Kulturen von Arbeit und Kapital

Teil 3: Kapitaleignerkulturen


von Margarete Payer

mailto: payer@payer.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Kulturen von Arbeit und Kapital. -- Teil 3: Kapitaleignerkulturen. -- Fassung vom 2006-01-18. -- URL: http://www.payer.de/arbeitkapital/arbeitkapital03.htm     

Erstmals publiziert: 2005-10-12

Überarbeitungen: 2006-01-18 [Ergänzungen]; 2005-11-27 [Ergänzungen]; 2005-11-20 [Ergänzungen]; 2005-11-13 [Ergänzungen]; 2005-11-01 [Ergänzungen]; 2005-10-21 [Ergänzungen]; 2005-10-20 [Ergänzungen]; 2005-10-17 [Ergänzungen]

Anlass: Lehrveranstaltung an der Hochschule der Medien Stuttgart, Wintersemester 2005/06

Copyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Verfassers.

Creative Commons-Lizenzvertrag
Diese Inhalt ist unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.

Dieser Text ist Teil der Abteilung  Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library


Yahoo! Nachrichten durchsuchen
Klicken Sie hier für "Kapitalismus" in den Schlagzeilen


0. Übersicht



1. Mottos



Abb.: Walter Trautschold: Das ist der Lauf der Welt: ein Kapital ist des andern Feind ...! -- In: Lachen links. -- Nr. 47. -- 1925
 

"Wünsche sich mit Wünschen schlagen,
Und die Gier wird nie gestillt.
Wer ist in dem wüsten Jagen
Da der Jäger, wer das Wild?"

[Joseph von Eichendorff (1788–1857): Glückliche Fahrt, 1841]

"Am Weihnachtsonntag kam er zu mir,
In Jack' und Schurzfell, und roch nach Bier
Und sprach zwei Stunden zu meiner Qual
Von Zinsen und von Kapital;
Ein Kerl, vor dem mich Gott bewahr!
Hat keinen Festtag im ganzen Jahr."

[Theodor Storm (1817 - 1888): Stoßseufzer, 1885]

Lied der Großindustriellen

Wir lieben dieses Vaterland!
Doch fesselt uns ein schön'res Band
Viel stärker, unvergleichlich zäh
Ans Portemonnaie.

Die Treue unserm Königshaus,
Wir hängen sie beim Sekt heraus,
Indes noch immer hat das Prae
Das Portemonnaie.

An Gott im Himmel glauben wir.
Wär Er dem Volk nicht mehr's Panier,
Wer wüsste dann, was wohl geschäh'
Dem Portemonnaie?

So lebt sich's gut bei dem System,
Wir ändern es auch je nachdem,
Wenn man wo einen Vorteil säh'
Fürs Portemonnaie.

[Ludwig Thoma (1867 - 1921)]

"Wenn der materielle Erwerb das Instrument zum menschlichen Glück ist,
muss man Handlungen, die mit der Schaffung des Reichtums verbunden sind,
als ehrenvoll darstellen."

[Sakaiya Taichi [ 堺屋太一] <1935 - >, japanischer Wirtschaftswissenschaftler. --
Zitiert in: Seagrave, Sterling: Die Herren des Pazifik : das unsichtbare Wirtschaftsimperium der Auslands-Chinesen. --
München : Limes, 1996. -- 430 S. ; Ill. ; 22 cm. -- Originaltitel: Lords of the rim (1995). -- ISBN 3-8090-3000-7. -- S. 404.]


Abb.: Des großen Eugen Richters Philosophie über das Grundwesen des Sozialismus und über die Sozialisten selbst. -- In: Süddeutscher Postillon. -- Vor 1890

Richter's Sozialist: "Ich will gerade nicht sagen, dass ich ein geschworener Feind des Kapitalismus bin, im Gegenteil — doch ist es meine Überzeugung, dass sich derselbe in falschen Händen befindet."


Abb.: Der Kapitalist als Vorbild
. -- In: Süddeutscher Postillon. -- Nr. 14. -- 1905

"Das Beefsteak hat dir doch sehr geschmeckt; und zum Kellner sagst du, es wäre schlecht gewesen." — "Ja, man darf nie zufrieden sein. Zufriedenheit ist Stillstand, und Stillstand ist Rückschritt."


2. Zur Einführung: Kurt Tucholsky: Kurzer Abriss der Nationalökonomie, 1931


"Kurzer Abriss der Nationalökonomie

Nationalökonomie ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben. Das hat mehrere Gründe, die feinsten sind die wissenschaftlichen Gründe, doch können solche durch eine Notverordnung aufgehoben werden.

Über die ältere Nationalökonomie kann man ja nur lachen und dürfen wir selbe daher mit Stillschweigen übergehn. Sie regierte von 715 vor Christo bis zum Jahre nach Marx. Seitdem ist die Frage völlig gelöst: die Leute haben zwar immer noch kein Geld, wissen aber wenigstens, warum.

Die Grundlage aller Nationalökonomie ist das sog. ›Geld‹.

Geld ist weder ein Zahlungsmittel noch ein Tauschmittel, auch ist es keine Fiktion, vor allem aber ist es kein Geld. Für Geld kann man Waren kaufen, weil es Geld ist, und es ist Geld, weil man dafür Waren kaufen kann. Doch ist diese Theorie inzwischen fallen gelassen worden. Woher das Geld kommt, ist unbekannt. Es ist eben da bzw. nicht da – meist nicht da. Das im Umlauf befindliche Papiergeld ist durch den Staat garantiert; dieses vollzieht sich derart, dass jeder Papiergeldbesitzer zur Reichsbank gehn und dort für sein Papier Gold einfordern kann. Das kann er. Die obern Staatsbankbeamten sind gesetzlich verpflichtet, Goldplomben zu tragen, die für das Papiergeld haften. Dieses nennt man Golddeckung.

Der Wohlstand eines Landes beruht auf seiner aktiven und passiven Handelsbilanz, auf seinen innern und äußern Anleihen sowie auf dem Unterschied zwischen dem Giro des Wechselagios und dem Zinsfuß der Lombardkredite; bei Regenwetter ist das umgekehrt. Jeden Morgen wird in den Staatsbanken der sog. ›Diskont‹ ausgewürfelt; es ist den Deutschen neulich gelungen, mit drei Würfeln 20 zu trudeln.

Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.

Wenn die Ware den Unternehmer durch Verkauf verlassen hat, so ist sie nichts mehr wert, sondern ein Pofel, dafür hat aber der Unternehmer das Geld, welches Mehrwert genannt wird, obgleich es immer weniger wert ist. Wenn ein Unternehmer sich langweilt, dann ruft er die andern und dann bilden sie einen Trust, das heißt, sie verpflichten sich, keinesfalls mehr zu produzieren, als sie produzieren können sowie ihre Waren nicht unter Selbstkostenverdienst abzugeben. dass der Arbeiter für seine Arbeit auch einen Lohn haben muss, ist eine Theorie, die heute allgemein fallen gelassen worden ist.

Eine wichtige Rolle im Handel spielt der Export, Export ist, wenn die andern kaufen sollen, was wir nicht kaufen können; auch ist es unpatriotisch, fremde Waren zu kaufen, daher muss das Ausland einheimische, also deutsche Waren konsumieren, weil wir sonst nicht konkurrenzfähig sind. Wenn der Export andersrum geht, heißt er Import, welches im Plural eine Zigarre ist. Weil billiger Weizen ungesund und lange nicht so bekömmlich ist wie teurer Roggen, haben wir den Schutzzoll, der den Zoll schützt sowie auch die deutsche Landwirtschaft. Die deutsche Landwirtschaft wohnt seit fünfundzwanzig Jahren am Rande des Abgrunds und fühlt sich dort ziemlich wohl. Sie ist verschuldet, weil die Schwerindustrie ihr nichts übrig lässt, und die Schwerindustrie ist nicht auf der Höhe, weil die Landwirtschaft ihr zu viel fortnimmt. Dieses nennt man den Ausgleich der Interessen. Von beiden Institutionen werden hohe Steuern gefordert, und muss der Konsument sie auch bezahlen.

Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der andre werde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine sog. ›Stützungsaktion‹, bei der alle, bis auf den Staat, gut verdienen. Solche Pleite erkennt man daran, dass die Bevölkerung aufgefordert wird, Vertrauen zu haben. Weiter hat sie ja dann auch meist nichts mehr.

Wenn die Unternehmer alles Geld im Ausland untergebracht haben, nennt man dieses den Ernst der Lage. Geordnete Staatswesen werden mit einer solchen Lage leicht fertig; das ist bei ihnen nicht so wie in den kleinen Raubstaaten, wo Scharen von Briganten die notleidende Bevölkerung aussaugen. Auch die Aktiengesellschaften sind ein wichtiger Bestandteil der Nationalökonomie. Der Aktionär hat zweierlei wichtige Rechte: er ist der, wo das Geld gibt, und er darf bei der Generalversammlung in die Opposition gehn und etwas zu Protokoll geben, woraus sich der Vorstand einen sog. Sonnabend macht. Die Aktiengesellschaften sind für das Wirtschaftsleben unerlässlich: stellen sie doch die Vorzugsaktien und die Aufsichtsratsstellen her. Denn jede Aktiengesellschaft hat einen Aufsichtsrat, der rät, was er eigentlich beaufsichtigen soll. Die Aktiengesellschaft haftet dem Aufsichtsrat für pünktliche Zahlung der Tantiemen. Diejenigen Ausreden, in denen gesagt ist, warum die A.-G. keine Steuern bezahlen kann, werden in einer sogenannten ›Bilanz‹ zusammengestellt.

Die Wirtschaft wäre keine Wirtschaft, wenn wir die Börse nicht hätten. Die Börse dient dazu, einer Reihe aufgeregter Herren den Spielklub und das Restaurant zu ersetzen; die frommem gehn außerdem noch in die Synagoge. Die Börse sieht jeden Mittag die Weltlage an: dies richtet sich nach dem Weitblick der Bankdirektoren, welche jedoch meist nur bis zu ihrer Nasenspitze sehn, was allerdings mitunter ein weiter Weg ist. Schreien die Leute auf der Börse außergewöhnlich viel, so nennt man das: die Börse ist fest. In diesem Fall kommt – am nächsten Tage – das Publikum gelaufen und engagiert sich, nachdem bereits das Beste wegverdient ist. Ist die Börse schwach, so ist das Publikum allemal dabei. Dieses nennt man Dienst am Kunden. Die Börse erfüllt eine wirtschaftliche Funktion: ohne sie verbreiteten sich neue Witze wesentlich langsamer.

In der Wirtschaft gibt es auch noch kleinere Angestellte und Arbeiter, doch sind solche von der neuen Theorie längst fallen gelassen worden.

Zusammenfassend kann gesagt werden: die Nationalökonomie ist die Metaphysik des Pokerspielers.

Ich hoffe, Ihnen mit diesen Angaben gedient zu haben, und füge noch hinzu, dass sie so gegeben sind wie alle Waren, Verträge, Zahlungen, Wechselunterschriften und sämtliche andern Handelsverpflichtungen –: also ohne jedes Obligo."

[Kurt Tucholsky alias Kaspar Hauser <1890 - 1935>. -- In: Die Weltbühne. --  Nr. 37 (1931-09-15). -- S. 393.]


3. Was ist Kapitalismus?
(capitalism, capitalisme, capitalismo, Капитализм, kapitalisme, رأسمالية ,سرمایه‌داری ,קפיטליזם, 資本主義, 资本主义, ทุนนิยม)


Der folgende Text stammt von 1969, also aus einer Zeit, als der westdeutsche Kapitalismus wegen der Konkurrenz zum Sozialismus der DDR ein humaneres Gesicht hatte.

"Was ist eigentlich Kapitalismus?

Im Mai 1968 loderten in der Börse zu Paris die Flammen: Revolutionäre Studenten hatten den »Tempel des Kapitalismus« gestürmt und in Brand gesetzt. Sie wollten ein Fanal setzen, das den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des ihnen verhassten »kapitalistischen Systems« anzeigen sollte - so wie einst Bilderstürmer glaubten, den Untergang einer Idee herbeiführen zu können, indem man ihre Symbole zerstört. Nun, der Kapitalismus hat überlebt - in Frankreich und anderswo. Und wenn nicht alle Anzeichen täuschen, hat die westliche Wirtschaftsordnung noch eine lange Zukunft vor sich.

Der Versuch, Mutmaßungen über die künftige Entwicklung des Kapitalismus anzustellen, begegnet allerdings einer doppelten Schwierigkeit. Einmal fehlt die Bereitschaft, sich zu ihm zu bekennen, zum anderen die Fähigkeit, ihn zu definieren. In der westlichen Welt, das heißt in der weit überwiegenden Zahl der industriell entwickelten Länder, herrscht zwar ausnahmslos ein sich freilich in Details unterscheidender Kapitalismus — aber nur wenige Menschen wollen zugeben, dass ihnen dieses System richtig erscheint. Allenfalls in den Vereinigten Staaten beteuern einige »Kapitalisten« unbekümmert, das Ziel ihres Lebens sei, »Geld zu machen«, und preisen die herrschende Wirtschaftsordnung als »beste aller möglichen«. In europäischen Ländern dagegen vermeidet man sogar den Begriff, spricht man lieber von freiem Wettbewerb und Unternehmerinitiative, von (sozialer) Marktwirtschaft und Wohlfahrtsstaat. Selbst jene, die an der Spitze der sozialen Pyramide stehen, empfinden es als kränkend, wenn man sie »Kapitalisten« nennt - oft sind sie paradoxerweise sogar leidenschaftliche Kritiker des Systems, in dem sie zu Macht und Reichtum gekommen sind.

Man sollte sich vor dem naheliegenden Trugschluss hüten, dieser Mangel an Bekennermut sei darauf zurückzuführen, dass die in den letzten Jahren besonders heftige Kampagne gegen angebliche oder tatsächliche Missstände des Systems bei den Kapitalisten ein schlechtes Gewissen erzeugt habe. Schon vor fast 30 Jahren schrieb Joseph Schumpeter, gewiss kein Verteidiger der herrschenden Wirtschaftsordnung:

»Die Atmosphäre der Feindschaft gegenüber dem Kapitalismus macht es viel schwieriger, als es sonst wäre, sich eine vernünftige Ansicht über seine wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen zu bilden. Die öffentliche Meinung ist so gründlich über ihn verstimmt, dass die Verurteilung des Kapitalismus eine ausgemachte Sache ist - beinahe ein Erfordernis der Etikette.«

Im Grunde ist das nicht verwunderlich: Die Gesetze des Kapitalismus sind nüchtern, rational — wie manche glauben, grausam. Er ist ein System, das man akzeptiert, weil es sehr gut funktioniert - nicht eine Idee, für die man sich begeistern oder gar opfern könnte. Aber was ist das nun eigentlich, das »kapitalistische System«? Wenn man diese Frage stellt, trifft man auf die zweite Schwierigkeit, die sich bei jedem Versuch einer Analyse von gegenwärtiger Situation und künftiger Entwicklung der westlichen Wirtschaftsordnung ergibt - den Mangel an einer auch nur einigermaßen präzisen Definition. Sich darüber zu einigen, was Faschismus, Sozialismus oder Kommunismus ist, zumindest in seinen Konturen ist, würde sicher in kurzer Zeit möglich sein - über den Kapitalismus aber lassen sich vergleichbar verbindliche Aussagen kaum machen.

Auch dafür gibt es eine recht einfache Erklärung. Der »Kapitalismus« ist in vielen, historisch bedingten Erscheinungsformen aufgetreten - und es scheint praktisch wie theoretisch unmöglich, einen gemeinsamen Nenner für alle Phasen seiner Entwicklung zu finden. Spuren von Kapitalismus gibt es in so gut wie jeder Gesellschaftsordnung: in der Tempelwirtschaft der alten vorderasiatischen Reiche, im Sklavenhandel Roms, dem Fernhandel des Mittelalters, der Finanzwirtschaft der beginnenden Neuzeit. Selbst in den heute kommunistischen Staaten sind nicht alle Elemente eines kapitalistischen Systems beseitigt worden, gibt es Privateigentum (manchmal sogar an Produktionsmitteln), Profitdenken (etwa im Außenhandel) und nicht selten Millionäre. Doch selbst wenn wir von allen Vor- und Zwischenformen absehen, bleiben kaum überbrückbare Unterschiede auch zwischen den eindeutig kapitalistischen Systemen der Neuzeit.

Der Kapitalismus, der heute in den Ländern der westlichen Welt herrscht, ist ohne Zweifel ein Produkt der Industrialisierung. Ohne den Aufstieg der Technik und die dadurch bedingte Auflockerung traditioneller Bindungen in der Arbeitswelt hätte sich nicht herausbilden können, was Karl Marx und später Max Weber als eine »auf Privateigentum an Produktionsmitteln gegründete und an Profitchancen orientierte« Wirtschaftsordnung beschrieben haben. Doch diese Definition passt auf so unterschiedliche Systeme wie den Merkantilismus, in dem der Staat zur Finanzierung der Militärmacht und der Verwaltung den Aufbau nationaler Produktion erzwang"), den Hochkapitalismus des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts sowie den weit fortgeschrittenen Sozialkapitalismus in den Industriestaaten der Gegenwart. Und wenn man allein vom heutigen Kapitalismus spricht: Wie sehr unterscheidet sich doch die faschistisch-ständestaatliche Ordnung in Spanien vom schwedischen Wohlfahrtsstaat, die harte Ellbogen-Konkurrenz in den USA von der patriarchalischen Ordnung in Japan oder der traditionell-behäbigen in der Schweiz.

Kritiker des Kapitalismus versuchen nicht selten, die gravierenden Unterschiede zwischen den einzelnen Entwicklungsphasen zu bagatellisieren. Eine Analyse dieser Kritik würde beweisen, dass das stets unveränderte »kapitalistische System« ein von seinen Gegnern erfundenes Phantom ist. Karl Marx hat eine gewiss in vielem richtige (in manchem freilich auch falsche) Theorie des Kapitalismus vorgelegt - aber eben jener Form, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in mittel- und westeuropäischen Staaten herrschte. Marx hat denn auch in seinen Prognosen geirrt, wobei sein größter Fehler wohl der war, einen wesentlichen Faktor nicht erkannt zu haben: das Wirken von Karl Marx. Seine Thesen und die dadurch ausgelösten politischen und sozialen Bewegungen haben entscheidend dazu beigetragen, dass im Laufe eines Jahrhunderts der Arbeiter als Konsument entdeckt worden ist. Nicht nur die Marxisten, auch die Kapitalisten müssten Karl Marx Denkmäler setzen: Bei fortschreitender Verelendung des Proletariats wäre ein Zusammenbruch der westlichen Gesellschaftsordnung unvermeidlich gewesen - durch den Wandel des Proletariers zum Konsumbürger konnte sie sich behaupten und festigen.

Oder sprechen wir vom Imperialismus, der vielen als Synonym für Kapitalismus gilt. Es wäre töricht zu leugnen, dass der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts imperialistisch war - auf Eroberung von Rohstoffbasen und Absatzmärkten gerichtet. Schlimmer noch: Es lässt sich nicht bestreiten, dass manche Kriege aus reiner Profitgier angezettelt oder verlängert worden sind. Freilich bleibt die Frage unbeantwortet, ob nicht auch Länder mit anderer Wirtschaftsordnung, etwa ein sozialistischer Staat, in jenen Jahrzehnten imperialistische Politik betrieben hätten. Wie in der Frühzeit die »Ausplünderung« der Arbeiter im eigenen Land, so war später dann die Ausbeutung der übrigen Welt Vorbedingung der Industrialisierung, damit auch Voraussetzung für eine Großmachtpolitik.

Doch wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, längst ist dieser erschreckende Sachzwang geschwunden. Längst hat die Chemie das Kautschuk-Monopol gebrochen, längst ist die Ausbildung von Technikern wichtiger geworden als die Sicherung von Rohstoffquellen, längst hat man erkannt, dass durch Wohlstandspolitik im Inneren viel zuverlässigere Absatzmärkte erschlossen werden können als draußen in der Welt der noch armen Völker. Man kann das Vorgehen der USA in Vietnam für falsch, für verabscheuungswürdig halten - aber man kann nicht von einer »zwangsläufigen Auswirkung des kapitalistischen Systems« sprechen. Denn die Vereinigten Staaten haben in Südostasien weder den Verlust von Rohstoffquellen zu befürchten, noch stehen Absatzmärkte von Bedeutung auf dem Spiel - und im eigenen Land hat der Dschungelkrieg Washington nichts eingebracht als Inflationskrise und Dollarschwäche. Doch immer noch werden Kapitalismus und Imperialismus gleichgesetzt, immer noch glauben viele, mit dem Hinweis auf längst vergilbte Papiere, die eine Verschwörung der »Rüstungsindustrie« beweisen sollen, das gesamte kapitalistische System verurteilen zu können - so als ob Berichte über Stalins Arbeitslager bereits die erschöpfende Wahrheit über den Sozialismus vermitteln könnten. Verlockend, wohl auch notwendig wäre es, einmal die Geschichte der Irrlehren über den Kapitalismus zu schreiben — und der Versuche, die zu seiner Rechtfertigung unternommen wurden. Wir haben in diesem Buch einen anderen Weg gewählt. Entsprechend der Erkenntnis, dass Kapitalismus eigentlich kein Zustand, sondern ein Prozess ist, wollten wir vor allem schildern, wie das heutige »kapitalistische System« entstanden ist — und die Frage stellen, wie wahrscheinlich die künftige Entwicklung ablaufen wird. Dies ist von der Sache her gerechtfertigt: Anders als etwa beim Sozialismus ist die Geschichte des Kapitalismus nicht Geschichte von Ideologien, sondern Geschichte von Ereignissen.

Folgerichtig waren denn auch die Menschen, die den Kapitalismus geschaffen haben, Abenteurer mehr als Philosophen. Marco Polo und Kolumbus waren »Kapitalisten«, Gewinntrieb war ein wesentliches Motiv ihres Handelns wie später bei den Rothschilds, bei Vanderbilt und Rockefeller. Erst heute, im technischen Zeitalter von Massenproduktion und Massenkonsum, erfasst das »kapitalistische System« alle Schichten der Bevölkerung — in seiner Entstehung, in seinen Anfängen wurde es geprägt von Spekulanten und Händlern, von gerissenen Bankiers und wagemutigen Unternehmern, Glücksrittern und Phantasten. Doch darin, dass der Kapitalismus sich mehr auf die Schwächen als auf die Stärken der Menschen stützt, liegt eine Ursache seines Erfolges . . . Und Erfolg hat der Kapitalismus. John Maynard Keynes hat einmal gesagt: »Ich glaube, dass der Kapitalismus, klug gehandhabt, zur Erreichung ökonomischer Ziele effizienter gemacht werden kann als alle anderen heute bekannten Systeme.« Man muss nicht erst die Statistik bemühen, um zu dem Schluss zu kommen, dass der Lebensstandard in kapitalistischen Ländern höher ist und auch schneller steigt als in allen vergleichbaren Staaten mit anderer Wirtschaftsordnung. Natürlich lässt sich nicht bestreiten, dass auch das heutige westliche Wirtschaftssystem noch beträchtliche Mängel aufzuweisen hat. Zweifellos besteht die Gefahr, dass sich, wie Galbraith formuliert hat, »öffentliche Armut bei privatem Reichtum« entwickelt - dass zuwenig Schulen, Universitäten. Kliniken gebaut werden, Städteplanung und Landschaftsschutz vernachlässigt werden. Und weiter: Auch die private Armut ist zwar seltener geworden, aber nicht beseitigt, privater Reichtum zwar besser, aber noch lange nicht gerecht verteilt (wobei die Frage offenbleibt, was »gerecht« bedeuten würde). Doch überspitzt könnte man vielleicht sagen: Besser Reichtum für wenige und Wohlstand für die meisten als relative Armut für alle. Die jungen Völker, deren revolutionäre Anführer auch bei uns von der »Neuen Linken« als Helden verehrt werden, haben denn auch keinen sehnlicheren Wunsch, als möglichst schnell den kapitalistischen Lebensstandard zu erreichen: Die »Hölle des Konsums« (Herbert Marcuse) existiert wahrscheinlich nur in der Vorstellungswelt eines gut dotierten amerikanischen Universitätsprofessors.

Unter dem »kapitalistischen System« leben die Menschen nicht nur komfortabler, sondern vielfach auch - das sollte nicht verdrängt werden - freier als unter anderen Gesellschaftsordnungen. Um noch einmal Schumpeter zu zitieren: »Die Radikalen mögen darauf bestehen, dass die Massen nach Erlösung von unerträglichen Leiden schreien und in Nacht und Verzweiflung mit Ketten rasseln; aber selbstverständlich hat es früher niemals so viel persönliche - geistige und körperliche - Freiheit für alle gegeben, niemals so viel Bereitschaft, die Todfeinde der führenden Klasse zu dulden, ja sie zu finanzieren, niemals so viel tätiges Mitgefühl mit wirklichen und eingebildeten Leiden, niemals so viel Bereitschaft, Lasten auf sich zu nehmen, wie in der modernen kapitalistischen Gesellschaft.«

Hier liegt der bedeutsamste Vorzug dieses Kapitalismus, seine größte Chance, zu überleben: in der Fähigkeit, Freiheit gewähren zu können — oder weniger pathetisch ausgedrückt, in seiner Flexibilität. Es ist viel darüber spekuliert worden, ob nicht Hippies, selbst Gammler, ob nicht eine sich mehr und mehr verbreitende asketische Bewegung das kunstvolle Gebäude der Konsumgesellschaft zum Einsturz bringen müsste. Nun, in den letzten Jahren hat sich der Kapitalismus mit solchen Gruppen arrangiert - in den kommunistischen Staaten dagegen werden Außenseiter, die sich ihrer Verwandlung in funktionierende Glieder einer organisierten Gesellschaft widersetzen, von vornherein nicht geduldet. Im Grunde ist das verständlich: Ein starr gewordenes System wie der orthodoxe marxistische Sozialismus kann sich allzu große Aufweichung nur um den Preis der Selbstgefährdung erlauben. Ein System wie der ideologisch nicht fixierte Kapitalismus kann dagegen »weich« reagieren, seine Integrationskraft ist größer.

Kein sozialrevolutionärer Elan hat in den letzten hundert Jahren den Kapitalismus erschüttert. Gewerkschaften, Sozialdemokratie und andere ursprünglich revolutionäre Bewegungen wurden in das System integriert. Noch nie ist ein industriell entwickeltes Land freiwillig, also auf demokratische Weise, vom Kapitalismus zu einer anderen Wirtschaftsordnung übergegangen. Auch die Herausforderung durch die »Neue Linke« wird das System wohl nicht stürzen, wie manche erschreckten Bürger fürchten, sondern eher stärken. Der Kapitalismus wäre verloren, wenn er statisch würde wie andere Gesellschaftsordnungen - er ist ungefährdet, solange er dynamisch bleibt. Gegenwärtig befindet sich der Kapitalismus wieder im Übergang: An die Stelle des Unternehmers ist der Manager getreten, der Staat hat die Verantwortung für Vollbeschäftigung und stetiges Wachstum übernommen, die soziale Sicherung wird immer selbstverständlicher. Die Zukunft wird einem modernen, einem linken Kapitalismus gehören - mit strengeren Steuergesetzen für die wenigen Reichen und mehr Eigentum für die vielen Wohlhabenden, mit neuer Arbeitsteilung zwischen Staat und Privatwirtschaft. Und den jungen Revolutionären wird es sicher nicht anders gehen als ihren Vorläufern im letzten Jahrhundert: Sie arbeiten für den Umsturz und bewirken die Reform.

Vielleicht wird eines fernen Tages der Traum von einer »vollkommenen Welt« Wirklichkeit. Bis dahin bleibt der moderne Kapitalismus das wohl humanste Gesellschaftssystem mit dem höchsten Wohlstand und der größten Freiheit - gemessen nicht an den utopischen Hoffnungen, sondern an den Realitäten dieser Zeit. Bis dahin bleibt der Kapitalismus eine zukunftsträchtige Wirtschaftsordnung in einer Welt stetigen Wandels - in einer Welt, von der John Fitzgerald Kennedy gesagt hat: »Wir stehen an einer neuen Grenze, einer Grenze am Rande unbekannter Möglichkeiten und Gefahren, einer Grenze voller noch ungeborener Bedrohungen und Hoffnungen ...«"

[Quelle: Der Kapitalismus : von Manchester bis Wall-Street / Hrsg. von Diether Stolze u. Michael Jungblut. [Mitarb. an d. Dokumentation: Wolff Eder]. -- München : Desch, 1969. -- 384 S. : Ill. ; 25 cm. -- (Mächte und Kräfte unseres Jahrhunderts). -- S. 11 - 15.]


3.1. Eine katholische Bewertung des Kapitalismus



Der Vatikan ist in seiner Lehre antikapitalistisch


Abb.: P. Oswald von Nell-Breuning SJ (1890 - 1991)
[Bildquelle: http://www.st-georgen.uni-frankfurt.de/nbi/inst/PaterNell.html. -- Zugriff am 2005-10-07]

Der führende deutsche katholische Sozialethiker, Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning (1890 - 1991) kommt zu folgendem vernichtenden Urteil über den Kapitalismus:

"Auswirkungen des Kapitalismus

Nicht nach den Auswirkungen irgendeines theoretisch erdachten Kapitalismus fragen wir, sondern nach den Auswirkungen desjenigen Kapitalismus, den es wirklich gegeben hat und heute noch gibt. Nur was „wirklich" ist, kann wirken und darum (Aus-)Wirkungen haben. „Wirklich" ist gewesen und ist zum Teil heute noch der Liberalkapitalismus; „wirklich" ist in unserer Zeit vor allem der mehr oder weniger „sozial temperierte" Kapitalismus. Der Liberalkapitalismus hat böse, sogar sehr böse gewirkt; er hat dazu genügend lange Zeit und weltweite Gelegenheit gehabt. Im Vergleich zum Liberalkapitalismus ist der sozial temperierte Kapitalismus unserer Tage noch verhältnismäßig jung; er hatte daher noch nicht so viel Zeit, um sich im Bösen oder im Guten zu bewähren. Unsere heutige Welt ist noch weitgehend die vom Liberalkapitalismus bestimmte Welt, unsere heutige Gesellschaft ist noch weithin die vom Liberalkapitalismus verwüstete Gesellschaft. Sprechen wir von Auswirkungen des Kapitalismus, so meinen wir daher vornehmlich die Auswirkungen des Liberalkapitalismus. Was hat er angerichtet?

Wie wir die Auswirkungen dieses Kapitalismus werten, hängt entscheidend ab von dem Wertmaßstab, den wir anlegen. Da die Auswirkungen sich auf die verschiedensten Gebiete erstrecken, kommen wir mit einem einzigen Wertmaßstab nicht aus. Für jedes Gebiet müssen wir uns der ihm eigenen Wertmaßstäbe bedienen. Erst abschließend können wir versuchen, zu einem Gesamturteil zu kommen.

1. Wirtschaftliche Bilanz

Die Lobredner des Kapitalismus stellen seine wirtschaftlichen Erfolge in den Vordergrund. So sei denn versucht, sozusagen eine „wirtschaftliche Bilanz" des Kapitalismus aufzumachen. Auf der Aktivseite dieser Bilanz steht eine ungeheure Steigerung der Güterproduktion; eine gewaltig gestiegene, auf das Mehrfache angewachsene Menschenzahl wird durch die kapitalistische Wirtschaft unvergleichlich reichlicher und sicherer versorgt als je zuvor.

Auf der Passivseite steht dem gegenüber eine ungeheure Fehlleitung der Bedürfnisse und der zu ihrer Befriedigung eingesetzten Produktivkräfte: nicht so sehr der lebenswichtige, dringendste und wertechte Bedarf der Menschen wird gedeckt, sondern den Menschen werden Bedürfnisse anerzogen, oft sehr törichte, ja schädliche und selbst verwerfliche Bedürfnisse, denen zuliebe dann lebenswichtige Bedürfnisse zurückgedrängt werden, nur weil die kapitalistische Wirtschaft oder vielmehr der einzelne, im Konkurrenzkampf der kapitalistischen Wirtschaft stehende Unternehmer glaubt, an der Befriedigung der ersteren mehr verdienen zu können als an der Befriedigung der letzteren. Vergleichen wir aber die geradezu unvorstellbare Not breitester Menschenmassen in den von der kapitalistischen Wirtschaft bisher noch nicht oder nur ganz oberflächlich berührten Länder mit dem Versorgungsstand auch der Ärmsten bei uns, so müssen wir gerechterweise anerkennen, dass die kapitalistische Wirtschaft ungeachtet aller noch so schwerwiegenden und nicht zu beschönigenden Fehlleistungen im Ergebnis die wirtschaftliche Lage, den Versorgungsgrad auch derer, die auf der Schattenseite des Lebens sitzen, ganz merklich gebessert hat und ständig weiter verbessert. „Im Ergebnis": das will besagen, dass diese günstige Wirkung nicht sofort eingetreten ist. Unter der Herrschaft des ungehemmten Liberalkapitalismus litten die proletarischen Menschen — das wagt heute niemand mehr zu bestreiten — einige Jahrzehnte lang eine uns heute kaum mehr vorstellbare Not, „Ausbeutung" im schlimmsten Sinne des Wortes. Heute dagegen können wir umgekehrt feststellen: je ausgesprochener „kapitalistisch" ein Wirtschaftszweig ist, um so besser die Versorgungslage aller seiner Angehörigen, also auch der Arbeitnehmer; je weniger „kapitalistisch" ein Wirtschaftszweig ist, um so rückständiger sind die Verhältnisse, um so kümmerlicher die Lebensbedingungen sowohl der familienangehörigen als auch der entlohnten familienfremden Arbeitskräfte. Was hier von den Wirtschaftszweigen gesagt ist, gilt ebenso von den verschiedenen Ländern. So schließt die „wirtschaftliche Bilanz" des Kapitalismus trotz gewichtiger Passivposten doch unbestreitbar mit einem hohen Aktivsaldo ab. Mag diese Feststellung uns behagen oder nicht; wenn wir sachlich sein wollen, können wir uns ihr nicht entziehen. Bestünde das Glück des Menschen darin, gut zu essen, gut zu trinken, sich gut zu kleiden, eine schöne Wohnung mit allem technischen Komfort bis zum Aufzug, Staubsauger und Müllschlucker zu haben, über Radio, Fernsehen, Kühlschrank zu verfügen und, nicht zu vergessen: Auto zu fahren, dann wäre mit der getroffenen Feststellung der Kapitalismus gerechtfertigt und müsste man die Gräuel, die er im 18. und 19. Jahrhundert angerichtet hat, als unvermeidliche Übergangshärten hinnehmen, genauso wie der Kommunismus alles, was er an Scheußlichkeiten der heutigen Generation antut, als den Preis bezeichnet, der nun einmal entrichtet werden müsse, um den Übergang in das Paradies der klassenlosen Gesellschaft zu erkaufen. Sind wir dagegen der Meinung, das wahre Glück des Menschenlebens — schon des irdischen Lebens! — bestehe in anderem als in reichlicher Versorgung mit Gebrauchs- und Verbrauchsgütern, dann lässt die getroffene Feststellung das Gesamturteil über den Kapitalismus noch völlig offen.

2. Soziale Bilanz

Stellen wir der wirtschaftlichen Bilanz eine „soziale Bilanz" gegenüber, so ergibt sich ein ganz anderes Bild. Um diese soziale Bilanz aufzustellen, müssen wir sozusagen drei Kontenkreise unterscheiden: den Kontenkreis dessen, was wir die „Gesellschaft" schlechthin nennen, den Kontenkreis der kleinsten Gesellschaft, das ist der Familie, und den Kontenkreis der großen Gesellschaft, das ist des Staates.

a) Kontenkreis der Gesellschaft im ganzen

Was die Gesellschaft schlechthin, die gesellschaftliche Ordnung angeht, so hat der Kapitalismus die kapitalistische Klassengesellschaft geschaffen. Hier, wo es darum geht, den Kapitalismus an seinen Früchten zu erkennen, d. i. ihn nach seinen tatsächlichen Auswirkungen zu beurteilen, kann es völlig auf sich beruhen, ob das so kommen musste oder nicht. Der Kapitalismus, den wir oder richtiger unsere Vorfahren erlebt haben, hat tatsächlich zu diesem Ergebnis geführt. Das ist ein Bilanzpassivum, das durch keinen noch so gewichtigen Aktivposten aufgewogen werden kann.

Der Kapitalismus hat aber auch die kleine gesellschaftliche Institution der Familie und die große gesellschaftliche Institution des Staates verhängnisvoll in Mitleidenschaft gezogen.

b) Kontenkreis der kleinen Gesellschaft: die Familie

Die Familie wurde ihres wirtschaftlichen Gehaltes zum großen Teil entleert. Die kapitalistische Wirtschaftsweise trennte Haushalt und Betrieb, verlegte die Produktion der Güter in eigene, zum Teil riesenhafte Betriebsstätten und ließ den Familienhaushalten in der Hauptsache nur noch die Aufgabe, die produzierten Güter der letzten Konsumreife zuzuführen (wirtschaftliche Tätigkeit der Hausfrau) und zu konsumieren. Die Familie, die bis dahin Produktions- und Konsumtionsgemeinschaft gewesen war, wurde zur bloßen Konsumtionsgemeinschaft entleert. Produktionstechnisch gesehen, war dies ungemein zweckmäßig; unter diesem Gesichtspunkt würde es sich sogar empfehlen, in der eingeschlagenen Richtung noch weiter zu gehen und noch vieles von dem, was heute noch in den Haushalten geschieht (kochen, waschen, flicken und anderes mehr) gleicherweise an geeignete, leistungsfähige Betriebsstätten abzugeben; in der Tat schreitet die Entwicklung ja in dieser Richtung ständig weiter. So groß aber auch die produktionstechnischen Vorteile sein mögen, viel schwerer wiegen die Nachteile dieser wirtschaftlichen Entleerung der Familie. Die große Benachteiligung der kinderreichen Familie gegenüber der kinderarmen oder gar kinderlosen, der wir durch einen Ausgleich der Familienlasten (Familienausgleichskassen, Kindergeld, steuerliche Erleichterungen usw.) notdürftig abzuhelfen suchen, hat hier ihren Grund. Auch in den günstig dastehenden Haushalten mit mehreren Verdienern bleibt es bei der Unstimmigkeit: der oder die einzelnen verdienen, die Gemeinschaft verbraucht (schlagwortartig: individueller Verdienst, kollektiver Verbrauch), mit allen bekannten Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben. Aber selbst wenn es gelänge, diese Schwierigkeiten zu beheben, bliebe bestehen, dass die Familie nicht oder nur in ganz beschränktem Maße (Schrebergarten, Kleintierzucht und dergleichen) gemeinsam arbeitet, vielmehr das Arbeitsleben sie auseinanderführt, nicht selten sogar völlig auseinanderreißt. Das ist an sich schon ein Verlust an Gemeinschaftswerten; dieser aber führt allzu leicht zu einer Lockerung der Familienbande mit allen sittlichen Gefahren für die Ehegatten selbst und mit noch größeren Nachteilen für die Erziehung des nachwachsenden Geschlechts. Nach allen bisherigen Erfahrungen ist die Familie die Leidtragende der kapitalistischen Entwicklung.

c) Kontenkreis der großen Gesellschaft: der Staat

Auch den Staat hat der Kapitalismus schwer in Mitleidenschaft gezogen, und dabei ist es doch vielfach gerade der Staat gewesen, der den Kapitalismus großgezogen hat. Der moderne Staat erkannte, dass nur eine kapitalistische Wirtschaft imstande war, seine riesenhaften Bedürfnisse (nicht allein seinen Rüstungsbedarf) zu befriedigen; so ließ er sich die Förderung dieser Wirtschaftsweise angelegen sein und ließ sich das etwas kosten.

Dabei aber musste der Staat es erleben, dass die von ihm großgezogene kapitalistische Wirtschaft ihm über den Kopf wuchs. Nicht allein, dass sie die technischen, ökonomischen und sozialen Voraussetzungen der modernen Massengesellschaft und Massendemokratie schuf; sie trug entscheidend dazu bei, dass diese Massengesellschaft nicht nur in die beiden Klassen der Kapitalisten und Proletarier, sondern in eine Mehrzahl oder Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppen oder Machtblöcken zerfiel, die wir heute „organisierte Interessentenhaufen" oder — mit einem von den Amerikanern übernommenen Ausdruck — „pressure-groups" zu nennen pflegen, das ist Druckgruppen, weil sie dauernd nicht nur gegenseitig auf einander, sondern namentlich auch auf den Staat Druck ausüben, so dass der unter diesem Druck stehende Staat sich immer schwerer tut, seine Aufgabe, das ist die Sorge für das allgemeine Wohl, wahrzunehmen, und kaum noch imstande ist, unabhängig und nach sachlichen Erwägungen („objektiv") seine Entscheidungen zu treffen und seine Maßnahmen durchzuführen.

Diesen Zustand, das Vorhandensein einer Mehr- oder Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen mit ihrem ständigen Tauziehen um die Beeinflussung der staatlichen Willensbildung, der Gesetzgebung, der Verwaltung und am Ende gar auch noch der Rechtsprechung in ihrem eigennützigen Sinne, bezeichnen wir als unorganischen Pluralismus. Nicht dass eine Mehrzahl von Gruppen besteht und dass diese Gruppen verschiedene, zum Teil gegensätzliche Interessen haben, ist das Übel, sondern dass diese Gruppen sich nicht zu einem gewachsenen und sinnvollen Ganzen zusammenfügen, worin auch ihre Gegensätze einen organischen Ausgleich finden würden. Eben darum ist dieser Zustand unorganisch. Die Schuld daran, dass dem so ist, trägt der Kapitalismus, nicht allein der Liberalkapitalismus der Vergangenheit, sondern leider ebensosehr auch noch der sozial temperierte Kapitalismus der Gegenwart.

d) Ein einziger Aktivposten

Bis hierhin weist die soziale Bilanz des Kapitalismus nur Passivposten auf; um gerecht zu sein, müssen wir ihr auch einen Aktivposten gutbringen. Die kapitalistische Entwicklung hat wesentlich dazu beigetragen, die unhaltbar gewordene Feudalordnung zu überwinden und freiheitliche Zustände herbeizuführen. Trägt der Kapitalismus die Schuld an vielem, was an unsern heutigen demokratischen Zuständen unerfreulich ist, so bleibt ihm doch das Verdienst, einer demokratischen Ordnung überhaupt erst zum Durchbruch verholfen zu haben. Gewiss lag das nicht im Willen der „bürgerlichen" Kapitalisten; ihrer Absicht nach sollten die demokratischen Freiheiten den Besitzbürgern oder, wie man sich wohlklingender ausdrückte, den „Kreisen von Bildung und Besitz" vorbehalten bleiben. Tatsächlich aber kam es so: das kapitalistische Unternehmertum bedurfte der Freiheit, um sich regen und entfalten zu können, und so erkämpfte es sich Freiheit vom Staat; dann aber traten die Gegenspieler an, die das kapitalistische Unternehmertum hervorrief, die Arbeiterbewegung und namentlich die Gewerkschaften, und erkämpften die Freiheit im Staat. Da es hier nicht um die guten oder bösen Absichten der Kapitalisten geht, sondern um das, was tatsächlich herauskam, müssen wir feststellen: der Kapitalismus hat zwar ein durchaus zu achtendes Mitverdienst an unserer heutigen freiheitlich-demokratischen Ordnung, trägt aber die entscheidende Schuld an dessen Mängeln und Entartungen, an unserem ungeordneten, unorganischen Pluralismus der Interessentenhaufen oder „pressure-groups", die letztlich alle ihren Grund haben in der unseligen kapitalistischen Klassengesellschaft.

3. Kulturelle und moralische Bilanz

Versuchen wir noch, eine kulturelle und eine moralische Bilanz des Kapitalismus zu ziehen, so wird das Resultat weniger eindeutig sein. Unstreitig hat der Kapitalismus mit der modernen technischen Entwicklung ungeheure zivilisatorische Fortschritte gebracht und durchgesetzt. Die Teilnahme breitester Massen an den zivilisatorischen Errungenschaften hat aber — so scheint es wenigstens den meisten Beurteilern — zu einer bedenklichen kulturellen Verflachung geführt. Wer beispielsweise sieht, was die Benutzer unserer öffentlichen Verkehrsmittel an Lesestoff mit sich führen und in sich aufnehmen, kann sich dem Eindruck nicht entziehen, der technisch-zivilisatorische Fortschritt habe in die Nähe des kulturellen Nullpunktes geführt. Trotzdem bleibt Vorsicht im Urteil geboten; eine exakte statistische Bestandsaufnahme der in unsern Menschen, Familien und anderen Gemeinschaften vorhandenen und gepflegten kulturellen Werte lässt sich nicht durchführen. Noch größere Vorsicht ist geboten, wenn wir eine moralische Bilanz ziehen wollen. Die Wirtschaftsmoral des Kapitalismus ist zugestandenermaßen nicht nur in den Frühzeiten, sozusagen in den Flegeljahren des Kapitalismus, sehr robust gewesen; sie lässt auch heute noch, obwohl der Druck der „Grenzmoral" geringer geworden ist, sehr viel zu wünschen übrig.

Unter Grenzmoral verstehen wir ein Verhalten, das sich an der äußersten Grenze des sittlich oder strafrechtlich eben noch Erlaubten bewegt oder sich seine Grenze vorschreiben lässt vom Konkurrenten, dessen unlautere Machenschaften, Ausbeutung der Arbeitskräfte und so weiter man glaubt übernehmen zu müssen, um sich im Konkurrenzkampf behaupten zu können. — Die Kartelle rühmen sich, durch die von ihnen vorgenommene Regelung des Wettbewerbs befreiten sie die Unternehmer von diesem Druck und höben dadurch die Wirtschaftsmoral. Ein Körnchen Wahrheit wird daran sein. Die Enzyklika Quadragesimo anno gibt eine erschütternde Schilderung der in der kapitalistischen Wirtschaft eingerissenen sittlichen Verwilderung. So, wenn sie sagt, es sei keine Übertreibung, zu behaupten, dass die in dieser Wirtschaft und kapitalistischen Klassengesellschaft bestehenden Zustände „einer überaus großen Zahl von Menschen es ungemein schwer machen, das eine Notwendige, ihr ewiges Heil, zu wirken" (130), und „während der tote Stoff in veredeltem Zustand die Stätten der Arbeit verlässt, werden die Menschen dort an Leib und Seele verdorben" (13s). Es gibt aber auch Gegenposten, die in Rechnung gestellt sein wollen. Um nur einen zu nennen: wer vermöchte zu sagen, wieviel pflichttreue, aufopfernde, sorgfältige und gewissenhafte Arbeit von ungezählten Arbeitnehmern an ihren Arbeitsplätzen geleistet wird, in deren Hände die Sicherheit und Gesundheit nicht nur ihrer Arbeitskameraden, sondern auch der Verbraucher, der Verkehrsteilnehmer und so weiter gelegt ist. So viel steht fest: der Kapitalismus hat die sittliche Standhaftigkeit und Widerstandskraft ungezählter Menschen im ungeheuerlichsten Maß belastet, nicht nur, was die Wirtschaftsmoral angeht, sondern nicht minder, was das Familienleben und das öffentliche (politische) Leben betrifft. Ob diese Belastung mehr zu Versagern und zu sittlichem Zusammenbruch oder mehr zu sieghafter Bewährung geführt hat, entzieht sich menschlicher Erkenntnis; das zu beurteilen müssen wir dem ewigen Richter überlassen.

4. Abschließende Wertung

a) Zusammenfassung

Unser Urteil — soweit uns ein solches zusteht — über die Auswirkungen des Kapitalismus zusammenfassend, können wir feststellen: nur die wirtschaftliche Bilanz ergab einen unzweifelhaften Aktivsaldo, die soziale Bilanz schloss mit einem geradezu verheerenden Passivsaldo ab; die kulturelle und moralische Bilanz wiesen ebenfalls schwerwiegende Passivposten auf; da jedoch die gegenüberstehenden Aktivposten sich nicht hinreichend exakt bilanzieren lassen, bleibt eine schwache Möglichkeit offen, dass diese Bilanzen ausgeglichen sein könnten oder gar einen kleinen Überschuss aufweisen; die Wahrscheinlichkeit ist allerdings nicht groß.

So lässt sich folgendes feststellen: Wo es nicht bei der kapitalistischen Wirtschaftsweise bleibt, diese vielmehr die kapitalistische Klassengesellschaft nach sich zieht, sind die Auswirkungen verheerend. Darum muss die kapitalistische Klassengesellschaft verschwinden; mit ihr können wir keinen Frieden machen. Die kapitalistische Wirtschaftsweise brauchte jedoch nicht diesen Weg zu nehmen; sie lässt sich sogar nachträglich von der kapitalistischen Klassengesellschaft wieder lösen. Mit ihr können wir uns daher abfinden, indem wir uns um sie bemühen, das, was an ihr brauchbar ist, beibehalten und benutzen, das, was an ihr schadhaft oder mängelbehaftet ist, in Ordnung bringen, berichtigen, vervollkommnen (Quadragesimo anno 101).

b) Seitenblicke

Bis hierhin taten wir keinen Seitenblick, wie denn die Entwicklung ohne Kapitalismus wohl verlaufen wäre. Zu einem abgewogenen Urteil gehört aber doch der Vergleich: Wären wir, wenn kein Kapitalismus über uns gekommen wäre, heute besser oder schlechter daran als so? Welche andern Möglichkeiten hätten denn bestanden oder bestehen heute, die an die Stelle des Kapitalismus treten, seinen Platz einnehmen und uns so den Kapitalismus ersparen können? Anstatt über theoretische Möglichkeiten zu spekulieren, können wir auch einfach praktisch fragen: Wie sah es aus, bevor der Kapitalismus hochkam, wie sieht es in den Ländern aus, die bis heute noch vom Kapitalismus unberührt geblieben oder doch nur wenig berührt worden sind? Fällt ein solcher Vergleich zugunsten oder zuungunsten des Kapitalismus aus? i) Wie sah es aus, bevor der Kapitalismus hochkam? Die Antwort auf diese Frage muss lauten: es sah so übel aus, dass die aufkommende kapitalistische Wirtschaft in die kapitalistische Klassengesellschaft abrutschte. Insoweit können wir wohl sagen: die Sünden des Kapitalismus sind zum guten Teil der Fluch des Erbes, das er aus der vorkapitalistischen Epoche, der Feudalzeit, überkam.

1) Wie sieht es in den Ländern aus, die bis heute noch vom Kapitalismus unberührt geblieben oder doch nur wenig berührt worden sind?

Kurz und bündig lautet die Antwort auf diese Frage so: in diesen Ländern sind die Zustände so unhaltbar, herrschen so unerträgliche soziale Spannungen, dass sie entweder bereits dem Kommunismus-Bolschewismus zum Opfer gefallen sind (Russland, China) oder doch sich im höchsten Grade für den Kommunismus-Bolschewismus anfällig erweisen. Zur kommunistisch-bolschewistischen Revolution kam es nicht in den nach der Marxschen Lehre für den Sozialismus „reifsten", weil am stärksten „kapitalistischen" Ländern, sondern in Russland, wo 1917 die kapitalistische Wirtschaft nur eine verschwindend geringe Rolle spielte. Dasselbe gilt von der zweiten kommunistischen Großmacht, von China. Fast könnten wir sagen: je fortgeschrittener ein Land in der kapitalistischen Entwicklung ist, um so weniger anfällig ist es für den Kommunismus: die USA am allerwenigsten, dann England, die skandinavischen Länder und unsere Bundesrepublik. Umgekehrt: je „zurückgebliebener" ein Land ist, um so größer seine Anfälligkeit für den Kommunismus: Frankreich, Italien, Spanien, die lateinamerikanischen Länder bis zu den übervölkerten Gebieten Afrikas und Asiens bilden eine absteigende Leiter. Das besagt wahrhaftig nicht, der Kapitalismus sei ein Heil- oder Schutzmittel gegen den Kommunismus. Immerhin spricht es dafür, dass der sozial temperierte Kapitalismus die Lage der breiten Volksmassen nicht verschlimmert, sondern eher verbessert hat, und dies um so mehr, je weiter mit der fortgeschrittenen kapitalistischen Entwicklung auch die „soziale Temperierung" des Kapitalismus fortgeschritten ist. Streiten kann man im Grunde nur darüber, ob diese Verbesserung durch den Kapitalismus oder dem Kapitalismus zum Trotz (indem die „soziale Temperierung" ihm die Giftzähne ausgebrochen hat) zustande gekommen ist. Das ist aber mehr ein Streit um Worte als um die Sache, denn die Kräfte, die den ursprünglich bösartigen Liberalkapitalismus sozial temperiert haben, nicht zuletzt auch die Gewerkschaften, sind — gewissermaßen als Gegengifte — aus der kapitalistischen Entwicklung selbst hervorgegangen. Die feudalistischen Zustände der „zurückgebliebenen Gebiete" wie auch die kommunistisch-bolschewistische Entwicklung scheinen dagegen keine solchen heilsamen Gegenkräfte aus sich hervorzutreiben.

Ziehen wir unvoreingenommen einen Vergleich, so schneidet der Kapitalismus nicht so ganz schlecht ab; soviel wir ihm auch zur Last zu legen haben, er ist immer noch und seine Auswirkungen sind immer noch erträglicher als alles, was wir sonst aus Erfahrung kennen. Schlecht schneidet der Kapitalismus erst ah, und dann allerdings sehr schlecht, wenn wir ihn und seine Auswirkungen verglichen mit dem, was sein könnte und sollte. Man sage nicht, ein solcher Vergleich sei sinnlos; man dürfe nur Erfahrung mit Erfahrung und Wunschbild mit Wunschbild vergleichen, nicht aber die rauen Tatsachen der Erfahrung mit* der lichten Vorstellung eines Wunschbildes. Mit gehöriger Maßhaltung und Vorsicht angestellt, ist auch ein solcher Vergleich sinnvoll und berechtigt, dann nämlich, wenn wir ihm den Ansporn entnehmen, das Bessere, das sein könnte und sollte, gedanklich zu erarbeiten und tatkräftig zu verwirklichen."

[Quelle: Witte, Liederik de ; Nell-Breuning, Oswald von <1890 - 1991>: Kirche, Arbeit, Kapital. -- Frankfurt [a.M.] [u.a.] : Büchergilde Gutenberg, 1966. -- 374 S. ; 21 cm. -- S. 199 - 210]

Ob das der Christlich-Demokratischen Union unter Angela Merkel noch bewusst ist?


Abb.: Die Union — die Sammlung aller Christen auf politischer Ebene, Wahlplakat NRW, 1946

Über P. v. Nell-Breuning:


Jesuiten-typisch

"Kurzbiographie von Pater Oswald von Nell-Breuning SJ

Bereits zu Lebzeiten galt der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning als einer der führenden Vertreter und Interpreten der „Katholischen Soziallehre“. Zugleich wurde ihm eine herausragende Bedeutung als politischer Intellektueller zugesprochen, der sowohl gesellschaftswissenschaftliche, ökonomische, juristische, philosophische wie auch theologische Kompetenzen aufbringt. Als Redner, Schreiber, Politikberater, Dozent und politisch intervenierender Akteur hat er sich mit fast allen wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen seiner Zeit befasst – und stand so häufig im Mittelpunkt öffentlichen Aufmerksamkeit.

Oswald von Nell-Breuning SJ wurde am 8. März 1890 als Sohn einer Adelsfamilie in Trier geboren. Nach einem kurzen Studienauftakt in den Disziplinen Mathematik und Naturwissenschaften studierte er Theologie und Philosophie. Nationalökonomisch bildete er sich autodidaktisch aus. 1911 trat er in den Orden der Gesellschaft Jesu (SJ) ein; 1921 wurde er zum Priester geweiht. Am theologischen Fachbereich der Universität Münster (Wstf.) promovierte er 1928 mit seiner Arbeit über die „Grundzüge der Börsenmoral“. Noch im selben Jahr wurde er als Professor für Moraltheologie, Kirchenrecht und Gesellschaftswissenschaft an die Philosophisch-Theologische Hochschule St. Georgen nach Frankfurt am Main berufen. Mit Unterstützung des sogenannten „Königswinterer Kreises“, einer losen Vereinigung von katholischen Intellektuellen (Götz Briefs, Theodor Brauer, Paul Jostock, Franz H. Müller, Gustav Gundlach SJ u.a.) leistete Nell-Breuning die grundlegenden Vorarbeiten für das 1931 erschienene Rundschreiben von Papst Pius XI »Quadragesimo Anno«, dem systematischen Dokument kirchenamtlicher Sozialverkündigung mit pointiert lehrhaftem Charakter.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zu einem angesehenen Berater in wichtigen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen der sich formierenden Bundesrepublik Deutschland: er war Mitglied im Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft (1948-1969), stellvertretender Vorsitzender des Wohnungswirtschaftlichen Beirates beim Bundesministerium für Städtebau und Wohnungswesen (1950-1958), Mitglied des Beirats beim Bundesministerium für Familien- und Jugendfragen (1959-1961) und seit 1959 Mitglied des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Zugleich war er als Professor und Dozent auch außerhalb der ordenseigenen Hochschule St. Georgen tätig: u.a. seit 1948 als Lehrauftrag für Moraltheologie und Sozialethik an der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt/M., seit 1956 als Honorarprofessor für philosophische Grundfragen der Wirtschaft an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der gleichen Universität, oder ab 1949 mit Lehrtätigkeiten an der Frankfurter Akademie der Arbeit. Neben der kontinuierlichen Arbeit in diesen institutionalisierten Funktionen begleitete er in informellen Positionen direkt und indirekt die programmatischen Diskussionen und die politische Praxis der Gewerkschaften und der beiden großen Volksparteien SPD und CDU. Innerhalb des bundesdeutschen Katholizismus war er zeitweise ein gefragter Berater für kirchliche Gremien und Verbände. Dabei ragen seine Mitwirkung in der innerkatholischen Gewerkschaftsdiskussion der 50er Jahre, in der katholischen Mitbestimmungsdiskussion der 60er Jahre und schließlich sein Engagement in der Würzburger Synode der katholischen Bistümer Westdeutschlands (1971-1975) für das umstrittene Dokument „Kirche und Arbeiterschaft“ heraus.

 

In diesen vielfältigen Aktionsfeldern nahm Nell-Breuning oftmals Schlüsselstellungen ein. Er präsentierte Kompromisslösungen zwischen opponierenden Interessen präsentierte – oder wurde auch nur von konkurrierenden Positionen gleichermaßen zu Legitimationszwecken benutzt. Jedenfalls wurde der Jesuitenpater in den politischen Arenen über die Grenzen von Parteien und Tarifpartner hinweg allgemein akzeptiert. Unumstritten galt er als der „Nestor der katholischen Soziallehre“.

 

Für sein Lebenswerk wurden ihm zahlreiche Auszeichnungen unterschiedlichster Institutionen verliehen: der Guardini Preis der Katholischen Akademie in Bayern (1972), die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt (1977), die Leuschner Medaille des Landes Hessen (1979) oder der Hans-Böckler-Preis (1980). An seinem 100ten Geburtstag wurde ihm vom damaligen Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker das Großkreuz des Bundesverdienstordens verliehen.

 

Als Autor, Redner und Berater hat Oswald von Nell-Breuning erheblichen Einfluss auf die sozial- und wirtschaftspolitische Entwicklung der Bundesrepublik als sozial- und rechtsstaatlich organisierte Industriegesellschaft genommen. Insbesondere hat er durch seine politisch-praktische und politisch-theoretische Tätigkeit dazu beigetragen, dass einerseits die katholisch-kirchlichen Institutionen wie auch die traditionell orientierten Teile des sozialen Katholizismus in den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess der Bundesrepublik integrierten werden konnten, und dass andererseits die westdeutsche Modernisierung eine „sozial-katholische" Richtung nahm. "

 

[Quelle: http://www.st-georgen.uni-frankfurt.de/nbi/inst/PaterNell.html. -- Zugriff am 2005-10-07]


Abb.: Theorie und Praxis: ist offiziell für einen dritten Weg, aber gleichzeitig Herr über eines der größten Aktienvermögen (des Vatikans) der Welt: Seine Heiligkeit Benedikt XVI. (Bildquelle: Der Heilige Stuhl)


4. Der Aktionär als Eigentümer: Shareholder value und Corporate Governance


"Historisch gesehen begann mit der Aktie die Trennung von Eigentums- und Verfügungsrechten. Denn in der Praxis sind die Entscheidungsrechte der Aktionäre in der Unternehmung verkümmert. Das gilt sogar für die Wahlrechte auf der Hauptversammlung. Oft sind die Aktionäre auf Vorschläge des Managements angewiesen. Die faktischen Verfügungsrechte liegen allein beim Management. So unterstreicht die Aktie, dass "Eigner" oftmals weit draußen stehen, zumindest wenn es um Informationen und Entscheidungen geht. Denn "zum Essen" kommen die Aktionäre "an den gedeckten Tisch" in der Unternehmung. Fremdkapitalgeber, meist Banken, sind hingegen vielfach gar nicht so fremd: Sie gehen in der Unternehmung ein und aus und sprechen öfters mit dem Management. In der Folge haben die Aktionäre, eigentlich die Herren der ganzen Veranstaltung, einen schwachen Stand. Diverse Gesetze sind zum Schutz der Aktionäre verabschiedet, besonders zum Schutz von Minderheitsaktionären.


Abb.. Hermann Josef Abs
[Bildquelle: http://www.hdg.de/Final/deu/page2083.htm. -- Zugriff am 2005-10-21]

Gelegentlich "verbünden" sich Manager und Banken sogar gegen die Aktionäre. Dem Bankier Hermann Abs (1901-1994) wurde nachgesagt, er habe den Aktionär einmal als "dumm und frech" bezeichnet. Dumm sei der Aktionär, weil er der Unternehmung sein Geld gegeben habe, frech, weil er auch noch eine Dividende verlange. Viele Manager haben die Interessen der Aktionäre zwar zur Kenntnis genommen, aber doch etwas anderes gemacht. Einige haben sich einfach hinter technischen Prinzipien der Produktion versteckt ("der Betrieb verlangt das"), oder sie haben über den Absatz eine rein auf Wachstum und Umsatz, nicht aber am Ertrag orientierte Strategie eingeschlagen. Gegen ein solches Verhalten von Managern haben sich um 1980 Interessengruppen formiert. Der Shareholder-Value-Gedanke betont die Pflicht des Managements, das Wohl der Aktionäre bei allen Entscheidungen zu berücksichtigen. Selbstverständlich muss dabei das Management die Gesetze wahren (etwa hinsichtlich des Schutzes der Umwelt) und die Vereinbarungen einhalten (Fremdkapital, Lohnzahlungen). Doch wo es Freiraum gibt, so der Shareholder-Value-Gedanke, soll das Management den Interessen der Aktionäre folgen.

Auf der anderen Seite werden mit der Öffnung der Finanzmärkte für jedermann auch Menschen angesprochen sich zu beteiligen, die überhaupt nicht in der Lage wären, Verfügungsrechte auszuüben. Viele Unternehmen wären inzwischen zugrunde gegangen, wenn die Aktionäre nicht so abgestimmt hätten, wie es die Manager ihnen vorgeschlagen haben. Die Trennung von Eigentum und Verfügung ermöglicht die Professionalität der Unternehmensführung.

Besonders deutlich wird die Tatsache, dass "Eigner" gelegentlich fern, und "Fremde" der Unternehmung nah sind, in einer Krise. In Krisen ruft das Management — und rufen auch die Menschen unserer Zeit — laut nach den Banken. Sie, die Fremdkapitalgeber, mögen doch bitte retten und neue Kredite geben. Die Aktionäre sind in Krisenzeiten oftmals still und warten ab. Jedenfalls drängen sie sich nicht an den Banken vorbei, um "ihrer" Unternehmung mit einer Kapitalerhöhung auf die Sprünge zu helfen.

Das gibt der Aktie etwas Zwiespältiges. Einerseits ist der Aktionär der Risikoträger, andererseits nutzt er die Liquidität der Finanzmärkte, um sich bei der ersten Verdunklung möglichst früh davon zu stehlen. Jedoch ist es keine Lösung, die Aktionäre zu binden und zu verpflichten: Die Unternehmung erhielte nicht das erforderliche Risikokapital.

So ist aus Sicht der Unternehmung, sprich des Managements, der Aktionär gleichzeitig erwünscht und unbeliebt. Und es macht Sinn, die Aktionäre und die Unternehmung als verschieden anzusehen und davon auszugehen, dass doch ab und zu die Unternehmung etwas anderes will als ihre Aktionäre."

[Quelle: Spremann, Klaus ; Gantenbein, Pascal: Kapitalmärkte. -- Stuttgart : Lucius & Lucius, 2005. -- 246 S. : Ill ; 22 cm. -- ISBN 3-8252-2517-8. -- S. 161f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Zu Shareholder value siehe:

Payer, Margarete <1942 - >: Kulturen von Arbeit und Kapital. -- 1. Einführung. -- URL: http://www.payer.de/arbeitkapital/arbeitkapital00.htm

Corporate Governance soll managergeführten Großunternehmen die Rechte der Eigentümer (Aktionäre) schützen.

"Corporate Governance (eng. "Unternehmensführung und -kontrolle") bezeichnet die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, die mittelbar oder unmittelbar Einfluss auf die Führungsentscheidungen eines Unternehmens und somit auf den Unternehmenserfolg haben.

Abgrenzung

Corporate Governance ist eine Sache der gesetzlichen oder quasi-gesetzlichen Rahmenbedingungen unternehmerischer Entscheidungen, Unternehmensführung ist die wirtschaftswissenschaftlich fundierte Sammlung an Werkzeugen und Methoden, um ein Unternehmen zu führen.

Geschichte

Der Ausgangspunkt für die Deklaration und Einführung von Corporate Governance liegt in den 1930er Jahren, als erstmals das Auseinanderklaffen von Aktionärsinteressen und Unternehmensführung erkannt wurde. Ein bedeutendes Buch dazu erschien 1932 unter dem Titel "The Modern Corporation and Private Property" von Adolf A. Berle und Gardiner C. Means.

Unter diesem Titel erschien der Begriff erstmals 1976, wurde aber erst durch den Cadbury Report (1992), den Greenbury Report (1995) und den Hampel Report (1998) bekannt, welche über praktische Erfahrungen damit berichteten.

Diese Reports förderten weltweit die Bemühungen der Unternehmen, ihre Grundsätze einer guten Corporate Governance (siehe auch: Good Governance und Corporate-Governance-Grundsätze) zu Papier zu bringen. Diese Grundsätze formulieren einerseits die wesentlichen gesetzlichen Regelungen zur Unternehmensführung und -überwachung, andererseits aber auch bloße Empfehlungen, etwa zur Rechnungslegung und Abschlussprüfung oder zur Arbeit des Vorstandes und der Aufsichtsgremien (z.B. Aufsichtsrat) von Unternehmen.

Internationale Regelungen

OECD


Abb.: Mitgliedstaaten der OECD
[Bildquelle: Wikipedia]

Die OECD Principles of Corporate Governance wurden erstmalig 1998 publiziert und 2004 aktualisiert. Die Prinzipien berücksichtigen sowohl das dualistische "two-tier" System mit Aufsichtsrat und Vorstand als auch das einstufige "unitarian" Board-System.

Im Jahr 2005 hat die OECD einen Arbeitskreis ins Leben gerufen, der konkrete Vorschläge zur Umsetzung der Guidelines durch Boards - Leitungs- und Überwachungsorgane - erarbeiten soll.

Die OECD CG Guidelines sind Soft Law - rechtliche Instrumente für die Durchsetzung der Prinzipien z.B. durch Aktionäre oder Gerichte sind nicht vorgesehen. Man vertraut hier auf die regulierende Wirkung des Marktes.

Finanzdienstleister


Abb.: G10-Länder
[Bildquelle: Wikipedia]

1975 wurde von den G10-Ländern der "Basler Ausschuss für Bankenaufsicht" gegründet. Unter den Namen Basel I (1988) und Basel II (2002) wurden Richtlinien erlassen, die Anforderungen an die Kreditwürdigkeit von Gesellschaften formulierten. Während Basel I nur Banken und Finanzinstitute im Visier hatte, sind bei Basel II sämtliche operationelle Risiken und somit die Kreditwürdigkeit aller Unternehmen erfasst.

Öffentliche Institutionen

Über die bestehende, für den privatwirtschaftlichen Bereich gedachten Corporate Governance Guidelines hinaus wurde von der OECD im Mai 2005 eine Richtlinie für öffentliche Institutionen (englisch) verabschiedet; diese Vorschläge wurden mit Vertretern von INTOSAI und EUROSAI erarbeitet.

Europäische Union


EU-Regelung

Auf europäischer Ebene hat die EU-Kommission zur Prüfung der in den Mitgliedsstaaten bewährten Verfahren im Oktober 2004 ein Europäisches Corporate Governance-Forum eingerichtet. Dieses Forum soll die Konvergenz der nationalen Corporate Governance-Kodizes fördern sowie die Kommission beraten. Dem Forum gehören fünfzehn Experten mit unterschiedlichem fachlichem Hintergrund an. Die Mitglieder des Forums werden für 3 Jahre ernannt.

Nationale Regelungen

Deutschland


Deutsche Regelung

In Deutschland sind die Corporate Governance-Grundsätze in dem so genannten Corporate-Governance-Kodex fixiert worden. Eine vom Bundesministerium für Justiz im September 2001 eingesetzte Regierungskommission hat am 26. Februar 2002 diesen Kodex verabschiedet. Der Kodex soll dazu beitragen, die in Deutschland geltenden Regeln für die Unternehmensleitung und –überwachung für nationale und internationale Investoren transparent zu machen. Auf diese Weise soll das Vertrauen in die Unternehmensführung deutscher Unternehmen nachhaltig gestärkt werden.

Schweiz


Schweizer Regelung

In der Schweiz gibt es keine gesetzlichen Mindestbedingungen zu Corporate Governance. In den Zulassungesbedingungen zum Börsenhandel an der SWX sind jedoch einige Mindestanforderungen für Unternehmen definiert. Seit dem 1. Juli 2002 existiert zudem der Swiss Code of Best Practice (oder "Swiss Code") vom Dachverband der Schweizer Wirtschaft (economiesuisse). Dieser listet Verhaltensregeln auf, die für eine vorbildliche Corporate Governance notwendig sind.

Österreich


Österreichische Regelung

Der Österreichische Arbeitskreis für Corporate Governance hat mit dem Österreichischen Corporate Governance Kodex ein internationalen Standards entsprechendes Regelwerk geschaffen. Der Kodex trat mit seiner Verkündung am 1. Oktober 2002 in Kraft.

Großbritannien


UK-Regelung

Der Cadbury Report (1992), der Greenbury Report (1995) und der Hampel Report (1998) bilden das Basis für Corporate Governance in Großbritannien.

Der heute für börsennotierte Unternehmen maßgebliche Turnbull Report wird 2005 von der Flint Commission überarbeitet.

Frankreich


Französische Regelung

Hier gibt es unter anderem das Loi de Sécurité Finacière von 2003 (LOI n° 2003-706 du 1er août 2003 de sécurité financière, LSF).

Vereinigte Staaten


US-Regelung

Basis bilden u.a. die auf der Arbeit der Treadway-Kommission beruhenden Kontrollmodelle COSO (1992) und COSO ERM (2004). Seit 2002 ist der Sarbanes-Oxley Act (SOX) für alle Unternehmen verbindlich, die an einer der US-Börsen notiert sind.

Kanada


Kanadische Regelung

Neben dem CoCo-Kontrollmodell (1995) gibt weitere konkrete Vorgaben und Instrumente, die vom Risk Management and Governance Board (RMGB) des CICA erarbeitet werden."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Corporate_Governance. -- Zugriff am 2005-10-21]


5. Neue Horizonte von Anlegern
(investors)


 


Abb.: BRIC - das Zauberwort der Zukunft?

Brasilien Russland Indien China
"BRIC-Fonds kommen in Mode

Neue Anlageprodukte setzen auf die erfolgreichen Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China

Das neue Zauberwort der Investmentindustrie lautet BRIC. Die Abkürzung steht für Brasilien, Russland, Indien und China und elektrisiert Anleger, seit die Investmentbank Goldman Sachs vor einigen Monaten prognostizierte, dass diese vier Länder im Jahr 2050 die führenden Industrienationen sein werden.

Inzwischen gibt es mit dem HSBC BRIC Freestyle, dem DWS Invest BRIC Plus und dem ISI BRIC Equities der dänischen Sydinvest auch erste Fonds, die ganz auf diese Länder setzen. Auch Zertifikate wie das BRIC Basket-Zertifikat von ABN Amro werden dem Trend gerecht.

"Ob die Prognosen von Goldman Sachs genau so eintreffen, ist nicht sicher", sagt DWS-Fondsmanager Thomas Gerhardt. Entscheidend sei jedoch der Trend. "In einigen Jahren wird die Welt ganz anders aussehen als heute."

China entwickelt sich immer mehr zur Werkbank der Welt. Indien ist dabei, sich zu öffnen und das Beispiel des Nachbarn im Osten nachzuahmen. Vor allem mit Dienstleistungen und Software-Produkten will das Land den Anschluss finden. Russland wird aufgrund seiner riesigen Öl- und Gasreserven an Bedeutung gewinnen, und Brasilien gilt heute schon als das Rohstofflager der Welt.

Von dieser Wachstumsdynamik wollen auch die BRIC-Investments profitieren. Allerdings ist wirtschaftlicher Aufschwung nicht immer gleichbedeutend mit einem Anstieg der Börsenkurse. Das Beispiel China belegt dies überdeutlich. Trotz eines Wirtschaftswachstums von knapp zehn Prozent sind die Kurse an den Börsen in Shanghai und Shenzhen in den letzten Jahren drastisch gefallen. In Hongkong sieht es etwas besser aus, doch auch dort ist die Diskrepanz zwischen Indexstand und Wirtschaftsboom augenscheinlich.

Zudem sind die Fonds derzeit sehr rohstofflastig. Im HSBC-Fonds kommen von den zehn größten Positionen sieben Unternehmen aus der entsprechenden Branche. Auch der DWS-Fonds, der soeben erst aufgelegt wurde, dürfte zu rund einem Drittel in Energie und Rohstoffe investieren.

"Derzeit sind Rohstoffe und Energiewerte zweifellos das beherrschende Thema", sagt Frank Appel, Fondsexperte bei HSBC Trinkaus & Burkhardt. "Die nächste große Wachstumsstory in diesen Ländern steht jedoch schon vor der Tür: der Konsum", glaubt er. Die Zahl der Menschen mit einem mittleren Einkommensniveau, nach lokalem Maßstab, werde sich in den vier Ländern innerhalb weniger Jahre auf 800 Millionen vervierfachen.

Schließlich sind auch die politischen Risiken in den vier Ländern nicht gering. "Das Beispiel Jukos hat uns das vor Augen geführt", so Thomas Gerhardt. Man dürfe diese Risiken jedoch auch nicht überbewerten. So brach der Aktienmarkt in Indien nach der letzten Wahl ein, weil die wirtschaftsfreundliche Regierung verloren hatte. "Inzwischen haben indische Aktien die Verluste jedoch schon wieder mehr als wettgemacht", sagt der DWS-Fondsmanager.

Dennoch mischt er zur Verringerung der Schwankung in dem Fonds auch Aktien aus anderen Ländern wie Südkorea, Taiwan oder Mexiko bei. Für die BRIC-Staaten ist nur ein Mindestanteil von zehn Prozent je Land verbindlich. Dadurch wird eine größere Diversifizierung erzielt, andererseits ist das Label "BRIC" dafür natürlich nicht mehr ganz korrekt.

Der HSBC-Fonds setzt dagegen ausschließlich auf Aktien aus den vier Ländern. Derzeit sind sie annähernd gleich gewichtet. Zudem wird der Fonds von vier Managern bestückt, die vor Ort leben und arbeiten, also in Hongkong, Mumbai, Moskau und São Paulo.

Dies sorgt für größere Nähe zu den Märkten. Deutlich größere Schwankungen als bei Fonds auf Aktien aus den Industrieländern können sie jedoch auch nicht verhindern. "Auf jeden Fall ist BRIC ein langfristiges Thema", warnt daher Frank Appel. "Für kurzfristig orientierte Anleger ist es nicht geeignet", sagt er.

Frank Stocker

Artikel erschienen am 1. Mai 2005"

[Quelle: Welt am Sonntag. -- 2005-05-01. -- http://www.wams.de/data/2005/05/01/712380.html. -- Zugriff am 2005-09-30]


6. Weiterführende Ressourcen



Abb.: Hüllentitel

The Corporation / von Mark Achbar, Jennifer Abbot & J. Bakan. -- Frankfurt a. M. : Zweitausendeins, [2006]. -- 1 Video-DVD : 145 Min. Spielzeit. -- [Englisch mit deutschen Untertiteln. Sehr empfehlenswert!]


Zu 3.1.: Unternehmensformen und Finanzierung