Aktion "Rettet den Hausarzt"

Gesundheitsökonomie

1. Ethische Fragen


von Dr. med. Susanne Blessing


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Zitierweise / cite as:

Blessing, Susanne <1957 - >: Gesundheitsökonomie. -- 1. Ethische Fragen. -- (Aktion "Rettet den Hausarzt"). -- Fassung vom 2006-01-08. -- URL: http://www.payer.de/arztpatient/gesundheitsoekonomie01.htm      

Erstmals publiziert: 2006-01-08

Überarbeitungen:

Anlass: Gesundheits"reform"

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0. Übersicht



1. Motto


"Grau ist alle Theorie"


2. Einleitung


In diesem Kapitel soll auf die grundlegenden ethischen Fragen hingewiesen werden, mit denen Gesundheitsökonomie konfrontiert ist. Da sich der prominente Gesundheitsökonomiker Karl W. Lauterbach im entsprechenden Standardlehrbuch explizit mit diesen Fragen beschäftigt, besteht dieses Kapitel im Wesentlichen aus einer Darstellung von Lauterbachs Ausführungen samt einem begleitendem Kommentar aus der Sicht einer Praktikerin der Allgemeinmedizin. Dieser Kommentar nimmt (im Unterschied zu Lauterbachs Darstellung) bewusst "subjektiv" Stellung. Nur aufgrund des Miteinanders und Gegeneinanders solcher subjektiver Stellungnahmen können sachbezogene Kompromisse und Entscheidungen durch Ärzte und Patienten angeregt, und dann von den Entscheidungsträgern (hoffentlich) auch getroffen werden.


Abb.: Univ. Prof. Dr. med. Dr. sc. (Harvard) Karl W. Lauterbach, geboren 1963, verheiratet, 4 Kinder, Mitglied des Bundestags (SPD), Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie  (IGKE) der Universität zu Köln, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (1999 - 2005). in der Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme - gen. Rürup-Kommission - , im Aufsichtsrat der Rhön-Kliniken, in der Programmkommission der SPD Köln, in der Arbeitsgruppe Bürgerversicherung des Parteivorstands der SPD, Experte für die Programmkommission der SPD-Bundespartei, Mitglied von ver.di
[Bildquelle. http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID3795788_REF1_NAV,00.html. -- Zugriff am 2005-12-27]

In

Lauterbach, Karl W. <1963 - >: Ethik: Utilitarismus und Kant. -- In: Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und evidence based medicine : eine systematische Einführung ; mit 99 Tabellen / hrsg. von Karl W. Lauterbach ; Matthias Schrappe. -- 2., überarb. und erw. Aufl. -- Stuttgart : Schattauer, 2004. -- XVI, 573 S. : Ill., graph. Darst. ; 25 cm -- ISBN 3-7945-2287-7. -- S. 3 - 10. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

fordert der Autor, Univ. Prof. Dr. med. Dr. sc. (Harvard) Karl W. Lauterbach, Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie  (IGKE) der Universität zu Köln, zu Recht:

"Um die Frage nach den Grenzen der Ansprüche der Versicherten klären zu können, muss eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit darüber beginnen, was eigentlich die Ziele der solidarisch eingesetzten Mittel im Gesundheitssystem sind. Ohne eine solche Diskussion kann in der Bevölkerung nicht die notwendige Unterstützung der notwendigen Reform des Gesundheitssystems im Zeitalter des Einzugs der Ökonomie gewonnen werden. Diesbezüglich ist das deutsche Gesundheitssystem in der Situation, dass es sich wandeln muss, um zu bleiben, was es ist. Die in Deutschland im internationalen Vergleich bestehende große Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem wird verloren gehen, wenn es nicht gelingen wird, eine breite Akzeptanz für die Begrenzung der Versicherten-Ansprüche zu führen. Dabei muss insbesondere berücksichtigt werden, was die Opportunitätskosten der Ausweitung der Ausgaben für die Gesundheitsversorgung sind, d. h., welche anderen gesellschaftlichen Ziele mit den entsprechenden Mitteln verfolgt werden könnten. Damit diese Diskussion geführt werden kann, sollte ein theoretisches Grundverständnis der Alternativen geschaffen werden, mit denen die Leistungsansprüche zugunsten einer besseren Verwendung der in Frage stehenden Ressourcen begrenzt werden könnten."

[a.a.O., S. 7.]

Eine solche öffentliche Diskussion anregen zu helfen, ist der Zweck dieses Kapitels.


3. Das Problem der Rationierung


Das ökonomische Grundproblem der solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung ist nach Lauterbach, auf welche medizinischen Leistungen die Versicherten angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen einen Anspruch haben.

"Während es unstrittig ist, dass die Versicherten einen Anspruch auf eine medizinisch ausreichende und wirtschaftlich erbrachte Versorgung haben, ist es in der Öffentlichkeit unklar, was damit genau gemeint ist.
  • Besonders strittig ist die Frage, ob auch ein Anspruch auf Leistungen besteht, die selbst dann, wenn sie fachgerecht und so wirtschaftlich wie möglich erbracht werden, sehr teuer sind.
  • Noch strittiger ist die Frage, ob dieser Anspruch auch dann besteht, wenn diese Leistungen im Vergleich zu ihren billigeren Alternativen nur einen geringen Zusatznutzen aufweisen, d.h. eine schlechte Kosten-Nutzen-Relation haben, oder der Zusatznutzen im Vergleich zur billigeren Alternative wissenschaftlich noch nicht eindeutig erwiesen ist."

[a.a.O., S. 9]

Es geht also um das Problem der Rationierung. Rationierung definiert Lauterbach so:

"In der Regel wird damit [mit "Rationierung"] in der Gesundheitssystemforschung die Vorenthaltung von medizinischen Leistungen angesprochen, welche einem Patienten mit akzeptabler Wahrscheinlichkeit einen aus seiner Sicht ausreichenden medizinischen Nutzen bringen würden und ihm ausschließlich aus ökonomischen Gründen verweigert werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Patient nach einer Leistung verlangt oder von einer möglichen Leistung überhaupt keine Kenntnis hat. Nach dieser Definition ist auch dann eine Rationierung gegeben, wenn ein Arzt einem Patienten aus ökonomischen Gründen ein wenig wirksames Medikament verordnet, während der Patient von einer wirksameren und teureren Alternative nie erfährt. "

[a.a.O., S. 3]

Ein ethisches Problem stellt sich, wenn die Rationierung zur Vorenthaltung von Leistungen führt, für die es keine preisgünstigere Alternative gibt, wenn gleichzeitig die Zwecke der Solidargemeinschaft und die Ziele des Patienten in Widerspruch treten:

"Auch in der Vergangenheit haben betriebswirtschaftliche Aspekte in der medizinischen Praxis legitimerweise immer eine große Rolle gespielt, obwohl dies selten öffentlich diskutiert wurde. Allein der Hinweis auf diese Tatsache wird oft bereits als problematisch empfunden, weil häufig unterstellt wird, dass betriebswirtschaftliche Anreize prinzipiell im Konflikt zu den Interessen der Versicherten oder der Patienten stehen müssten. Dies ist jedoch in dieser Verallgemeinerung falsch. Eine unwirtschaftliche Erbringung medizinischer Leistungen ist aus ethischen Gründen nicht gerechtfertigt und hilft weder den Patienten noch den Leistungserbringern.

Konflikte treten nur da auf, wo sich die Perspektive des Einzelnen und die der Gesellschaft bei der Bewertung der gleichen Leistung nicht decken. Dies bedeutet, dass es sich um die Vorenthaltung von Leistungen handelt, zu denen es für den Versicherten keine bessere Alternative gibt, die nicht wirtschaftlicher erbracht werden können als vorgesehen, aber aus der Sicht der Gesellschaft eine schlechte Kosten-Nutzen-Relation haben, z. B. weil geringen Lebensverlängerungen der Patienten hohe Kosten gegenüberstehen, während die Kosten-Nutzen-Relation der gleichen Leistung aus der Perspektive des betroffenen Patienten akzeptabel ist. Solche Leistungen stehen im Zentrum der Diskussion der ethischen Prinzipien von Rationierung.

Beispiele sind Medikamente, die ohne Alternative sind, jedoch trotz sehr hoher Preise den Verlauf einer chronischen Krankheit nur geringfügig positiv beeinflussen. Müssten die Patienten diese Medikamente selbst bezahlen, wären sie dazu häufig nicht in der Lage oder nicht bereit zu dieser Leistung.

Die Frage ist, ob solche Medikamente solidarisch finanziert werden müssen oder auf der Grundlage einer schlechten Kosten-Nutzen-Relation vorenthalten werden dürfen, obgleich die so eingesparten Ressourcen nicht den Betroffenen, sondern anderen Versicherten zugute kommen werden, für die es Verfahren mit einer besseren Kosten-Nutzen-Relation gibt."

[a.a.O., S. 4]


4. Mögliche Ziele solidarisch finanzierter Mittel im Gesundheitswesen


Um ethische Alternativen diskutieren zu können und letztlich zu einem gesellschaftlichen Konsens über den Einsatz der beschränkten finanziellen Mittel zu kommen, ist es nötig, mögliche Zielsetzungen für den Einsatz solidarisch finanzierter Mittel im Gesundheitswesen zu bestimmen. Lauterbach nennt als wichtigste mögliche Ziele:

"Die folgenden Ziele sind die wichtigsten möglichen Ziele für den Einsatz solidarisch finanzierter Mittel im Gesundheitssystem. Dabei ist zu beachten, dass diese Ziele miteinander kombiniert werden können, jedoch in ihrer maximalen Realisation z.T. nicht miteinander in Deckung zu bringen sind, d. h. z. T. sich gegenseitig ausschließen:
  1. Maximierung der durchschnittlichen Lebenserwartung der Bevölkerung (max. LE [maximize life expectancy])
  2. Maximierung der durchschnittlichen Lebensqualität der Bevölkerung (max. LQ [maximize quality of life])
  3. Maximierung der Lebenserwartung der sozialen Schichten mit der kürzesten Lebenserwartung (max. min. LE [maximize minimum life expectancy])
  4. Angleichung der Lebenserwartung unterschiedlicher sozialer Schichten (flat LE [flatten distribution of life expectancy])
  5. Beseitigung von Zuständen mit besonders schlechter Lebensqualität (max. min. LQ [maximize minimal quality of life])
  6. Beseitigung von Krankheiten mit dem Risiko eines Todes in frühen Lebensphasen (max. min. LE [maximize minimum life expectancy])
  7. ungesteuerte effektive Bedienung der Nachfrage nach medizinischen Leistungen (max. CS [maximize consumer satisfaction])

[a.a.O., S. 5]

Die Entscheidung für Prioritäten unter diesen möglichen Zielen hat unmittelbare Bedeutung für die Versorgungsansprüche der Versicherten:

"Für die Frage, ob ein Verfahren mit schlechter Kosten-Nutzen-Relation dem nachfragenden Versicherten dennoch angeboten werden sollte, haben die genannten Versorgungsziele eine unmittelbare Bedeutung. So würde das Verfahren, wenn es sich nur auf die Lebensqualität auswirkt, ohne die Lebenserwartung positiv zu beeinflussen, unter der ersten Zielsetzung eine geringere Priorität besitzen als unter der zweiten Zielsetzung. Verteilungsaspekte würden unter Nutzung des dritten und vierten Prinzips berücksichtigt, würde es sich um einen Versicherten mit besonders schlechter Lebensqualität handeln, würde er unter Prinzip 5 besonders priorisiert. Prinzip 6 würde gehäuft früh auftretende tödliche Krankheiten in den Vordergrund stellen. Ist der Wunsch nach der Behandlung durch die Betroffenen besonders ausgeprägt, würde der Versicherte besonders von Prinzip 7 profitieren.

In der praktischen Umsetzung der Prinzipien könnte dies z.B. bedeuten, dass bei den jeweils priorisierten Verfahren auch solche Maßnahmen erstattet würden, die relativ teuer sind und nur geringen Zusatznutzen aufweisen, derweil dies für nicht zu priorisierende Bereiche nicht erfüllt werden würde. Dies könnte bei der Prüfung neuer Verfahren für den Leistungskatalog durchgeführt werden. Auf die technischen Möglichkeiten einer solchen Umsetzung kann hier nicht eingegangen werden. Es sind außerdem noch zahlreiche andere Umsetzungsformen denkbar."

[a.a.O., S. 5]

Zu Recht bemängelt Lauterbach an der gegenwärtigen Diskussion in Deutschland:

"Wichtig ist, dass die derzeitige Debatte sich auf die mögliche Umsetzung von Priorisierungsverfahren konzentriert, und nicht, was Voraussetzung wäre, auf die Versorgungsziele, die durch diese erreicht werden sollen."

[a.a.O., S. 5; Hervorhebung durch mich]


5. Zwei ethische Grundeinstellungen


Lauterbach nennt zwei ethische Grundtheorien der sozial gerechten Verteilung von Ressourcen im Gesundheitswesen, denen sich die einzelnen Priorisierungen unter den möglichen Zielsetzungen grob zuordnen lassen:


5.1. Der Utilitarismus


"Utilitarismus (Utilismus) heißt der Nützlichkeitsstandpunkt in der Ethik. Der Utilitarismus tritt in zwei Formen auf:
  1. der individualistische Utilitarismus, welcher lehrt, Zweck des sittlichen Handelns sei der Nutzen, die Wohlfahrt des einzelnen.
  2. Der soziale Utilitarismus, welcher den Zweck des sittlichen Handelns in die Förderung des Gesamtwohles, des Wohles aller, der Gesellschaft setzt.

Ferner ist zu unterscheiden zwischen dem Utilitarismus

  1. als Erklärung des Sittlichkeitsursprunges aus (individuellen oder sozialen) Nützlichkeitserwägungen,
  2. als Motivation, Normierung, Wertung des sittlichen Handelns, Aufstellung der Wohlfahrt als Ziel des Handelns.

Der gemäßigte Utilitarismus betont, dass das ursprünglich rein utilitarisch bestimmte sittliche Handeln (durch das Gesetz der »Motivverschiebung«, s. d.) später zum Selbstzweck wird.

[...]

Den Ausdruck »utilitarian« gebraucht (1802) schon J. BENTHAM. Durch J. ST. MILL, der ihn einer Novelle von Galt, »Annals of the Parish«, entnimmt, wird er populär (vgl. Eucken, Grundbegr. S. 214).


Abb.: Jeremy Bentham (1748 - 1832), Begründer des Utilitarismus i. e. S.
[Bildquelle. Wikipedia]

Utilitaristisch ist die ethische Lehre [...]  besonders aber bei dem systematischen Begründer des Utilitarismus (im engeren Sinne), J. BENTHAM. Zweck, Ziel des sittlichen Handelns ist die Maximation der Glückseligkeit, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Anzahl, »the greatest happiness of the greatest number«, »the greatest possible quantity of happiness« (Introd. II, ch. 17, p. 234. Deontolog.. Traité de la législat. civile et penale, 1802). »By the principle of utility is meant that principle which approves or disapproves of every action whatsoever, according to the tendency which is appears to have to augment or diminish the happiness of the party whose interest, in other words, to promote or to oppose the happiness« (Introduct. l. c. I, ch. 1, p. 3). Das Interesse der Gemeinschaft ist »the sum of the interest of the several members who compose it« (l. c. p. 4 ff.). Bei der ethischen Reflexion sind von Wirksamkeit die physische (das für unseren Leib Nützliche und Schädliche bestimmende) Sanktion, die moralische Sanktion (der öffentlichen Meinung), die politische und die religiöse Sanktion. Durch ein »moralisches Budget« sollen bei jeder Handlung die nützlichen und schädlichen Folgen (Lust und Unlust) berechnet werden (Moralkalcül). Hierbei zeigt sich der Egoismus als schädlich: das wohlverstandene Eigeninteresse selbst führt zum Altruismus. zuerst zum Uneigennützigscheinen, dann aber auch zur Uneigennützigkeit selbst.

[...]


Abb.: John Stuart Mill (1806 - 1873)
[Bildquelle. Wikipedia]

J. ST. MILL (der in seiner Jugend einen Verein der »Utilitarier« gründete) lehrt einen sozialen Utilitarismus (s. Sittlichkeit). Im Gegensatz zu Bentham unterscheidet er nicht bloß Quantitäten, sondern Arten des Glückes, verschiedene Glückswerte, wodurch über das rein utilistische eine höhere ethische Norm sich erhebt. Ferner wird durch Assoziation das, was erst Mittel war (das Sittliche), selbst zum Ziele, zum direkten Gegenstande der Billigung (Utilitarianism, 1863. Log. II4, p. 416 f.).

A. BAIN erklärt: »The Ethical end that men are tending to and may ultimately adopt without reservation, is human welfare, happiness, or being and well-being combined, that is, utility« (Ment. and Mor. Sc. p. 442. vgl. p. 460 ff.).

Rationeller Utilitarier ist H. SPENCER (s. Sittlichkeit). Am höchsten steht das Handeln, wenn es gleichzeitig die größte Summe des Lebens für den einzelnen, für seine Nachkommenschaft und für seine Mitmenschen zustande bringt (Princ. d. Eth. I, 1, § 8, S. 27).

[...]"

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. -- 2. völlig neu bearb. Aufl. -- Berlin :  Mittler, 1904. -- 2 Bde. -- Bd.2. -- S. 614f.]"

Wenn man den sozialen Utilitarismus auf das Gesundheitssystem anwendet, hat das nach Lauterbach folgende Konsequenzen:

"Die Grundzüge der utilitaristischen Theorie in ihrer Anwendung auf das Gesundheitssystem lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Unter Voraussetzung fixer Gesundheitsausgaben besteht das Ziel immer in der Maximierung eines Gesundheitsergebnisses. Der Utilitarismus im Gesundheitswesen ist daher ergebnisorientiert, nicht prozess- oder strukturorientiert. Es gibt innerhalb des Utilitarismus unterschiedliche Schulen. Die Frage, ob das entscheidende Ergebnis die subjektive Lebensqualität oder ein objektiv messbares Ergebnis sein sollte, wie z. B. die Anzahl der gewonnenen Lebensjahre oder die durchschnittliche Lebenserwartung, wird verschieden beantwortet. Es gibt auch Formen des Utilitarismus, die für die Messung der Ergebnisqualität die Maximierung einer Kombination objektiver und subjektiver Ergebnisse vorsehen.

Die Verteilung der Gewinne an Gesundheit ist dabei grundsätzlich nur von sekundärer Bedeutung. Es wird jene Verteilung von Gewinnen an Ergebnisqualität bevorzugt, welche die größte Summe ergibt. Dabei zählt die Verbesserung der Gesundheit eines Einzelnen - immer unabhängig vom Ansehen der Person. Die gleiche Verbesserung der Gesundheit eines älteren Menschen zählt so viel wie die Verbesserung eines jüngeren Menschen, es gibt keine Diskriminierung auf der Grundlage von Alter, Geschlecht, Einkommen oder Ansehen in der Bevölkerung. Stehen jedoch beschränkte Ressourcen zur Verfugung, führt der Utilitarismus auf der Grundlage der Frage, welche Verteilung der Ressourcen die größte Summe an Ergebnisqualität bringen würde, unmittelbar in eine Rationierung."

[Quelle: Lauterbach, Karl W. <1963 - >: Ethik: Utilitarismus und Kant. -- In: Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und evidence based medicine : eine systematische Einführung ; mit 99 Tabellen / hrsg. von Karl W. Lauterbach ; Matthias Schrappe. -- 2., überarb. und erw. Aufl. -- Stuttgart : Schattauer, 2004. -- XVI, 573 S. : Ill., graph. Darst. ; 25 cm -- ISBN 3-7945-2287-7. -- S. 6f.. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Konkreter:

"Unter Annahme fixer Gesundheitsausgaben würde sich eine utilitaristische Theorie der sozialen Gerechtigkeit am besten mit den Zielen max. LE [maximize life expectancy], max. LQ [maximize quality of life] und max. CS [maximize consumer satisfaction] in Einklang bringen lassen.

Danach ist das Ziel des Gesundheitssystems die Maximierung der Gesundheit der Bevölkerung durch das Gesundheitssystem. Bei dieser Theorie ist die Verteilung der Gesundheitsgewinne auf Einzelne oder auf soziale Gruppen (wie Arme oder Alte) im Prinzip bedeutungslos. Überdies muss auf die Behebung besonders gravierender Einschränkungen der Lebensqualität Einzelner verzichtet werden, wenn sie nur mit hohem Aufwand erreicht werden könnte, derweil mit den gleichen Ressourcen Patienten mit bereits besserer Lebensqualität höhere Gewinne an Lebensqualität gegeben werden könnten. "

[a.a.O., S. 6.]


5.2. Theorien sozialer Gerechtigkeit in der Tradition von Immanuel Kant



Abb.: Immanuel Kant (1724 - 1804), Verfechter einer Pflicht- und Prinzipienethik / Stich von John Chapman (fl. 1792-1823)

Ob die Berufung auf Kant hier gerechtfertigt ist, soll dahingestellt bleiben.

Lauterbach fasst diese Theorien sozialer Gerechtigkeit so zusammen:

"Von der utilitaristischen Philosophie heben sich insbesondere die Theorien der sozialen Gerechtigkeit in der Tradition von Immanuel Kant ab, für die der Aspekt der Verteilung der Gesundheitsgewinne durch das Gesundheitssystem zentral ist.

Die Ziele max. min. LE [maximize minimum life expectancy], max. min. LQ  [maximize minimal quality of life] und flat. LE [flatten distribution of life expectancy] sind besser mit dieser philosophischen Tradition zu verbinden.

Dies bedeutet, dass z. B. bei der Bewertung neuer Verfahren neben der Kosten-Nutzen-Relation im Vergleich zu anderen Verfahren berücksichtigt werden muss, ob es sich um Interventionen handelt, die Patientengruppen mit besonders schlechter Lebensqualität oder mit geringer Lebenserwartung betreffen. Dabei ist nicht die Restlebenserwartung angesprochen, sondern die gesamte Lebenserwartung. Lebensverlängernde Verfahren, welche bei 100 Jahre alten Patienten eingesetzt werden würden, wären anders zu bewerten als Verfahren, die bei 45 Jahre alten Menschen lebensverlängernd wirken, auch wenn jeweils die vom Verfahren zu erwartende Lebensverlängerung gleich wäre.

Die Theorien in der Tradition von Kant sind nicht ergebnisorientiert, sondern prozessorientiert. Dies bedeutet, dass im Vordergrund steht, welcher Prozess der Verteilung von Ressourcen im Gesundheitssystem gerecht ist. Das aus dieser Verteilung resultierende Gesamtergebnis wird als ethisch betrachtet, auch wenn es nicht das Maximum an Ergebnisqualität gebracht hat.

Auch in der Tradition von Kant werden Gesundheitsressourcen ohne Ansehen der Person verteilt: Die Gesundheitsgewinne werden ohne Diskriminierung von Altersgruppen, Geschlecht oder persönlicher Merkmale bewertet.

Jedoch richtet sich die gerechte Verteilung nach einer übergeordneten Maxime der sozialen Gerechtigkeit, die im Gesundheitssystem wie in anderen Sozialsystemen zu gelten hat. Diese Maxime, sehr stark vereinfachend ausgedrückt, besagt, dass der Einzelfall nach Prinzipien entschieden werden soll, die auf alle anderen auch angewendet und von vernünftigen Personen als gerecht akzeptiert werden können. Dies setzt einen Sinn für Gerechtigkeit bei vernünftigen Personen voraus.

Die utilitaristische Verteilung von Gesundheitsressourcen ist damit nicht vereinbar. Bei ihr kommt im Einzelfall gar kein Prinzip zum Tragen, weil der Einzelfall nicht bewertet wird. Die Verfahrensweise im Einzelfall ergibt sich im utilitaristischen Prinzip vielmehr allein aus der Frage, welchen Beitrag quantitativ die Verwendung der Ressourcen für den Betroffenen für die Summe des Gesamtergebnisses bringen würde.

In der Theorie nach Kant ergibt sich jedoch die Frage, welches Prinzip überhaupt zulässt, dass es von allen als vernünftig und gerecht akzeptiert werden könne und anwendbar sei.


Abb.: John Rawls (1921 - 2002), Professor of Political Philosophy, Harvard University
[Bildquelle: http://www.ethics.harvard.edu/memoriam_rawls.php. -- Zugriff am 2005-12-27]

Einen Versuch der Definition vernünftiger und gerechter Prinzipien hat John Rawls [1921 - 2002] in seinem 1971 publizierten Buch „A Theory of Justice" (Rawls 1971) unternommen.


Abb.: Einbandtitel

[Deutsche Übersetzung: Rawls, John <1921 - 2002>: Eine Theorie der Gerechtigkeit / John Rawls. Übers. von Hermann Vetter. -- Sonderausgabe zum 30jährigen Bestehen der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. -- Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2003. -- 674 S. : 18 cm. -- (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft). -- Originaltitel: A theory of justice (1971, rev. ed. 1999). -- ISBN 3-518-06737-0. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Es ist dies das wohl einflussreichste Werk zur Theorie der sozialen Gerechtigkeit in der Tradition von Kant im 20. Jahrhundert. Rawls sagt, dass nur solche Prinzipien in Frage kommen, die die Mitglieder der Gesellschaft hinter einem so genannten „Schleier der Unwissenheit" gewählt hätten, d. h. ohne Wissen ihrer persönlichen Einkommensverhältnisse und gesundheitlicher Veranlagungen sowie ihrer Talente. Die Prinzipien der Verteilung von Gesundheitsressourcen (über die Rawls selbst nie ausführlich geschrieben hat) würden dann in Kenntnis dessen gewählt werden, was die Medizin im Vergleich zu der alternativen Verwendung der gleichen Ressourcen in anderen Bereichen leisten kann. Aus dieser hypothetischen Überlegung lässt sich auch das Gesamtbudget für das Gesundheitswesen ableiten.

Folgt man der Argumentation von Rawls, ergibt sich bereits aus der Perspektive der sozialen Gerechtigkeit die Notwendigkeit eines Gesamtbudgets für das Gesundheitswesen. Hinter dem Schleier der Unwissenheit wird entschieden, wie viel die Gesellschaft für Medizin unter Abwägung der alternativen Verwendung dieser Ressourcen für andere Bereiche ausgeben sollte. Auch die Bewertung einzelner Verfahren, die für die Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden sollen, ist nach dieser Methode zu erreichen. Die leitende Frage muss lauten, ob sich die Gesellschaft hinter dem Schleier der Unwissenheit bezüglich des Verfahrens für die Einführung desselben entschieden hätte. Bei dieser Entscheidung stehen ihr alle Informationen zu der Wirksamkeit und zu den Kosten des jeweiligen Verfahrens im Vergleich zu seinen Alternativen zur Verfügung. Die Entscheidenden haben jedoch keine eigenen Interessen, weil sie nicht wissen, ob sie selbst irgendwann in eine Situation kommen werden, in denen ihnen dieses Verfahren entweder angeboten oder vorenthalten werden wird. Daher ist die Maxime der späteren Verteilung für jeden als vernünftige Wahl zu akzeptieren. Sie wäre, ohne entsprechende eigene Interessen, in einer voll informierten Entscheidungssituation gewählt worden.


Abb.: Norman Daniels, PhD. (geb. 1942), Professor of Ethics and Population Health, Dept. of Population and International Health, Harvard School of Public Health, Boston, Massachusetts

Die beste Interpretation der Philosophie von Rawls wurde in der Theorie zur gerechten Verteilung von Gesundheitsleistungen von Norman Daniels (Daniels 1985) geschrieben."

[a.a.O., S. 7f.]

Im Vorwort zum eben genannten Buch


Abb.: Einbandtitel

[Daniels, Norman <1942 - >: Just health care. -- Cambridge [u.a.] : Cambridge University Press, ©1985. -- XIII, 245 S. ; 23 cm. -- (Studies in philosophy and health policy). --  ISBN 0521317940. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]  

charakterisiert der Autor dessen Inhalt:

"PREFACE

This book is about justice in the design of a health-care system. The term 'health care' is used broadly to include personal medical services, preventive medical and public health measures, including health and safety regulation, and certain social support services for the chronically ill or disabled. So a health-care system involves a diverse set of institutions which have a major impact on the level and distribution of our welfare. A theory of justice articulates the general principles which should govern this system. It is not merely a catalog of its features we think in advance to be just. To find such principles of justice for health care we must address questions such as these:
  • What kind of a social good is health care? What are its functions and do these make it different from other commodities?
  • Are there social obligations to provide health care?
  • What inequalities in its distribution are morally acceptable?
  • What limits do provider autonomy and individual liberties of physicians or patients place on the just distribution of health care?

A theory of justice for health care is not just the fare of philosophers and political theorists. It concerns us all. Quite simply, distributive justice concerns who ought to get what. How our health-care institutions distribute various goods and services has a direct bearing on our welfare, and all of us take an interest in comparing how well off we are with how well off we ought to be. But the conception of just health care developed in this book is of special importance to the many social scientists, planners, policy makers, legislators, administrators, and providers who tend to the day-to-day functioning of our health-care delivery system. Often it is these people who wonder, to themselves and out loud, what justice requires of them. The philosophical arguments and positions developed here will not directly answer their most immediate and pressing questions about how to improve the system, but they should help explain why these questions arise, how they are connected, and what in general would have to change for satisfactory answers to be given.

About eight years ago, when I first became interested in the literature on medical ethics, I was struck by the relative absence of philosophical work on the distribution of health care. The more dramatic topics of abortion, euthanasia, and organ transplantation seemed to hog the philosophical stage, and with few exceptions, and an occasional comment on 'rights to health care', no one analyzed what kind of social good health care is or investigated the principles that should govern its distribution. Even in such a young area of philosophical inquiry, the absence was surprising because so much work was being done on the general theory of justice. This book was written over the last five years in an effort to fill that gap.

In the first three chapters, I motivate the search for a theory of justice for health care and develop a particular approach, the 'fair equality of opportunity account'. In chapters 4 and 5, I apply the theory to the problems of access to personal medical services and the distribution of health-care resources between the young and (he old. In chapters 6-8,1 illustrate possible conflicts between liberty and equality through a discussion of provider autonomy and health hazard regulation in the workplace. Chapter 9 contains more general remarks on applying the theory of just health care to public policy issues. Though some of the chapters may be read as self-contained studies, my intention has been to .-. bring unity to the discussion of issues which generally have been discussed separately.

When work on the material for this book began in 1978, there was still public discussion in the US about instituting a more comprehensive national health insurance scheme and continuing public efforts to improve access to health care begun in the mid 1960s. The public perception was that justice required improved access to health care. In that context, investigating more generally what the principles required for the just distribution of health-care services would look like did not seem overly idealistic and had the virtue of timeliness. Central to the planner or legislator designing such a financing scheme were the questions, How much equality should there be? What inequalities in access to care are morally acceptable? How should the burdens of achieving that equality be distributed? My hope was that principles of justice for healthcare institutions could give practical guidance to what I perceived as an effort to reform a major system of institutions. I might add that such principles are also of importance in countries such as Great Britain, where the debate runs in the opposite direction and the controversy concerns dismantling a relatively egalitarian system. Though my examples are largely drawn from the context of US institutions, the issues they illustrate are perfectly general. When I refer to 'our' system, I may have US institutions most immediately in mind, though I intend the discussion to be quite general.

But even as I became more aware of the complexities of the problem of just health care, the focus of public discussion in the US began to shift. Constraining rapidly rising health-care costs became the main item on the health-care agenda, and though issues of equity still arise in this context, there is little pretext that the just redesign of a health-care system is a current national objective. Were this an essay in policy analysis, the shift in the national political agenda would be more than embarrassing. But this is an essay in applied philosophy, and the issues it addresses are not less important or relevant because of the - probably temporary - shift in the political agenda. Timeliness is nice, but it is not a central virtue even for applied philosophy.

An essay in applied philosophy has its risks - it risks frustrating both the professional philosopher and specialists in the area of application. I must in this book avoid discussing certain abstract issues in the general theory of justice, which are of considerable interest to me and other moral philosophers. For some of them, this discussion starts a bit too close to the ground to really fly, even though, all admit, we learn much about the adequacy of moral theories by attempting to apply them. At the same time, this discussion does not contain the detailed empirical investigation that gives the policy analyst, planner, or legislator his nuts and bolts. For some of them, this discussion is never down to earth enough. My intended audience includes all those who think it worth while to explore that intermediate space in which we try to look at real social institutions with some philosophical vision."

[Quelle: Daniels, Norman <1942 - >: Just health care. -- Cambridge [u.a.] : Cambridge University Press, ©1985. -- XIII, 245 S. ; 23 cm. -- (Studies in philosophy and health policy). --  ISBN 0521317940. -- S. IX - XI. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]  


5.3. Ungeliebte Konsequenzen beider philosophischen Traditionen


Lauterbach nennt folgende "ungeliebten Konsequenzen" des Utilitarismus bzw. der sich auf kant berufenden Tradition:

  • "In der utilitaristischen Tradition kann der Einzelne, der nur ein schlechter „Responder" auf die für ihn eingesetzten Ressourcen ist, zum Vorteil anderer in den Hintergrund geraten.
  • In der Tradition von Kant kann aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit unter Umständen eine Altersrationierung notwendig werden. Die Möglichkeit der Altersrationierung ergibt sich aus der Überlegung, dass vernünftige Personen bei der Wahl der Prioritäten in der Gesundheitsversorgung in Unkenntnis ihrer eigenen Veranlagungen mehr in den Schutz früher Lebensphasen investiert hätten als in den Schutz sehr später Lebensphasen. Es erscheint vernünftig und gerecht, mit der Gesundheitsversorgung den Versuch zu unternehmen, jedem Menschen eine faire Chance zur Verwirklichung seiner Lebenspläne zu ermöglichen. Dahinter steht der Versuch zurück, die Lebensdauer über das physiologisch vorgegebene Maß auszudehnen."

[a.a.O., S. 8]


6. Was können diese ethischen Theorien zur gesundheitspolitischen Diskussion beitragen?


Lauterbach sieht die Problematik von einer bestimmten Ethik und Politik in einer pluralistischen Gesellschaft:

Die beschriebenen ethischen Theorien können die politische Diskussion dieser Fragen nur strukturieren helfen, aber nicht lösen. Eine Lösung ist allein schon deshalb nicht möglich, weil es weder in der politischen Philosophie noch in der Moraltheorie einen Konsens darüber gibt, ob für das Gesundheitssystem ethische Prinzipien aus der Tradition Kants oder aus der des Utilitarismus dominieren sollten. Darüber hinaus besteht die Frage nach der Legitimation des Staates, solche moraltheoretischen Überlegungen überhaupt zu berücksichtigen. In einer liberalen pluralistischen Gesellschaft gibt es keinen Wertekonsens. Eine Begründung prinzipieller politischer Entscheidungen auf der Grundlage moraltheoretischer Überlegungen würde große Probleme der politischen Legitimation mit sich bringen, selbst dann, wenn sie erreichbar wäre."

[a.a.O., S. 9, Hervorhebung durch mich]

Dass Lauterbach selbst ethisches Fragen nicht nur als ritualisierte Pflichtleistung ansieht, zeigt sein Beitrag zur Weiternetwicklung der GKV (Gesetzlichen Krankenversicherung) aus em Jahr 2001:

"Ein System der Grund- und Zusatzleistungen ist mit dem ethischen Prinzip von Gerechtigkeit im Gesundheitswesen nur schwer vereinbar

Ob ein System der Grund- und Zusatzleistungen eingeführt werden sollte, muss m. E. auf der Grundlage ethischer Prinzipien und nicht allein ökonomischer Analysen oder Theorien diskutiert werden. Es ist richtig, dass es auch in Deutschland bereits jetzt unterschiedliche Lebenserwartungen und Krankheitslasten in Abhängigkeit von sozioökonomischen Faktoren gibt. Die wichtigste ethische Frage in diesem Zusammenhang ist jedoch, ob durch zukünftige Gesundheitsreformen diese Unterschiede verstärkt oder verringert werden. Ein System der Grund- und Zusatzleistungen wäre aus Sicht des ethischen Prinzips der sozialen Gerechtigkeit im Gesundheitssystem nur zu dann zu akzeptieren, wenn es einen Beitrag zur Verringerung dieser Unterschiede leisten könnte. Von den derzeit diskutierten Vorschlägen wird dies nicht geleistet. So wird z. B. regelhaft die Verlagerung präventativer [!] Leistungen in den Zusatzleistungsanteil vorgeschlagen, obgleich die von der Prävention beeinflussbaren Erkrankungen sowie die mit diesen Erkrankungen verbundenen Risikofaktoren überproportional häufig bei sozioökonomisch Schwachen zu finden sind. Aus der Perspektive des Prinzips von Gerechtigkeit im Gesundheitswesen sollte das Gesundheitswesen in erster Linie die Funktion der Herstellung von Chancengleichheit erfüllen. Diese sollte, vergleichbar dem Bildungssystem, nicht vom Einkommen abhängen. Für sozialliberale Gesellschaften ist das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit das dominierende Ordnungsprinzip im Gesundheitssystem. Es ist nicht im Konflikt mit dem Prinzip der Nutzenoptimierung, welches besagt, dass innerhalb der Vorgaben des Gerechtigkeitsprinzips der Nutzen durch die medizinische Versorgung auch unter Berücksichtigung von Opportunitätskosten maximiert werden sollte. Es ist jedoch im Konflikt mit dem utilitaristischen Prinzip der Nutzenmaximierung, bei dem die Maximierung des Gesamtnutzens wichtiger ist als die Verteilung dieses Nutzens in der Bevölkerung."

[Quelle:  Lauterbach, Karl W. <1963 - >: Weiterentwicklung der GKV — Budget, Bedarf und soziale Gerechtigkeit. -- In: Die Zukunft denken : Diskussion des Wissenschaftlichen Beirats des WIdO zur Zukunft des Gesundheitswesens / Jürgen Klauber ... (Hrsg.). -- Bonn : Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), 2001. -- 97 S. ; 22 cm. -- ISBN 3-922093-26-4. -- S. 31 - 39; dort S. 32f. ; Hervorhebung im Text]


7. Kommentar aus der Sicht einer Hausärztin



Abb.: Dr. med. Susanne Blessing, geb. 1957, Fachärztin für Allgemeinmedizin


8. Weiterführende Ressourcen


Lauterbach, Karl W. <1963 - >: Ethik: Utilitarismus und Kant. -- In: Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und evidence based medicine : eine systematische Einführung ; mit 99 Tabellen / hrsg. von Karl W. Lauterbach ; Matthias Schrappe. -- 2., überarb. und erw. Aufl. -- Stuttgart : Schattauer, 2004. -- XVI, 573 S. : Ill., graph. Darst. ; 25 cm -- ISBN 3-7945-2287-7. -- S. 3 - 10. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}


Zu 2.: Evidence-based Medicine und Health Technology Assessment