Bibliothekarinnen Boliviens vereinigt euch!

Bibliotecarias de Bolivia ¡Uníos!

Berichte aus dem Fortbildungssemester 2001/02

Teil 2: Chronik Boliviens

2.Tahuantinsuyo (Inkareich)


von Margarete Payer und Alois Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - > ; Payer, Alois <1944 - >: Bibliothekarinnen Boliviens vereinigt euch! = Bibliotecarias de Bolivia ¡Uníos! : Berichte aus dem Fortbildungssemester 2001/02. -- Teil 2: Chronik Boliviens. -- 2.Tahuantinsuyo (Inkareich). -- Fassung vom 2002-09-19. -- URL: http://www.payer.de/bolivien2/bolivien0202.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: Anlässlich des Bibliotheksseminars in La Paz vorläufig freigegeben am 2002-09-19

Überarbeitungen:

Anlass: Fortbildungssemester 2001/02

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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Dieser Teil ist ein Kapitel von: 

Payer, Margarete <1942 - > ; Payer, Alois <1944 - >: Bibliothekarinnen Boliviens vereinigt euch! = Bibliotecarias de Bolivia ¡Uníos! : Berichte aus dem Fortbildungssemester 2001/02. -- Teil 2: Chronik Boliviens. . -- URL: http://www.payer.de/bolivien2/bolivien02.htm

Dieser Text ist Teil der Abteilung Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library



Abb.: Tahuantinsuyo und seine vier Teilreiche

[Vorlage der Abb.: Quintanilla de Nogales, Graciela ; Espada de Rosquellas, Rosa ; Montesinos Rollano, Germán: Nueva Geografía de Bolivia 1999. -- 8. ed. -- La Paz : Multimac, 1999. -- Depósito Legal No. 4-1-280-90. -- S. 41]

Die folgenden Abbildungen von Guaman Poma de Ayala zu den Inkas stammen aus:

Guaman Poma de Ayala, Felipe: El primer nueva corónica y buen gobierno, 1615. -- Handschrift Gl. Kgl.S. 2232, 4°.  der Königlichen Bibliothek, Kopenhagen. -- Online veröffentlicht: http://www.kb.dk/elib/mss/poma/. -- Zugriff am 2001-10-24 


Abb.: Titelblatt des Werks von Guaman Poma de Ayala, 1615


Abb.: Karte mit der Vierteilung von Tahuantisuyo [Guaman Poma de Ayala, 1615, Abb. 1001]

]
Abb.: Dynastie der Inkas, wie sie von den spanischen Chronisten übernommen wurde

Die Inkas
1. Manco Kapac ca. 1200
2. Sinchi Roca ca. 1230
3. Lloque Yupanki ca. 1260
4. Mayta Kapac ca. 1290
5. Kapac Yupanki ca. 1320
6. Inca Roca ca. 1350
7. Yawar Huaca ca. 1380
8. Viracocha ca. 1410
9. Pachacutec ca. 1438 - 1471
10. Tupac Inca Yupanki ca. 1471 - 1493
11. Huayana Kapac ca. 1493 - 1525
12. Huáscar ca. 1525 - 1532
13. Atahuallpa 1525 - 1532


Abb.: Vorstöße der Inkas von Cuzco auf Gebiet des heutigen Bolivien

[Quelle der Karte: Abecia Baldivieso, Valentín <1925 - >: Las relaciones internacionales en la historia de Bolivia. -- La Paz [u.a.] : Los Amigos del Libro. -- Tomo I. -- 2. ed. -- 1986. -- S. 57]


Abb.: Inka Tupac Yupanqui (regiert ca. 1471 - 1493) (Sevilla, Archivio de Indias)

[Bildquelle: Gisbert, Teresa: El paraíso de los pájaros parlantes : la imagen del otro en la cultura andina. -- La Paz : Plural, 1999. -- ISB 84-89891-42-7. -- Nach S. 28]

Besonders empfehlenswert zur Kultur des Inkareiches ist die Trilogie von Armin Bollinger:

Aus dem ersten Band stammen folgende Auszüge:

1. Tahuantinsuyu — das Reich der "Vier Viertel"

Eines der erstaunlichsten Staatsgebilde, das die Geschichte kennt, war das Reich der Inka, das sich zur Zeit seiner größten Ausdehnung (spanische Eroberung im Jahre 1532) über gewaltige Gebiete in den Andenhochtälern und an der pazifischen Küste erstreckte. Das mächtige Imperium wurde Tahuantinsuyu genannt. Dies heißt in der Quechua-Sprache, der Staatssprache des Inkareiches, ungefähr "Reich der Vier Viertel" oder "Reich der Vier Weltregionen" oder "Reich der Vier Himmelsrichtungen". Schon aus dieser Bezeichnung geht hervor, welche Bedeutung das Inkavolk seinem staatlichen Gebilde zumaß. Die Hauptstadt wurde Cuzco genannt, was "Nabel" bedeutet. Das Inkavolk sah sein Reich, als ein "Reich der Mitte", von unzivilisierten Naturvölkern umgeben und oft an seinen Grenzen bedroht.

Trotz des Fehlens schriftlicher Quellen kann man aufgrund mündlicher Überlieferungen annehmen, dass dieses Reich nur während einer Zeitdauer von ungefähr 350 Jahren bestanden hatte. Die spanischen Eroberer, die Conquistadoren, interessierten sich für die Vergangenheit und den Aufbau des mächtigen Staatsgebildes. Ihre Verwaltungsbeamten, Missionare und gelegentlich auch Kriegsleute stellten eine große Schar von Chronisten, die uns zahlreiche Berichte und — oft widersprechende — historische Angaben hinterlassen haben. Man nimmt die Zeit der Entstehung des noch kleinen Inkareiches um 1200 unserer Zeitrechnung an, als sich um das Siedlungszentrum Cuzco der Kern einer staatlichen Gemeinschaft Quechua-sprechender Bauern, Hirten und Krieger zu bilden begann. Ursprungslegenden und geschichtliche Überlieferungen bezeichnen als Gründer Manco Capac und seine Schwestergattin Mama Ocllo, die den Ureinwohnern des Hochtales von Cuzco eine höhere Zivilisation sowie die Verehrung der Sonne gebracht hatten. In diesen legendären Überlieferungen erscheinen der erste Inkaherrscher und seine Gemahlin als eigentliche Kulturstifter. Die Menschen, denen sie die Wohltat einer höheren Kultur schenkten, "lebten damals wie wilde Tiere, ohne Religion, ohne staatliche Ordnung, ohne Kenntnis von Ackerbau und Viehzucht, ohne Dorfschaften und ohne richtige Behausungen".
Diese Quelle, wie auch zahlreiche andere Überlieferungen, zeigen die Tendenz der späteren mächtigen Inkakaiser auf, ihr Geschlecht seit Ausübung der Herrschaft und Bildung eines Staatswesens als eigentlichen Begründer von Kultur und Zivilisation hinzustellen. Ein Anspruch, der in krassem Widerspruch zu den Leistungen anderer Völker steht, die bereits viele Jahrhunderte vor der Entstehung des Inkareiches verschiedene Hochkulturen auf den Andenhöhen und in den Küstengebieten hervorgebracht hatten.
Die ersten Inkaherrscher waren kleine Stadtfürsten, die über ein wenig umfangreiches Gebiet rund um Cuzco herrschten. Es waren "Sinchi" (Kriegshäuptlinge), wie beispielsweise aus dem Namen des zweiten Inkafürsten Sinchi Roca hervorgeht. Ihre Macht, auch innerhalb ihrer Sippengemeinschaft, muss anfänglich sehr eingeschränkt gewesen sein. Aus den Überlieferungen kann man auf das Bestehen von Ältestenräten schließen, die sich aus erfahrenen Mitgliedern der Großfamilien zusammensetzten. Es scheint auch, dass die Oberhäupter und Kriegshäuptlinge der Familienverbände gewählt wurden, und zwar von den Kriegern und Sippenangehörigen. Erst mit der Zeit festigten die Stammeshäupter ihre Macht. Schließlich war der Inka nicht nur das Oberhaupt seiner eigenen Sippe, sondern er wurde als Sapay Inca, das heißt als "Einziger Inka", zum Träger der gesamten Staatsmacht.

Aus der mündlichen Überlieferung geht zudem hervor, dass die sieben Inkaherrscher der Anfangszeit ihren Machtbereich nicht über die nähere Umgebung von Cuzco auszudehnen vermochten. Es gab in den umliegenden Gebieten eine Anzahl unabhängiger Volksstämme, die sich in Sprache, Kulturhöhe und wirtschaftlichen Möglichkeiten mit dem Inkavolk messen konnten. Diese Völkergruppen trugen ihre Fehden untereinander aus, ohne dass ein Stamm ein besiegtes Nachbarvolk dauernd zu unterwerfen vermochte. Plünderungen und zeitweilige Tributzahlungen waren der Preis, den die Sieger für sich beanspruchten. Der 8. Inka, der seinen Herrschernamen vom Schöpfergott Viracocha übernahm, wurde zum ersten Eroberer in der Geschichte des Inkareiches. Er ließ, nachdem er seine Grenznachbarn besiegt hatte, einen Teil seiner Truppen als Besatzung in den eroberten Gebieten zurück. Dadurch konnte er eine dauernde Herrschaft über Stämme errichten, die nicht zu seinem eigenen Volke gehörten. Sein Herrschaftsgebiet umfasste nunmehr
einen Umkreis von ungefähr 40 km rund um die Hauptstadt. Mit Pachacuti, dem 9. Inka (nach unserer Zeitrechnung vom Jahre 1438 an) beginnt die historisch nachweisbare Epoche der Inkageschichte. Unter seiner Führung setzte ein gewaltiger Siegeszug der Sippengemeinschaft von Cuzco ein. Nach Besiegung der umliegenden Kleinstaaten drangen die Heerscharen des Inka nach Süden vor und unterwarfen die Colla-Stämme, die in der Gegend des Titicacasees siedelten. Später folgte die Eingliederung des nördlichen Hochlandes in das Reich.

Der Sohn von Pachacuti, Topac Yupanqui, unternahm weitere erfolgreiche Eroberungszüge. Er unterwarf sich das Hochland von Ecuador und — was von besonderer Bedeutung war — das kulturell hochstehende Chimü-Reich an der Nordküste Perus. Auch die südlichen Küstenreiche, welche in den Flussoasen der peruanischen Wüste aufgrund künstlicher Bewässerung einen bedeutend entwickelten Ackerbau und eigentliche Hochkulturen erreicht hatten, mussten sich den sieggewohnten Inkatruppen unterwerfen. Nach dem Tod von Topac Yupanqui (1493) setzte sein Sohn Huayna Capac, wenn auch in beschränkterem Masse, die Eroberungspolitik seiner Vorgänger fort. Es gelang ihm, weitere Gebiete im heutigen Ecuador und den südlichsten Teil von Kolumbien unter seine Herrschaft zu bringen. Damit hatte das Reich der Inka seine größtmögliche Ausdehnung erreicht, und zwar in einem Zeitraum von nur einem halben Jahrhundert und während der Herrschaftszeit von bloß drei Inkakaisern.

2. Der innere Aufbau von Groß-Peru

Die Eroberungszüge der Inkaheere und die Einverleibung fremder Gebietsteile in das "Reich der Vier Viertel" folgten beinahe gesetzmäßigen Abläufen. Es wurden nämlich nur solche Gebiete dem Inkastaat angefügt, die auf ungefähr der gleichen oder sogar einer höheren Stufe der kulturellen Entwicklung standen, als sie Tahuantinsuyu erreicht hatte. So besaßen etwa die Chimú oder Staaten an der südlichen Pazifikküste bereits eine höhere Zivilisation als das Eroberervolk. Dagegen gelang es dem Inkaherrscher nie, im eigentlichen Urwaldgebiet des Ostens FUSS zu fassen. Die Versuche von Topac Yupanqui, die primitiven Jäger- und Sammlervölker des Amazonas-Beckens zu unterwerfen, waren zum Scheitern verurteilt. Als die Inka auch im Norden (im Gebiete des heutigen Kolumbien) wie auch in Mittel-Chile auf Waldregionen oder nicht mehr bewässerbare Wüstenzonen stießen, mussten sie ihre Eroberungszüge abbrechen.

Die Entstehung des großperuanischen Kulturraumes in den Trockengebieten der Küstenzone und in den Andenhochtälern steht in einem direkten Zusammenhang mit der sogenannten "andinen Bewässerungswirtschaft". Max Steffen wies bereits in seiner 1883 erschienenen Arbeit darauf hin, dass künstliche Bewässerung sowohl in den Anden als auch in den Küstenniederungen von Tumbes, von Ecuador bis Mittel-Chile erforderlich sei. Diese Gebiete, in welchen zahlreiche archäologische Funde das Vorhandensein künstlicher Wasserführungen, Staubecken und Kanäle bezeugen, decken sich auffallend mit dem von den spanischen Eroberern angetroffenen Staatsgebiet der Inka.

Die künstliche Bewässerung erwies sich als eine der bedeutendsten Triebkräfte kultureller Entwicklung: "Sie ermöglicht erst das dichte Zusammenwohnen der Menschen und das Wachsen größerer Städte auf den nährstoffreichen Böden der Trockengebiete. Sie erfordert große bautechnische Fähigkeiten und regt den technischen Erfindergeist an. Sie zwingt zu genauer Landvermessung und fördert damit die mathematische Wissenschaft und die Sternbeobachtung. Der Unterhalt der Bewässerung selbst legt die Wetterbeobachtung und die kalendermäßige Jahreseinteilung nahe. Der Ausbau und die Benutzung größerer Bewässerungsanlagen erfordern einen engen sozialen Zusammenschluss und die Bildung von Wassergenossenschaften, die gerechte Wasserverteilung und die Regelung von Wasserstreitigkeiten, ferner die Ausbildung höherer Rechtsformen, aus denen wiederum eine höhere staatlich-politische Organisation erwachsen kann. ...Jedenfalls hat die Indianerkultur der in Rede stehenden Gebiete (von Groß-Peru) aus der künstlichen Bewässerung wichtige Antriebe erfahren . . .".

In diesem "peruanischen Raum", der im Westen durch den Stillen Ozean und im Osten durch die Urwaldzonen begrenzt wurde, konnte sich das Inkareich als relativ schmales Territorium vom Rio Ancasmayu (Süd-Kolumbien) über 35 Breitengrade hinweg bis nach Mittel-Chile (Rio Maule) entwickeln. Die west-östliche Ausdehnung von Groß-Peru schwankte mit der Breite der Cordilleren. Diese erreichte bei Puno mit 920 km ihr Maximum, betrug bei Cuzco 375 km und sank auf 180 km beim 6. Grad südlicher Breite. Das geschlossene Gebiet der "Andenkultur" grenzte auf einer Länge von gegen 4000 km an die "wilden Waldvölker" der Andenabfälle des Ostens oder der östlichen Tiefebenen. Diese Scheide bildete die schärfste und wichtigste Kulturgrenze im ganzen vorspanischen Amerika, es war eine Art "Frontera" der andinen Hochkulturvölker. Bei der Ausdehnung des Inkareiches wurde diese Kulturscheide zu einer einheitlichen politischen Grenze, die an den gefährdeten  Stellen durch Grenzbefestigungen geschützt war. Solche Festungen wurden in den Tälern des Huilcanota-Urubamba, Paucartambo und Apurimac nachgewiesen, wie auch im Abschnitt von Cuzco. Der Forscher Carl Troll spricht in diesem Zusammenhang vom "Limes des Inkareiches". Trotz der Übereinstimmung von Bewässerungswirtschaft mit dem Herrschaftsbereich des Inkastaates ist darauf hinzuweisen, dass das Inkavolk die künstliche Bewässerung keinesfalls erfunden hat. Technische Anlagen von Wasserführungen lassen sich an der peruanischen Nordküste schon seit dem ersten Drittel des Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung nachweisen. Es scheint aber festzustehen, dass die Inkaherrschaft sowohl zu einer Ausdehnung und Intensivierung der künstlichen Bewässerung geführt hat wie auch zu einer Erweiterung des Kulturlandes durch die Erweiterung der Bewässerungsanlagen. "Groß-Peru" setzte sich also aus jenen zwei langgestreckten Gebietsstreifen der wüstenähnlichen Küstenzone und der Andenhochebenen zusammen, wo zwischen dem Ozean im Westen und den Urwaldgebieten im Osten eine Bevölkerung siedelte, welche — im Zusammenhang mit der künstlichen Bewässerung - den Stand der sogenannten "andinen Kultur" erreicht hatte. Die in zahlreiche unabhängige Königreiche, Fürstenstaaten und Bündnisgebilde zerfallenden politischen Einheiten wurden zwischen 1436 mit dem Beginn der Eroberungszüge von Pachacuti und der Zerstörung des Inkareiches durch die Spanier im Jahre 1532 im "Reiche der Vier Viertel", Tahuantinsuyu, zusammengefasst. Dabei übernahmen die Inka auch bestehende Institutionen ihrer neuen Untertanen, besonders höherstehende Techniken. Sie verbesserten und vereinheitlichten solche Fähigkeiten und Kenntnisse und übertrugen sie auch auf die neu eroberten Gebiete.

3. Die Sozialstruktur von Groß-Peru

Das Fundament aller im Inkastaat zusammengefassten Völkerschaften bildete die Dorfgemeinde, die in den meisten Fällen eine Geschlechtsgenossenschaft war. Diese unterste Einheit der bestehenden politischen Gebilde wurde auch "Hundertschaft" genannt, weil sie ungefähr hundert Kriegsfähige zu stellen vermochte. Die Quechua-Sprache bezeichnet den Sippenverband mit Ayllú. In einer im Jahre 1603 in Sevilla erschienenen Quechua-Grammatik samt Wörterbuch wird der Begriff "Ayllú" mit "Tribu, Linaje, Genealogia, Casa, Familia" — also mit "Volksstamm, Geschlecht, Abstammung, Haus, Familie" — übersetzt. Die Einteilung in Ayllús reicht weit zurück in Epochen, die lange vor der Inkaherrschaft lagen. Schon in den ältesten Ursprungsmythen finden wir sie erwähnt. Das Oberhaupt des Ayllú wurde "Hundertschafts-Häuptling" (Pachaccuraca) oder auch nur "Befehlshaber", "Anordner" genannt. Sofern der Ayllú eine einzige Dorfschaft umfasste, war der Hundertschafts-Führer identisch mit dem Dorfvorsteher. In gebirgigen Gegenden erstreckte sich der Sippenverband oft über mehrere Dorfschaften. Im allgemeinen waren mehrere Hundertschaften wieder zu einem größeren Verband vereinigt. Von den spanischen Chronisten wird dieser Verband als "principal ayllú" oder "principal parcialidad" (Hauptabteilung) bezeichnet. Es handelte sich um eine Vereinigung mehrerer Sippenverbände zu einem größeren Territorialverband, wobei die Familiengenossenschaften ihre wirtschaftliche Selbständigkeit weiter bewahrten.

Mehrere solche Territorialverbände bildeten schließlich einen Stamm oder wie die spanischen Quellen sich ausdrücken, eine "Nación". Welcher Art der Zusammenhang war, der zwischen den verschiedenen Verbänden des gleichen Stammes bestand, lässt sich nicht genau festlegen. Sehr wahrscheinlich handelte es sich um ein gegenseitiges Bündnis für den Kriegsfall. Wer dann die Führung übernahm, ob der älteste der Häuptlinge, oder ob aus der Schar der "Curacas" ein Oberbefehlshaber gewählt wurde, geht aus den Chroniken nicht hervor. Jose de Acosta erwähnt in seiner "Historia Natural y Moral de las Indias" lediglich, dass ein Heerführer gewählt wurde, sobald ein Krieg auszubrechen drohte.

In einzelnen Gegenden vermochten diese Kriegsführer als Oberhäuptlinge eine Art Stammeskönigtum zu begründen. Solche "Reiche" der Stammesführer besiegten auch etwa angrenzende Völkerschaften und machten sie tributpflichtig.

Der Zusammenschluss von Sippengemeinschaften (Ayllús) zu Territorialverbänden, die sich im Kriege zu Schutzgemeinschaften erweiterten, begünstigte also die Machtausweitung einzelner Kriegshäuptlinge sowie die Unterwerfung umliegender Völkerschaften, die zu Tributleistungen gezwungen wurden — dies waren im peruanischen Raum Machtmechanismen, die seit undenklichen Zeiten spielten. Das Inkavolk hat diese Modelle bei seinen Gebietserweiterungen zum ausgedehnten Reich von Tahuantinsuyu angewandt. Über den Curacas, Oberhäuptlingen und Stammesfürsten stand als mächtigster Kaiser der Sapay Inca, der über ein treues und zuverlässiges Beamtenheer gebot, das für die höchsten Staatsämter aus seiner eigenen Familie stammte und sich für die übrigen Ämter aus den Inkafamilien von Cuzco zusammensetzte.

Der Inkastaat stützte sich auf zwei gegensätzliche Kräfte ab, die sich in der Machtstruktur deutlich unterschieden: Die zentrale Verwaltung, welche die Herrschaft der Inka-Eroberungsgruppe im Reiche sichern sollte einerseits, und die örtlich gebundenen Sippengemeinschaften, welche wirtschaftlich weitgehend selbstgenügsam waren, andrerseits. Im allgemeinen wurden die örtlichen Stammesführer — Curacas — in ihren Stellungen belassen, wenn sie ihr Amt im Dienste der Inkaverwaltung ausübten. Kaiserliche Beamte sorgten für die Einhaltung der festgelegten Richtlinien. Wurde ein Curaca aus seinem Amte verdrängt, dann folgte ein naher Verwandter — Sohn oder Bruder — nach, nicht aber ein Vertreter der zentralen Macht.

Vom Inkastaat haben die spanischen Chronisten teilweise ein falsches Bild übermittelt, und zwar von einem zentralistisch geleiteten Wirtschaftskörper, in dem Erzeugung und Verbrauch nach den durchdachten Plänen einer zentralen Verwaltung vor sich gingen. Eine solche Überbewertung der staatlichen Lenkung kommt wohl daher, dass die von den Chronisten befragten Personen des untergegangenen Inkareiches zugleich dessen Machtträger waren und nur das Wirken ihrer eigenen Standesschicht im Auge hatten. Die sippenmäßige Struktur der peruanischen Gesellschaft, die als Grundzug ihres Wirtschaftslebens die Autarkie der lokalen familiengenossenschaftlichen Einheiten aufwies, fand deshalb in den spanischen Berichten viel zu wenig Beachtung. Die dezentralisierte Dorfwirtschaft wurde von den Inka weitgehend unangetastet gelassen, da die Inka-Verwaltung wenig Interesse an einer planvollen Änderung der bestehenden Wirtschaftsorganisation hatte: in erster Linie war dieses Reich ja ein Erobererstaat. Deshalb erfuhr die Lebensweise der Unterworfenen keine wesentlichen Umgestaltungen. Es kann nicht davon die Rede sein, dass das Inkavolk als Schöpfer der wirtschaftlichen Kultur von Groß-Peru betrachtet wird. Wenn der kaiserlichen Verwaltung im Wirtschaftssektor ein Verdienst zufällt, besteht er in der grosszügigen Kolonisationspolitik, welche ungünstige territoriale Produktionsbedingungen auszugleichen vermochte. Ferner schuf die Inkaverwaltung die Voraussetzungen für monumentale Arbeiten, besonders in der Anlage von Wasserleitungen, in der Erstellung von Strassen und Brücken und der Herstellung von Hangterrassen (Andenes).

4. Arbeitspflicht und Dienstleistungen bei den Völkern der peruanischen Kultur

Im Räume von Groß-Peru leistete der erwachsene männliche Einwohner seinen Anteil an die Gemeinschaft durch einen bestimmten Arbeitseinsatz. Polo de Ondegardo, welcher als Jurist die staatlichen und wirtschaftlichen Zustände im Inkareich sehr gut kannte, schreibt darüber: ". . . Jeder war verpflichtet, seinen Teil für die Herstellung von Abgaben beizutragen, die von der Gesamtheit eingefordert wurden. . ." Dieser Zustand ist sicher dadurch begründet worden, dass die Kultivierung des Bodens (nach dem Übergang der Jäger- und Wildsammler-Gesellschaft zu den sesshaften Ackerbauern) von den Familiengemeinschaften in Angriff genommen wurde. Wegen der wachsenden Bevölkerung waren die Stämme zu einer relativ arbeitsintensiven Bodenbewirtschaftung gezwungen worden. Die Sippengemeinschaften, die ihren Ursprung auf einen gemeinsamen Ahnen zurückführten und gewöhnlich auch ein gemeinsames Totemtier als Symbol ihrer Familie betrachteten, hatten sich zu Feldgemeinschaften entwickelt. Innerhalb der Sippe gehörte der zu bebauende Boden allen gemeinsam. ". . . Und wer nicht arbeitete bei der Saat, hatte keinen Anteil an der Ernte. . ," Das Stammland der Sippe umfasst eine "Marca", ein Wort, das sowohl in der Quechua-Sprache wie in der Sprache der Aymara vorkommt und am besten mit "Dorfgebiet" oder "Region eines Ayllú" übersetzt wird. Die Gebiete der einzelnen Dorfschaften waren genau abgegrenzt, das Verrücken der Grenzsteine wurde streng bestraft. Auch nach der Einverleibung in den Inkastaat blieb aller Wahrscheinlichkeit nach das Stamrnland (Marca) im Besitz der einzelnen Sippe, die es periodisch an ihre Familienmitglieder — je nach Kopfzahl der betreffenden Familie — zur Nutzung verteilte.

Die wirtschaftlichen Rechte eines Sippengenossen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Periodische Zuteilung einer Parzelle.
  2. Nutznießung an Weide und Wald.
  3. Den nach der Zahl der Sippengenossen auf ihn entfallenden Betrag von Wolle und Fleisch.
  4. Recht auf Haus- und Hofstätte als Sondereigentum, wobei das Haus mit Hilfe der Dorfgenossen gebaut worden war.
  5. Recht auf Nutzung der Wege und Wasserleitungen.

Diesen Rechten der Sippengenossen standen ihre Pflichten gegenüber, die sie der Dorfgemeinschaft zu leisten hatten. In bezug auf den Ayllú erstreckt sich diese Leistung auf Arbeiten im genossenschaftlichen Interesse, wie Weg- und Wasserbauten innerhalb der Marca und Terrassierung von Gemeindeland.

Nach Eingliederung in das Inkareich wurde dieser Pflichtenkreis noch erweitert auf Arbeiten, die im Interesse des Reiches standen. Gerade in der doppelten Erfassung der Wehrfähigen und der steuerpflichtigen "Tributarios" erkennt man den zweipolaren Aspekt der Inkaherrschaft, welche sich als eine Art Oberbau oder Reichsverwaltung über die Basisstrukturen der unterworfenen Sippenverbände gelegt hatte. Die Herrscherschicht setzte sich aus dem Inka-Adel zusammen (von den Spaniern, wegen ihrer Rangabzeichen an den Ohren, "Orejones", also "Großohren" genannt). Unterhalb dieser Schicht befanden sich die alten Stammes- und Sippenführer, welche innerhalb der Inkaverwaltung in ihren bisherigen Funktionen belassen wurden. Die gesamte männliche Bevölkerung, welche das allgemeine Volk ausmachte, wurde als "llactaruna" (von llacta = Dorf und runa = Mann) bezeichnet. Dieser Name ist für die wirtschaftliche Stellung der Volksmasse im peruanischen Großreich kennzeichnend. Innerhalb dieser Zahl von Untertanen wurden die "hatunruna cuna" (Großmänner) für Arbeitsdienst und Wehrpflicht erfasst. Dank einem ausgeklügelten Kontrollsystem wurde die gesamte Bevölkerung nicht nur gezählt, sondern auch zum Zwecke der Arbeitseinteilung nach Altersklassen eingeteilt. Die männlichen verheirateten Haushaltvorstände im Alter zwischen 25 und 50 Jahren gehörten der wichtigsten Klasse der "Tributarios" (d.h. Steuerpflichtigen) an. Poma de Ayala gibt uns in seiner Nueva Crónica y Buen Gobierno ein Bild über den "Arbeitsplan der Inka", der sich auf eine Einteilung der Bevölkerung nach Alter stützte:

  1. Unter einem Jahr: das Wiegenkind
  2. von 1 bis 5 Jahren: das Spielkind
  3. von 5 bis 9 Jahren: das Laufkind (das kleine Besorgungen machte)
  4. von 9 bis 12 Jahren: das Kind, das die Vögel aus den Maisfeldern verscheucht
  5. von 12 bis 18 Jahren: der Lamahirte und der Lehrling in Handarbeiten
  6. von 18 bis 25 Jahren: der Gehilfe der Eltern bei allen Verrichtungen
  7. von 25 bis 50 Jahren: der tributpflichtige Mann
  8. von 50 bis 60 Jahren: der ältere Mann, der noch arbeitsfähig ist
  9. über 60 Jahre: der Greis, der nur noch Ratschläge zu geben hat
  10. eine 10. Klasse umfasst die Kranken, Invaliden und Geistesgestörten.

Da im Inkareich — wie in ganz Altamerika — kein Geldverkehr herrschte, mussten die Tributpflichtigen ihre Steuern in Form von Arbeitsleistungen erbringen. Der Arbeitseinsatz der Tributarios, d.h. der 25 bis 50-jährigen verheirateten Männer, umfasste die Arbeitsleistungen auf den "Feldern des Inka und der Sonne", die innerhalb der Marca-Grenzen nach der Eroberung für die königliche Verwaltung und die Priesterschaft vom Gemeindeland ausgeschieden worden waren. Ferner mussten auch die riesigen Lamaherden des Inka betreut werden. Außerdem hatten die Dienstverpflichteten an Strassen- und Brückenbauten zu arbeiten, sie hatten als Minenarbeiter dem Staate zu dienen, wie auch als Meldeläufer auf den Reichsstrassen, und mussten als Milizsoldaten im Kriegsfall an den Heereszügen teilnehmen. Diese Arbeitsleistungen wurden Mita genannt.
Die Zahl der für solche öffentlichen Werke benötigten Mannschaften wurde festgelegt und die Männer aus den umgebenden Provinzen für den Mita-Dienst aufgeboten. Während der Zeit, da der Mita-Verpflichtete von seinem Ayllú abwesend war, wurden die ihm von den Gemeindehäuptern zugeteilten Äcker von den Angehörigen seiner Sippe bearbeitet und die Ernte zu seiner Verfügung bereitgestellt.

Zum Arbeitsdienst und für militärische Dienstleistungen wurde immer nur ein relativ kleiner Teil der männlichen Bevölkerung einer Marca (oder einer größeren Einheit) gemeinsam ausgehoben, damit die Bestellung der Äcker und die weiteren Feldarbeiten nicht behindert wurden. Auch blieben die Ausgehobenen — mit Ausnahme der Teilnehmer an Kriegszügen — nur kurze Zeit von ihrer Sippengemeinschaft entfernt, dann kehrten sie zurück und wurden durch andere Genossen ersetzt. Hatte eine Ayllú-Genossenschaf t zu einem Minenbetrieb beispielsweise 8 Dienstpflichtige zu stellen, so arbeiteten diese 8 Tributarios nicht das ganze Jahr hindurch in dem Bergwerk. Nach Ablauf einer bestimmten Frist wurden sie durch 8 andere Angehörige der Sippengemeinschaft ersetzt. Um feststellen zu können, wie viele Arbeitskräfte in den einzelnen Provinzen vorhanden waren und wie viele Tributarios ohne Beeinträchtigung der notwendigen Feldarbeiten abgezogen werden konnten, nahmen die Inka in gewissen Zeitabständen eine Zählung der Mannschaftsbestände vor. Der Name des Kontrollbeamten lautete in Quechua "Runapachacac". Von Gemeinde zu Gemeinde reisend, ließen diese "Volkszähler" durch die Curacas die Einwohner ihrer Dörfer zusammenrufen und vermerkten das Resultat ihrer "Volkszählung" sannt den Abwesenden in den Quipus, ihren Knotenschnüren.

Über die Dauer der öffentlichen Dienstleistungen geben uns die spanischen Quellen verschiedene Angaben. Fest steht, dass das Aufgebot für Feldarbeiten auf den "heiligen Äckern" (des Inka und der Kultgemeinschaft) innerhalb des Marca-Gebietes zu mehreren Malen erfolgte, entsprechend den Bedürfnissen des Feldbaues bei Saat und Ernte.

Das andere Aufgebot für Arbeiten an Strassen, Brücken, Wasserleitungen, Bau von Palästen, Tempeln und Festungen, erfolgte in einer zusammenhängenden Frist. Der Mestizenchronist Blas Valera spricht von einer Dauer von 2 Monaten ". . . und wenn es hoch kam, waren es drei Monate. Mehr musste der Dienstverpflichtete nicht leisten. Falls die Arbeit noch nicht beendet war — und der Tributario zustimmte - um das Werk vollenden zu helfen, konnte er seinen Arbeitseinsatz mit der Arbeitspflicht des kommenden Jahres verrechnen, und sie (d.h. die Beamten) hielten dies zur Erinnerung mit Knöpfen in ihren (Quipu-(Schnüren fest. . ."

Blas Valera spricht auch davon, dass Arbeitsgeräte und Verköstigung zu Laster des Staates gingen: "...Werkzeuge und Geräte, sowie die Nahrung und die Kleidung, wie auch alle weiteren notwendigen Zuwendungen, wurden in reichem Masse aus den Vorratshäusern des Inka zur Verfügung gestellt. . ,".

Nach den spanischen Chroniken nahm die Reichsverwaltung — mit Ausnahme des Militärdienstes — auf ihre Dienstpflichtigen besonders Rücksicht: Gebirgsbewohner durften nur in Höhenlagen eingesetzt werden, die Einwohner der Küste und der tiefen Täler leisteten ihre Arbeitspflicht in den Niederungen."

[Bollinger, Armin: So bauten die Inka : Strassen, Brücken, Bewässerungsanlagen, Häuser, Städte im alten Peru. -- Diessenhofen : Rüegger, 1979. -- 191 S. : Ill.. -- (Schriftenreihe des Lateinamerikanischen Institutes an der Hochschule S[ank]t Gallen ; Bd. 1). -- ISBN 3-7253-0090-9. --  S. 7- 20]

Aus dem zweiten Band Bollingers stammen folgende Auszüge:

 
Abb.: Alpaca, Lama und Schafe (Bild: Payer, 2001)

"Die Lamas wurden früher sehr häufig als Lasttiere verwendet. Man führte die Karawanen-Unternehmungen besonders während der Trockenzeiten durch, die Abwesenheit der Treiber und der Tiere von ihren Dörfern dauerte oft drei bis vier Monate. Als Lastenträger dienten ausschließlich männliche Lamas, die in der Regel kastriert worden waren. Die indianischen Züchter hatten herausgefunden, dass kastrierte Tiere ausdauernder und widerstandsfähiger waren. Weibchen schloss man von den Karawanen-Zügen aus, da die Vorstellung herrschte, weibliche Tiere würden durch das Tragen von Lasten unfruchtbar werden.

Während der Inka-Zeit und in den frühen Kolonialepochen setz ten sich die Lastenzüge oft aus tausend bis zweitausend Tieren zusammen. Im 16. Jahrhundert standen der spanischen Kolonialverwaltung 350.000 Lamas zur Verfügung, um die in Peru geförderten Edelmetalle an die Küste befördern zu können. Wichtig für die Ausbeutung der Minen war auch der Lama Dung. Eine bedeutende Minenstadt wie Potosí (im heutigen Bolivien) beispielsweise benötigte jährlich 800.000 Lasten dieses »Brennmaterials«, um die geschürften Silbererze schmelzen zu können.

Lasten im Gewicht von 30 - 50 kg konnten durch die Tiere befördert werden. In selteneren Fällen transportierten starke Lamas auch Traglasten bis 60kg. Die täglich zurückgelegten Strecken betrugen durchschnittlich 15 - 20 Kilometer. Bei Zügen von höchstens einer Woche Dauer konnten die Strecken bis 30 km betragen.

Da die Lasttiere ihr Futter auf den umliegenden Punas selbst suchen mussten, waren die Treiber genötigt, die tägliche Fortführung der Karawane rechtzeitig zu unterbrechen, um den Tieren die notwendige Zeit zur Weidung zu geben.

Es wird berichtet, dass ein Lama bis zu fünf Tagen ohne Nahrung auskommt. Ohne Wasseraufnahme soll es diese Camelidenart bis zu drei Tagen aushalten können.

Die Zahl der Treiber scheint verschieden groß gewesen zu sein. Pater Bernabé Cobo gibt für 12 Tiere einen Lamatreiber an. Horst Nachtigall, ein deutscher Forscher, machte in der Puna de Moquegua die Beobachtung, dass auf einen Treiber nur zehn Tiere kommen. Dagegen berichtet der Chronist Garcilaso de la Vega, dass in der Inka-Epoche ein Treiber insgesamt 25 Tiere zu betreuen hatte. Für das Gebiet von Paratía gibt J. A.. Flores Ochoa folgende Zahlen an: im Durchschnitt unterstehen einem Treiber 20 - 30 Tiere, ein sehr geschickter Treiber betreut 40 - 50 Lamas.

Außer den »privaten Besitzern« gehörenden Tieren gab es große Herden im Besitz der gesamten Dorfgemeinschaft. In der Inka-Zeit gehörte der größte Teil der Lamas und Alpacas dem Inka, d.h. dem Staat. Außerdem hatte die Religionsgemeinschaft des Sonnenkultes Anrecht auf Herden. Die Tiere der Dorfgemeinde wurden bei besonderen Anlässen geschlachtet, ihr Fleisch gab man in erster Linie an Bedürftige, an Witwen und Waisen. Auch an besonderen Festtagen wurden Lamas geschlachtet. Dann kam die ganze Dorfbevölkerung (Ayllu) in den Genuss von Fleisch.

Die Hirten für das Weiden der >Tiere des Inka und der Sonne< (also für Staat und Kirche) wurden durch die Dorfgemeinschaft gestellt. Häufig versahen junge Leute das Hirten-Amt, wie dies auch heute noch der Fall ist. Oft wurden die Tiere des Curaca (Dorfvorstehers), seiner nächsten Verwandten, der Witwen, Kranken und Alten zusammen auf die Weide getrieben.

Die Alpacas wurden in drei Klassen eingeteilt, um sie besser weiden zu können:

  • Jüngste Tiere (weniger als ein Jahr alt)
  • Jungtiere (im Alter von ein bis zwei Jahren)
  • Geschlechtsreife Tiere (die mehr als drei Jahre alt waren).

Nach dem dritten Jahr wurden die Herdentiere in noch weitere Gruppen unterteilt, entsprechend ihrer Wollfarbe, dem Geschlecht und ihrer Zeugungsfähigkeit. Eine Anzahl Hengste kastrierte man durch das Ausbrennen der Hoden oder mit Hilfe eines Steinmessers.

Einem zeugungsfähigen Bock wurde eine Herde von 10 - 20 Weibchen >zugeteilt<.

Die Höchstzahl der Tiere, die ein Hirte betreute, lag zwischen 200 und 300 Lamas. Aus der Gegend des Titicacasees wurde im Jahre 1567 die Zahl von 250 Tieren genannt. Die Arbeit wurde von einem Hirten und seiner Frau gemeinsam verrichtet. Ein anderer Bericht sagt aus, dass für eine Herde von 657 Tieren drei Hirten zuständig waren, also durchschnittlich 219 Lamas oder Alpacas pro Hirte.

Welche Bedeutung der Zucht von Lamas und Alpacas in den peruanisch-bolivianischen Hochtälern - nicht nur während der Inka-Zeit, sondern auch in der Kolonialepoche - zukam, geht aus einem Bericht des Jahres 1567 hervor, den Díaz de San Miguel über die Viehherden der Gegenden um den Titicacasee verfasste. Die Grossen der Herden werden wie folgt angegeben:

  • Kleinste Herden mit 3-4 Tieren. Kleinere Herden in der Grossen Ordnung von 10 - 20 Tieren
  • Durchschnittliche Herden von 50 - 80 Tieren
  • Grosse Herden mit 100 - 200 Tieren.

Aus den Angaben von Díaz de San Miguel und denjenigen von Gutiérrez Flores (vom Jahr 1574) über die reichsten Herden-Besitzer der Provinz können wir entnehmen, dass 3,5% aller Steuerpflichtigen - die identisch mit den Haushaltungsvorständen waren - Herden in der Grosse von 80 - 100 Tieren besaßen. Über 200 Stück Vieh hat ten nur 1% der Steuerpflichtigen. Die sechs reichsten Provinzbewohner hatten große Herden in ihrem Besitz, nämlich 800, 900, 920, 1217, 1370 und 1700 Lamas und Alpacas.

Für die begütertsten Besitzer wurde ein Viehbestand im Durch schnitt von 125 Tieren berechnet. Zusammen gehörte den 1247 Tierhaltern ein Bestand von 155292 Tieren.

Entsprechend der Bedeutung der Cameliden nahmen Lamas und Alpacas auch in den religiösen Riten der Andenbewohner eine wichtige Stellung ein. Heute noch wird in abgelegenen Hochtälern vor dem Töten - manchmal selbst vor der Schur - ein >Pago< abgehalten. Bei dieser >Versöhnungszeremonie< ruft man den Schutzgeist und >Besitzer< der Tiere an und bittet ihn um Gewährung der Wolle oder des Fleisches für die indianische Gemeinschaft. Dem Schutzgeist, der in den Berghöhlen oder auf den Bergspitzen haust, werden Opfergaben dargebracht: Coca, Maisbier (Chicha), rote Bänder, kleine Wolltücher. Im allgemeinen werden nur weibliche Tiere geschlachtet, welche nicht mehr werfen können, sowie alte Böcke und kastrierte Männchen, die als Tragtiere ausgedient haben.

In der vorspanischen Zeit waren Lamas und Alpacas (neben den Meerschweinchen) die beliebtesten Opfergaben. Nur äußerst selten spendete man gefangene Vicuñas und Guanacos. Die für einen einzelnen Spender sehr wertvollen Tiere stammten gewöhnlich aus den Herden der Dorfgemeinde oder - im Einverständnis mit den zuständigen Inka-Beamten - aus staatlichem Besitz. Die Opfergaben wurden in einer öffentlichen Zeremonie dargebracht. Vor einem Idol stellten sich die Teilnehmer auf, und der Priester führte das Tier rund um das Götterbild herum. Dann stellte der Opferpriester das Lama vor das Bild, rief die Gottheit an und schnitt dem Tier den Hals durch. Weiße Lamas und Alpacas wurden nur der höchsten Gottheit Inti, der Sonne, dargebracht, während braune oder gefleckte Herdentiere als Opfergaben für den Donnergott dienten.


Abb.: Weißes Alpaca, Mallasa (Bild: Payer, 2001)

Bei gewissen Riten spielte auch das >Heilige weiße Lama< eine große Rolle. Das Albino-Tier war von den Dorfpriestern gehegt und gepflegt worden, bis es eines natürlichen Todes starb. Dann nahm die Dorfgemeinschaft in einem religiösen Fest Abschied von diesem >Heiligen Lama<. Die Farbe des Opfertieres war sehr wichtig: Vor Kriegszügen brachte man den Göttern einige schwarze Herdentiere als Gaben dar. Vorher hatte man den schwarzen Lamas und Alpacas während einigen Tagen nichts mehr zu fressen gegeben. Die Opfertiere dienten als Sinnbild des Feindes: Die angeflehten Gottheiten sollten die Feinde ebenso schwächen, wie dies bei den Opfertieren der Fall war.

Weissagungen aus den Eingeweiden eines besonders ausgewählten Lamas waren gebräuchlich. Während der Zeremonie hielten vier Priester den Kopf des Tieres in Richtung des Sonnenaufganges, während der Opferpriester die linke Seite aufschnitt. Dann zog der Priester Herz und Lunge des geopferten Lamas mit einer raschen Bewegung aus dem Tierleib. Wenn die Lunge noch atmete, war es ein sehr günstiges Omen. Blieb dies (nebst anderen Zeichen) aus, wurde ein zweites, dann ein drittes Tier auf die gleiche Weise geopfert. Schlugen drei Versuche fehl, hatte die Gottheit die gestellte Frage negativ beantwortet. Eine andere Art der Wahrschau bestand darin, die Lungen des getöteten Tieres aufzublasen und die Prophezeiung am Netz der Adern abzulesen. Auf diese Weise gab der Gott seine Antwort mit >Ja< oder >Nein< bekannt.

Über noch immer vorkommende Bräuche berichtet der skandinavische Forscher Rafael Karsten: >... Auch beim Bau von Häusern brachten die Peruaner der Inka-Zeit Zauberopfer dar, wie sie heute noch sowohl bei den Aymara wie bei den Quechua üblich sind. Wenn man das Fundament für ein neues Haus ausgräbt, muss man Vorsicht walten lassen, um die Geister dieses Ortes und die Erd-Mutter (Pachamama) nicht zu erzürnen. Denn man tut der Erde ja Gewalt an, wenn man zu graben beginnt und Pfähle in den Boden schlägt. Der Zorn der Geister könnte bewirken, dass das Haus bald einstürzen wird oder schnell verfault. Die Opferzeremonien, die das Unglück verhüten, müssen vom Baumeister oder einem Curandero verrichtet werden. In der Nacht vor Baubeginn werden Lamaföten, Lamatalg, Blätter und Stängel der heiligen Pflanze Uira-Coya sowie Cocablätter in Bündeln verpackt. Unter Beachtung der genau vorgeschriebenen Gebräuche wird am nächsten Tag je ein Bündel an den vier Ecken und in die Mitte des künftigen Hauses vergraben, wobei der Zauber-Priester ein Gebet spricht...

Ein ähnliches Opfer habe ich in der Nähe der Stadt Cochabamba (Bolivien) beobachtet, wo Quechua-Indios ein neues Haus gebaut hatten. Man schlachtete innerhalb des Neubaus ein schwarzes Lama und besprengte die vier Ecken mit seinem Blut. Dieses sollte dem Haus Kraft geben, so dass es nicht zu früh zu faulen beginne oder ein stürzen würde.. .<

Jagd auf Wolltiere

Die beiden nicht domestizierten Cameliden-Arten Vicuña und Guanaco leben heute noch wild in den hohen Bergregionen der Anden. In den umherschweifenden kleinen Herden findet man Weibchen und Jungtiere, die von einem einzigen Bock angeführt werden. Andere männliche Tiere werden aus der Herde ausgestoßen. Sie vereinigen sich mit weiteren Böcken in Gruppen bis zu dreihundert Tieren. Gelegentlich entstehen auch große Herden männlicher Wildtiere in der Wurf- und der Brunst-Zeit.


Abb.: Vicuñabock am Salar von Uyuni (Bild: Payer, 2002)

>...es gibt da noch ein ungezähmtes Tier, das (die Indios) >Vicuna< nennen. Das Wildtier besitzt eine zarte Gestalt und hat nur wenig Fleisch, aber es hat viele und sehr feine Wolle ... Das Vicuña ist größer als eine ausgewachsene Ziege. Die Farbe seiner Wolle ist von einem sehr hellen Kastanienbraun. Die Vicuñas sind äußerst schnell und werden nie von einem (spanischen) Windhund eingeholt ... In den höchsten Wüsteneien, nahe bei den Schneegipfeln weiden diese Tiere. Das Fleisch ist essbar, wenn auch nicht so schmackhaft wie dasjenige des Guanaco. Von den Indios, die an Fleischnahrung Mangel leiden, wird das Vicuña-Fleisch gerne gegessen.. .< (schreibt Garcilaso de la Vega).

In diesem Zusammenhang ist die Tatsache von Wichtigkeit, dass das Wollhaar des Vicuña sehr wenig ergiebig ist. Für die Anfertigung eines Poncho braucht man heute die Haare von 10-20 Tieren.

Die Treibjagden auf die wildlebenden Tiere unterstanden im Inka-Reich strengen Regeln. Wegen seiner feinen Wolle war das Vicuña besonders geschätzt. Das Guanaco wurde wegen seines schmackhaften Fleisches gejagt. Von Zeit zu Zeit durfte in den Provinzen des Reiches eine Jagd (Chacu) abgehalten werden. Eine Chacu fand erst nach dem Wurf der Jungtiere statt und erforderte Tausende von Treibern, die in einem riesigen Umkreis (Radius bis 30 km) die Jagdtiere mit Rufen und Schwingen von Tüchern nach einem Mittelpunkt vor sich hertrieben. Dort wurden die Tiere mit Lassos gefangen. Der Hauptzweck des Unternehmens war das Scheren der zusammengetriebenen Vicuñas und Guanacos. Nachher wurden die tragfähigen Weibchen wieder freigelassen, dazu ließen die Jäger eine angemessene Anzahl von gesunden männlichen Tieren laufen, damit die Fortpflanzung sichergestellt blieb. In ähnlicher Weise wurde mit den eingefangenen Rehen, Hirschen und Damhirschen verfahren. Die übrigen Tiere wurden von den Jägern getötet, und aus der ungeheuren Menge an essbarem Fleisch stellte man Charqui (Trockenfleisch) her, das zur Aufbewahrung in die Lagerhäuser gelangte.

Der Chronist dieses Berichtes, Garcilaso de la Vega, meldet außerdem: >... Diese Treibjagden wurden nur alle vier Jahre in den gleichen Landesteilen veranstaltet, da man von einer Jagd zur anderen eine entsprechende Frist verstreichen lassen wollte. Die Indios sagten nämlich, dass in der Zwischenzeit die Wolle der Vicuñas wieder voll nachwachsen würde und dass sie die Tiere vorher nicht scheren wollten. Inzwischen hätten die Tiere wieder Zeit gefunden, sich zu vermehren, und sie würden auch wegen der Schonzeit nicht so stark in Mitleidenschaft gezogen wie bei einer jährlichen Treibjagd.. .<

Der Inka-Verwaltung musste genaue Rechenschaft abgelegt werden. Man erfasste alle geschorenen Tiere, sonderte die Vicuña-Wolle von der Wolle der Guanacos aus und speicherte die wertvollen Textilfasern in den staatlichen Magazinen. Nach der Chacu erstellten die zuständigen Beamten ein Verzeichnis aller getöteter und freigelassener Tiere. So wusste die Inka-Verwaltung Bescheid über den Zustand und die Anzahl der wildlebenden Cameliden in jeder Jagdprovinz und konnte den Anfall an Wolle und Fleisch für die nächste Jagdzeit mit einiger Sicherheit voraussehen. >... Sie errechneten genau die Anzahl der wildlebenden Tiere, wie wenn es sich um Herdentiere gehandelt hätte und vermerkten die Anzahl in ihren Quipus (d.h. Knotenschriften), wie sie ihre Jahrbücher nannten, und unterschieden darin die Weibchen von den Männchen. ..<

In den Jagdgebieten um die Hauptstadt Cuzco herum leitete der Inka-Herrscher persönlich die Treibjagd, während in den Reichsteilen und Provinzen die Statthalter und Gouverneure die Durchführung der Chacu überwachten.

Ein interessanter Aspekt der Treibjagden sei noch erwähnt: Durch die Art, wie die Chacus durchgeführt wurden, übte die Andenbevölkerung auch einen Einfluss auf die >Zucht< der wildlebenden Cameliden aus. Beispielsweise wurden Weibchen mit missfarbigen Wollhaaren oder sehr dünnem Wollfell nicht mehr freigelassen. Menge und Qualität der Wollfasern von Vicuñas und Alpacas konnten durch dieses Auswahl-Verfahren bis zu einem gewissen Grad >gesteuert< werden. Ebenso wurden die Böcke mit nicht genügender Wollqualität, mit Zeichen von Krankheiten oder mit Degenerationserscheinungen eliminiert. Es gab besonders erfahrene Hirten, welche diese Aufgaben zu lösen hatten. Der Elimination fielen auch die älteren Weibchen und Böcke zum Opfer. An den Treibjagden töteten die Jäger zudem eine große Anzahl von Wildkatzen, welche oft den Bestand der gezähmten Herden sowie der freilebenden Tiere gefährdeten.

Wolle als textiler Rohstoff

Wolle weist von allen Naturfasern die höchste Elastizität auf, steht jedoch den Pflanzenfasern an Festigkeit und Stärke nach. Schon in alten Zeiten erkannten die Indios des Anden-Raumes, dass die beste Qualität, von außerordentlicher Feinheit und seidigem Glanz, vom Vicuña stammte. Aus diesem Grunde wurden in den Epochen der Inka-Herrschaft die großen Treibjagden abgehalten, um die gefangenen Tiere scheren zu können (wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben wurde).

>... die Wolle des Vicuña war wegen ihrer Feinheit sehr geschätzt, sie war ausschließlich für den Inka-Herrscher bestimmt. Dieser ließ Vicuña-Wolle unter seine königlichen Verwandten verteilen. Anderen Menschen war es bei Todesstrafe verboten, sich mit Gewändern aus dieser Wolle zu bekleiden. Auch gab der Herrscher als Zeichen seiner Gnade und für besondere Verdienste Vicuña-Stoffe an Häuptlinge, denen es sonst auch verboten war, sich damit zu bekleiden. Die Wolle des Guanacos wurde an das gewöhnliche Volk verteilt, da es sich um Wollfasern von geringerer Qualität handelte. ..<

Wie das wild lebende Guanaco lieferte auch das Lama sprödes und grobes Material. Aus Lamawolle stellte man die Kleider der unteren Volksschichten her, zudem fertigte man Matten, Taschen, Säcke und auch die äußeren Umhüllungen der Mumien aus diesem Fasermaterial an. Alpacawolle dagegen ist von feinerer Qualität. In der Inka-Zeit durften sich die höheren Beamten mit Gewändern aus Alpacawolle bekleiden. In der Alpaca-Zucht unterschied man zwei Tiergruppen:

  • das >Suri< mit langem, üppigem und stark gewelltem Wollhaar
  • das >Huacaya< (oder gewöhnliches Alpaca), dessen Wollhaar nur die Hälfte der Länge des >Suri<-Wollhaares erreicht.

Das hochgezüchtete Suri Alpaca ist viel weniger widerstandsfähig und eher den Krankheiten ausgesetzt als das gewöhnliche Alpaca. Im allgemeinen wurden die Alpacas alle zwei Jahre geschoren, wie dies heute noch der Fall ist. Die Schur ergibt 3 bis 5 kg Wolle pro Tier, in günstigen Fällen kann sich der Ertrag bis zu 8 kg steigern.

Das Scheren der Lamas ergibt ein geringeres Gewicht, obgleich dieses Tier größer ist. Aber die Wollfasern sind kürzer. Als Ertrag gewinnt man 1,8 -3,5 kg, wenn die Schur alle zwei Jahre erfolgt. Jungtiere - im gleichen Zeitabstand geschoren - ergeben die Hälfte Wollfasern.
Weibliche Lamas und weibliche Alpacas haben bedeutend weniger Wolle als die Böcke. Man hat auch festgestellt, dass Menge und Qualität der Wollfasern von den Weidgründen abhängig sind: In den hochgelegenen Weiden mit Hartgräsern, die wenig üppig gedeihen und in Regionen mit Wassermangel sind die Wollhaare weniger dicht gewachsen."

[Bollinger, Armin: So kleiden sich die Inka : Gewinnung von Pflanzenfasern, Haltung von Wolltieren, Jagd auf Vicuñas, Spinnen u. Weben, d. Färben von Textilien, Kleider u. Textilien im Alten Peru. -- Diessenhofen : Rüegger, 1983. -- 205 S. : Ill. -- (Schriftenreihe des Institutes für Lateinamerikaforschung und Entwicklungszusammenarbeit an der Hochschule S[ank]t Gallen ; Bd. 2). -- ISBN 3-7253-0170-0. -- S. 30 - 38]

Liste von traditionellen Symbolen und figürlichen Darstellungen auf Textilien


Llama - Das Lama spielte - und spielt immer noch - eine wichtige Rolle im Alltagsleben der Indios. Es wird auch als >Begleiter< auf dem Weg in die jenseitige Welt betrachtet.

Taruka - ein Gebirgshirsch, der als >Augui<, d.h. als Berggeist betrachtet wird. >Augui< ist eine Gottheit des >dritten Grades<, und ihr Bild erscheint unter den Opfergaben, die den Göttern dargebracht werden. Der Gebirgshirsch gehört zu den mystischen Lasttieren, welche die Schätze der Berggeister tragen.

Nunuma-Pato - es handelt sich um das Zeichen für die >Mutter des Wassers<. Nach der heute noch herrschenden Vorstellung in den Gegenden des Titicacasees war dieses Zeichen in vorspanischen Zeiten ein Symbol für den Himmelsgott Viracocha.

Pato-Chacuna - >Enten im bewegten Durcheinander Die Indios verschiedener Orte erklären, dass mit >Chacuna< der Flug gemeint ist, welchen die Vögel ausführen, währenddem sie ihre Nester bauen. Auch bedeutet der Ausdruck >Chacuna< der verzweifelte Flug, wenn die Vögel gejagt werden.

Chiwakli - >Der Schwarze Vogel< Dieser legendäre Vogel wird mit Überfluss und Ernte in Zusammenhang gebracht. Er >sät< Kartoffeln im Monat Oktober, und von diesem Monat an singt er nicht mehr, bis er eine günstige Ernte im April festgestellt hat. Während der Regenzeit ist der Schwanzteil des >Schwarzen Vogels< feucht, während der regenlosen Epoche jedoch trocken. Die Synonyme seines Namens in den Indio-Sprachen Quechua und Aymara bedeuten: sexuelle Vereinigung, Auswahl des Saatgutes, Zukunft, Erschaffung der Dinge.

Jesa Champiurpi - Ein Symbol für die eheliche Vereinigung. Die Wörter bedeuten: Jesa = Nest; Champi = Schneide der Axt; Urpi = Taube. Das Wort Champi wird nicht nur für das Arbeitsgerät Axt sowie die Streitaxt verwendet, es steht auch für >Pilz<: gewisse Pilze wurden bereits seit undenklichen Zeiten bei den geheimen Riten verwendet. (Wenn man einen dieser Pilze von oben nach unten entzweischneidet, ergibt sich die Form einer Axt, zu gleich auch des weiblichen Geschlechtsteiles.)

Pescado - Der Fisch wird als heiliges Tier des Himmelsgottes angesehen. Nach einer Legende soll Viracocha den Fisch für das Wohl der Menschen im Wasser erschaffen haben.

Culebra de dos Cabezas - Das Schwanzende der >Schlange mit den zwei Köpfen< besteht ebenfalls aus einem Kopf. Nach den sagenhaften Vorstellungen leben diese Schlangen unter der Erde und können nur im klaren Wasser einer Quelle erblickt werden. Die legendäre >Doppelköpfige Schlange< war die Göttin Amaru. Nach einer Niederlage im Streit mit ändern Gottheiten verwandelte sich Amaru in einen Stein. Noch heute zerreiben die Gebirgsindios gewisse Steine und gebrauchen das Pulver, um sich vor Krankheiten zu schützen. Die >Doppelköpfige Schlange< ist ein Symbol der Fruchtbarkeit und spielt in überlieferten Kulten und magischen Zeremonien eine Rolle.

Puma - Der Puma wurde von den Indiovölkern als Gottheit betrachtet. Eine andere Bezeichnung der Raubkatze war >Aija<, was das männliche Sexualorgan bedeutet. Das Wort >Aija< wird auch in der Bedeutung >Verteiler von Nahrungsmitteln oder >Etwas an alle abgeben< gebraucht. Oft sieht man das Symbol des Puma über den Hausdächern als Zeichen des Familienglückes.

Orjos - Berg, Gebirge. Der höchste Gipfel, der eine ganze Gegend beherrscht, spielte eine wichtige Rolle in der indianischen Mythologie, er wird oft heute noch verehrt. Dort befinden sich die Wohnstätten der verstorbenen Ahnen und der Sitz hoher Gottheiten. Die Berge werden manchmal selbst als lebendige Wesen angesehen, denen man Opfergaben darbringen muss.

Waita Ticca - Blumen. Die Blumen kommen häufig unter den Opfer gaben an die astralen Gottheiten vor. Sie gehören zu den >heiligen Dingen< der Naturgeister. Diese mythischen Wesen können die Menschen heilen, beschützen oder von den Sünden reinigen. >Waita< bedeutet auch >Feder<. Es handelt sich dabei nicht nur um Rangabzeichen. Die Federn gehörten auch in den Bereich der Opfergaben und der magischen Geschenke an den Hochzeiten.

Chaska - Lucero - Estrella - Damit sind die beiden Erscheinungsformen der Venus gemeint: Morgenstern und Abendstern. Dieser Stern ist heilig, er wird immer noch hoch verehrt. Im Monat Juni finden Zeremonien zu Ehren der Venus statt. Die indianischen Bauern beobachten den Lauf des Planeten am Himmel, um die Saatzeiten verschiedener Pflanzen bestimmen zu können. Auch die politischen und kirchlichen Dorfbehörden berufen sich auf die einzelnen Phasen der Venus, wenn sie wichtige Epochen des zukünftigen Jahres festlegen. In den verschiedenen Deutungen des Quechua-Wortes für >Venus< erkennt man Bezüge auf Hierarchie und Magie: >Prinzessin<, >Weiß-Stern<, >Himmelsgewölbe<.

Das Zickzack-Ornament entspricht dem Keno-Mayu. Der Kocha oder Jocha-Lago, d.h. der Teich oder das >Auge der Quellen befindet sich im Zentrum der Zickzack-Linien.

Keno-Mayu - Das Zeichen bedeutet: >Der Zickzack-Fluss<. Übereinstimmende Darstellungen (mit der Inka-Epoche) finden sich bereits auf Vor-Inka-Textilien. Das Wort >Keno< umfasst folgende Begriffe: >etwas sehr Altes<, >etwas Unvorstellbares<, >eine heilige Sache<, >etwas Verbotenes<, >plötzlich Gewalt über etwas erlangen«.

Kocha oder Jocha-Lago - >Teich< oder >Auge der Quelle<. Es ist ein Zeichen, das in Verbindung mit Orten des Wassers gebraucht wird. Man bringt dort ein Opfer dar und reinigt sich mit dem Wasser von den Sünden. Quellen, die aus dem Erdboden entspringen, werden als >Augen der Mutter Erde< gedeutet. Die Zeremonien für den Wasserkult werden im September veranstaltet.

Alpaca - Trotz der gleichlautenden Bezeichnung >Alpaca< hat dieses Zeichen nichts mit dem Wolltier zu tun. Das Wort setzt sich aus zwei Teilen zusammen, nämlich >Alpa<, d.h. Erde, fruchtbarer Acker, und >paca<, d.h. geheim, mysteriös, magisch. Die Bezeichnung wird nur in kultischen Zusammenhängen gebraucht. >Ritual des Coca-Kauens<, >Pflügen mit Hilfe der Pachamama< oder >Kult des heiligen Pilzes<.

Wenn die Umrandung des Symbols fehlt, bedeutet das für den Anden-Indio: >Erfülle deine Opferpflicht!<

Sojta Suyu - >Sechs Suyus-Felder<. Die Zeichen bedeuten die sechs gemeinschaftlichen Groß-Äcker einer Indio-Gemeinschaft. Seit undenklichen Zeiten besaß jeder Einwohner darin ein eigenes Grundstück, dessen Grosse vom Reichtum und der sozialen Stellung des einzelnen Dorfgenossen abhing.

Kancha de Papa con Bandera - Es handelt sich um ein Kartoffelfeld, das für einen festlichen Zweck, z.B. zu Ehren des Dorfheiligen mit Fahnenstangen umgeben wurde. Häufig wird heimlich zugleich mit dem christlichen Schutzpatron eine Gottheit früherer Zeiten gefeiert. Die Kartoffel war (und ist häufig noch) ein heiliges Gewächs, in welchem >anfeuernde Kräfte< vorhanden sind. Seit alten Zeiten - lange vor der spanischen Kolonialepoche - hissten die peruanischen Bauern bei allen wichtigen Ereignissen wie bei der Einbringung der Ernte oder dem Feiern einer Hochzeit ihre Fahnen.

Cuenta de Meses - Die Monate werden nach den herausragenden Balken des Zeichens gezählt. Dies gilt sowohl für die nach oben stehenden wie auch die nach unten ragenden Zeichen. Die Anzahl der Balken ergibt den Monat, in welchem der Stoff angefertigt wurde oder dann den Monat des Beginns der Herstellung des Textiles, in welches das Symbol eingewebt ist.

[Text und Abbildungen: Bollinger, Armin: So kleiden sich die Inka : Gewinnung von Pflanzenfasern, Haltung von Wolltieren, Jagd auf Vicuñas, Spinnen u. Weben, d. Färben von Textilien, Kleider u. Textilien im Alten Peru. -- Diessenhofen : Rüegger, 1983. -- 205 S. : Ill. -- (Schriftenreihe des Institutes für Lateinamerikaforschung und Entwicklungszusammenarbeit an der Hochschule S[ank]t Gallen ; Bd. 2). -- ISBN 3-7253-0170-0. -- S. 144 - 151]

Aus dem dritten Band Bollingers stammen folgende Auszüge:

"Vom Essen, Trinken und Kochen im Inkareich

«...Die Ernährung der Bewohner des Inkareiches wird von den Chronisten allgemein als einfach beschrieben, -- Felipe Guaman Poma de Ayala, Verfasser einer zwischen 1587 und 1615 entstandenen Bilderchronik, berichtet, dass es den Kindern und Jugendlichen nicht erlaubt war, fettige und sehr süße Speisen zu essen. Fleisch, Pfeffer, Salz und gewürzte Speisen waren ihnen ebenfalls verboten. In gleicher Weise war ihnen auch das Trinken von Chicha nicht gestattet. Die Nahrung der Jugendlichen bestand in erster Linie aus geröstetem Mais. Nur von Zeit zu Zeit wurde ihnen gekochtes Maismus, sozusagen als Leckerbissen, verabreicht...»

Diese Angaben sind wohl etwas einseitig und übertrieben, aber auch aus anderen Berichten geht hervor, welch starken Einschränkungen die Nahrungsweise unterworfen war und wie einfach sich das tägliche Essen gestaltete.

«...Die wichtigsten Nahrungsmittel der Menschen, die Tahuantinsuyu (wie das Inkareich genannt wurde) damals bevölkerten, waren gerösteter oder gekochter Mais, Charqui, d.h. getrocknetes Fleisch von Lama und Alpaka, frischer oder getrockneter Fisch, Kartoffeln sowie Hülsenfrüchte der Anden. Die erste Mahlzeit wurde am Morgen früh eingenommen, ein weiteres Mahl nahm man am Abend, kurz vor dem Einnachten zu sich. Sonst wurde nichts gegessen. Nur für die kleinen Kinder hielten die Mütter immer ein wenig gerösteten Mais oder Gemüsebrei bereit. Auch die Inka-Oberschicht ernährte sich auf ähnliche Weise - - allerdings wurden die Speisen besser zubereitet. Auch hatten die höhergestellten Klassen die Möglichkeit, sich Früchte, Gemüse und Fische von Küstengebieten zu beschaffen.

Im Vergleich zu der einfachen Essweise wurden Trinkopfer-Feste in geradezu verschwenderischer Zahl von den Inka-Adeligen sowie vom Volk abgehalten. Trotz der Vorliebe für alkoholhaltige Getränke wurde die Trunkenheit schwer bestraft.

Der Chile-Pfeffer (aji) war das wichtigste Gewürz, das die Indios allen Esswaren beimengten, seien sie geschmort, gebraten oder gekocht.

Das Haus des Anden-Bauern bestand aus nur zwei Räumen, dem Hauptraum, der als Schlafzimmer, Essraum und Küche diente, und dem Vorratsraum. Die Küche befand sich in einer Ecke des Hauptraums und bestand im allgemeinen aus einer kleinen Grube und vier Steinen, die durch eine gehärtete Lehmschicht verbunden waren. Auf den Steinen standen die Kochtöpfe. Der Rauch entwich durch die Türe. Häufig war für diesen Zweck über dem Herdfeuer auch eine Maueröffnung ausgespart worden, die sich direkt unterhalb des Daches befand.

Die Kochtöpfe hatte man aus Lehm gebrannt. Die Koch- und Essgeräte setzten sich aus folgenden Gegenständen zusammen: Bratspieß, Tiegel, um den Mais zu rösten, Stein- oder Tonscherben als Deckel. Kürbisschalen (Kalebassen) wurden für Essschalen und Wasserbehälter gebraucht. Kleine Kalebassen verwendete man für Salz und Pfeffer, große Kürbisschalen als Teller. Spülbecken waren aus Keramik gefertigt, Tonkrüge gab es in verschiedenen Grossen, Trinkbecher aus bemaltem Holz (Kero), Löffel, Suppennapf, Sieb und auch Teller aus Keramik oder Holz, Schaber, verschiedene Beutel, ferner ein Rohrstock, um das Feuer anzufachen.

Unentbehrlich in jedem Haushalt waren einige im Hausinnern liegende Gruben, welche als Speisekammern dienten. Ebenso wichtig war die Mahlschale (Metate) und der Mühlstein, um den Mais zu mahlen.

Die Indios benützten künstliche Beleuchtung nur kurz nach dem Einnachten und vor dem Morgengrauen. Die Lampen bestanden aus Keramikbehältern, die mit Talg gefüllt waren und einen dicken Docht enthielten. Im allgemeinen genügte das Licht des Küchenherdes. Als Brennmaterial verwendeten die Indios trockenes Gestrüpp, Blätter von Bäumen und Büschen und die Taquia, den getrockneten Lamadung.

Neben der modernen Kochart existiert heute noch eine ältere Form, die unter der Bezeichnung «Pachamanca» angewendet wird und wie folgt vor sich geht: zuerst wird ein Ofen in Form einer Kuppel aufgebaut. Man verwendet hiezu ziemlich flache, nicht zu große Steine, wobei große Abstände offen gelassen werden. An der Basis wird eine Öffnung angebracht, durch welche der Ofen mit Holz und trockenen Blättern gefüllt werden kann. Dann wird das Brennmaterial angezündet und das Feuer etwa anderthalb Stunden unterhalten, bis sich die Steine erhitzt haben, worauf der Ofen wieder abgebaut wird. Einige Steine werden gleichmäßig auf eine Pflanzenschicht oder auf den Boden verteilt. Auf diesen Steinen werden Fleisch, Fische oder andere Esswaren zum Kochen aneinander gereiht, wobei man zwischen den einzelnen Nahrungsmitteln kleine Zwischenräume lässt.

Darüber werden weitere heiße Steine gelegt, darauf wieder Lebensmittel verteilt, dann weitere Steine und so fort. Schließlich wird alles mit einer Schicht aus Blättern oder Zweigen zugedeckt und mit Stofflappen bedeckt. Manchmal wird das Ganze auch mit Erde zugedeckt. Dann lässt man die Speisen ungefähr zwei Stunden lang garen und baut dann den «Kochhügel» wieder ab.

Die Chicha (Maisbier) war das wichtigste alkoholische Getränk. (Daneben wird auch noch vom Api, vergorenem Agavensaft, berichtet.)

«...Das Maisgetränk, welches in Peru «Azua» genannt wird, aber im allgemeinen als «Chicha» bekannt ist, wird auf verschiedene Arten hergestellt. Das stärkste Bier, «Sora» genannt, entsteht dadurch, dass zuerst die Maiskörner gewässert werden, bis sie zu keimen beginnen, dann werden sie auf bestimmte Art gekocht, damit das Getränk sehr alkoholhaltig wird. Der Genuss der «Sora» ist jetzt in Peru gesetzlich verboten, wegen der großen Schäden, welche Betrunkene anrichten...»

Garcilaso de la Vega, Sohn des ersten Stadtkommandanten von Cuzco und einer Inka-Prinzessin, der 1539 geboren wurde, beschreibt die Herstellungsart eines Schnapses aus «Chicha» wie folgt: «... einige Indios, die dem Alkohol mehr als die anderen zugetan sind, wässern den Mais und lassen ihn solange liegen, bis er Wurzeln zu schlagen beginnt. Dann mahlen und kochen sie ihn mit anderen Zutaten, sieben ihn und lassen die Brühe ziehen.

Das gibt ein starkes Getränk, von dem man sofort berauscht wird. Dieses Getränk heißt Chinapu und in einer anderen Sprache Sora. Die Inka hatten dieses Getränk verboten, weil es zu heftiger Trunkenheit führt. Aber später, nach der Eroberung durch die Spanier, so sagt man, wurde es unter den Süchtigen wieder gebräuchlich...»

Über dasselbe Thema äußerte sich ein Geistlicher: «...vom Mais, dem Getreide in Indio-Amerika, wurde auf verschiedene Arten ein alkoholisches Getränk hergestellt. Das gewöhnliche Bier wurde «Jura» oder «Asura» genannt, es versetzt die Indios in große Trunkenheit und ist kein sauberes Getränk. Um es herzustellen, wässern sie den Mais und geben ihn während einigen Tagen in ein Tuch, bis alles zu keimen beginnt. Dann mahlen sie die Masse sehr fein und vermischen sie mit siedendem Wasser und werfen alles in Bottiche und Gefäße, bis es nach zwei Tagen, ähnlich dem Wein, zu gären beginnt. Nach dem Gären ist das Getränk sehr stark, und die Indios veranstalten damit Trinkfeste. Sie bereiten davon große Mengen und laden alle ihre Verwandten und Freunde zu Festen ein, die oft in große Saufgelage ausarten...»

In vorspanischer Zeit wurde die Chicha aus sehr verschiedenen Naturerzeugnissen hergestellt: 

  • Mais, 
  • Quinua (Andenhirse), 
  • Oca (kartoffelähnliche Knollenfrüchte des peruanischen Hochlandes), 
  • Mani (Erdnüsse), 
  • Yucca (Maniok), 
  • Guamo (Frucht des Schattenbaumes), 
  • Molle (sogenannte Terebinthazeen), 

wobei das Getränk aus der Molle am stärksten war. Man trank Chicha erst nach der Mahlzeit, aber ehe man zu trinken begann, musste man die «Tinca» machen: man besprengte sich mit einigen Tropfen, um dem Sonnengott seine Dankbarkeit zu bezeugen.

Die Essbräuche während der Inka-Epoche werden vom Dominikaner Bartolome de las Casas wie folgt beschrieben: «...zu den Mahlzeiten kamen die Frauen aller Anwesenden mit ihren gekochten Speisen in Töpfen und Krügen, die sie auf dem Rücken trugen. Wenn ein Fürst oder ein anderer Herr anwesend war, begannen sie, ihn zu bedienen, darauf wurden die anderen bedient. Jedem wurde von seiner eigenen Frau das Essen gereicht. Auch der Inka-Herrscher wurde von seiner Hauptfrau, der Königin, bedient, indem sie ihm die ersten Platten reichte und den ersten Schluck anbot. Die nachfolgenden Dienstleistungen wurden durch Diener und Dienerinnen vollzogen. Hinter jeden Mann stellte sich seine Frau und bediente ihn weiter. Nach der ersten Platte aß sie die Speise, die ihr Mann ihr zugeschoben hatte. Die Indios tranken nie, bevor sie mit dem Essen aufgehört hatten...»

Alle aßen auf den am Fußboden ausgelegten Matten sitzend. Die verschiedenen Speisen wurden hauptsächlich mit Aji (Chile-Pfeffer) und grünem oder rotem Pfeffer gewürzt. Von jeder Speise verzehrten sie nur wenig, denn es wurden nur kleine Speisemengen zubereitet.

Während den öffentlichen Festmahlen zur Zeit der Inka-Herrschaft saßen die Familienverbände - - unter Anführung ihres Stammesfürsten - - auf den großen Plätzen in zwei langen Reihen einander gegenüber. Jede Familie brachte ihr eigenes Essen mit und gab den Rest dem Nachbarn weiter. Bei gegenseitigem Besuch galt die Ablehnung eines angebotenen Chicha-Trunkes als Beleidigung, «...das gleiche Verhalten galt beim gemeinsamen Essen und Trinken, auch beim Sprechen sowie beim Fragenstellen und Antworten...»


Abb.: Juni, der Monat der Kartoffelernte [Guaman Poma de Ayala, 1615, Abb. 1157]


Abb.: Dezember, Monat des Kartoffelanbaus [Guaman Poma de Ayala, 1615, Abb. 1175]

Wichtiges Merkmal der vorspanischen andinen Zivilisation war, die landwirtschaftlichen Erträge nicht nur zu halten, sondern wenn möglich zu steigern und zu verbessern.

Die Konservierung gewisser Lebensmittel spielte dabei eine große Rolle. Die Verarbeitungsmethoden hingen wesentlich von geographischen und klimatischen Faktoren ab. Die Konservierungsarten, die von den Eingeborenen bis heute angewandt werden, stammen aus der Zeit vor der Inkaherrschaft. Sie können in vier Kategorien eingeteilt werden:

  1. Wasserentzug (Dehydration durch Gefrieren und Auftauen, Einsalzen, Dörren, Lufttrocknen)
  2. Auskochen (Kochen und Gefrieren lassen)
  3. Rösten und Verarbeitung zu Pulver
  4. Gewinnung von haltbaren Flüssigkeiten

Eines der heute noch hergestellten Produkte, die durch Wasserentzug aus der Kartoffel gewonnen werden, ist der Chufio. Dieses Kartoffelprodukt wird in den Wintermonaten gewonnen, wenn auf den Höhen in wolkenlosen Nächten die Temperatur auf 5-7 Grad unter Null sinkt. Die Frauen bereiten dann auf einer ebenen Fläche eine Schicht von Stroh oder Binsen vor, auf diese, gleichmäßig verteilt, legen sie kleine Kartoffeln. Durch die Nachtkälte gefrieren die Kartoffeln. Am Morgen treten die Indios die gefrorenen Kartoffeln mit bloßen Füssen. Dadurch wird das darin enthaltene Wasser ausgepresst. Dieser Vorgang wird während einiger Tage wiederholt, bis die Kartoffeln trocken und beinahe schwarz geworden sind. In diesem Zustand können sie bis zu 12 Jahren aufbewahrt werden.
Die Umwandlung der Kartoffeln zu Chuno bewirkt zwar den Verlust von Vitamin C, aber das neugewonnene Produkt behält (oder erhöht sogar) seinen Nährwert, wie aus der folgenden Analyse hervorgeht:

  Kartoffel Chuno
Wasser  78,8  10,0
Nährsalze 1,1 4,7
Protein 2,2 8,4
Kohlenhydrate 17,8 76,5
Fettstoffe 0,1 0,4


Eine andere Methode der Konservierung von Kartoffeln lässt ein Produkt entstehen, das heute «Moraya», «Moray» oder «Tunka» genannt wird. Die Kartoffeln werden mehrere Tage in Wasser eingelegt, wiederholt gewendet und dann an der Sonne gedörrt, bis alles Wasser entwichen ist. Dieses, durch Wasserentzug entstandene Produkt ist weiß und im Geschmack wesentlich besser als der Chuno. Für die Gewinnung dieses «weißen» Chuno (Chuiio blanco) benützen die Indios zur Wässerung die Bäche, dann werden die Kartoffeln gedörrt und eingesalzen, wie dies bei den anderen Methoden geschieht.

Die Analyse der Moray ergibt folgende Resultate:

Kartoffel Moray
Wasser 85,0 10,0
Mineralsalze 0,7 0,82
Protein 0,5 1,82
Fettstoffe 0,4 0,2
Füllstoffe 1,0 Spuren
Kohlenhydrate 12,4 87,08
Stärke 11,7 85,90
Kalorien 14,0 279,16

Auf die gleiche Weise wie Chuno blanco wurde auch die Oca konserviert, die «Kaya» genannt wurde und sehr süß war.

Das Dörren von Fleisch geschah durch Sonnenwärme. Zuerst wurde das Fleisch in dünne Stücke geschnitten und auf beiden Seiten gut eingesalzen. Dann wurde es während sechs bis acht Tagen der Sonne ausgesetzt, bis es gedörrt war. Das Trockenfleisch ohne Knochen wird «Charqui», dasjenige mit Knochen «Chalona» genannt. Bevor man es essen kann, muss man es in Wasser einlegen und dann kochen.

«...Die Indios kannten auch ein Dörrfleisch, das sie dem Frischfleisch vorzogen. Zur Gewinnung dieses Dörrfleisches verwendeten sie meist Salz.

Sie schnitten das Fleisch in dünne, breite Streifen und ließen die Stücke gefrieren, bis das Fleisch trocken war und pressten es zwischen zwei Steinen fest...»

Viele Nahrungsmittel wurden konserviert, indem man sie an der Sonne trocknete, andere wie der Aji (Chile-Pfeffer) wurden luftgetrocknet. Auch wandte man den künstlichen Wasserentzug an, indem die Getreidekörner über dem Feuer geröstet wurden. Dadurch reduzierte sich Volumen und Gewicht. Verschiedene Arten von Getreidekörnern und Gemüse wurden zu Mehl umgewandelt, woraus Mahlzeiten zubereitet werden konnten.

Aus mehreren Pflanzenarten konnten durch Extraktion Säfte gewonnen werden, Essig aus Mais und Öle aus Kokosnuss, Erdnüssen und Mais.

Im Inkareich gab es zwei Arten von Magazinen zur Aufbewahrung von Lebensmitteln:

  • Collcas, Qolqas Quollqa oder Graneros (staatliche Depots)


    Abb.: Collcas [Guaman Poma de Ayala, 1615, Abb. 337]

  • Pirhuas, wo die Vorräte der einzelnen Familien gelagert wurden.

Außer den gewaltigen Lagerhäusern des Staates gab es auch große Depots in den Familienhäusern. Diese «Pirhuas» bauten die Indios aus Schilfrohren.Nahrungsmittel wurden auch unter den Strohdächern der Hütten aufbewahrt, ferner in Gruben oder großen Lehmbehältern, die man in die Erde oder in den Sand versenkte."

[Bollinger, Armin: So nährten sich die Inka. -- Grüsch : Rüegger, 1986. -- 170 S. : Ill. -- (Schriftenreihe des Institutes für Lateinamerikaforschung und Entwicklungszusammenarbeit an der Hochschule S[ank]t Gallen ; Bd. 3). -- ISBN 3-7253-0283-9. -- S. 11 - 19]


Abb.: Isla del Sol (Titikakasee): Takanas (Terrassen) aus der Inkazeit (Bild: Payer)


Abb.: Querschnitt durch Takana (Terrasse) 

[Quelle der Abb.: Humérez Machicado, Ricardo: Proyecto arqueologia escolar. -- [La Paz] : Colegio Franco Boliviano, 1997. -- Depósito legal 4-1-871-97. -- S. 75]


Abb.: Bewässerungssystem

[Bildquelle: Boero Rojo, Hugo <1929 - 1997>: La civilización andina. -- La Paz : Alcegraf, 1991. -- Depósito legal 4-1-464-90. -- S. 57]

"Der inkaische «Sozialstaat»

Die Inka haben das bereits bestehende Prinzip des «Gebens und Nehmens» (Manay) auf ihr gesamtes Reich ausgedehnt und damit einen eigentlichen «Versorgungsstaat» geschaffen. Erst durch ihre Reichsgründung war es möglich geworden, die Terrassenanlagen und die andinen Wasserführungen in einem großen, über den lokalen Raum hinausgehenden Rahmen zu verwirklichen. Wir haben oben aufgezeigt, in welch gewaltigem Umfang im Tahuantinsuyu die Vorratshaltung ausgebaut wurde: Die Erstellung zahlreicher Vorratshäuser und die sachgemäße Lagerung der Vorräte war offensichtlich das Verdienst der Inka-Verwaltung. Dass die gespeicherten Güter wieder an die Bewohner des Inka-Staates umverteilt wurden, geht eindeutig aus den Chroniken hervor. Woher stammten nun diese Mengen an Mais, Kartoffeln (samt Chuno), Quinua, Trockenfleisch, Gemüsen, Früchten? Manchmal erscheint in den Berichten das Wort «Tribute». Aber es waren nicht Abgaben der von den Indios angebauten Felder. Die Vorräte stammten samt und sonders von den «Feldern des Inka und der Sonne». Der einzelne Indio musste mit seiner Arbeitsleistung einen Beitrag an die staatlichen Abgaben erbringen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass bei der Eroberung und Einverleibung neuer Gebietsteile in das Reich von Tahuantinsuyu die Inka-Verwaltung gewisse Äcker für den «Staat» (Sapay Inca) und für den Sonnenkult ausschied. Die Erträge dieser Äcker kamen dann in die Speicher des Staates und des Kultes, nachdem der Einzelne seinen Arbeitseinsatz geleistet hatte. Interessant wäre, etwas über die Grosse der ausgeschiedenen Grundstücke zu erfahren. Aber die Informanten der spanischen Chronisten schweigen sich darüber aus. Sehr wahrscheinlich hing die Fläche der «Äcker der Sonne und des Inka» von ökologischen Gegebenheiten ab, von Höhen- und Hanglage, von vorhandenen Steinstreuungen, Wasserführungen und Humusmengen. Es gibt Fachleute, die der Ansicht sind, dass die Inka-Verwaltung durch Erstellung von Andenes und Wasserführungen zusätzliches Ackerland schaffte und nur dieses für die Bedürfnisse von Staat und Kult beansprucht wurde. Dies scheint ein Extremfall gewesen zu sein, der wohl höchst selten vorkam. Das andere Extrem aber, dass zwei Drittel des Bodens an Sonnenkult und Inka-Verwaltung abgetreten werden musste, ist wohl ebenfalls nie vorgekommen, wie aus den kolonialen Berichten hervorgeht.

Eine vernünftige Lösung des Problems der Landverteilung zwischen Ayllü einerseits und Staat und Religionsgemeinschaft andererseits beschreibt Louis Baudin, der von der «sozialistischen» Konzeption des Inka-Staates überzeugt war. «...(der Herrscher) ließ sich also zuerst ausrechnen, welche Fläche kultivierbaren Bodens zur Ernährung eines kinderlosen, verheirateten Mannes ausreichte. Die so erhaltene Ziffer bildete eine wirtschaftliche Maßeinheit, Topu genannt. Offensichtlich variierte sie je nach Bodenqualität, da es widersinnig gewesen wäre, die Fläche zu verabsolutieren, ohne die Fruchtbarkeit des jeweiligen Bodens in Betracht zu ziehen. Denn ein- und dieselbe Bodenfläche wäre in der einen Gegend nicht groß genug, in einer anderen dagegen mehr als ausreichend gewesen ...

Stand die Zahl der Anteile einmal fest und war die innere Verwaltung der Gemeinschaft gesichert, erhöhten die Reichsbeamten die Topufläche nach der Anzahl der Anspruchhabenden. Die so erhaltene Ziffer stellte die Ausdehnung des anbaufähigen Bodens dar und entsprach dem Existenzminimum der Bevölkerung.
Die überschüssige Bodenfläche wurde Eigentum des Inka und der Sonne. Das Land wurde ebenfalls von den Mitgliedern der Gemeinschaft bebaut...»

Friedrich Katz weist in seinem Werk «Vorkolumbische Kulturen» auf die markanten Unterschiede im Sozialgefüge der beiden indianischen Groß-Staaten (Azteken und Inka) hin: «... Außerhalb des Hochtals von Mexiko traten die Azteken fast ausschließlich als Nehmer und nicht als Geber auf ... Die Wiederverteilung von Rohstoffen, diese so charakteristische Funktion der Inka, war im mexikanischen Tiefland ebenfalls schwer zu realisieren. Die Inka herrschten in einem Gebiet, in dem die Rohstoffe zwischen Hoch- und Tiefland gleichmäßig verteilt waren. Bei ihnen beherrschte ein an Rohstoffen reiches Hochland ein an Rohstoffen gleichfalls reiches Tiefland. Bei den Azteken jedoch herrschte ein rohstoffarmes Hochland über ein rohstoffreiches Tiefland. Den Küstenbewohnern des Inka-Reiches konnte man Wolle, Chuno und Trockenfleisch geben, den Bergbewohnern Mais, Fische und Coca...

Die Tatsache, dass die Azteken eine weitgehende Integration ihres «Imperiums» (Tributgebiete) weder durchführen wollten noch konnten, hatten nachhaltige Folgen. Konnte man die unterworfenen Völker nicht gewinnen, so musste man nackten Terror anwenden...

Die Leistungen, die die Unterworfenen dem Inka-Reich zu erbringen hatten, wurden nach gründlichem Studium des Reichtums und der Ressourcen des eroberten Volkes festgelegt. Sie änderten sich in der Folge auch nicht. Der von den Azteken bestimmte Tribut war willkürlich festgelegt und konnte jederzeit erhöht werden.
Die Tatsache, dass die Inka nur Arbeitsleistungen verlangten, während die Azteken einen richtigen Tribut forderten, hatte zur Folge, dass in Zeiten der Not die Forderungen an die unterworfenen Völker in Mesoamerika viel härter waren als im inkaischen Andengebiet...»" [a.a.O., S. 142 - 144]


Abb.: Straße


Abb.: Hängebrücke


Abb.: Musikinstrumente vorspanischer Andenkulturen


Abb.: Waffen

[Bildquelle: Boero Rojo, Hugo <1929 - 1997>: La civilización andina. -- La Paz : Alcegraf, 1991. -- Depósito legal 4-1-464-90. -- S. 124, 126, 129, 274]


Abb.: Hypothetische Rekonstruktion von Incarracay (Cochabamba)

[Bildquelle: Gyarmati, János ; Varga, András: The chacaras of war : an Inka estate in the Cochabamba valley, Bolivia. -- Budapest : Mueum of Ethnography, 1999. -- ISBN 963-7106-6108. -- S. 58]


Abb.: Einige der wenige Silbergegenstände aus vorspanischer Zeit, die der Gier der Eroberer entgangen sind

[Bildquelle: Die neue Welt : Azteken, Maya, Inka, Indianer. -- Gütersloh : Prisma, 1977. -- S. 109]

Apu Ollantay : Drama in Quechua

Anonym: APU OLLANTAY

(ketschua; Apu Ollantay). Anonymes Drama; entstanden und erstmals aufgeführt vermutlich gegen Ende des 15. Jh.s. – Die Grundidee dieses dramatischen Werkes eines unbekannten peruanischen Dichters aus der Glanzzeit des Inkareichs ist revolutionärer Art: Aufruhr, selbst gegen die oberste Gewalt, ist verzeihlich, wenn sein Motiv die Liebe ist. – Die zentrale Gestalt ist der Kriegsheld Ollantay (an den heute noch Ruinen großartiger Bauwerke erinnern), ein Mann aus dem Volk, der durch den Inkaherrscher Patschacutek trotz seiner niederen Geburt zu hohen Ehren gelangte und zum General von Antisuyu, mit dem Titel »Apu«, ernannt wurde. Die Tochter des Fürsten, Cusi Coyllur (Glücklicher Stern) erwidert seine Liebe, vermählt sich heimlich mit ihm und schenkt ihm eine Tochter. Doch als Ollantay nun dem Herrscher alles offenbart, wird er zurückgewiesen und von Frau und Kind getrennt. Die tiefe Kränkung und der Schmerz um das verlorene Glück treiben ihn dazu, die Aufständischen, gegen die er zu Felde ziehen sollte, nun selbst anzuführen. Erfolgreich kämpft er jahrelang gegen den Inkafürsten und vernichtet dessen Streitmacht. Nach Patschacuteks Tod besiegt jedoch dessen Nachfolger, sein jüngster Sohn Tupac Yupanki, den Aufrührer Ollantay durch eine List. Als der Unterlegene gefesselt vor seinen Thron gebracht wird, erweist Yupanki sich als gnädiger Fürst, lässt eine allgemeine Amnestie ergehen, ja er befördert Ollantay sogar zu seinem Stellvertreter. – Zehn Jahre lang hat Ollantay der Fürstentochter die Treue gehalten und alles versucht, sie wiederzufinden. Er ahnt nicht, dass sie in einem Kerker der Sonnenjungfrauen von Cuzco gefangengehalten wird. Ihr Kind, das im gleichen Kloster aufgezogen wird, erfährt durch Zufall, wie nahe ihm die Mutter ist, geht zu dem neuen Herrscher und fleht um ihre Befreiung. Zusammen mit Ollantay folgt Yupanki dem Kind und führt die Schwester zurück in die Arme ihres Mannes.

Dieses noch heute in vereinfachter Form in den Dörfern der Anden aufgeführte Drama ist das bedeutendste indianische Literaturdenkmal aus vorkolumbischer Zeit. Die erste Niederschrift erfolgte allerdings erst gegen Ende des 16. Jh.s. 1837 erschienen Bruchstücke des Werkes in der peruanischen Zeitschrift ›El museo erudito‹, und 1853 veröffentlichte der Schweizer Gelehrte J. J. von Tschudi das vollständige Drama in der Ketschuasprache nach einem Manuskript, das sich in der Bibliothek des Klosters Santo Domingo in Cuzco befand. Er legte 1875 seine deutsche Übersetzung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien vor. Auf Grund dieses Textes rekonstruierte Albrecht Graf Wickenburg seine der ursprünglichen Form angepasste Fassung (1875).

AUSGABE: 1853, Hg. J. J. Tschudi.

ÜBERSETZUNG: Ollanta, nach J. J. Tschudi bearb., m. Vorw. A. Graf Wickenburg, Wien 1875; Lpzg. 1894.

LITERATUR: J. L. Klein, Geschichte des Dramas, Bd. 3, Lpzg. 1874. – A. Tauru, Das Drama »Ollantay« (in Peru durch die Jahrtausende, Hg. F. Anders, Recklinghausen 1984, S. 182). – M. Lienhard, La épica incaica en tres textos coloniales: Juan de Betanzos, Titu Cussi Yupanqui, el »Ollantay« (in Lexis, 9, 1985, S. 61–85)."

[Gertrude Hafner. -- In: Kindlers Neues Literaturlexikon. -- München : Kindler, ©1996. -- s.v.] 

"Ollanta

Personen

  • PACHACUTEC, der alte Inka
  • TUPAC YUPANQUI, Sohn des Pachacutec, der neue Inka
  • HUILLAC-UMU, Oberpriester
  • OLLANTA, Befehlshaber des Anti-Landes
  • ORKO HUARANKA, Feldherr Ollantas
  • PIQVI CHAQUI, Ollantas Diener
  • CUSI KOILLUR, Pachacutecs Tochter
  • IMA SUMAC, Cusi Koillurs Tochter
  • PITU SALLA, Sonnenjungfrau, Pflegerin Ima Sumacs

Der Ort der Handlung ist teils die Hauptstadt Cuzco, teils das Lager Ollantas in Ollantaitambo.

Ollanta ist unter dem Inka Pachacutec vom gemeinen Mann bis zum Feldherrn aufgestiegen. Er verliebt sich in Cusi Koillur, eine Tochter des Inka, und unterhält mit ihr ein Liebesverhältnis, das gegen die obersten Gesetze des Staates verstößt.

Ollanta in goldgesticktem Mantel, mit vergoldeter Streitaxt auf der Schulter. Der Oberpriester Huillac-Umu im langen schwarzen Gewande mit einem Messer in der Hand tritt auf.

HUILLAC-UMU:

Wohlan denn, mein Ollanta, vernimm,
Was meine Weisheit entdeckt hat.
Ich weiß alles Verborgene, ich allein.
Auch ist es in meiner Macht,
Dich zur höchsten Würde zu erheben.
Von Jugend auf habe ich dich erzogen,
Habe dich sehr lieb gehabt,
Und bin auch jetzt bereit, dir beizustehen.
Als Befehlshaber des Anti-Landes
Haben dich alle anerkannt,
Der König liebt dich,
Teilt seine Krone mit dir,
Sein alles überblickendes Auge hält er auf dich gerichtet.
Deine Macht hat er befestigt
Gegen die Waffen seiner Feinde,
Alles was irgend (von Wichtigkeit) war,
Ward schließlich durch dich erledigt.
Trotzdem ihn zu erzürnen
Trachtest du jetzt in deinem Herzen?
Seine Tochter willst du Berücken, jene Koillur?
Willst diese Cusi zu Falle bringen?
Tue das doch nicht!
Hege doch nicht den Gedanken
Einer solchen Missetat in deinem Herzen!
 (Der König) schätzt dich hoch,
Dir (aber) geziemt es nicht:
Soviel Wohlwollen
Wolltest du mit so schmutzigem (Undank) erwidern?
Möchtest du wohl beim Gehen straucheln
Und in eine Pfütze fallen?
Der König würde nicht einwilligen,
Er liebt Koillur zu sehr;
Und wenn du jetzt zu ihm redest,
So wird er in Zorn ausbrechen,
Und du, siehe, könntest durch Unbesonnenheit
Statt eines Fürsten wieder zum Plebejer werden.

OLLANTA.

Woher hast du erfahren,
Was ich in meinem Herzen verbarg?
Ihre Mutter allein hat darum gewusst,
Und du erzählst es mir jetzt.

HUILLAC-UMU.

Im Monde ist alles
Für mich in Linien aufgezeichnet.
Sei es auch noch so verborgen,
Für mich ist es klar. [...]

OLLANTA.

Eher wird ein Felsen
Wasser ausschwitzen,
Wird die Erde Tränen weinen,
Als dass ich gleich einer Eule
Koillur (den Stern) nicht mehr sehen sollte.

Im Haus der Königin. Cuisi Koillur, weinend. Der Inka Pachacutec mit Gefolge.

INKA PACHACUTEC.

Cusi Koillur,
Herzensfrucht,
(Schönste) Blume unter all meinen Kindern,
Blütennetz meiner Brust,
Schmuck meines Halses,
Komm an meine Brust,
Täubchen,
Ruhe ein wenig an meiner Schulter,
Vor meinen Augen löse dich,
Du goldnes Gewinde, so verschlungen im Innern.
Meine ganze Freude besteht in dir,
Du bist der Spiegel meiner Augen;
In deinen Augen liegen in (holder) Verwirrung
Alle Pfeile und Waffen der Sonne.
Alle fesselt dein Blick,
Wenn du die Wimpern öffnest;
Und lösest du deine Lippen,
So nimmt sie dein Hauch gefangen.
Du allein bist deinem Vater
Sein ganzes Lebensglück:
Mögest du, zu mir aufblickend,
Immerdar leben zu meiner Freude.

CUSI KOILLUR.

Tausendmal küsse ich,
Gütiger Vater, deine Füße. (Kniet vor ihm nieder.)
Beschirme du dein Kind,
Und möge alle Traurigkeit schwinden.

INKA PACHACUTEC.

Du zu meinen Füßen, du kniend!
- Mir bangt, indem ich es ausspreche -
Siehe, ich bin dein Vater,
Der dich mit zärtlicher Liebe aufgezogen!
Du weinst?

CUSI KOILLUR.

Auch die Sterne weinen Tau,
Wenn die Sonne hervortritt,
Und das Wasser des Taus fließt
Und benetzt den Geliebten.

INKA PACHACUTEC.

Komm, meine Liebe, recht so,
Setze dich (zu mir) auf meinen Sessel. Er zieht Koillur zu sich.

Acht Knaben mit Trommeln und geputzte Mädchen kommen tanzend auf die Szene.
Gesang der Knaben.

Vögelein, nasche nicht,  O Tuya,
Im Garten meiner Prinzessin, O Tuya,
Verzehre nicht so, O Tuya,
Den leckern Mais, O Tuya,
Weiß sind die Körner, O Tuya,
Gar zart die Kolben, O Tuya,
Schmackhaft im Innern, O Tuya,
Saftig die Blätter, O Tuya.
Die Schleuder dem Näscher, O Tuya,
Am Leim sollst du kleben, O Tuya,
Die Nägel schneide ich dir ab, O Tuya,
Und gefangen wirst du. O Tuya.
Frag' nach der Piscaca, O Tuya,
Du siehst sie erdrosselt, O Tuya,
Frag' nach ihrem Herzen, O Tuya,
Such' ihre Federn, O Tuya,
Du siehst sie zerrissen, O Tuya,
Ein Körnchen nur pickte sie, O Tuya,
Und dasselbe geschieht dir, O Tuya,
Wenn nur eines abhanden kommt. O Tuya.

Ollanta bittet den Inka, ihm Cusi Koillur zur Frau zu geben, wird aber schroff zurückgewiesen. Nach dieser Absage schwört Ollanta dem Inka Abfall und Rache.

Im Palast des Inka. Ollanta allein.

OLLANTA.

O Ollanta, Ollanta!
So also setzt er dich aus
Dem Hohne des ganzen Landes
Für so viele geleistete Dienste?
O, Cusi Koillur, o mein Weib,
Heute habe ich dich verloren,
Hab' dich ins Verderben gebracht.
O, Prinzessin, o meine Taube!
O, Kusko, o schöne Stadt!
Von heute an in Zukunft
Werde ich ein Feind sein, ein Feind,
Der deine Brust grausam
Aufreißt, um dein Herz
Den Geiern vorzuwerfen,
Diesen Tyrannen, deinen Inka!
Viele, viele Tausende werde ich,
Die Antis überredend
Und meine Landsleute verlockend,
Schildbewaffnet herbeiführen.
Auf dem Sacsayhuamán wirst du erblicken
Meine Krieger gleich einer Wolke.
Da werden sich die Flammen erheben,
Im Blute wirst du schlafen
Und zu meinen Füßen dein König.
Dann wird auch er erfahren,
Ob (der Beistand) der Täler mir fehlt.
Ob dir wohl dann noch Stimme übrigbleibt?
[...]
Er ist König, weil ich da bin,
Das wissen alle.
Jetzt nun geschehe, (was da wolle).

Ab. In Ollantas Hause. Ollanta. Piqui Chaqui.

OLLANTA.

Piqui Chaqui, mach dich auf
Und sage Cusi Koillur,
Sie solle mich heute nacht erwarten.

PIQUI CHAQUI.

Vor kurzem ging ich, gestern abend schon
War ich nach Koillurs Hause gegangen.
Ich fand alles still.
Alles hab' ich durchforscht,
Nicht einmal eine Katze war da.
Alle Türen sind fest verschlossen,
Es wohnt niemand mehr dort.

OLLANTA.

Und ihre Dienerschaft?

PIQUI CHAQUI.

Sogar die Mäuse waren geflohen,
Da sie nichts mehr zu essen fanden.
Nur ein Uhu saß da
Und krächzte schauerlich.

OLLANTA.

 Ihr Vater hat sie wohl nach seinem
Palaste geführt, um sie zu verbergen.

PIQUI CHAQUI.

Vielleicht, um sie umzubringen,
Denn samt ihrer Mutter ist sie verschwunden.
[...]
Gewiss haben sie Koillur (den Stern) getötet,
Denn sie leuchtet nicht mehr bei Nacht.

OLLANTA.

Aber fühlen wird der Inka
Das Fehlen seines Ollanta:
Alle wird er als Feinde wiederfinden,
Alle werden ihn verlassen.

Gekränkt verlässt Ollanta das Hoflager des Inka. Zusammen mit seinem Feldherrn Orko-Huaranka überredet er die Indios seiner Provinz zur Rebellion gegen Pachacutec.

Im Lager Ollantas. Ollanta. Orko-Huaranka. Fürsten und Volk.

ORKO-HUARANKA. (Zu Ollanta.)

Als ihren Führer haben dich bereits empfangen
Die Vasallen des Anti-Landes.
Gar bitterlich weinen ihre Weiber.
Du wirst es sehen, heute (schon) siehst du es.
Es heißt ja, gegen Chayanta sollen ausziehen
Alle Vasallen und alle Fürsten,
Du wirst einen weiten Marsch zu machen haben.
Wann wird es denn wohl aufhören,
Dass wir alle Jahre zu Felde ziehen müssen
Nach so fernen Landen,
Gegen so wilde Völker?
Blut vergießen wir alle,
Sowohl die (Leute) des Inkas, als auch jene.
Die Lebensmittel mit sich zu schleppen
Und schmale Rationen Coca zu erhalten,
Wird alle Welt müde.
Sandwüsten müssen wir durchwandern,
Wo die Lamas verenden,
Und wo unsere Füße zerstochen werden
Von abscheulich scharfen Dornen.
Selbst das Wasser zum Trinken
Muss auf dem Rücken herbeigetragen werden.
Am Ende, erschöpft, um nur Ruhe zu haben,
Muss man sich lieber den Tod wünschen.

Ollanta wird von seinen Vasallen zum Inka erkoren und rüstet zum Abwehrkampf gegen die drohende Strafexpedition Pachacutecs:

ORKO-HUARANKA.

Merkt auf, Männer von Anti!
Wir haben jetzt einen (eigenen) König.
[...]
Lasst die von Cusco nun kommen!
Erwartet sie ohne (ein Wort) zu reden,
Sie werden ganz wohlgemut hereinströmen,
Während unsere Türen verschlossen sind.
Und sobald alle drin sind,
Dann lasst unsere Trompeten blasen:
Dann werden die Berge
Sich schütteln mit ihren Steinen,
Wie Hagel werden sie fallen,
Denn die Hebel wälzen sie herab,
Und alles werden sie dort begraben.
Das ist für sie der Todesstoß (das Messer).
Dann werden die Fliehenden
Unter unsern Händen sterben,
Und was noch übrig ist, wird von unsern
Pfeilen durchbohrt werden.

Der Aufstand dauert nun schon mehr als zehn Jahre und konnte nie vollständig niedergeworfen werden. Der neue Inka, Tupac Yupanqui, Sohn und Nachfolger Pachacutecs, will den Krieg mit allen Mitteln an ein Ende führen.

Im Palaste des Inka. Inka Tupac Yupanqui, Huillac-Umu und Gefolge.

INKA TUPAC YUPANQUI.

Am heutigen Tage, ihr Fürsten,
Entbiete ich allen meinen Gruß.
Dem Sonnengotte übergebe ich euch,
Die ihr Intis Vermählte seid.
[...]

HUILLAC-UMU.

Am gestrigen Tage stieg der Rauch senkrecht Bis gegenüber dem Hofe der Sonne. Zufrieden war Pachacamac: Alle Brandopfer fielen günstig aus. [...] In wenigen Tagen wirst du Das Anti-Land zu deinen Füßen sehen, So ersehe ich aus deinen Kipus. Alle ab.
Während dieser zehn Kriegsjahre schmachtet Cusi Koillur zur Strafe für ihre verbotene Liebe zu Ollanta im Kerker. Dieser Kerker befindet sich im Palast der Sonnenjungfrauen, in welchem Ima Sumac, Koillurs und Ollantas Tochter, zur Priestern herangezogen wird. Dank der Gunst ihrer Aufseherin lernt das Mädchen ihre Mutter kennen.

Im Hofe des Klosters der Sonnenjungfrauen. Ima Sumac. Pitu Salla.

PITU SALLA.

Geh' nicht so oft zur Tür Hinaus, Ima Sumac. [...]

IMA SUMAC.

Soll ich allein mich einschließen,
Weil ich keine Mutter habe?
Um eine angesehene Priesterin zu werden,
Soll ich von jetzt an unglücklich sein?
Gestern Nacht, träumend umherirrend,
Trat ich in unsern Garten.
Da hörte ich,
Während ich mich in solcher Stille befand,
Ein Weinen.
Wer mag wohl da leiden
In so kläglicher erbarmungswerter Weise?
O, wenn ich doch stürbe! so rief es.
Überall sah ich hin,
Und mein Haar sträubte sich.
Zitternd vor Furcht rief ich:
Wer du auch seist, zeige dich!
Und von neuem schrie es:
O Sonne, befreie mich!
Und kläglich seufzend,
Schluchzte es in herzzereißender Weise.
Ich suchte hier und dort,
(Doch) fand ich niemand,
Im Winde nur raschelte das Gras.
Ich aber weinte mit (der Weinenden),
Als wollte mein Herz mir die Brust
Sprengen und sich hinausdrängen.
Und noch heute, wenn ich daran denke,
Fürchte ich mich zum Ersticken.
Also, Pitu Salla, hier
Nistet nur die Traurigkeit allein,
Nur Tränen sind in beständiger Blüte.
Wisse daher, meine liebe Priesterin,
Niemals wieder von jetzt an
Sprich mir vom Bleiben, mich
Widert es an, eine Auserwählte zu sein.

Nacht; im Klostergarten. Ima Sumac sitzt wartend. Pitu Salla kommt mit einem Wasserkruge und Speisen, in der anderen Hand ein Licht haltend. [...] Bespritzt Cusi Koillurs Gesicht mit Wasser. Zu Cusi Koillur, welche zu sich kommt:

PITU SALLA.

Schöne Fürstin, was ist dir?
Hier ist Wasser, hier ist Speise,
Richte dich etwas mehr auf,
Soeben erst bin ich gekommen. [...]

IMA SUMAC.

Wer bist du, schöne Taube,
Wer bist du, da drinnen? [...]

CUSI KOILLUR.

Schönes Kind, liebliche Frucht,
Ich bin ein Weib,
Eine blasse Blume in dieser Gruft.
Ich war vermählt
Mit einem, (den ich liebte) wie meinen Augapfel.
Er aber, undankbar, vergaß mich.
Nicht wusste der Inka,
Dass ich mit ihm verbunden war.
Als dann Ollanta um mich anhielt,
Verbannte er ihn erzürnt.
Mir aber, als jener fort war,
Befahl er, hier (mein Leben) zu fristen.
Viele Jahre lang bin ich schon hier.
Sieh', wie ich lebe,
Ich sehe niemand
In diesem schwarzen Kerker,
Keine Freude gibt es
Für mich in diesem Winkel.
Zehn Jahre lang schon
Erwarte ich den Tod in dieser Qual,
Gefesselt mit diesen eisernen Ketten
Und vergessen von allen.
Und du, wer bist du, Liebe,
So jung und so zart?

IMA SUMAC.

Ich folge deinem (Beispiel),
Ich gräme mich und weine
Im stillen in diesem Haus.
Bei deinem Anblick hat mein Herz
(Heftig) in meiner Brust geschlagen.
Ich habe weder Mutter noch Vater,
Und niemand kennt mich. [...]

CUSI KOILLUR.

Wie ist dein Name?

IMA SUMAC.

Ima Sumac war mein Name,
Doch hat man sich dabei wohl geirrt.

CUSI KOILLUR.

Mein Kind!
O meine Taube,
Komm' an meine Brust,
Du bist mein einziges Glück,
Bist meine Tochter, komm', o komm'!
Überschwänglich sei meine Freude,
Diesen Namen gab ich dir!

Sie streckt die Hand nach Ima Sumac aus, wird aber von neuem ohnmächtig.

Eine List des Inka-Generals Rumi Ñahui setzt dem Krieg ein Ende: Ollanta wird mitsamt seinem Heer gefangengenommen. Tupac Yupanqui verurteilt Ollanta zunächst zum Tod, begnadigt ihn dann aber wegen eines unmittelbar bevorstehenden Krieges und ernennt ihn sogar zum Inka-Stellvertreter.

OLLANTA.

Allzu hoch, mein König, erhebst du
Mich nackten, unbedeutenden Mann.
Mögest du tausend Jahre leben!
Was hast du an mir gefunden?
Den Fiebernden heilst du,
Den Gelähmten richtest du auf,
Den Krüppel machst du stehen,
Dem Gefallenen reichst du die Hand,
Den Bettler machst du reich,
Den Blinden sehend,
Den Toten erweckst du,
Den Sünder stärkst du.

TUPAC YUPANQUI.

Bringt eine große Kopfbinde,
Und befestigt daran das gelbe Zeichen.
Huillac-Umu, beeile dich,
Überreiche ihm die große Streitaxt,
Und dass er Stellvertreter des Königs sei,
Verkündige jetzt allen.

Ima Sumac dringt bis zum Inka vor und fleht um Hilfe für ihre vom Kerkertod bedrohte Mutter.

Im Garten der Sonnen Jungfrauen, vor der Tür des Kerkers. Ollanta, Ima Sumac, Cusi Koillur, Tupac Yupanqui, Huillac Umu; Cusi Koillur liegt an Ketten gefesselt, ist bewusstlos. [...]


CUSI KOILLUR. Erwacht aus ihrer Ohnmacht.

Wo bin ich, wer sind diese?
Ima Sumac, mein Kind,
Komm, o komm, meine Taube!
Seit wann kommen Menschen ...
Hier in meine Nähe?
Ist es eine Täuschung meiner Augen,
Sind es Schatten, die Menschen gleichen?
Oder bedeckt mir eine Wolke (die Augen)?
Sehe ich wirklich das Licht,
Kehre ich zum Leben zurück?

IMA SUMAC.

Mutter, fürchte dich nicht,
Unser König ist gekommen,
Der mächtige Yupanqui befindet sich hier.
Rede, falle nicht wieder in Schlaf!

TUPAC YUPANQUI.

Wer ist dies Weib in so trauriger Lage?
Wer hat sie hierhergebracht?
Welche Missetat hat sie hierher zu
Schleppen vermocht, um wahnsinnig zu werden?
Gibt es ein Herz für den Anblick
So großen Elends?
Wer mag dieses Weib geboren haben,
Um mit ihr (vor Kummer) zu sterben?
Ihr Antlitz ist verwelkt,
Vertrocknet der (einst) schöne Mund,
Ihr Atem versiecht,
Mein Herz bricht
Beim Anblick so großen Unglücks.
Erhole dich, Weib, und sage mir,
Wer bist du?
Zu Ima, Sumac. Sage du mir mit einem Mal,
Wie ist der Name deiner Mutter?

IMA SUMAC.

Vater, o Vater, barmherziger König,
Lass erst die noch Gefesselte erlösen.

HUILLAC-UMU.

Mir gebührt es, die Fesseln zu lösen
Und den Leidenden beizustehen.

OLLANTA.

Wie ist der Name deiner Mutter?

IMA SUMAC.

Cusi Koillur ist ihr Name,
Du siehst, man hat sich geirrt
In ihrem Namen, und begraben ist,
Wer mag wissen wo, ihr Glück.

OLLANTA.

Ach, mächtiger König Yupanqui,
Diese Fürstin ist mein Weib!

TUPAC YUPANQUI.

Wie ein Traum erscheint mir
Das Glück, das mir zuteil wird.
Cusi Koillur, dein Weib,
Ist also meine Schwester!
Cusi Koillur, meine Schwester,
Meine geliebte Taube,
Komm, kehre zurück in meine Arme.
Meine Brust strömt über von Freude,
Im Glücke sollst du fortan leben.

CUSI KOILLUR.

Ach, mein Bruder, du weißt wohl,
Wie sehr ich gelitten,
Wie viele Jahre lang ich mich gegrämt habe.
Du selbst nun bist es,
Der die Gefangene erlöst,
Die Begrabene aus der Gruft zieht.

OLLANTA.

Cusi Koillur, dich hatte ich
Einst verloren,
Und jetzt wolltest du mich,
Den Lebenden, nochmals verlassen?
Lass uns nun zusammen sterben,
Lass mich nicht zurück!
Mein Herz allein würde sich verzehren.
Cusi Koillur, wo ist deine Fröhlichkeit,
Wo der Glanz deiner Augen?
Wo ist deine Schönheit?
Bist du wirklich jene verstoßene Tochter?

CUSI KOILLUR.

Ach, Ollanta! Zehn Jahre lang
Hat uns das herbe Geschick getrennt,
Und jetzt haben wir uns wieder vereint
Zu gemeinsamem Dasein: so knüpft
An Leid Yupanqui die Freude.
Er möge leben, der mächtige König!
Und du, da es ein neues Leben gilt,
Mögest der Jahre noch viele zählen.

HUILLAC-UMU.

Bringt neue Kleider herbei,
Um sie unserer Fürstin anzulegen.

TUPAC YUPANQUI.

Ollanta, dies ist dein Weib!

Der König ergreift Cusi Koillurs Hand und legt sie in Ollantas,

Ehre sie von jetzt an in Zukunft!
Auch du, Ima Sumac, komm'
An meine Brust, schöne Taube,
Verknüpfe dich mit in diesen Bund,
Du bist das Herzblut Koillurs.


Er legt Cusi Koillur an seine rechte Schulter und drückt Ima Sumac mit der linken Hand an sich.

OLLANTA.

Und du bist unser Schirm.
An deiner Hand
Verfehlt alles Unglück den Weg,
Du beglückst alle.

TUPAC YUPANQUI.

Grämt euch ferner nicht mehr.
Fröhlichkeit herrsche in gemeinsamem Glück.
Du hältst dein Weib in deinen Armen,
So lebt denn fortan in Freuden.

[Übersetzung aus dem Quechua: E. W. Middendorf. -- In: Inkaländer erzählen : Peru, Bolivien, Ecuador / Rudolf Peyer. -- München : Diederichs, ©1993. -- ISBN 3-424-01193-2. -- S. 28f., 56 - 68]


Zu Teil 3: Die spanische Eroberung bis zur Ermordung Atahuallpas (1533)