Aus dem Khandaka erschienen Teile des Anattalakkha.na-Sutta und die rührselige Geschichte von Dîghîti und Dîghâyu (in der der Sohn den Haß überwindet und zum Freund des Vatermörders wird). Aus dem Cullavagga schließlich übersetzte er das achtfache Gleichnis vom Meer. (bzw. die wichtigsten Teile der Kammavâcâ sofern sie zum Cullavagga gezählt wird.)


12.1. Pâli-Übersetzungen zu Beginn des Jahrhunderts


"Das Verdienst, den buddhistischen Quellen im deutschen Sprachraum wirklich Eingang verschafft zu haben, gehört Karl Eugen Neumann... Nachdem er 1892 eine erste Anthologie von Lehrredentexten und 1893 das Dhammapadam übersetzt hatte... erschien sodann [1896] seine Übersetzung des ersten Bandes der Lehrreden der Mittleren Sammlung, der bald die beiden anderen Bände sowie die drei Bände der Längeren Sammlung und drei Sammlungen in Versen ... folgten."
[Hecker, Hellmuth : Buddhismus in Deutschland : Eine Chronik. -- Zweite erweiterte Auflage. -- Hamburg, 1978 -- S. 13].

Bereits 1884 hatte Kern das Pâtimokkha übersetzt.

Kern, H.: Der Buddhismus und seine Geschichte in Indien / übersetzt von H. Jacobi. -- Bd. 2. -- Leipzig, 1884. -- S. 100-139.

Ab 1908 übersetzte Dutoit die Jâtakas, Nyânatiloka den Anguttara-Nikâya, Franke den Dîgha-Nikâya, ab Anfang der Zwanzigerjahre Geiger die ersten Teile des Samyutta-Nikâya.

Jâtakas / [übers. von] Julius Dutoit. -- Leipzig, 1908-1921

Die Lehrreden des Buddha aus der Angereihten Sammlung / übers. von Nyânatiloka. -- Leipzig : Altmann, 1907.

Dîgha-Nikâya : das Buch der langen texte des Buddhistischen Kanons / in Auswahl übersetzt von R. O. Franke. -- Göttingen, 1913. -- (Quellen zur Religionsgeschichte ; G.VIII, Bd.8).

Samyutta-Nikâya : die in Gruppen geordneten Sammlungen aus dem Pâli-Kanon der Buddhisten. -- 2 Bde. -- München, 1925-1930.

Weitere Direkt-Übersetzungen fanden erst wieder ab 1967 statt. [Hecker, Hellmuth : Buddhismus in Deutschland : Eine Chronik. -- Zweite erweiterte Auflage. -- Hamburg, 1978 -- S. 13f.].


12.2. Erstübersetzungen von Seidenstücker


Seidenstücker war der Erstübersetzer des Khuddaka-Pâtha (1910), des Udâna (1920) und Itivuttaka (1922).

Weiter gebührt Seidenstücker das Verdienst, in seinem Hauptwerk "Pâli-Buddhismus in Übersetzungen" (1911), das Sutta-pitaka als systematisch geordnete Anthologie herausgebracht zu haben, und viele Suttas erstmalig ins Deutsche übersetzt zu haben. Auch einzelne Stücke aus dem Vinaya und Kammavâca hat er mit berücksichtigt. Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile mit insgesamt zwanzig Kapiteln in denen zuerst die Grundlehren des Buddhismus vorgeführt werden, dann die Sitten- und Erkenntnislehre inklusive einer übersicht über das Meditationssystem, und schließlich Aussprüche Buddha's über seine Persönlichkeit und Mission, gefolgt von einer Upasampadâ-Zeremonie und den Pflichten der Laienanhänger und Mönche.

J. Dutoit hatte bereits 1906 eine Anthologie herausgebracht.

Dutoit, Julius: Das Leben des Buddha : eine Zusammenstellung alter Berichte aus den kanonischen Schriften der südlichen Buddhisten. -- Leipzig, 1906. -- 358 S.

1920 erschien Dahlke's Anthologie "Buddha : die Lehre des Erhabenen".

Dahlke, Paul: Buddha : die Lehre des Erhabenen. -- Berlin : Brandus, 1920.

1922 "Reden des Buddha" aus dem Nachlaß von Oldenberg.

Oldenberg, Herrmann: Reden des Buddha. -- München : Wolff, 1922. -- 475 S.

Außer dem Buch von Seidenstücker, fehlt allen ein übersichtliches Quellenverzeichnis und Index. Keins der Bücher stellt den Buddhismus so umfassend dar, wie das Seidenstücker's.


12.3. Übersetzungen aus dem Sutta-Pitaka


Aus dem Dîghanikâya hat Seidenstücker noch am wenigsten übersetzt. Doch die sieben behandelten Suttas treffen den Kern der Lehre: Kevaddha-, Tevijja-, Mahânidâna-, Mahâparinibbâna-, Mahâsatipatthâna-, Sigâlovâda- und Sangîti-Sutta. Dem 1911 erschienenen Büchlein "Das System des Buddhismus", lag wesentlich das Sangîti-Sutta zugrunde.

Aus dem Majjhima-, Samyutta-, und Anguttara-Nikâya hat Seidenstücker zuviel übersetzt, als daß es hier angeführt werden könnte. Der Großteil der Auszüge erschien in seiner Anthologie, und ist dort übersichtlich verzeichnet.

Aus dem Khuddhaka-Nikâya übersetzte er die zum Verständnis der ursprünglichen Lehre wichtigsten Abschnitte, den Khuddhakapâtha, das Udâna und Itivuttaka ganz. Daß er nur etwa hundert der 423 Verse des Dhammapada übersetzte, lag sicherlich daran, daß es bereits zahlreiche Übertragungen gab. Ein vollständige Übersetzung des Suttanipâta hatte Seidenstücker begonnen in der Zeitschrift für Buddhismus abzudrucken, er kam jedoch nur bis zur Mitte (3,3 = Subhâsita-Sutta), dann ging die Zeitschrift ein. So sind uns weiter nur frühere Auszüge erhalten. Aus dem restlichen Khuddhakanikâya hat Seidenstücker mit Ausnahme des Avidûrenidânas nichts weiter übersetzt. Dies lag wahrscheinlich vor allem daran, daß diese Texte eher von kulturgeschichtlichem Wert sind und weniger zum Verständnis der Lehre beitragen.


12.3.1. Kuddhaka-Pâtha


Der Khuddaka-Pâtha wurde zuerst 1869 von R. C .Childers zusammen mit einer englischen Übersetzung im Journal of the Royal Asiatic Society herausgegeben, wobei je eine ceylonesische und birmanische Handschrift zugrunde lagen. Seidenstücker benutzte sie auch. Er erweiterte seine 1910 erschienene Ausgabe um einen Anhang:

  1. Schlangensegen (Anguttara-Nikâya 4,67 = Culla-Vaggo 5,6)
  2. Buddhistisches Bestattungslied (zusammengesetzt aus MPS und Tirokudda-Sutta)
  3. Mettâ-Sutten im Anguttara-Nikâya, und
  4. eine Beschreibung über Totenopfer und Paritta-Dienst im japanischen Buddhismus.

12.3.2. Udâna: Übersetzung und Untersuchung


Das Udâna bildet die eingehendste wissenschaftliche Untersuchung von Seidenstücker. Die "Allgemeine Einleitung", die 1913 erschien, war eine Erweiterung seiner Dissertation. Eine Übersetzung erschien (bis Kapitel 4) 1917 in der Zeitschrift für Missionskunde, vollständig als Buch erst 1920.

Das Udâna ist das dritte Buch des Khuddaka-Nikâya aus dem Suttapitaka und Udâna stellte gleichzeitig eine selbständige Kategorie innerhalb der neun Angas dar (bevor der Kanon zum Abschluß gelangte). Seidenstücker beschreibt die Gliederung des Udâna und erklärt den scheinbaren Widerspruch zu der Definition von Buddhaghosa, nach dem das Udâna 82 Suttas statt der vorliegenden 80 enthält. Er vergleicht die verschiedenen Ausgaben: Die Steinthal'sche PTS-Ausgabe von 1885, deren Manuskripte, die Vergleiche dieser Ausgabe mit einem birmanischen Manuskript von Windisch im JPTS und die siamesische Ausgabe unter König Culalankara. Seidenstücker geht ein auf den Charakter der Udânas (wo sie auftreten, Versmaße, Etymologie, Entwicklung etc) und begründet, warum er "Udâna" am liebsten unübersetzt lassen würde. (1920 übersetzte er es mit "feierlicher Ausspruch".) Auf eine kurze Inhaltsangabe der achtzig Rahmenerzählungen des Udâna folgt eine gründliche Untersuchung über das Alter der einzelnen Stücke, die Angabe von Parallelstellen, das System der Anordnungen sowie Vermutungen hinsichtlich der Entstehung einzelner Suttas. Seidenstücker kommt zu dem Schluß, daß das Gesamtwerk nicht vor der Erbauung von Pataliputra 440 BC und nicht nach dem zweiten Konzil 380 BC entstanden sein kann.


12.3.3. Itivuttaka


Das Itivuttaka war bereits 1889 von Ernst Windisch, dem Lehrer von Seidenstücker, für die PTS herausgegeben worden (aus sieben Handschriften und einem Kommentar). 1908 lieferte J.H.Moore eine ziemlich fehlerhafte englische Übersetzung, die trotzdem in der Indo-Asian-Series der Columbia University Aufnahme fand. Auszüge des Itivuttaka waren schon von Winternitz, Pischel, K. E. Neumann und Seidenstücker (in Pb 1) übersetzt worden. Das Itivuttaka erschien ab 1919 im Buddhistischen Weltspiegel und 1922 als Buch. Er betrachtet das Itivuttaka als alten Text, den man nicht wegen seiner Zahlenschematik als zu neu einschätzen sollte.


12.4. Das Übersetzen von Seidenstücker


Ich habe keine wesentlichen Stellen in Seidenstücker's Hauptwerken gefunden, die ich anzweifeln würde. Ob Seidenstücker in Suttanipâta 1,6 vasalaka mit "Verworfener" übersetzt, anstatt mit "Büßerling" oder "kastenlos" wie Dahlke, ändert wenig. Von den vier zu unterlassenden Dingen eines Novizen übersetzt Seidenstücker uttarimanussadhammo als "höchste menschliche Fähigkeit", wobei er jedoch die abweichende Übersetzung "übermenschliche Fähigkeit" von Childers und Takakuso wiederum in einer Fußnote angibt. Auch die Übersetzung von nidâna als "Ursache" hat sich im Deutschen eingebürgert, wenngleich "Bedingung" richtiger wäre.


12.4.1. Einstellung und Vorgehen beim Übersetzen


Im Buddhistischen Weltspiegel regte Kurt Schmidt an, eine Pâli-Übersetzungsgesellschaft zu gründen, in der "Sprachkenner" die buddhistischen Texte "vollständig, gut und volkstümlich" ins Deutsche übertragen sollten. [Buddhistischer Weltspiegel 1 (1919/20). -- S. 104-12]. Seidenstücker hielt dies für gut, räumte aber ein, daß es wichtig sei, daß solch eine Gesellschaft

"ein Bund wirklich Gleichgesinnter sein [müßte], daß zum mindesten die Mitglieder des Direktoriums und die übersetzer sich in ihrer Stellung zur Buddhalehre nahe stehen müssen... Man stelle sich vor, Herr A. steht auf dem Boden der echten transcendentalen Buddhalehre, Herr B. ist ein Vertreter der Siamesischen Schule, Herr C. schätzt zwar den Buddhismus als Forschungsobjekt, ... Herr D. ist ... bibelgläubiger Christ... Was würde wohl bei den Arbeiten einer so buntgegliederten Gesellschaft herauskommen! Ich denke dabei nicht nur an die eigentliche Übersetzung, sondern auch an die unvermeidlichen erläuternden Anmerkungen.... So ist ... nur ein Zusammenschluß von Gleichgesinnten ... das einzig Richtige und Vernünftige."
[Buddhistischer Weltspiegel 1 (1919/20). -- S. 158f.].

Seidenstücker's Übersetzungen sind durch strenges Festhalten am Originaltext gekennzeichnet. Alle wichtigen Begriffe werden in Fußnoten im Original gebracht und oftmals umschrieben. Im Extremfall, dem Khuddakapâtha, umfassen die Fußnoten, die keinesfalls ausschweifen, etwa genausoviel Text wie die Übersetzung. So sind seine Übersetzungen leicht überprüfbar und Seidenstücker hat genügend Freiraum, beispielsweise im Itivuttaka dhamma je nach Zusammenhang mit Eigenschaft, Charaktereigenschaft, Pflicht, Ereignis, Tugend, Wahrheit, Norm etc. zu übersetzen. Vor allem bei Erstübersetzungen hielt Seidenstücker die wörtliche Übersetzung für äußerst wichtig. Sie sollte als Vorarbeit angesehen werden für die eigentliche Verdeutschung. So würde es sich vor allem beim Suttanipâta und den Gâthâs empfehlen, der wörtlichen Übertragung eine gute poetische Wiedergabe beizufügen.

"Auf diese Weise würde der Leser sowohl einen richtigen Einblick in den Text der Quellenschrift selbst, als auch ein Empfinden für deren dichterische Schönheit gewinnen können."
[Buddhistischer Weltspiegel 1 (1919/20). -- S. 158].


12.4.2. Gedanken zu einzelnen Wörtern


Seidenstücker grübelte oftmals über Begriffen, so beispielsweise über upadhi, opadhika, zu dem er Folgendes erklärt [Itivuttaka : das Buch der Herrenworte ; eine kanonische Schrift des Pali-Buddhismus / in erstmaliger deutscher Übersetzung aus dem Urtext von Karl Seidenstücker. -- Leipzig : Altmann, 1922. -- S. 17]:

  1. "die Khandha (die fünf Stücke der Persönlichkeit)
  2. kâma (Sinnenlust)
  3. kilesa (moralische Befleckung)
  4. kamma (das Wirken, welches zu neuen Geburten führt);

dies sind also jene Faktoren, welche der Phänomenalität des Menschen, der Erscheinungswelt angehören. Opadhika werden die »verdienstwirkenden Mittel« insofern genannt, als sie in ihren (heilsamen) Wirkungen niemals aus dem Wandelsein und der Vergänglichkeit heraus-, sondern nur zu einer relativ glücklichen Wiedergeburt in einer Himmelswelt hinführen, die immer noch der Vergänglichkeit unterworfen ist. Die vorhandenen Übersetzungen von opadhika an dieser Stelle weichen erheblich voneinander ab: Pischel: »alle Mittel in diesem Leben, um sich religiöses Verdienst zu erwerben.« Oldenberg: »Was es an materiellen Gegenständen verdienstlichen Tuns gibt.« Winternitz: »Alle durch das Dasein bedingten Handlungen, durch die man Verdienst erwirbt.«"

In Palibuddhismus in Übersetzungen (1923) erklärt Seidenstücker

"upadhi: Beilegung im Sinne von »wesensfremder« und daher »unwesentlicher Teil«" und "opadhika: »für die Beilegungen in Betracht kommend«, etwa »im Bereiche der Welt«."


12.4.3. Weiterentwicklung der Übersetzungen


Daß Seidenstücker seine Übersetzungen ständig in Frage stellte und überarbeitete wird am besten in den beiden Auflagen von Pâli-Buddhismus (1911 und 1923) sichtbar. Es ist höchst bedauerlich, daß die dritte Überarbeitung aus den dreißiger Jahren nie gedruckt wurde und das Manuskript verschollen ist (oder zumindest für mich unauffindbar war). Von den zahlreichen Verbesserungen können nur Beispiele angeführt werden. Aus diesen geht hervor, daß es sich um Verfeinerungen handelt, daß Seidenstücker genauer und sicherer geworden war:

Pâli   PB1   PB2  
tathâgata   Wahrheitskenner   Vollendeter  
samkhârâ   Gestaltungen, Anlagen   Gebilde, Gemütsregungen  
dukkha   leidvoll   leidbringend  
anicca   veränderlich   vergänglich  
vedanâ   Gefühl   Empfindung  
mahâbhûtâ   Grundsubstanzen   große Gebilde  
samâdhi   Andacht   Konzentration  
atthamgata   verschwindet   heimgeht  
anattâ   nicht wesenhaft   nicht das Ich  
           

Nur die beiden letzten Beispiele zeugen von einem Wandel in der Anschauung. In seinen ersten Werken hatte Seidenstücker Anâtman noch mit Wesenlosigkeit übersetzt [z.B, in Buddhistischer Katechismus. -- 1904. -- S. 29], was er später ausdrücklich als falsch verwarf. Über atthamgata entspann sich eine langwierige Diskussion mit Paul Dahlke (s.u.)

In Pâli-Buddhismus 1, S.51 lautete der erste Spruch des Dhammapada noch:

"Geist ist die Wurzel der Erscheinungen, Geist ist ihr Wesen, Geist ihr Stoff; (Anm...) wenn jemand mit verderbtem Geist entweder redet oder wirkt, so folget Leiden ihm daraus, gleichwie das Rad des Zugtiers Fuß."

(Manopubbangamâ dhammâ, manose.t.thâ, manomayâ; manasâ ce padu.t.thena bhßati vâ karoti vâ, tato na.m dukkham anveti, cakka.mva vahato pada.m.)

In Pâli-Buddhismus 2, S.36 hört es sich so an:

"Das Denken erst, dann Wort und Tat, im Denken ruht des Schicksals Saat: Wer bösgesinnt die Worte kürt, wer bösgesinnt das Werk vollführt, dem folgen Leiden, die er schuf, gleichwie das Rad des Zugtiers Huf."


12.4.4. Seidenstücker akzeptiert Verbesserungsvorschläge


Seidenstücker ging auch auf berechtigte Kritiken ein. So kritisierte Dahlke [Neubuddhistische Zeitschrift 2/1920. -- S. 21-28] die Übersetzung von Vers 126 des Dhammapada, der auf S.52 von Pâli-Buddhismus 1 lautete:

"Der eine wird als Mensch geboren, der Böse fährt hinab zur Hölle, der Gute geht zur Welt der Götter ein, ein Meister kehrt nicht mehr zurück zur Wandelwelt."

(Gabbam eke upapajjanti, niraya.m pâpakammino, sagga.m sugatino yanti, parinibbanti anâsavâ.)

Es folgte die kurze Erläuterung, daß der Arahâ

"»erlischt«, d.h. [er] gelangt zum Nibbâna.m, wo nichts vorhanden ist, was irgendwie mit den Vorgängen in der Erscheinungswelt verglichen werden könnte."

Dahlke schrieb:

Seidenstücker übersetzt diesen Vers "mit solcher »Freiheit«, daß er dabei fast die Grenze philologischer Ehrlichkeit überschreitet."

Seidenstücker nahm es sich zu Herzen, ließ die Erläuterung wegfallen und übersetzte in Pâli-Buddhismus 2, S.37:

"Einige gehen in den Mutterschoß ein, die Übeltäter erscheinen in der Hölle wieder, die Gerechten gehen in den Himmel ein, die Einflußfreien erlöschen völlig."

Weiter bemängelte Dahlke [Neubuddhistische Zeitschrift 2/1920. -- S. 21-28], daß Seidenstücker in Pâli-Buddhismus 1, S.5 das Nibbâna "das summum bonum, das höchste ethische Ideal des Buddhismus" genannt hatte. Obwohl es sich nur um eine Fußnote gehandelt hatte, drückte sich Seidenstücker in Pâli-Buddhismus 2, S.4 vorsichtiger aus und nannte das Nibbâna

"das letzte Ziel und der [den] Abschluß des Buddhistischen Heilspfades".

Aus Samyutta-Nikâya V, LVI, 11 (vgl Mv 1,6) über die Leidensentstehung übersetzte Seidenstücker in Pâli-Buddhismus 1 vibhava-tanhâ noch als "Sucht nach Entfaltung". In einer Fußnote erläuterte er die mögliche Übersetzung "Streben nach Vernichtung" von Childers und Pischel, grenzte sich jedoch davon ab. In Pâli-Buddhismus 2 pflichtet er ihnen bei und übersetzte "Durst nach Vernichtung".


12.4.5. Seidenstücker weist Kritiken zurück


Dahlke kritisierte in seiner Zeitschrift [Neubuddhistische Zeitschrift 1921/1. -- S. 41-44] Grimm's Übersetzung "Die Vollendeten sind jenseits der Erscheinungswelt" aus Dhammapada 254 (papañcâbhiratâ pajâ / nippapañcâ tathâgatâ). Seidenstücker erwiderte, nachdem er die Etymologie des Wortes gegeben hatte, daß die Grundbedeutung von papañca

"Ausbreitung" ist, im Sinne von "Erscheinungswelt", wie schon aus Mândûkya-Upanishad 7 (prapañcopasama) hervorgeht und aus Kanonstellen (papañcanirodha, papañcavûpasama). Erst in späterer Zeit erhielt das Wort unter Einfluß des Verbes papañceti auch die sekundäre Bedeutung "Zerstreuung, Eitelkeit, Irrtum, weitschweifige oder ausführliche Auseinandersetzung". Wörtlich übersetzt hieße es also: "frei von [oder »nicht von«] der Erscheinungswelt (sind) die Vollendeten".
[Buddhistischer Weltspiegel 2 (1920/21). -- S. 273-275].

Dahlke erwiderte darauf, daß das Wörterbuch von Childers und ähnlich das von Andersen die Bedeutung hätten,

"free from the conditions, such as lust, pride, anger, which delay a man in his spiritual progress". "...die Bedeutung »Erscheinungswelt« im rein anschauerischen Sinn ... mag ... für die philosophische Sanskritliteratur richtig sein ... im Sutta-Pitaka hat es die Bedeutung von »Erscheinungswelt« nur im wirklichen Sinn, worüber später mehr."
[Neubuddhistische Zeitschrift 1921/3. -- S. 46-52].

Die angeführten Kanonstellen verstand Dahlke anders:

"Gewiß gehen die sechs Berührungsgebiete auf die Erscheinungswelt, aber nicht als bloße Schauer, sondern als Ergreifer, Esser."

In der gleichen Auseinandersetzung ging es um die Gâthâ aus Suttanipâta 1076, wo Grimm übersetzt hatte "Kein Maß gibt es für den, der heimgegangen" (attham gatassa na pamânam atthi). Dahlke kritisierte den "mystisch-pantheistischen Unterton" und Seidenstücker erwiderte, daß die erste von Dahlke's beiden Alternativen "der zum Ziel, Heil Gelangte" aufgrund der Sanskrit-Etymologie ausscheidet. Das Kompositum astamgata komme schon im Veda vor und habe als Grundbedeutung "heimgegangen". Es wurde mit Vorliebe gebraucht zur Beschreibung vom Untergang von Gestirnen, für das erloschene Feuer, das in seinen ursprünglichen, latenten Zustand zurückkehrt und für den Erlösten, der wie Gestirn und Sonne, ebenfalls in seine Heimat zurückkehrt und sich ebenfalls der sinnlichen Wahrnehmung entzieht. Dahlke widersprach, daß das Wort nur in den Jâtakas so verwendet würde, im Sutta-pitaka aber in zahllosen Fällen als Gegensatz zu samudaya "Entstehen", vorkomme und sogar als synonym mit vidhupita (zerstreut, vernichtet) gebraucht werde. Im Dhammapada 226 seien es die Triebe, die vergingen (atthamgatassa) und Seidenstücker selbst konnte nicht umhin, in Udâna VIII,9 "viññânam attham agama" mit "Das Bewußtsein ist zur Rüste gegangen" zu übersetzen. Deshalb sollte es heißen: "Der zum Verschwinden, zur Vernichtung gelangte." (Seidenstücker sagte nichts weiter dazu, doch im nächsten Weltspiegel erschien ein kurzer Artikel von Grimm, "Der Heimgegangene", der seine unveränderte Übersetzung von Suttanipâta 1076 durch das Gleichnis eines nach Hause findenden Verirrten bildhaft untermauerte. [Buddhistischer Weltspiegel 2 (1920/21). -- S. 396f.].)


12.4.6. Übersetzung von Udâna V,5


Seidenstücker hat als erster die richtige Übersetzung von Udâna V,5 erkannt. [Das Udana : eine kanonische Schrift des Pali-Buddhismus. -- Leipzig : Kommissionsverlag H.Tränker, 1913. -- Erster Teil: Allgemeine Einleitung. - S. 103].

Der Pâli-Text lautet: "channam-ativassati viva.ta.m nâtivassati / tasmâ channa.m vivaretha eva.m ta.m nâtivassati." Seidenstücker erkannte, daß es sich bei channam, viva.tam und ta.m um Nominative, nicht Akkusative handelte und übersetzte dementsprechend:

"Das, was bedeckt ist [d.i. der von Wolken bedeckte Himmel], regnet; das, was nicht bedeckt ist, regnet nicht; man enthülle also das Bedeckte, dann regnet dieses nicht."

Dies ist so zu verstehen, daß das Gemüt, das von den Wolken des Begehrens und sündiger Flecken eingehüllt und verdunkelt ist, von diesen Wolken befreit werden soll.

Obwohl diese Übersetzung 1913 veröffentlicht wurde, übersetzte Dahlke in seiner Anthologie "Buddha" 1920 (und 1960 neu und unverbessert aufgelegt) das Udâna mit:

"Bedecktes durchdringt der Regen,
Was offen ist, durchdringt kein Regen.
Daher öffnet das Bedeckte,
So wird Regen es nicht durchdringen."
[Dahlke, Paul: Buddha : die Lehre des Erhabenen. -- Berlin : Brandus, 1920. -- S. 399; außerdem in: Neubuddhistische Zeitschrift 1921/3. -- S.7].


Zu Kapitel 13: Weitere Werke von Seidenstücker