Einführung in die Exegese von Sanskrittexten : Skript

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Kap. 8: Die eigentliche Exegese, Teil II: Zu einzelnen Fragestellungen synchronen Verstehens

Anhang C: Grundbegriffe der Sanskrit-Poetik nach Mammaṭa


herausgegeben und übersetzt von Alois Payer

mailto:payer@payer.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Einführung in die Exegese von Sanskrittexten : Skript.  -- Kap. 8: Die eigentliche Exegese, Teil II: Zu einzelnen Fragestellungen synchronen Verstehens. -- Anhang C: Grundbegriffe der Sanskrit-Poetik nach Mammaṭa. -- Fassung vom 2012-09-22. -- URL: http://www.payer.de/exegese/exeg08c.htm

Erstmals publiziert: 2012-09-16

Überarbeitungen:  2012-09-22 [Ergänzungen]; 2012-09-18 [Ergänzungen]

Anlass: Lehrveranstaltung Proseminar Indologie WS 1995/96

©opyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Verfassers.


0. Übersicht



1. Einleitung


"Die einzig richtige Art, ein Gedicht zu lesen, gibt es nicht. Sie ist nur ein pädagogisches Phantom. Soviele Köpfe, soviele Lesarten, eine richtiger als die andere. Damit soll nichts gegen die Arbeit der Philologen gesagt sein und gegen die zuverlässigen, die kritischen, die »gesicherten« Texte, die sie verspricht. Ganz im Gegenteil. Aber ihre Treue ist nur eine unter den vielen Möglichkeiten, die wir haben, einen Autor beim Wort zu nehmen."

[Quelle: Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen : in hundertvierundsechzig Spielarten / vorgestellt von Andreas Thalmayr [d. i. Hans Magnus Enzensberger]. -- Erfolgsausgabe. -- Frankfurt am Main : Eichborn, 2001. --  ISBN 3-8218-4721-2. -- S. VII f.]

Grundlage:

Mammaṭa <11. Jhdt. n. Chr.>: Kāyvaprakāśa with English translation (revised) / by Ganganatha Jha <1871 - 1941>. -- Varanasi : Bharatiya Vidya Prakashan, 1967. -- 504 S. ; 22 cm.

Mammaṭa <11. Jhdt. n. Chr.>: The poetic light : Kāyvaprakāśa of Mammaṭa. text with translation & Sampradāyaprakāśinī of Śrīvidyācakravartin / R. C. (Rāmacandra) Dwivedi. -- Delhi : Motilal Banarsidass, 1966 - 1970. -- 2 Bde.

Hier können nur die wichtigsten Grundbegriffe in groben Umrissen dargestellt werden. Für Einzelheiten und scholastische Spitzfindigkeiten studiere man Mammatas Werk.

Auf Sanskrit-Verse sind die gleichen Arbeitsschritte anwendbar wie bei einer schulmäßigen Gedichtinterpretation. Siehe dazu:

Becker, Frank ; Schlitt, Christine: Lyrik und Gedichtinterpretation. --  Mannheim : Duden, 2010. -- 112 S. : Ill. -- (Duden, Abiwissen Deutsch). -- ISBN 978-3-411-74071-0

Empfehlenswert und für das Gebiet Sanskritpoesie nachahmenswert ist:

Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen : in hundertvierundsechzig Spielarten / vorgestellt von Andreas Thalmayr [d. i. Hans Magnus Enzensberger]. -- Erfolgsausgabe. -- Frankfurt am Main : Eichborn, 2001. --  XXIII, 486 S. : Ill. -- ISBN 3-8218-4721-2 

Wörterbuch:

Gerow, Edwin: A glossary of Indian figures of speech. -- The Hague [u.a.] : Mouton, 1971. -- 346 S. ; 24 cm. -- (Publications in Near and Middle East studies / A ; 16). -- Wichtig für die oft sehr abweichende Terminologie der verschiedenen Autoren. Hier findet man auch Beispiele in Sanskrit.

Zur modernen westlichen literaturwissenschaftlichen Behandlung:

Handbuch Literaturwissenschaft : Gegenstände - Konzepte - Institutionen / hrsg. von Thomas Anz. --  Stuttgart : Metzler, 2007. -- 3 Bde. ; 24 cm. -- ISBN 978-3-476-02154-0

Zur westlichen Poetik:

Braak, Ivo <1906 - 1991>: Poetik in Stichworten : literaturwissenschaftliche Grundbegriffe ; eine Einführung / von Ivo Braak. -- 8., überarb. und erw. Aufl. / von Martin Neubauer. -- Berlin ; Stuttgart : Borntraeger, 2001. -- 351 S. : graph. Darst. -- (Hirts Stichwortbücher). -- ISBN 3-443-03109-9

Einführungen in deutsche Poetik bzw. Stilistik:

Riesel, Elise: Stilistik der deutschen Sprache. -- Moskau : Verlag für fremdsprachige Literatur, 1959. -- 467 S.

Moenninghoff, Burkhard <1959 - >: Stilistik. -- Stuttgart : Reclam, 2009. -- 115 S. ; 15 cm. -- (Universal-Bibliothek ; 17678). -- ISBN 978-3-15-017678-8

Villiger, Hermann: Kleine Poetik : eine Einführung in die Formenwelt der Dichtung. -- Frauenfeld : Huber, 1964. -- 150 S. ; 21 cm.

Lexikon abendländischer Begrifflichkeit der Rhetorik:

Harjung, J. Dominik <1953 - >: Lexikon der Sprachkunst : die rhetorischen Stilformen. Mit über 1000 Beispielen. -- München : Beck, 2000. -- 477 S. ; 20 cm. -- (Beck'sche reihe ; 1359). -- ISBN 3-406-42159-8. -- Die Beispiele sind nicht immer überzeugend.

Eine Fülle guter Beispiele deutscher Spielformen der Poesie:

Grümmer, Gerhard <1926-1995>: Spielformen der Poesie. -- Hanau : Dausien, 1985. -- 243 S. ; 21 cm.

Die Sanskrit-Poetik ist für uns heute meist ein schwerverdaulicher Brocken. Warum sie trotzdem eminent wichtig ist, kann man kaum besser als der überragende Indologe Moritz Winternitz ausdrücken:

"Zu den wesentlichen Eigentümlichkeiten dieses Kāvyastils gehören die Häufung von Bildern und Vergleichen, die Vorliebe für langatmige Beschreibungen, insbesondere gewisse schablonenmäßige Schilderungen (z. B. der Jahreszeiten, des Sonnenaufgangs, der Mondnacht u. dgl.) — solche Beschreibungen nehmen oft einen so großen Raum ein, dass der eigentliche Gegenstand der Dichtung ganz zurücktritt und man den Inhalt vieler Gesänge eines Epos oder vieler Bücher eines Romans bequem auf zwei Seiten angeben kann —, ferner die Verwendung künstlicher Innenreime und kunstvoll gebauter Versmaße, der Gebrauch seltener Worte und langer Wortzusammensetzungen mit mehr als einer Bedeutung, geistreiche Wortspiele, überhaupt das krampfhafte Bestreben, nichts gerade herauszusagen, sondern alles möglichst zu verschleiern, zu umschreiben, in Rätselform anzudeuten. Der Gipfelpunkt der Poesie wird erreicht, wenn der Dichter es dahin bringt, in einem und demselben Wort oder Wortgefüge, in einem und demselben Satze oder Verse zwei oder gar mehrere Dinge zugleich zu sagen.

Man kann diese indische Kunstdichtung nicht besser kennzeichnen, als durch die Verse, mit denen Fr. Th. Vischer die symbolisch - mystische Dichtung verspottet hat:

"Die Poesie ist sehr viel wert,
Die die Erklärung sehr erschwert!

[...]

Was verständlich ohne Not,
Gleicht gemeinem Hausmannsbrot,

Seines Ofens feinste Brezel
Reicht der Dichter uns im Rätsel.

[...]

Am reinsten strahlt der Dichtung Zauberlicht,
Wenn man vergebens sich den Kopf zerbricht."

Diese Dichtung ist aber nicht nur gekünstelt, sondern auch gelehrt. Der echte Kunstdichter muss in den verschiedensten Wissenschaften gut bewandert sein. Er muss die Wörterbücher studieren, um möglichst seltene Wörter und solche, die verschiedene Bedeutungen haben, herauszufinden, um lange Komposita bilden zu können, die auf verschiedene Weise aufgelöst und mit verschiedenem Sinn verbunden werden können. Er muss die Grammatik gelernt haben, um keinen Verstoß gegen deren Regeln zu begehen. Er muss die Lehrbücher der Kriegskunst und der Politik kennen, um die Schilderung von Schlachten und politischen Ränkespielen in seinem Gedicht an den geeigneten Orten anzubringen. Er muss auch mit dem Lehrbuch der Erotik (Kāmaśāstra,) gründlich vertraut sein, um Liebesszenen und die Stimmungen Verliebter vorschriftsmäßig schildern zu können. Vor allem muss er aber die Lehrbücher der Metrik und der Poetik sich zu eigen gemacht haben, um möglichst künstliche und schwierige Versmaße und eine reiche Auswahl aller möglichen poetischen Figuren (Alaṃkāras, »Schmuckmittel«) in seiner Dichtung anzubringen. Denn es ist bezeichnend, dass die Inder das, was wir Poetik nennen, als die »Lehre von den Schmuckmitteln« (alaṃkāraśāstra) bezeichnen.

Um von der indischen Kunstdichtung eine richtige Vorstellung zu gewinnen, ist es daher notwendig, einiges über die indische Poetik, mit der Dramatik und Metrik eng zusammenhängen, vorauszuschicken. Obwohl dies eigentlich in den Abschnitt über die wissenschaftliche Literatur gehörte, ist es doch um so mehr hier am Platz, als diese Wissenschaft selbst doch auf Grund gewisser Meisterwerke, die selbst zur Kunstdichtung gehören, entstanden ist, und anderseits die indischen Dichter selbst sich schon frühzeitig an dem Alaṃkāraśāstra gebildet und sich nach diesem gerichtet haben. Da ferner diese Werke über Poetik ihre Lehren stets durch Beispiele belegen, die entweder von den Verfassern der Lehrbücher selbst gedichtet oder den nach ihrer Meinung besten Dichtern entnommen sind, stellen sie zum Teil geradezu Anthologien dar, in denen uns manche Stücke der Kunstdichtung selbst enthalten sind, die sonst verloren gegangen wären."

[Quelle: Winternitz, Moriz <1863 - 1937>: Geschichte der indischen Literatur. Stuttgart : Koehler. -- Band 3: Die Kunstdichtung, die wissenschaftliche Literatur, neuindische Literatur. - 1920. -- S. 3f.]

Anonym: Parodie auf den Kāvyastil Friedrich Schillers <1759 - 1805>: Das Volkslied "Kommt ein Vogel geflogen" im Stil Friedrich Schillers:

Durch des Weltalls Riesenatmosphäre,
Nach dem Urgesetz der Schwere,
Schwirrt, auf Zephirzwillingsflügeln,
Zu des Diesseits goldbesonnten Hügeln
Übers schaumgekrönte Donnermeer
Ein ambrosisch Vöglein her.

Und wie Zeus, wenn er zum Göttermahle
Heiß umströmt vom ew’gen Liebesstrahle
Wollustatmend auf die Polster sinkt,
Also lässt mit hehrem Glanzgefieder
Sich der Flattrer mir zu Füßen nieder,
Wo der heitre Schemel winkt.

Gleich dem Hippogryph der Fabel
Trägt’s geheime Zauberschrift im Schnabel,
Die’s mir zitternd übergibt.
Ha! was seh ich! Bei der Schaumgebornen!
Ha! von Laura, meiner Gotterkornen,
Ein poetisch Manuskript.

Klicken! Melodie "Kommt ein Vogel ..."

[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/KommtEin.html. -- Zugriff am 2012-08-22]

"Poētik (griech.) ist die Theorie der ð Poesie (s. d.). Sie handelt von deren Wesen, Formen und Gattungen, von der in ihr zur Darstellung gelangenden Gedankenwelt wie von ihren sprachlichen Darstellungsmitteln."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

Grundlegende Begriffe der Sanskrit-Poetik sind:

Klassische westliche Einteilung nach Marcus Fabius Quintilianus <35 - 96>: Institutio oratoria:

Schmuck (ornatus)

[Vorlage: Göttert, Karl-Heinz <1943 - >: Einführung in die Rhetorik : Grundbegriffe - Geschichte - Rezeption. -- 4., überarb.  Aufl. -- Paderborn: Fink, 2009. -- (UTB ; 1599). -- ISBN 978-3-8252-1599-6]

Die moderne westliche Literaturwissenschaft unterscheidet folgende "stilistischen Textmerkmale":

  1. Stilarten
  2. Rhetorische Figuren
    1. Klangfiguren
    2. Wortschatzfiguren
    3. Sinnfiguren
    4. Wiederholungsfiguren
    5. Satzfiguren
    6. Schriftfiguren
  3. Bilder / Tropen
  4. Bild im Text, Text im Bild

Urs Meyer. -- In: Handbuch Literaturwissenschaft : Gegenstände - Konzepte - Institutionen / hrsg. von Thomas Anz. --  Stuttgart : Metzler, 2007. -- Bd. 1. -- S. 81 - 110 (dort auch weiterführende LIteratur)

Die Beispiele in der Folgenden Übersetzung wichtiger Kārikās sind keine wortgetreue Wiedergabe der im Kommentar gegebenen Beispielverse. Ich habe mir erlaubt, die Wiedergabe so abzuwandeln, dass nur das Entscheidende des Beispiels klar wird.

Bei der Zuordnung der Beispiele aus der deutschen Literatur und aus dem Sanskrit habe ich bewusst manchmal die Haarspaltereien der Sanskrit-Poetik nicht beachtet. Nach diesen Haarspaltereien könnte manches Beispiel anders eingeordnet werden.


2. rasa m. - Grundstimmung (Affekt)


शृङ्गारहास्यकरुणरौद्रवीरभयानकाः ।
बीभत्साद्भुतसंज्ञौ चेत्यष्तौ नाट्ये रसाः स्मृताः ॥२९॥

śṛṅgāra-hāsya-karuṇa-raudra-vīra-bhayānakāḥ ।
bībhatsādbhuta-saṃjñau cety aṣṭau nāṭye rasāḥ smṛtāḥ ॥29 ॥

Die acht im Schauspiel vorkommenden und in der Lehre vom Schauspiel beschriebenen Grundstimmungen sind:

  1. शृङ्गार - śṛṅgāra 3, m. - Verliebt
  2. हास्य - hāsya 3, n.  - Lächerlich
  3. करुण  - karuṇa 3, m. - Mitleidig
  4. रौद्र - raudra 3, n. - Schrecklich, gewalttätig
  5. वीर - vīra m. - Heldenhaft
  6. भयानक - bhayānaka 3 - Fürchterlich
  7. बीभत्स - bībhatsa 3 - Widerlich
  8. अद्भुत - adbhuta  3, n. - Wunderbar

Deutsche Beispiele für śṛṅgāra 3, m. - verliebt

Johann Wolfgang von Goethe: Egmont

KLÄRCHEN singt.

Freudvoll
Und leidvoll,
Gedankenvoll sein,
Langen
Und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt;
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt.

Otto Julius Bierbaum <1865 - 1910>: Liebe

Es ist ein Glück zu wissen, dass du bist,
Von dir zu träumen hohe Wonne ist,
Nach dir sich sehnen macht zum Traum die Zeit,
Bei dir zu sein, ist ganze Seligkeit.

Deutsches Beispiel für hāsya 3, n.  - lächerlich

Otto Sommerstorff <1859 - 1934>: Der sehr zerstreute Professor

Es war einmal ein Professor,
Der war so unendlich zerstreut -
die allerwichtigsten Sachen
Vergaß er von gestern auf heut.

Und als eines schönen Tages
Der gute Professor beschloss,
In den Stand der Ehe zu treten,
Weil ihn das Alleinsein verdross,

Geschahs, dass am anderen Morgen
Der unglückselige Mann
Auf seinen erst gestern gefassten
Entschluss sich vergeblich besann.

Ihm war von der ganzen Geschichte
Erinnerlich nur noch das:
Er wollte in etwas treten;
Doch er wusste nicht mehr in was.

Deutsches Beispiel für karuṇa 3, m. - mitleidig

Georg Herwegh <1817 - 1875>: Immer mehr!

Allüberall Geschrei nach Brot,
Vom Atlas bis Archangel!
In halb Europa Hungersnot,
Im halben bittrer Mangel!
Die Scheuern leer, die Steuern schwer,
Die Ernten schlecht geraten –
Doch immer mehr und immer mehr
Und immer mehr Soldaten!

Deutsches Beispiel für raudra 3, n. - schrecklich, gewalttätig

Theodor Fontane <1819 - 1898>: Die Balinesenfrauen auf Lombok

Unerhört,
Auf Lombok hat man sich empört,
Auf der Insel Lombok die Balinesen
Sind mit Mynheer1 unzufrieden gewesen.

Und die Mynheers fasst ein Zürnen und Schaudern,
»Aus mit dem Brand, ohne Zögern und Zaudern,«
Und allerlei Volk, verkracht, verdorben,
Wird von Mynheer angeworben,
Allerlei Leute mit Mausergewehren
Sollen die Balinesen bekehren
Vorwärts, ohne Sinn und Plan
Aber auch planlos wird es getan,
Hinterlader arbeitete gut,
Und die Männer liegen in ihrem Blut.

Die Männer. Aber groß anzuschaun
Sind da noch sechzig stolze Fraun,
All eingeschlossen zu Wehr und Trutz
In eines Buddha-Tempels Schutz.
Reichgekleidet, goldgeschmückt,
Ihr jüngstes Kind an die Brust gedrückt,
Hochaufgericht't eine jede stand,
Den Feind im Auge, den Dolch in der Hand.
Die Kugeln durchschlagen Trepp' und Dach,
»Wozu hier noch warten, feig und schwach?«
Und die Türen auf und hinab ins Tal,
Hoch ihr Kind und hoch den Stahl
(Am Griffe funkelt der Edelstein),
So stürzen sie sich in des Feindes Reihn.
Die Hälfte fällt tot, die Hälfte fällt wund,
Aber jede will sterben zu dieser Stund,
Und die Letzten, in stolzer Todeslust,
Stoßen den Dolch sich in die Brust.

Mynheer derweilen, in seinem Kontor,
Malt sich christlich Kulturelles vor.

1 Mynheer = niederländisch Mijnheer = "mein Herr" = Niederländische Kolonialherren (hier: in Indonesien)

Deutsches Beispiel für vīra m. - heldenhaft

Max Schneckenburger <1819 - 1849>: Die Wacht am Rhein (1840)


Abb.: "Die Wacht am Rhein". -- Postkarte 1915

1. Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein,
Wer will des Stromes Hüter sein?
|: Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, :|
|: Fest steht und treu die Wacht am Rhein! :|

2. Durch hunderttausend zuckt es schnell,
Und aller Augen blitzen hell;
Der deutsche Jüngling, fromm und stark,
Beschirmt die heil'ge Landesmark.
|: Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, :|
|: Fest steht und treu die Wacht am Rhein! :|

3. Er blickt hinauf in Himmels Au'n,
Wo Heldengeister niederschau'n,
Und schwört mit stolzer Kampfeslust:
Du Rhein bleibst deutsch, wie meine Brust!
|: Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, :|
|: Fest steht und treu die Wacht am Rhein! :|

4. So lang ein Tropfen Blut noch glüht,
Noch eine Faust den Degen zieht,
Und noch ein Arm die Büchse spannt,
Betritt kein Feind hier deinen Strand!
|: Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, :|
|: Fest steht und treu die Wacht am Rhein! :|

5. Und ob mein Herz im Tode bricht,
Wirst du doch drum ein Welscher nicht,
Reich, wie an Wasser deine Flut,
Ist Deutschland ja an Heldenblut!
|: Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, :|
|: Fest steht und treu die Wacht am Rhein! :|

6. Der Schwur erschallt, die Woge rinnt,
Die Fahnen flattern hoch im Wind:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein,
Wir alle wollen Hüter sein!
|: Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, :|
|: Fest steht und treu die Wacht am Rhein! :|

7. So führe uns, du bist bewährt;
In Gottvertrau'n greif' zu dem Schwert,
Hoch Wilhelm! Nieder mit der Brut!
Und tilg' die Schmach mit Feindesblut!
|: Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, :|
|: Fest steht und treu die Wacht am Rhein! :|

Klicken! Melodie

[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/esbraust.html. -- Zugriff am 2012-08-28 9

Deutsches Beispiel für bhayānaka 3 - fürchterlich

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>: Erlkönig


Abb.: Erlkönig. -- Palmin-Sammelbild, um 1900

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

»Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?«
»Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?«
»Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.«

»Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
Manch bunte Blumen sind an dem Strand;
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.«

»Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht?«
»Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind.«

»Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.«

»Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort?«
»Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau.«

Klicken! Melodie

[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/werreite.html. -- Zugriff am 2012-08-28]

Deutsches Beispiel für  bībhatsa 3 - widerlich

Friedrich Schiller <1759 - 1805>: Abscheu

Heuchler, ferne von mir! Besonders du, widriger Heuchler,
Der du mit Grobheit glaubst Falschheit zu decken und List.

Deutsches Beispiel für adbhuta  3, n. - wunderbar

Christian Morgenstern <1871 - 1914>: Der Hecht

Ein Hecht, vom heiligen Anton
bekehrt, beschloss, samt Frau und Sohn,
am vegetarischen Gedanken
moralisch sich emporzuranken.

Er aß seit jenem nur noch dies:
Seegras, Seerose und Seegrieß.
Doch Grieß, Gras, Rose floss, o Graus,
entsetzlich wieder hinten aus.

Der ganze Teich ward angesteckt.
Fünfhundert Fische sind verreckt.
Doch Sankt Anton, gerufen eilig,
sprach nichts als »Heilig! heilig! heilig!«

Vgl. die Affektenlehre der euröpäischen Musik und Poetik:

"Affekt (lat. affectus = Gemütszustand, gr. pathos) heißt eine vorübergehende, zusammenhängende, stärkere Gemütsbewegung, welche durch äußere Ursachen oder psychische Vorgänge veranlasst wird und unseren geistigen und leiblichen Zustand stark beeinflusst. Der Affekt hat eine bestimmte Entwicklung, in welcher Anfangsgefühl, Vorstellungsverlauf und Endgefühl unterschieden werden können. Bewusstseinsstärke, Willen, Blutumlauf, Atmung, Absonderung der Drüsen, Muskeltätigkeit und Gliederbewegungen werden durch den Affekt entweder gefördert oder gehemmt. Im Affekt gerät der Mensch, wie man sagt, »außer sich«. Die Wucht, mit der die Affekte auftreten, und die Art, wie sie verlaufen, richtet sich einerseits nach der Konstitution und dem Temperament, nach der Erziehung und dem Bildungsstandpunkt des Menschen, andrerseits nach dem äußeren Anlass.

[...]

Die Bestimmung des Begriffs der Affekte hat vielfach geschwankt. Bald sind die Affekte enger nur als Gemütsbewegungen gefasst worden, bald sind sie weiter auch als Willensvorgänge gedacht, bald sind sie als vorübergehende Zustände, bald auch als dauernde Zustände definiert und dann mit den Leidenschaften (s. d.) vermischt worden. Vielfach greift die Erörterung über die Affekte in die Ethik ein.

Die Kyrenaiker (im 4. Jhrh. v. Chr.) unterschieden zwei Affekte (pathê), nämlich ponos und hêdonê, Unlust und Lust, und sahen in jener eine reißende, in dieser eine sanfte Bewegung (Kyrênaikoi – dyo pathê hyphistanto, ponon kai hêdonên; tên men leian kinêsin, tên hêdonên; ton de ponon tracheian kinêsin Diog. Laert II, 8 § 86.) Die Lust ist nach Aristippos' (um 435-355) Lehre das Ziel des Lebens.

Aristoteles (384-322) definiert die Affekte als seelische Vorgänge, die mit Lust oder Unlust verbunden sind (legô de pathê – hois hepetai hêdonê ê lypê. Eth. Nicom. II 4 p. 1105b 21-23). Er zählt folgende Affekte auf:

  1. ἐπιθῡμία - epithymia (Begierde) [vgl. शृङ्गार - śṛṅgāra 3, m.]
  2. ὀργή - orgê (Zorn)
  3. φόβος - phobos (Furcht) [भयानक - bhayānaka 3]
  4. θράσος - thrasos (Mut) [वीर - vīra m.]
  5. φθόνος - phthonos (Neid)
  6. χαρά - chara (Freude)
  7. φιλία - philia (Freundschaft)
  8. μῖσος  - misos (Hass) [vgl. बीभत्स - bībhatsa 3]
  9. πόθος - pothos (Sehnsucht)
  10. ζῆλος - zêlos (Eifer)
  11. ἔλεος - eleos (Mitleid) [करुण  - karuṇa 3, m.].

Er ist sich aber auch bewusst, dass diese Seelenvorgänge mit körperlichen verbunden sind (eoike de kai ta tês psychês pathê panta einai meta sômatos) und führt als Beispiele solcher seelisch-körperlichen Vorgänge thymos (Erregung), praotês (Sanftmut), phobos (Furcht), eleos (Mitleid), thrasos (Mut), to philein (Liebe), to misein (Hass) an (De anim. Ip. 403 a 16-18).

[...]

Von den neueren Philosophen versteht Descartes (1596-1650) unter den Affekten (passiones) Vorstellungen oder Empfindungen oder Erregtheiten der Seele, die man nur auf sie selbst bezieht und die durch gewisse Bewegungen der Lebensgeister bewirkt, unterhalten und verstärkt werden (Pass. anim. I, 27). Er unterscheidet sechs Grundaffekte:

  • Bewunderung [अद्भुत - adbhuta  3, n.]
  • Liebe [शृङ्गार - śṛṅgāra 3, m.]
  • Hass
  • Verlangen
  • Freude
  • Traurigkeit.

Spinoza (1632-1677) nimmt als Grundaffekte nur die drei:

  1. Verlangen,
  2. Freude,
  3. Traurigkeit

an und gründet auf die Lehre von den Affekten seine Ethik. Er versteht unter den Affekten Zustände des Körpers, durch welche die Fähigkeit desselben zu handeln vermehrt oder vermindert, gefördert oder eingeschränkt wird, und zugleich die Ideen dieser Zustände (corporis affectiones quibus ipsius corporis agendi potentia augetur vel minuitur, iuvatur vel coërcetur, et simul harum affectionum ideas Eth. III, 3). Der den Affekten unterworfene Mensch ist unfrei. Der über die Affekte siegende Mensch ist frei. Diese Befreiung erfolgt durch die wahre Erkenntnis der Affekte, die in die intellektuelle Gottesliebe ausmündet (Eth. III – V)."

[Quelle: Kirchner, Friedrich <1848 - 1900> ; Michaelis, Carl: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe / Friedrich Kirchner. Neubearb. von Carl Michaelis. -- 5. Aufl. / neubearb. von Carl Michaelis. -- Leipzig : Dürr, 1907. -- V, 708 S. -- (Philosophische Bibliothek ; 67). -- s. v.]

"Paul Ekman (*1934) fand in umfangreichen empirischen Studien Beweise für die von Darwin behauptete erbliche Bedingtheit zahlreicher emotionaler Ausdrucksformen, darunter die von ihm unterschiedenen 7 Basisemotionen:
  1. Fröhlichkeit,
  2. Wut,
  3. Ekel,
  4. Furcht,
  5. Verachtung,
  6. Traurigkeit und
  7. Überraschung,

die kulturübergreifend bei allen Menschen in gleicher Weise erkannt und ausgedrückt werden. Diese, von ihm als elementar beschriebenen Gesichtsausdrücke sind nicht kulturell erlernt, sondern genetisch bedingt."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Affekt. -- Zugriff am 2012-09-11]

"Affektpoetik ist ein umfassender Begriff für die Darstellungen von Gemütserregungen (Affekten) in der Dichtkunst (Poetik). Der Begriff wird in dreifacher Hinsicht verwendet: als historische Kategorie innerhalb der Poetik des 18. Jahrhunderts, als systematische Kategorie zur Erforschung literarischer Emotionen und als interdisziplinäre Kategorie zur Analyse der languages of emotion.

Historische Kategorie

Als historische Kategorie spielt das Wortfeld Affektpoetik in den Theaterreformen des achtzehnten Jahrhunderts eine bedeutende Rolle. Dabei gelten seit Gotthold Ephraim Lessing die Affekte Furcht und Mitleid als zentrale Wirkung der Affektpoetik des Dramas bzw. des bürgerlichen Trauerspiels. Diese Diskussion bezieht sich auf die Poetik des Aristoteles, nach welcher es in der Tragödie um die von der Konstruktion der Handlung ausgelösten Affekte Eleos und Phobos geht, wobei in der Lösung oder Reinigung im Sinne der Katharsis die Freude an der tragischen Mimesis kulminiert. Lessing und vor ihm Moses Mendelssohn bestimmten anhand der Tragödiendefinition im sechsten Buch der Aristotelischen Poetik die Erregung von Phobos und Eleos, von Furcht und Mitleid, und die Reinigung dieser Affekte als das eigentliche Ziel der Tragödie. Lessing bezog die Reinigung von Mitleid, Furcht „und dergleichen Affekten“ auch auf den Zuschauer, deutete sie jedoch als Verwandlung dieser Affekte „in tugendhafte Fertigkeiten“.[1].

Ein anderer historischer Sinn für Affektpoetik ergibt sich aus Friedrich Gottlieb Klopstocks Poetik der Gemütserregung: In den 1759 publizierten Gedanken über die Natur der Poesie heißt es: „Das Wesen der Poesie besteht darin, dass sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unsrer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, dass eine auf die andre wirkt, und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt.“[2] Ziel der Poetik Klopstocks ist es, eine solche Gemütsbewegung durch ein Zusammenspiel zwischen Leidenschaft und Glauben, Affekt und Konfession, Kunst und Spiritualität zu erwirken. Ähnliche Definitionen von Lyrik als Affektausdruck finden sich Mitte der 1760er Jahre auch bei Gerstenberg, Sulzer und vor allem Herder, der Lyrik als Werk des "Naturdichters" und damit als "unmittelbare Äußerung des Empfindens" definiert und so den Weg von der Nachahmungspoetik Gottscheds hin zur Erlebnis- und Ausdruckspoetik der Genieästhetik ebnete."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Affektpoetik. -- Zugriff am 20912-09-11]

"Die Affektenlehre geht auf die griechische Antike zurück und besagt, dass sich Affekte wie Freude, Trauer oder Schmerz musikalisch ausdrücken lassen und die Musik solche Gemütsbewegungen beim Hörer hervorrufen kann.

Die Affektenlehre ist ein Gebiet der Musiktheorie der Barockzeit, das sich mit dem Zusammenhang zwischen dem Affekt und den Möglichkeiten der Darstellung in der Musik beschäftigt. Sie ist auf Grund der Annahme einer gemeinsamen Grundlage von Sprache und Musiksprache (Musica Poetica) eng mit der Affektenlehre der Rhetorik verknüpft."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Affektenlehre. -- Zugriff am 2012-09-11 ]

Zu den sieben Basisemotionen siehe:

Ekman, Paul <1934 - >: Gefühle lesen: wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. -- 2. Aufl. -- Heidelberg : Spektrum, 2010. --389 S. : Ill. ; 20 cm. -- ISBN 978-3-8274. -- (Originaltitel: Emotions revealed (2003)

Zur europäischen Affektpoetik siehe:

Meyer-Sickendiek, Burkhard <1968 - >: Affektpoetik : eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. -- WÜrzburg : Königshausen & Neumann, 2005. -- 508 S. ; 24 cm. -- ISBN 3-8260-3065-6


3. bhāva m. - Gefühlsäußerung


3.1. sthāyibhāva m. - Grundgefühle (Basisemotionen)


रतिर्हासश्च शोकश्च क्रोधोत्साहौ भयं तथा ।
जुगुप्सा विस्मयश्चेति स्थायिभावाः प्रकीर्तिताः ॥३०॥

ratir-hāsaś ca sokaś ca krodhotsāhau bhayaṃ tathā ।
jugupsā vismayaś ceti sthāyibhāvāḥ prakīrtitāḥ ॥I.30॥

Die Grundgefühle (sthāyibhāva m.) sind:

  1. रति - rati  f. - Lust
  2. हास - hāsa m. - Heiterkeit
  3. शोक - śoka m.  - Kummer
  4. क्रोध - krodha m. - Zorn
  5. उत्साह - utsāha m. - Tatkraft
  6. भय - bhaya n. - Angst und Furcht
  7. जुगुप्सा - jugupsā f. - Ekel
  8. विस्मय - vismaya m. - Staunen, Verwunderung

Hier finden sie: Deutsche Beispiele für sthāyibhāva m. - Grundgefühle

"Kategoriale Klassifikation von Emotionen

Verfechter dieser Theorie gehen davon aus, dass sich die Emotionen aus bestehenden Basisemotionen zusammensetzen. Das sind Emotionen, die nicht weiter auf andere Emotionen zurückgeführt werden können bzw. Emotionen, aus denen sich alle anderen – komplexeren – Emotionen zusammensetzen.

Lothar Schmidt-Atzert führte dazu eine Untersuchung durch, bei der Versuchspersonen Listen mit Begriffen von emotionaler Bedeutung dargeboten wurden. Die Aufgabe bestand darin, die subjektiv wahrgenommene Ähnlichkeit der einzelnen Begriffe einzuschätzen. Dann wurden diese Begriffe je nach eingeschätzter Ähnlichkeit zu Gruppen subsumiert und als Basisemotionen deklariert.

Robert Plutchik extrahierte schließlich acht Basisemotionen, die jeweils noch in ihrer Intensität verschieden stark ausgeprägt sein konnten und ringförmig angeordnet wurden. In dem Ring wurden die Emotionen so angeordnet, dass ähnliche Emotionen dabei möglichst nah beieinander lagen und unähnliche Emotionen weit voneinander entfernt waren. Emotionen, die sich aus zwei in diesem Ring direkt benachbarten Emotionen zusammensetzten, bezeichnete Plutchik als primäre Dyaden (auch Primäremotionen genannt), solche die aus einer Zusammensetzung von Emotionen entstand, bei denen eine Emotion dazwischen lag als sekundäre Dyaden und solche bei denen zwei Emotionen dazwischen lagen als tertiäre Dyaden – die beiden letzteren Typen werden auch als Sekundäremotionen bezeichnet. Hierbei waren die tertiären Dyaden komplexere Emotionen als die sekundären Dyaden, welche wiederum komplexer als primäre Dyaden waren, welche wiederum komplexer als die Basisemotionen waren. Emotionen, die sich aus Emotionen aus gegenüberliegenden Bereichen zusammensetzten, waren schließlich so verschieden, dass sich ihre Wirkung wieder aufhob.

Diese acht Basisemotionen sind

  1. Furcht / Panik [भय - bhaya n.]
  2. Zorn / Wut [क्रोध - krodha m.]
  3. Freude / Ekstase [रति - rati  f.]
  4. Traurigkeit / Kummer [शोक - śoka m.]
  5. Akzeptanz / Vertrauen
  6. Ekel / Abscheu [जुगुप्सा - jugupsā f.]
  7. Überraschung / Erstaunen [विस्मय - vismaya m.]
  8. Neugierde / Erwartung [Vgl. उत्साह - utsāha m.]

Sie haben sich (nach Plutchik) aus evolutionären Kontexten entwickelt. Insbesondere war mit jeder Emotion auch ein Handlungsimpuls verkettet – bei Furcht etwa eine Fluchttendenz.

Die Theorie der Basisemotionen stieß häufig auf Kritik, da von unterschiedlichen Forschern nicht immer die gleichen Basisemotionen – insbesondere noch nicht einmal die gleiche Anzahl von Basisemotionen – gefunden werden konnte. So nahm man an, dass eine solche empirische Breite in den Ergebnissen nicht auf ein fundamentales Konstrukt, wie das der Basisemotionen zurückgeführt werden kann. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die Benennung der Basisemotionen vielleicht durchaus verschieden sein kann, jedoch das, was die einzelnen Forscher konkret darunter verstanden, wohl dasselbe sein konnte. Dennoch ändert dies nichts an der Tatsache, dass diese Basisemotionen tatsächlich bestehen können – wenngleich stichhaltige empirische Belege dafür bisher fehlen."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Emotionstheorie. -- Zugriff am 2012-09-11]

Plutchiks acht Primäremotionen:

Auslösendes Ereignis Kognitive Einschätzung Gefühl Handlungsimpuls Biologische Funktion
Bedrohung "Gefahr" Furcht [भय - bhaya n.] Flucht Schutz
Hindernis "Feind" Ärger [क्रोध - krodha m.] Angriff Zerstörung
Potentieller Geschlechtspartner "Besitzen" Freude [रति - rati  f.] Paarung Fortpflanzung
Verlust eines geschätzten Individuums "Verlassen sein" Traurigkeit [शोक - śoka m.] Weinen Reintegration
Mitglied der eigenen Gruppe "Freund" Akzeptieren, Vertrauen Umsorgen Einverleiben
Ungenießbares Objekt "Gift" Ekel  [जुगुप्सा - jugupsā f.] Ausspeien, Wegstoßen Zurückweisen
Neues Territorium "Was ist da draußen?" Erwartung [Vgl. उत्साह - utsāha m.] Untersuchen Erkunden
Unerwartetes Objekt "Was ist das?" Überraschung [विस्मय - vismaya m.] Innehalten Orientierung

[Vorlage der Tabelle: Meyer-Sickendiek, Burkhard <1968 - >: Affektpoetik : eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. -- WÜrzburg : Königshausen & Neumann, 2005. -- 508 S. ; 24 cm. -- ISBN 3-8260-3065-6. -- S. 32]


3.2. bhāva m. - Wechselnde Gefühlsäußerungen


निर्वेदग्लानिशङ्खाख्यास्तथासूयामदश्रमाः ।
आलस्यं चैव दैन्यं च चिन्ता मोहः स्मृतिर्धृतिः ॥३१॥
व्रीडा चपलता हर्ष आवेगो जडता तथा ।
गर्वो विषाद औत्सुक्यं निद्रापस्मार एव च ॥३२॥
सुप्तं प्रबोधो मर्षश्चापि अवहित्थमथोग्रता ।
मतिर्व्याधिस्तथोन्मादस्तथा मरणमेव च ॥३३॥

त्रासश्चैव वितर्कश्च विज्ञेया व्यभिचारिणः ।
त्रयत्रिंशदमी भावाः समाख्यातास्तु नामतः ॥३४॥

nirveda-glāni-śaṅkākhyās tathāsūyā-mada-śramāḥ ।
ālasyaṃ caiva dainyaṃ ca cintā mohaḥ smṛtir dhṛtiḥ ॥31॥
vrīḍā capalatā harṣa āvego jaḍatā tathā ।
garvo viṣāda autsukyaṃ nidrāpasmāra eva ca ॥32॥

suptaṃ prabodho 'marṣaś cāpy avahittham athogratā ।
matir vyādhis tathonmādas tathā maraṇam eva ca ॥33॥
trāsaś caiva vitarkaś ca vijñeyā vyabhicāriṇaḥ ।
trayatriṃśad amī bhāvāḥ samākhyātās tu nāmataḥ ॥34॥

Die 33 wechselnden Gefühlsäußerungen sind:

  1. निर्वेद - nirveda m. - Verdruss, Überdruss
  2. ग्लानि - glāni f. - Erschöpfung
  3. शङ्का - śaṅkā f. - Befürchtung, Sorge
  4. असूया - asūyā f. - Groll
  5. मद - mada m. - Rausch
  6. श्रम - śrama m. - Abmühen
  7. आलस्य - ālasya n. - Trägheit
  8. दैन्य - dainya n. - Niedergeschlagenheit
  9. चिन्ता - cintā f. - Grübeln
  10. मोह - moha m. - Verwirrung
  11. स्मृति - smṛti f. - Achtsamkeit
  12. धृति - dhṛti f. - Festigkeit
  13. व्रीडा - vrīḍā f. - Verlegenheit, Scham
  14. चपलता - capalatā f. - Wankelmut, Unstetigkeit
  15. हर्ष - harṣa m. - Entzücken, Schauder
  16. आवेग - āvega m. - Erregung, Aufregung
  17. जडता - jaḍatā f. - Apathie
  18. गर्व - garva m. - Hochmut, Stolz
  19. विषाद - viṣāda m. - Verzagung, Verzweiflung
  20. औत्सुक्य - autsukya n. - Sehnsucht, Wehmut
  21. निद्रा - nidrā f. - Tiefschlaf
  22. अपस्मार - apasmāra m. - Besinnungslosigkeit
  23. सुप्त - supta n. - Schlaf
  24. प्रबोध - prabodha m. - Aufwachen
  25. अमर्ष - amarṣa m. - Unduldsamkeit, Unmut
  26. अवहित्थ - avahittha n. - Verstellung
  27. उग्रता - ugratā f. - Grausamkeit
  28. मति - mati f. - Bedachtsamkeit
  29. व्याधि - vyādhi f. - Krankheit
  30. उन्माद - unmāda m. - Verrücktheit
  31. मरण - maraṇa n. - Sterben
  32. त्रास - trāsa m. - Erschrecken
  33. विर्तर्क - vitarka m. - Überlegung, Abwägung

Hier finden sie: Deutsche Beispiele für bhāva m. - Wechselnde Gefühle


3.3. Anmerkung: nirveda m. - Überdruss; śānta m. - Seelenruhe


निर्वेदस्थायिभावो ऽस्ति शान्तो ऽपि नवमो रसः ।

nirveda-sthāyibhāvo 'sti śānto 'pi navamo rasaḥ ।

Überdruss (nirveda m.) ist ein Grundgefühl (sthāyibhāva m.), Seelenruhe (śānta m.) ist die neunte Grundstimmung (rasa m.).

Deutsches Beispiel für śānta - Seelenruhe

Johann Wofgang von Goethe <1749 - 1832>: Ein gleiches

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Plisch und Plum


Papa Fittig, treu und friedlich,
Mama Fittig, sehr gemütlich,
Sitzen, Arm in Arm geschmiegt,
Sorgenlos und stillvergnügt
Kurz vor ihrem Abendschmause
Noch ein wenig vor dem Hause,
Denn der Tag war ein gelinder,
Und erwarten ihre Kinder.


4. alaṃkāra m. - Schmuckmittel


4.1. śabdalaṃkāra m. - Wort-Schmuckmittel (Klangfiguren)


4.1.1. vakrokti f. - Doppeldeutigkeit und Mehrdeutigkeit


Gerow: "evasive speech"

यदुक्तमन्यथा वाक्यमन्यथान्येन योज्यते ।
श्लेषेण काक्वा वा ज्ञेया सा वक्रोक्तिस्तथा द्विधा ॥७८॥

yad uktam anyathā vākyam anyathānyena yojyate ।
śleṣeṇa kākvā vā jñeyā sā vakroktis tathā dvidhā ॥78॥

Wenn eine Aussage auf eine Weise ausgedrückt ist, vom jemand anderem anders konstruiert (d.h. aufgefasst) wird, sei es durch ein Wortspiel (śleṣa m.) oder durch die Intonation (kāku f.), dann liegt Mehrdeutigkeit (vakrokti f.) vor. Sie ist demgemäß zweifach.

Beispiele aus dem Sanskrit:

nārīṇām "der Frauen" = na arīṇām "nicht der Feinde"

aho kenedṛśī buddhir dāruṇā tava nirmittā । Antwort: triguṇā śrūyate buddhir na tu dārumayī kvacit ॥

"Ach, wer hat dein Herz so hart (dāruṇa 3) gemacht? - Antwort: Es ist überliefert, dass die Buddhi aus den drei Guṇas besteht, nirgends aber ist gesagt, dass sie aus Holz (dāru n. Holz) besteht."

"Die Brut der Schlangen, die sich vom Winde nährt, nennt man Bhogin (geringelt, Schlange und zugleich Geniesser); Elefanten, die (mit ihren hin und her gehenden Ohren) summende Bienen abwehren, heißt man Vistīrṇakarṇa (breitohrig, Elefant und zugleich die Ohren spitzend); den Baum, in dessen Innerem eine Abart von Glut sich angesammelt hat, nennt man Śamî (eine Acacia und zugleich beruhigt): die Welt, die auf diese Weise ohne allen Zwang in den Tag hinein schwatzt, hat Alles drunter und drüber gekehrt." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Anonym (Fliegende Blätter Nr. 1688):


Herr (sich vorstellend): "Entschuldigen Sie, mein Fräulein, mein Name ist Meyer!" -- Dame: "O bitte, mein Herr, das macht gar nichts!"

Anonym:

"Sind in eurer Stadt auch große Männer geboren?" -- "Nein, immer nur kleine Kinder!"

Anonym:

"Zum Klavierspielen muss man geboren sein. Denn wenn man nicht geboren ist, kann man nicht Klavier spielen."

Friedrich von Logau <1604 - 1655>: Auf Thaidem

Thais sagt, dass ihres Liebsten Bildnis sie im Herzen trage.
Unterm Herzen, will ich glauben; dann so sagt gemeine Sage.

Georg Christoph Lichtenberg <1742 - 1799>:

"Ich wäre nicht ungehalten gewesen, wenn der Vortrag ungehalten gewesen wäre."

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Anstatt dass sich die Menschen fragen: "Haben Sie sich unterhalten?" fragen sie sich: "Wie haben Sie sich unterhalten?" Und das muss so betont werden: "Wie? Haben Sie sich unterhalten?!" Das aber eben ist das Unglück in unseren Gesellschaften, dass sich die Leute fragen: "Wie haben Sie cih unterhalten?" und nicht "Wie haben Sie andere unterhalten?"

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Der heilige Antonius von Padua

»Ave Maria mundi spes!
Erhalt uns armen Mönchen –
– Du weißt es ja, wir brauchen es –
Den Wein in unsern Tönnchen!«

Und sieh! Erloschen ist die Glut
Der gier'gen Feuerzungen;
Die frommen Brüder fassen Mut,
Sie waren so fröhlich und sungen:

»Der Saft, der aus der Traube quoll,
Kann heut ja wohl nicht schaden!
Juhe! Wir sind ja wieder voll,
Ja wieder voller Gnaden!« –

Heinrich Zille <1858 - 1929>: Adel


"Bist du ooch 'von'?" -- "Jawoll - Mutter wees bloß nich von wem!"

Joachim Ringelnatz <1893 - 1934>: Die Geburtenzahl

Die Geburtenzahl
Ging herunter,
Traf den Pfarrer im Tal
Nachts noch munter.

Heidel da diedel dumm
Wie war das schön im Tal!
Aufwärts steigt wiederum
Bald die Geburtenzahl.

* * *

Und dann lächelt alles froh
Im statistischen Büro.


4.1.2. anuprāsa m. - Konsonantenwiederholung (Alliteration)


Gerow: "trowing after, alliteration"

वर्णसाम्यमनुप्रासः ॥ छेकवृत्तिगतो द्विधा ।
सो
ऽनेकस्य सकृत्पूर्वः ॥ एकस्याप्यसकृत्परः ॥७९॥

varṇa-sāmyam anuprāsaḥ chekavṛttigato dvidhā ।
so 'nekasya sakṛt pūrvaḥ
ekasyāpy asakṛt paraḥ ॥79॥

Konsonantenwiederholung (anuprāsa m.) besteht in der Gleichheit der Laute. Sie ist zweifach:

  1. für Hellhörige (chekānuprāsa m.)
  2. zum Ausdruck von Grundstimmungen (rasa m.) (vṛttyanuprāsa m.)

Die erste Form der Konsonantenwiederholung besteht in der einmaligen Wiederholung von mehreren Konsonanten. Die zweite Form besteht in der mehrmaligen Wiederholung von einem oder mehreren Konsonanten.

"Gleichheit der Laute" meint hier "Gleichheit von Konsonanten", auch wenn die Vokale verschieden sind.

Beispiele aus dem Sanskrit:

jajaujojājijijijājī taṃ tato 'titatātitut |
bhābho 'bhībhābhibhūbhābhūrārārirarirīraraḥ || (Māgha)

Deutsche Beispiele:

Friedrich von Logau (1605 - 1655): Der Buchstabe G

Meistens alles auf der Erden, drauf die Leut' am meisten streben,
Stehet unter denen Dingen, die sich auf ein G anheben:
Gold, Geld, Gut, Geschenke, Gaben, Gunst, Gewinn, Gewalt, Geschicke,
Glaube, Glimpf, Gesund, Gewissen und mit einem Worte Glücke
Will sich alles drunter stellen. Wann zu diesem zu sich zählet
Gott mit seiner Gnad und Güte, weiß ich nicht, was Gutes fehlet.

Wenn jedes Wort mit dem gleichen Buchstaben beginnt ("Gold, Geld, Gut, Geschenke, Gaben, Gunst, Gewinn, Gewalt, Geschicke"), heißt dies in der europäischen Poetik: Tautogramm. Bei der Alliteration genügen schon zwei Wörter, es haben aber nur betonte Wörter den gleichen Anfangsbuchstaben (z.B. "Land und Leute", "Götter, Gräber und Gelehrte")

Philipp von Zesen <1619 - 1689>: An die lieb-und freund-selige schöne Adelmund, die liebliche Liebes-reizende Liebesmeisterin. Gesetzet durch Malachias Siebenhaaren.

Wie ist es? hat Liebe mein Leben besessen?
Wie? oder befindt sie sich leiblich in mir?
O liebliches Leben, wem soll ich's zumessen,
dass meine Gebeine so zittern vor Ihr?
Ich gehe verirret, verwirret und trübe
und stehe vertiefet in lieblicher Liebe.

Die ächzenden Lüfte, die seufzenden Winde,
die lechzende Zunge, der Augen Gewirr,
das Beben der Glieder macht, dass ich verschwinde,
dass ich mich in meinen Gedanken verirr.
Ach! Schöne! Sie schone der schwächlichen Seelen,
wann Sie das gebrechliche Herze will quälen.

Ihr übliches Lieblen, o liebliches Leben,
der lieblenden Äugelein fröhlicher Blitz
macht, dass ich verzücket herumher muss schweben,
ja  dass ich verliere Gedanken und Witz.
Das liebliche Singen der zitternden Zungen
hat mir das Herze durchdrungen, bezwungen.

Sie lieb' ich, Sie lob' ich, Ihr leb' ich zuliebe,
Sie ehr' ich, Sie hör' ich, Ihr kehr ich mich zu:
Sie machet es, dass ich im Lieben mich übe
und dass ich verscherze die herzliche Ruh.
Sie schreib ich, mich treib ich, Ihr bleib ich ergeben;
Sie denk ich, mich kränk' ich, Ihr schenk' ich mein Leben.

Erich Mühsam <1878 - 1934>: Hilde

Riesengroße Rosengrüße
sandte ich zum Wiegenfeste
ihr, der einzig Heißgeliebten,
einen Brief dabei erhielt sie,
darin stand: ich liebe Dich,
Hilde, meine holde Hilde!
Hilf mir, Hilde, und erhöre
meine Schwüre, die ich schwöre
Dir, die ich so heiß Dich liebe.
Andern Tages lag die holde
Hilde huldvoll mir im Arme,
und wir kosteten mit Rosen
Stunden süßen Liebesglückes.
Aber tags danach hielt Hilde,
ach, ein andrer in den Armen,
Schwüre schwörend, schwülbeglückt,
ihr, der ich, der Heißgeliebten,
sandte doch zum Wiegenfeste
riesengroße Rosengrüße.


4.1.3. Konsonanten-Stile: upanāgarikā vṛtti f. - städtischer Stil, paruṣā vṛtti f. - grober Stil, komalā vṛtti f. - zarter Stil


Gerow: vṛtti = "mode"

माधुर्यव्यञ्जकैर्वर्नैरुपनागरिकोच्यते ।
ओजःप्रकाशकैस्तैस्तु परुषा । कोमला परैः ॥८०॥

mādhurya-vyañjakair varṇair upanāgarikocyate ।
ojaḥ-prakāśakais tais tu paruṣā । komalā paraiḥ ॥80॥

Der Stil (vṛtti f.) mit Konsonanten, die Süße ausdrücken, heißt upanāgarikā (städtischer Stil).

Der Stil mit Konsonanten, die Stärke (ojas n.) ausdrücken, heißt grober Stil (paruṣā f.).

Der Stil mit anderen Konsonanten als den genannten heißt zarter Stil (komalā f.)

Siehe Kārikā 74 - 76:

मूर्ध्नि वर्गान्त्यगाः स्पर्शा अटवर्गा रणौ लघू ।
अवृत्तिर्मध्यवृत्तिर्वा माधुर्ये घटना तथा ॥७४॥

mūrdhni vargāntya-gāḥ sparśā a-ṭavargā raṇau laghū ।
avṛttir madhya-vṛttir vā mādhurye ghaṭanā tathā ॥74॥

Süßigkeit (mādhurya n.) besteht dann, wenn

  1. Konsonanten von ka bis ma (sparśa) - außer Retroflexen (ṭa-varga) - dem letzten Konsonanten ihrer Gruppe folgen (d.h. ṅk, ṅkh, ṅg, ṅgh; ñc, ñch, ñj, ñjh; nt, nth, nd, ndh; mp, mph, mb, mbh)

  2. r und ṇ mit Kurzvokal vorkommen

  3. keine Komposita oder nur mittellange Komposita vorkommen

  4. die Komposition (ghaṭanā f.) in Süßigkeit besteht

योग आद्यतृतीयाभ्यामन्त्ययो रेण तुल्ययोः ।
टादिः शषौ वृत्तिदैर्घ्यं गुम्फ उद्धत ओजसि ॥७५॥

yoga ādya-tṛtīyābyām antyayo reṇa tulyayoḥ ।
ṭādiḥ śaṣau vṛtti-dairghyaṃ gumpha uddhata ojasi ॥75॥

Stärke (ojas n.) herrscht dann, wenn

  1. der erste bzw. dritte Konsonant einer Klasse mit dem angrenzenden Konsonanten der Klasse verbunden ist (d.h. kkh, ggh; cch, jjh; ṭṭh, ḍḍh; pph, bbh)

  2. ein Konsonant mir r verbunden ist

  3. ähnliche Konsonanten verbunden sind

  4. die Konsonanten ṭa usw. vorkommen (d.h. die Retroflexe ṭ, h, ḍ, ḍh, ṇ)

  5. die Konsonanten śa bzw ṣa vorkommen

  6. lange Komposita vorkommen

  7. eine bombastische Aneinanderreihung (der Worte) vorherrscht

श्रुतिमात्रेण सब्दात्तु येनार्थप्रययो भवेत् ।
साधारणः समग्राणां स प्रसादो गुणो मतः ॥७६॥

śruti-mātreṇa śabdāt tu yenārtha-pratyayo bhavet ।
sādhāraṇaḥ samagrāṇāṃ sa prasādo guṇo mataḥ ॥76॥

Als Klarheit (prasāda guṇa m.) aller Stile  gilt es, wenn man, sobald die Worte geäußert sind, sofort den Sinne versteht.

केषांचिदेता वैदर्भीप्रमुखा रीतयो मताः ।८१ क।

keṣāṃcid etā vaidarbhī-pramukhā rītayo matāḥ ।81a।

Einige nennen diese Stile vaidarbhī usw.

  1. upanāgarikā f. = vaidarbhī f. - Vidarbha-Stil
  2. paruṣā f. = gauḍīyā f. - Gauḍa-Stil (Bengal-Stil)
  3. komalā f. = pāñcālī f. - Pañcāla-Stil


Abb.: Lage von Pañcāla und Vidarbha
[Bildquelle: JIJITH NR / Wikipedia. -- GNU FDLicense]

Deutsches Beispiel: Parodie auf Lautsymbolik:

Fritz Mauthner <1849 - 1923>: Richard Wagner: Der unbewusste Ahasverus oder Das Ding an sich als Wille und Vorstellung. Bühnen-Weh-Festspiel in drei Handlungen

[...]

Das Ding an sich. 

Frühlingsfriesel füllt mich mit Freude,
Jung ist das Jahr und jach die Jungfrau.1

1 "Das J als Stabreim bedeutet Kraft, Muth, Feuer, z. B. das muthige Jagdpferd, der Jaguar, der Ruf Jucheh. Die Jüden haben kein Recht auf diesen ehrenden Stabreim, denn sie heißen eigentlich Hebräer."

[...]

Ahasverus (tritt grundlos auf). 

Lailala lai! Lailala lai!2

2 "Lailala lai! Wer die ganze Tiefe und Schönheit dieses Rufes nicht im Herzen fühlt, dem wird der Apostel des Meisters umsonst mit tausend Zungen predigen. Der Stabreim L bedeutet hauptsächlich Kummer (daher auch: Leid, Leberkrankheiten, Lampenfieber, Lehrgedicht, Lungenentzündung, Linsensuppe u. ähnl.), das a ist der älteste Vokal und als solcher der natürliche Vokal des ältesten Menschen. Also: lai = der Kummer des ältesten Menschen, d. h. der Wehruf des ewigen Juden."

[...]

Wahnfried (der spreizende Spross aus seiner Großeltern platonischer Liebe. Sehr arm und hoffnungslos, da er seinen Vater und Großvater, den ewigen Juden, niemals beerben kann).       

Lailalalailala laila!
Filzigen Vaters einziges Erbe,
Wohlige Wurmsaamenweis'!
Den Feldruf des Vaters zum Leiblied verlängernd
Durchzieh' ich die Zonen mit zähem Gezirpe.3

3 "Der Stabreim Z bedeutet immer etwas Unangenehmes, wie: Zwiebel, etwas Spitzes, wie: Zahnstocher; kurz, einen Gegenstand des Abscheus (Zorn, Zoll, Zumpt, Zehrfieber). Dass die Vögel zwitschern, ist ein Irrthum der Natur."

[...]

Wahnfried (lauscht an einem selbsterfundenen Pantomikrophon, das er in den glühendflüssigen Tiefen der Erde versenkt hat. Plötzlich bricht er in brausenden Jubel aus).

Entdeckt! entdeckt! der Donner der Erde
Das Winseln des Weltalls ich kies' es zum Kosen.
Was im Wogen der Welt verwirbelt, verwickelt
Nur leise lispelt, ich hab' es erlauscht.
Aus dem Quarren und Quaken, dem Quiseln und Quängeln,
Aus dem Plärren und Plappern, dem Planschen und Planschen,
Aus dem Rasseln und Reiben und Raunzen und Rollen4,
Aus dem Paffen und Puffen und Pedden und Poltern,
Aus dem Miauen und Maulen und Mucken und Murren5
Wahrnahm' ich Wunderkind Weltenbewegung!
Ich höre der Erde Hasten und Eilen,
Höre unendliche Harmonie!
Dauermelodie!

4 "Der Stabreim R ist immer musikalisch. Daher Richard."

5 "Das M bedeutet das Mühsame, Gequälte, so Meyerbeer, Mendelssohn, auch Mozart."

Ahasverus (dankbar herzutretend).       

»Nur wenn was weset, was länger weilet,
Als mein lustloses Leben, so wird mir Erlösung.«
Nichts währet lieber und weilet länger
Als, Wahnfried, Dein wuchtiges Wundergeword'nes,
Deine dunkle Dauermelodie.
Sie ist so unendlich, dass der ewige Jude
Wie ein Kind sich vorkommt.
Erlöst durch die Länge des laubgrünen Liedes
Wall' ich nach Walhall, wenn die Würgengel Wagners6
Den Hebräer Ahasver nicht hinterrücks hecheln.
Steht still, staubstarrende Stiefel. Ich sterbe!
Dauermelodieendichter, hab' Dank!

6 "Der Stabreim W bedeutet die Gottheit, wie: Walhall, Wotan, Wolkenkukuksheim, Wille, Witzliputzli. Darum: Wagner. Siehe: Richard."

(Ahasverus ist von seinem Fluche erlöst und stirbt.)


4.1.4. lāṭānuprāsa m. - Wortwiederholung


Gerow: lāṭa = "a region", anuprāsa = "throwing after, alliteration"

शाब्दस्तु लाटानुप्रासो भेदे तात्पर्यमात्रतः ॥८१ ख॥
पदानां सः पदस्यापि वृत्तावन्यत्र तत्र वा ।
नाम्नः स वृत्त्यवृत्त्योश्च तदेवं पञ्चधा मतः ॥८२॥

śābdas tu lāṭānuprāso bhede tātparya-mātrataḥ ॥81b॥
padānāṃ saḥ padasyāpi vṛttāv anyatra tatra vā ।
nāmnaḥ sa vṛtty-avṛttyoś ca tad evaṃ pañcadhā mataḥ ॥82॥

Lāṭānuprāsa besteht aus (wiederholten) Worten, der Unterschied besteht nur in ihrer Intention (d.h. sie haben eine andere semantische Funktion).

Laṭānuprāsa ist fünffach

  1. die Wiederholung mehrerer Wörter
  2. die Wiederholung eines einzelnen Wortes
  3. die Wiederholung eines Kompositionsglieds im selben Kompositum
  4. die Wiederholung eines Kompositionsglieds in einem anderen Kompositum
  5. die Wiederholung eines Worts sowohl in einem Kompositum als auch außerhalb eines Kompositums

Lāṭa ist eine Region, vermutlich = Rāṛh (রাঢ়) = ungefähr das heutige Westbengalen


Abb.: Vermutliche Lage von Lāṭa
[Bildquelle: CIA. -- Public domain]

Deutsche Beispiele:

Anonym: Im Blumenladen

Was darf ich Ihnen geben? - Hören Sie, diese Blumen dort ganz oben, sind die künstlich? -- Natürlich. -- Wirklich? Die sehen so künstlich aus. -- Das hab ich doch gesagt. -- Ja, eas nun: sind sie jetzt natürlich oder künstlich? -- Natürlich künstlich: Sie sehen es doch selber.

Sprichwort:

Mitgiftheirat ist Heirat mit Gift.

Franz Grillparzer <1791 - 1872>:

Eifersucht ist eine Leidenschaft,
Die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Manche jungen Männer sind Liebhaber, nicht, weil sie die Liebe haben, sondern weil sie das Haben lieben. Sie betrachten das Herz des Mädchens als Durchgangskammer zur Kasse des Vaters.

Zum Lieben gehören zwei. Er muss lieben, sie muss haben. Wenn sein Lieben Gegenhaben findet, findet ihr Haben Gegenliebe.

Warum sagt man eigentlich dankbar ? Weil der Mensch gewöhnlich keinen Dank bar ausdrückt.

Die Frauen hassen nichts mehr, als Vorreden, lieben nichts mehr, als Nachreden, lassen sich gerne vieles einreden, aber selten etwas ausreden.

Die deutsche Sprache gefällt sich in barocken Zusammensetzungen: so hat sie zwei kurios zusammengesetzte Wortkinder, "geistreich" und "armselig". Welche Zusammenstellung! Wer Geist hat, ist selten reich, wer arm ist, ist nie selig."

Anastasius Grün <1806 - 1876>: Spaziergänge eines Wiener Poeten

Östreich's Volk ist's, ehrlich, offen, wohlerzogen auch und fein,
Sieh, es fleht ganz artig: Dürft' ich wohl so frei sein, frei zu sein?

Heinrich Seidel <1842-1906>:

Im leisen und im lauten Spiel
Ertöne süß mein Lautenspiel,
Und muss ich um was Liebes leiden,
Verkläre du mein Liebesleiden
Und lass dein holdes Saitenklingen
Wie Gold nach allen Seiten klingen,
Dass niemand ahnt beim Liederklang,
Wie nur aus Schmerz mein Lied erklang.

Otto Sommerstorff <1859 - 1934>: Der künstliche Diamant

Wohl dem, dem dem dem Demant
vollkommen gleichen Stein
Wird auf die Spur zu kommen
Dereinst beschieden sein!


4.1.5. yamaka n. - (eine Art Binnenreim)


Gerow: "doubled or restraint"

अर्थे सत्यर्थभिन्नानां वर्णानां सा पुनःश्रुतिः ।
यमकम् । पादतद्भागवृत्ति तद्यात्यनेकताम् ॥८३॥

arthe saty artha-bhinnānāṃ varṇānāṃ sā punaḥ-śrutiḥ ।
yamakam pāda-tadbhāga-vṛtti tad yāty anekatām ॥83॥

Die Wiederholung von Lauten in derselben Ordnung mit verschiedener Bedeutung - falls eine Bedeutung vorliegt - heißt Yamaka (n.).

Es sind Formen von Binnenreimen.

Beispiele aus dem Sanskrit:

pātu vo bhagavān viṣṇuḥ
sadā navaghanadyutiḥ |
sa dānava-kuladhvaṃsī
sa sāna-vara-danti-hā ||

Es beschütze euch der erhabne Viṣṇu stets, der den Glanz einer frischen Wolke hat, er, der das Geschlecht der Dānavas zu Falle brachte und den besten der brünstigen Elefanten tötete. (Daṇḍin, Übersetzung: Winternitz)

Deutsche Beispiele:

Anonym:

Grün ist die Hoffnung
Und grün der Salat,
Und grün ist der Jüngling,
Der keinen Schnurrbart hat.

Friedrich Rückert <1788-1866>: Grammatische Deutschheit

Neulich deutschten auf deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend,
Sich überdeutschend am Deutsch, welcher der Deutscheste sei.
Vier deutschnamig benannt: Deutsch, Deutscherig, Deutscherling, Deutschdich:
Selbst so hatten zu deutsch sie sich die Namen gedeutscht.

Jetzt wettdeutschten sie, deutschend in grammatikalischer Deutschheit,
Deutscheren Komparativ, deutschesten Superlativ.
"Ich bin deutscher als deutsch." "Ich deutscherer." "Deutschester bin ich."
"Ich bin der Deutschereste oder der Deutschestere."

Drauf durch Komparativ und Superlativ fortdeutschend,
Deutschten sie auf bis zum - Deutschesteresteresten,
Bis sie vor komparativistisch- und superlativistischer Deutschung
Den Positiv von deutsch hatten vergessen zuletzt.

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Der Mensch kommt aus dem Staub, kämpft siebzig Jahre gegen den Staub und macht sich endlich aus dem Staub, um sich selbst zu Staub zu machen.

Anonym (1857):

Die Harmonie
Verkläre deines Daseins Lust!
Der Harm - o nie
Mög' wohnen er in deiner Brust.

Heinrich Seidel <1842-1906>: Begnüge dich, Liebste!

Motto:
Wohl kann ich dich zum Schokoladenladen laden,
Doch nicht mit dir in Baden-Baden baden.

Ich kann dir nicht, was andre schenken, schenken
Und nicht die Welt aus den Gelenken lenken.
Du darfst dich nicht auf Schmuck und Spitzen spitzen
Wirst nicht mit mir auf goldnen Sitzen sitzen,
Jedoch, der ich des Dichters Habe habe,
Vermag es, dass dich and're Labe labe:
Schon fühl' ich es von Lieder-Keimen keimen,
Ich will sie dir in goldnen Reimen reimen,
Dass dir gar lieblich ihr Getöne töne,
Und dich der Verse Schmuck verschöne, Schöne!

Otto Sommerstorff <1859 - 1934>: Unterschied

Wenn eine Sau ergraut ist,
ist sie ein altes Schwein -
wenn eine Sauerkraut isst,
braucht sie es nicht zu sein. --


4.1.6. śleṣa m. - Wortspiel (Paronomasie)


Gerow: "adhesion or conjoined: paronomasia; pun; double-entendre"

वाच्यभेदेन भिन्ना यद् युगपद्भाषणस्पृशः ।
श्लिष्यन्ति शब्दाः श्लेषो
ऽसावक्षरादिभिरष्टधा ॥८४॥

vācya-bhedena bhinnā yad yugapad bhāṣaṇa-spṛśaḥ ।
śliṣyanti śabdāḥ śleṣo 'sāv akṣarādibhir aṣṭadhā ॥84॥
bhedābhāvāt prakṛtyāder bhedo 'pi navamo bhavet ।85a।

Ein Wortspiel (śleṣa m.) liegt vor, wenn Wörter, die sich aufgrund der Bedeutung unterscheiden, verschmelzen, weil sie in der Aussprache gleich sind (d.h. wenn es Homonyme sind).

Das Wortspiel (śleṣa m.) ist aufgrund von Buchstaben usw. achtfach.

Beispiele aus dem Sanskrit:

Erste Bedeutung:

"Glänzt wohl, von zarten Blütenbüscheln gebeugt, die Jasminstaude hier,
Nachdem den Mango sie verlassen, und sehnt nach schönem Schößling sich?"

Zweite Bedeutung:

"Glänzt wohl Vāsantikā hier, nachdem sie (ihren Geliebten) Makanda verlassen,
Von den zarten Quasten (ihres Mantels) gebeugt, sich nach schönem Liebesgenuss sehnend?" (Vāmanabhaṭṭabāṇa, Übersetzung: Winternitz)
 

"So lange das Licht des Dichters Bhāravi (der Lichtstrahlen der Sonne) hell leuchtet, lässt sich der Dichter (Monat) Māgha nicht sehen; sobald aber der Dichter (Monat) Māgha sich erhebt, ist das Licht Bhāravi's (der Sonne) wie das der Sonne." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Anonym: Es lebt der Eisbär in Sibirien

Es spuckt der Bäcker in die Hände,
es spuckt die Köchin ins Ragout,
es spuckt der Lausbub an die Wände,
in meinem Herzen spukst nur Du!

Es knickst im Schloss die Gouvernante,
die Mädchen knicksen immerzu.
Es knickst die Nichte vor der Tante,
mein armes Herze knickst nur du!

Es haut der Förster seine Föhren,
es haut die Magd die Türen zu,
es haut der Lehrer seine Gören,
in meinem Herzen haust nur du!

Aus Eimern säuft des Esels Stute,
der Säufer säuft ohn' Rast und Ruh',
der Jüngling säuft im Übermute,
in meinem Herzen seufzt nur du!

Es rußt bei Krupp der Eisenhammer,
es rußt der Schornstein immerzu,
es rußt der Ofen in der Kammer,
in meinem Herzen ruhst nur du!

Es bläst der Fritz in die Matratze,
es bläst der Seewind auf's Kanu,
laut fauchend bläst die schwarze Katze,
mein armes Herze blähst nur du!

Es weckt der Hahnenschrei die Hühner,
es weckt der Wecker uns im Nu,
den Grafen weckt der Kammerdiener,
in meinem Herzen wächst nur du!

Klicken!: Melodie dazu

[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/eslebtde.html. -- Zugriff am 2012-08-13]

Franz Grillparzer <1791 - 1872>: Geänderter Nationalgeist

»Die Deutschen handeln? In der Tat!
Was konnte sie denn so verwandeln?«
Sie handeln, doch nicht in der Tat,
Nur Waren sinds, womit sie handeln.

Franz Grillparzer <1791 - 1872>: Niederösterreichisch

Der Minister des Äußern
Kann sich nicht äußern,
[...]

Franz Grillparzer <1791 - 1872>:

Zwischen nichts wissen und Nichts wissen,
In diese zwei Teile ist die Menschheit zerrissen.
Aber Nichts wissen
Ist fruchtlos bis zum Tode beflissen,
Indes nichts wissen
Ein gottgefälliges Ruhekissen.

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Inwiefern sind Minister und Pantoffeln sich oft so gleich? Man gewinnt beide oft erst dann lieb, wenn sie abgetreten sind.

"Paronomasīe (griech., lat. Agnominatio, Annominatio), eine Redefigur, beruhend auf der Zusammenstellung zweier Wörter von demselben Stamm, aber verschiedener Gattung (z. B. Schlachten schlagen), oder zweier gleich oder ähnlich lautender, aber der Bedeutung nach verschiedener Wörter (z. B. bei Schiller: »Der Rheinstrom ist geworden zu einem Peinstrom«), auch Anspielung auf einen Namen (z. B.: »Er läßt sich nennen den Wallenstein; ja, freilich ist er uns allen ein Stein des Anstoßes etc.«)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


4.1.7. citra n. - Schrift-Bild


Gerow: "glitter"

तच्चित्रं यत्र वर्णानां खड्गाद्याकृतिहेतुता ॥८५ ख॥

tac citraṃ yatra varṇānāṃ khaḍgādy-ākṛti-hetutā ॥85b॥

Schrift-Bild (citra n.) liegt dann vor, wenn die Buchstaben solche Formen wie z.B. ein Schwert bilden.

Beispiele aus dem Sanskrit:

रसा
साररसासार
सायताक्ष
क्षतायसा
सातावात
तवातासा
रक्षतस्त्वस्त्वतक्षर

 

भासते
प्रतिभासार
रसाभाता
हताविभा
भावितावात
शुभा
वादे
देवाभा
वत
ते
सभा

 

Solche Kunststücke sind für Mammaṭa aber vorwiegend Spielereien, die keine echte Poesie sind, sonder nur das Geschick des Verfassers zeigen sollen.

Deutsche Beispiele:

Friedrich Theodor Vischer: Faust III

STIEFELKNECHT im tiefsten Bass.

Ung
Lung
Ickelung
Wickelung
Twickelung
Entwickelung
Twickelung
Wickelung
Ickelung
Lung
Ung

Christian Morgenstern (1871 - 1914): Die Trichter

Zwei Trichter wandeln durch die Nacht.
Durch ihres Rumpfs verengten Schacht
fließt weißes Mondlicht
still und heiter
auf ihren
Waldweg
u.s.
w.

Anonym:

Unsre liebe gute Tante
Könnte leben noch in Ruh,
Wenn sie nicht gestorben wäre:
Es ging so furchtbar schrecklich zu:
     Kaffee trank sie
     und da sank sie
     auf die Bank sie
     hin vor Schrecken
     Hitze, sagt sie
     hätt sie, hätt sie
     schon war weg sie


4.1.8. punaruktavadābhāsa m. - Scheinbare Tautologie


Gerow: "appearence of redundancy"

पुनरुक्तवादाभासो विभिन्नाकारशब्दगा ।
एकार्थतेव ॥८६॥

punarukta-vadābhāso vibhinnākāra-śabda-gā ।
ekārthateva śabdasya tathā śabdārthayor ayam ॥86॥

Scheinbare Tautologie (punaruktavadābhāsa m.) liegt dann vor, wenn es fälschlich so scheint, als ob durch verschieden lautende Worte dieselbe Bedeutung ausgedrückt würde.

Sanskrit-Beispiel:

z. B. tanu-vapu = nicht "Körper-Körper", sondern "schlanker Körper"

Deutsches Beispiel:

"Reich, Imperium, bist du an Schätzen!"

Sie kann z.B. auch entstehen, indem man die Wörter falsch abtrennt.


4.2. arthālaṃkāra m. Sinn-Schmuckmittel (Ausdrucksfiguren)


4.2.1. upamā f. - Gleichnis / Vergleich


Gerow: "comparision"

साधर्म्यमुपमा भेदे पूर्णा लुप्ता च ॥ अग्रिमा ।
श्रौत्यार्थी च भवेद्वाक्ये समासे तद्धिते तथा ॥८७॥

sādharmyam upamā bhede pūrṇā luptā ca॥ agrimā ।
śrauty ārthī ca bhaved vākye samāse taddhite tathā ॥87॥

Ein Gleichnis / Vergleich (upamā f.) ist eine Ähnlichkeit von Eigenschaften während gleichzeitig ein Unterschied (zwischen Verglichenem und Vergleichendem) vorliegt.

Es gibt

Die erste Form kann sein

Ein Vergleich kann ausgedrückt werden durch

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Einem Wachtturm auf der Königsstraße,
Wenn der bleiche Schimmer einer Lampe
Nachts an ihm vorübergleitet, glich da
Jeder von den Fürsten, der erbleichte,
Wenn Indumatī an ihm vorüber
Schritt und sein nicht achtend weiterging." (Kālidāsa, Übersetzung: Winternitz)

"Wie Freigebigkeit bei einem Armen,
Wie Waffenkunst bei einem Feigling,
Wie Dreistigkeit bei einem Toren,
So ist die Kenntnis der Poetik
Bei dem, der nicht zum Dichter geboren." (Bhāmaha, Übersetzung: Winternitz)

"Sonst ist Geduld des Mannes Schmuck, wie Scham des Weibes; -
Bei angetanem Schimpf ziemt Tapferkeit dem Manne,
Wie Unverschämtheit bei der Liebeslust dem Weibe."  (Māgha, Übersetzung: Winternitz)

"So wie die Flamme des Lichts auch umgewendet hinaufstrahlt,
So, vom Schicksal gebeugt, strebet der Gute empor." (Bhartṛhari, Übersetzung: Winternitz)

"Wie jener Mann, der in die Flut versinkt,
Die Schlange sieht und, ehe er ertrinkt,
Im Zweifel ist, ob er sie fassen soll,
So bin auch ich jetzt der Bestürzung voll." (Hitopadeśa, Übersetzung: Hertel)

"Wie in ein Haus, in dem Schlangen nisten, oder wie in einen Wald, der mit Raubtieren erfüllt ist, wie in einen See, der mit einer Menge schöner Wasserrosen versehen, aber zugleich voll von Krokodilen ist: so ungern und voller Angst begibt man sich, als wenn es ins Meer ginge, in die Behausung der Fürsten hier, die mit Bösewichtern aller Art, mit Lügnern, gemeinen und unehrenhaften Menschen besetzt ist." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Hoch lebe Śiva, die Lampe der Erkenntnis: wie diese mit ihrer flackernden Flamme, so leuchtet er mit der reizenden Mondsichel, die er als Diadem auf seinem Haupte trägt; wie diese die Lichtmotte, so hat er den unsteten Liebesgott spielend versengt; wie diese an des Dochtes Spitze, so schießt er bei höchster Tugend auf; wie diese die dichte Finsternis, so verscheucht er die im Innern tobende grenzenlose Unwissenheit; wie diese im Hause, so ist er im Herzen derer, die der Beschaulichkeit leben." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Das Gesicht ist langäugig und strahlend wie der Mond im Herbste, die Arme sind an den Schultern abschüssig, der Brustkasten ist schmal und zeigt dicht zusammenstoßende hohe Brüste, die Seiten sind wie geglättet, die Taille ist mit den Händen zu umspannen, die Lenden haben starke Backen, die Füße gebogene Zehen: gerade so, wie eines Tanzlehrers Sinn es sich nur wünschen könnte, ist ihr Leib zusammengefügt worden." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Zu den verschiedenen Formen des Vergleichs siehe Kārikā 88 - 90 samt Kommentar.

Deutsche Beispiele:

Christoph Wernicke <1661 - 1725>: Margaritte

Ein schönes Kind hieß Margarit',
Und das hatt' an mich eine Bitt',
Um es dem Namen nach der Perle zu vergleichen,
Als der das Wasser nicht die Edelsteine reichen:
Ein Demant glänz' erst denn genug,
Wenn er in Silber sitzt, und ihm der Schmutz benommen;
Die Perl' hergegen sei in der Geburt vollkommen,
Und ihre Blöß' ihr ganzer Schmuck:
Mein Fräulein, sagt' ich, hört, dies kann nicht wohl geschehen,
Ich hab' euch denn erst nackt gesehen.

Ephraim Moses Kuh <1731 - 1790>: Adelreich und Adelheid

Welch ein wohlgepaartes Paar! Beide sind dem Monde gleich:
Adelheid durch Unbestand und durch Hörner Adelreich.

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>:

Dieses ist das Bild der Welt,
Die man für die beste hält:
Fast wie eine Mördergrube,
Fast wie eines Burschen Stube,
Fast so wie ein Opernhaus,
Fast wie ein Magisterschmaus,
Fast wie Köpfe von Poeten,
Fast wie schöne Raritäten,
Fast wie abgesetztes Geld
Sieht sie aus, die beste Welt.

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>: Iphigenie auf Tauris

IPHIGENIE.
Denn wie die Flut mit schnellen Strömen wachsend
Die Felsen überspült, die in dem Sand
Im Ufer liegen: so bedeckte ganz
Ein Freudenstrom mein Innerstes.

Franz Grillparzer <1791 - 1872>: Das korrigierte Gesuch

Mit Strichen und mit Zeichen allerhand
Habt mein Gesuch ihr rings bemalt, beschrieben,
Es gleicht jetzt einem grünen Wiesenland,
Durch das man eine Ochsenschar getrieben.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Plaudertasche

Du liebes Plappermäulchen,
Bedenk dich erst ein Weilchen
Und sprich nicht so geschwind.
Du bist wie unsre Mühle
Mit ihrem Flügelspiele
Im frischen Sausewind.

So lang der Müller tätig
Und schüttet auf was nötig,
Geht alles richtig zu;
Doch ist kein Korn darinnen,
Dann kommt das Werk von Sinnen
Und klappert so wie du.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Balduin Bählamm der verhinderte Dichter

Nicht so der Dichter. Kaum missfällt
Ihm diese altgebackne Welt,
So knetet er aus weicher Kleie
Für sich privatim eine neue
Und zieht als freier Musensohn
In die Poetendimension,
Die fünfte, da die vierte jetzt
Von Geistern ohnehin besetzt.
Hier ist es luftig, duftig, schön,
Hier hat er nichts mehr auszustehn,
Hier aus dem mütterlichen Busen
Der ewig wohlgenährten Musen
Rinnt ihm der Stoff beständig neu
In seine saubre Molkerei.

Gleichwie die brave Bauernmutter.
Tagtäglich macht sie frische Butter.
Des Abends spät, des Morgens frühe
Zupft sie am Hinterleib der Kühe
Mit kunstgeübten Handgelenken
Und trägt, was kommt, zu kühlen Schränken,
Wo bald ihr Finger, leicht gekrümmt,
Den fetten Rahm, der oben schwimmt,
Beiseite schöpft und so in Masse
Vereint im hohen Butterfasse.
Jetzt mit durchlöchertem Pistille
Bedrängt sie die geschmeid'ge Fülle.
Es kullert, bullert, quitscht und quatscht,
Wird auf und nieder durchgematscht,
Bis das geplagte Element
Vor Angst in Dick und Dünn sich trennt.
Dies ist der Augenblick der Wonne.
Sie hebt das Dicke aus der Tonne,
Legt's in die Mulde, flach von Holz,
Durchknetet es und drückt und rollt's,
Und sieh, in frohen Händen hält se
Die wohlgeratne Butterwälze.

So auch der Dichter. – Stillbeglückt
Hat er sich was zurechtgedrückt
Und fühlt sich nun in jeder Richtung
Befriedigt durch die eigne Dichtung.

Anonym: Münchener Bilderbogen: Illustrierte Redensarten


Der heult wie ein Schlosshund. -- Die Meckert wie eine Ziege. -- Der passt auf wie ein Pudel.

Otto Sommerstorff <1859 - 1934>: An Marie

Du bist wie eine Dusche
So fein, so rein, so kalt,
Du bist wie eine Dusche
In einer Badanstalt.

In deiner Näh ergreift mich
Der Liebe Allgewalt,
Doch du – es überläuft mich –
Du bleibst so rein, so kalt.

Ich stammle: »Ach, Mariechen!«
Vergeh vor Liebe fast –
Du streichst den Mops, das Viehchen,
Das du so gerne hast.

Ich murmle was von »Sehnen«,
Von »heißer Herzensglut« –
Du unterdrückst das Gähnen
Und reichst mir meinen Hut.

Leb wohl! Ich geh nach Hause,
Ich lasse dich allein,
Du bist wie eine Brause,
So kalt, so fein – so rein.

Verschnupft an Haupt und Herzen
Trag ich mein tiefes Weh
Und denke dein mit Schmerzen,
So oft ich baden geh!...

Otto Julius Bierbaum <1865 - 1910>: Der lustige Ehemann

Ringelringelrosenkranz,
Ich tanz mit meiner Frau,
Wir tanzen um den Rosenbusch,
Klingklanggloribusch,
Ich dreh mich wie ein Pfau.

"Gleichnis (lat. Simile), eine poetische Ausdrucks- oder Darstellungsweise, die neben ein zu charakterisierendes Objekt, eine Eigenschaft, ein Geschehen etc. vergleichend ein andres stellt, das, einer andern Lebenssphäre angehörig, doch mit jenem ein charakteristisches Merkmal gemein hat, durch dessen Heranziehung die Bedeutung des unmittelbar gegebenen Lebensinhalts schärfer hervorgehoben wird (s. ð Ästhetische Apperzeptionsformen). Zugleich muss die Übereinstimmung oder der Vergleichspunkt (das tertium comparationis) natürlich und ungesucht in die Augen springen. Da nun die Übereinstimmung niemals vollständig sein wird, so kann man von allen Gleichnissen sagen, dass sie hinken (»omne simile claudicat«). – Das Gleichnis kann sich auf einzelne Vorstellungen (Gegenstände, Eigenschaften, Zustände, Geschehnisse) oder auf größere Vorstellungskomplexe, ganze Vorstellungsreihen erstrecken; das letztere ist z. B. für die Homerischen Epen charakteristisch. Die Grenze von Gleichnis und ð Metapher (s. d.) ist fließend: ein kurzes Gleichnis ist der Metapher oft zum Verwechseln ähnlich, doch ist es bei dieser die Regel, dass die zur Vergleichung herangezogene Analogievorstellung unmittelbar als Stellvertreterin der eigentlichen Vorstellung auftritt, diese also gar nicht zum Ausdruck gelangt. Die Parabel unterscheidet sich von dem gewöhnlichen Gleichnis außer durch die größere Ausführlichkeit durch die didaktische Tendenz, die auch in der ð Fabel (s. d.) vorwaltet; doch während bei der Parabel die Anwendung der sittlichen Wahrheit auf einen einzelnen Fall bezweckt wird, dient die Fabel zur Verkörperung einer allgemeingültigen Wahrheit."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


4.2.2. ananvaya m. - Vergleich mit sich selbst (Unvergleichliches)


Gerow: "lack of consequence, self-comparision"

उपमानोपमेयत्वे  एकस्यैवैकवाक्यगे ।
अनन्वयः ॥९१॥

upamānopameyatve ekasyaivaikavākyage ।
ananvayaḥ ॥91॥

Vergleich mit sich selbst (Unvergleichliches, ananvaya m.) liegt vor, wenn in einem einzigen Satz dasselbe Objekt Gegenstand und Maß der Vergleichs ist.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Dein Gesicht, o Schlankleibige, lässt sich nur mit deinem eigenen Gesicht vergleichen, deine Augen nur mit deinen eigenen Augen, deine Gestalt nur mit deiner eigenen Gestalt, du selbst nur mit dir selbst." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Martin Opitz <1597 - 1639>:

Ich gleiche nicht mit dir des weißen Mondens Licht;
Der Monde fällt und steigt, du bleibst in einem Scheine;
Ja nicht die Sonne selbst, die Sonn' ist ganz gemeine,
Gemein' auch ist ihr Glanz, du bist gemeine nicht,

Du zwingst durch Zucht den Neid, wie sehr er auf dich sticht.
Ich mag kein Heuchler sein, der bei mir selbst verneine
Das, was ich jetzt gesagt; es gleichet sich dir keine,
Du bist dir ähnlich selbst; ein ander Bild gebricht,

Christian Wernicke <1661 - 1725>:  An Mathilde wegen ihres Gemälds

Du schminkst Gesicht und Brust mit Blumen-reichen Farben,
Dies tut dein Mahler nicht, der stellt die Fleck- und Narben
Mit grober Farbe für: Mathilde, glaub', es ist
Dein Bild dir ähnlicher, als du dir selber bist.


4.2.3. upameyopamā f. - gegenseitiger Vergleich


Gerow: "comparision of the compared"

विपर्यास उपमेयोपमा तयोः ॥९१ ख॥

viparyāsa upameyopamā tayoḥ ॥91b॥

Gegenseitiger Vergleich (upameyopamā f.) ist der Wechsel von beiden (Vergleichendem und Verglichenem).

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Sein Verstand glänzt wie sein Reichtum und sein Reichtum glänzt wie sein Verstand."

Deutsche Beispiele:

Angelus Silesius <1624 - 1677>: Die Zeit ist Ewigkeit

Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit,
So du nur selber nicht machst einen Unterscheid.

Christian Wernicke <1661 - 1725>: Heirat des alten Chlorus

Der alte Chlorus nahm ein Weib,
Begabt mit einem fruchtbarn Leib,
Doch ward kein Kind ans Licht gebracht,
Dass dem vermeinten Vater schlacht:
Das Ding kam ihm verdächtig vor,
Und er sagt's seinem Freund ins Ohr;
Sein Freund, der leichtlich merken kunnt',
Dass es nicht recht mit Chlorus stund,
Dass er schon Kindisch worden sei,
Sprang ihm mit diesem Trostwort bei:
Freund, sagt' er, habe guten Mut,
Und denke deine Sach' ist gut;
Wo du auf Gleichheit stehst, so denk' auf diesen Streich:
Die Kinder sind nicht dir, doch du bist ihnen gleich.


4.2.4. utprekṣā f. - bildlicher Ausdruck (Als ob)


Gerow: "ascription"

संभावनमथोत्प्रेक्षा प्रकृतस्य समेन यत् ।९२ क्।

saṃbhāvanam athotprekṣā prakṛtasya samena yat ।92a।

Bildlicher Ausdruck (Als ob) (utprekṣā f.) liegt dann vor, wenn das Vorliegende unter etwas Ähnlichem vorgestellt wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"die Schönheit des Lotus haftet an deinen Füßen" (es ist als ob die Schönheit des Lotus an deinen Füßen haftete)

"Durch Pressen der Arme und Reißen der Haare,
Durch Schlagen von Wunden mit Nägeln und Zähnen
Ward der in den zarten Frauenleibern schlummernde Gott
Der Liebe geweckt und schlug die hellen Augen auf." (Māgha, Übersetzung: Winternitz)

"Glühend heiße Winde wehten, als wäre in ihnen die Hitze der Seufzerhauche der durch die Trennung von ihren Geliebten gequälten Wanderer aufgespeichert." (Somadeva, Übersetzung: Winternitz)

"Der Wind, den wir jetzt in der kalten Jahreszeit haben, pflegt den Schönen gegenüber den Liebsten zu spielen: er verwirrt ihnen das Haar, lässt sie die Augen schließen, zupft gewaltsam an ihrem Gewande, erzeugt ein allgemeines Rieseln der Haut, presst sich fest an sie, bringt sie allmählich zum Zittern und setzt den hörbar bebenden Lippen ohne Unterlass zu." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Der Schatten flüchtet sich, als wäre er ermüdet, zugleich mit den Wanderern unter die Bäume; die Kühle des Wassers im Teiche zieht sich, als wäre sie erschöpft, zugleich mit den Fischen auf den Grund zurück; die Strahlen der Sonne schlürfen, als wären sie erhitzt, zugleich mit den Menschen Wasser; der Schlaf begibt sich, als wäre er erschlafft, zugleich mit den Geliebten in die inneren Gemächer." (Schilderung der Mittagszeit im Sommer.) (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Des Grames fürchterliches Feuer mit seiner auflodernden Flamme zerreißt mir, ich möchte sagen, die Gelenke, dörrt mir gleichsam den Leib aus und versengt mir beinahe das Herz." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Martin Opitz <1597 - 1639>:

Ach Liebste, lass uns eilen,
Wir haben Zeit,
Es schadet uns verweilen
Uns beiderseit.

Der edlen Schönheit Gaben
Fliehen Fuß für Fuß,
Dass alles, was wir haben,
Verschwinden muss.

Der Wangen Zier verbleichet,
Das Haar wird greis,
Der Augen Feuer weichet,
Die Brunst wird Eis.

Das Mündlein von Korallen
Wird ungestalt,
Die Händ' als Schnee verfallen,
Und du wirst alt.

Drumb lass uns jetzt genießen
Der Jugend Frucht,
Eh' als wir folgen müssen
Der Jahre Flucht.

Wo du dich selber liebest,
So liebe mich,
Gib mir das, wann du gibest,
Verlier auch ich.

Hans Aßmann von Abschatz <1646 - 1699>: Bedörnte Rosen

Rosen blühn auff deinen Wangen,
Lilien führt die Stirne mit;
Aber den, der nahe tritt,
Stechen Dornen, Bienen, Schlangen.

Joseph Freiherr von Eichendorff <1788 - 1857>: Mondnacht

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Heinrich Heine <1797 - 1856>: Über die französische Bühne

[Über Alexandre Dumas:] Sein Kopf ist ein Gasthof, wo manchmal gute Gedanken einkehren, die sich aber dort nicht länger als über Nacht aufhalten; sehr oft steht er leer.

Anonym: Die Gedanken sind frei (ca. 1815)

3. Und sperrt man mich ein
In finsteren Kerker,
Ich spotte der Pein
Und menschlicher Werke.
Denn meine Gedanken
Zerreißen die Schranken
Und Mauern entzwei,

Die Gedanken sind frei!

Klicken! Melodie

[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/diegedan.html. -- Zugriff am 2012-09-11]

Otto Julius Bierbaum <1865–1910>: Das vielgeliebte Weib

Es schrie das Weib. Die vier Verliebten schrien.
Es schrie der reiche Mann und seine Knechte.
Es war, als ob ein Heer von Moslemin
Für Allah schrie im heiligen Gefechte.


4.2.5. sasaṃdeha m. - Rhetorischer Zweifel


Gerow: saṃdeha = "doubt"

ससंदेहस्तु भेदोक्तौ तदनुक्तौ च संशयः ॥९२ ख॥

sasaṃdehas tu bhedoktau tad-anuktau ca saṃśayaḥ ॥92b॥

Rhetorischer Zweifel (sasaṃdeha m.) ist Zweifel, unabhängig davon, ob er Unterschied (zwischen dem Gegenstand des Zweifels und der Vermutung) ausgedrückt wird oder nicht.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Ist das die Sonne? - Aber die Sonne wird von sieben Pferden gezogen." (Ausdruck des Unterschieds)

"War Kāma ihr Schöpfer? Oder der herrliche Mond?" (Ohne Ausdruck des Unterschieds)

"Nur jene Dichter sind nicht recht bei Trost,
Die ewig singen von des Weibes Schwäche.
Durch deren Augenwink die Götter selbst
Gefesselt werden, heißen solche schwach?" (Bhartṛhari, Übersetzung: Winternitz)

"Ein Fisch lebt nur fürs Baden, eine Schlange nährt sich vom Winde, ein Widder lebt von Blättern, eine Maus hält sich in einer Höhle auf, ein Löwe im Walde, ein Reiher gibt sich der Vertiefung hin, der Ochs eines Ölmüllers wandert umher, ein Götzenträger zieht von Ort zu Ort und hat beständig mit Göttern zu tun. Welchen Lohn haben nun diese für solche Kasteiungen? Lass dir also die Reinheit des Herzens angelegen sein!" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau <1616 - 1679>: Auf ihre Schultern

Ist dieses Schnee? Nein, nein, Schnee kann nicht Flammen führen.
Ist dieses Elfenbein? Bein weiß nicht weiß zu sein.
Ist hier ein Glatter Schwan? Mehr als der Schwanen Schein.
Ist weiche Woll allhier? Wie kann sich Wolle rühren?
Ist Alabaster hie? Er wächst nicht bei Saphiren.
Ist hier ein Lilien-Feld? Der Acker ist zu rein.
Was bist du endlich doch? Weil Schnee und Elfenbein,
Weil Alabaster, Schwan, und Lilien sich verlieren.
Du schaust nun, Lesbie, wie mein geringer Mund
Vor deine Schultern weiß kein rechtes Wort zu finden,
Doch dass ich nicht zu sehr darf häufen meine Sünden,
So macht ein kurzer Reim dir mein Gemüte kund:
Muss Atlas und sein Hals sich vor dem Himmel biegen,
So müssen Götter nur auf deinen Schultern liegen.

Friedrich Schiller <1759 - 1805>: Analytiker

Ist denn die Wahrheit ein Zwiebel, von dem man die Häute nur abschält?
Was ihr hinein nicht gelegt, ziehet ihr nimmer heraus.

Moritz Gottlieb Saphir <1795 - 1858>:

Soll ich die Rose zu dir schicken,
Du Holde mit dem süßen Angesicht?
Die Rose könntest du zerpflücken,
Die Rose, nein, die Rose send' ich nicht!

Soll ich die Sterne zu dir senden,
Mit ihrem milden Liebeslicht?
Die Sterne könnten grell dich blenden,
Die Sterne, nein, die Steine send' ich nicht!

Soll ich das Lied nun zu dir schicken,
Das mit dem Klang der Seele spricht?
Es kann doch mein Empfinden nicht ausdrücken,
Das Lied, ach nein, das send' ich nicht!

Soll ich dir hunderttausend Gulden schicken,
Mit ihrem schönen, reinen Goldgewicht?
Ja, ich will dir hunderttausend Gulden schicken,
Allein, mein liebes Kind, ich hab' sie nicht!

Ludwig Eichrodt <1827 - 1892>: Verrückte Akzente. An Laura!

Ja, Dein Herz, das starke, feste,
ist's, Du Angebeteteste
härter nicht als Felsgestein?

O, so gib's in meine Hände
und es schlägt der Wildrasende
sich mit ihm den Schädel ein!


4.2.6. rūpaka n. - Metapher


Gerow: "having the form of, metaphorical identification"

तद्रूपकमभेदो य उप्मानोपमेययोः ।९३ क्।
tad rūpakam abhedo ya upamānopameyayoḥ ।।

Eine Metapher (rūpaka n.) liegt vor, wenn zwischen Verglichenem und Vergleichendem nicht unterschieden wird.

d.h. wo es kein explizites oder implizites vergleichendes "wie" gibt.

Zu den einzelnen Formen siehe Kārikā 92b - 95 samt Kommentar

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Deine Finger waren Knospen, Blüten deine Nägelstrahlen,
Deine Arme waren Ranken: So erscheinst du wie des Frühlings Pracht in Menschenform verkörpert." (Übersetzung: Winternitz)

"Deine Augen - blaue Lotus,
Deine Zähne aus Jasmin,
Wie die herrlichste Nymphäe
Seh' ich dein Gesichtchen glühn.
Aus den Blättern zarter Pflanzen
Muss dein Leib gebildet sein, -
Ach, wie kam es, dass der Schöpfer
Nur dein Herz geformt aus Stein?" (Śṛṅgāratilaka, Übersetzung: L. v. Schroeder)

"Am Giftbaum des Lebens wachsen
Zwei nektargleiche Früchte:
Genuss des Nektars der Dichtung,
Gespräch mit guten Menschen." (Nītiratna, Übersetzung: Winternitz)

"Die lieblichen Berührungen, das holde schwanke Blickespiel der Augen,
Der Mundnymphäe würz'ger Duft, die Nektarträufelung der losen Worte,
Der Bimba-Lippe Süßigkeit! Da in Vergegenwärt'gung all der Reize
Mit Andacht das Gemüt an sie sich schmiegt; wie kann der Trennung Pein doch walten!" (Jayadeva, Übersetzung: Rückert)

"O Biene, erfreue zunächst dein lüsternes Herz an anderen blühenden Pflanzen, die deinen Druck zu tragen vermögen; warum tust du vor der Zeit und unnütz der reizenden (unschuldigen), blütenstaublosen (noch nicht menstruierenden) Knospe der Jasminstaude Gewalt an?" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Fliehe schon von fern, o Freund, vor dieser von Natur gefährlichen Schlange Weib: seine Seitenblicke sind ihres Giftes Feuer, seine Ausgelassenheit ihre aufgeblasene Haube. Ein von einer gewöhnlichen Schlange Gebissener kann durch Arzneien geheilt werden; wen die bewegliche Schlange Weib gepackt hat, den geben die Beschwörer auf." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Das eigene Selbst, o Bhārata, ist ein Fluss, in dem das Verdienst den Badeplatz darstellt, die Wahrheit das Wasser, der feste Wille das Ufer, das Mitleid die Wellen. Der Tugendhafte, der hier badet, wird rein; denn rein ist die Seele, welche stets frei von allem Verlangen ist." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Wissen ist ein Schiff, das uns über die Finsternis falscher Lehren bringt; Wissen ist das Auge der Welt, Wissen ist ein hohes Gebirge am Flusse des klugen Benehmens, Wissen entfernt moralischen Schmutz, Wissen ist ein gefügiger Zauberspruch beim Streben nach der Erlösung, reines Wissen läutert das Herz, Wissen ist die Pauke, die zum Aufbruch in die Himmelswelt angeschlagen wird, Wissen ist die Ursache des Glücks." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Nicht hat sich in Wirklichkeit der Mond hier in ein Gesicht umgewandelt, nicht sind zwei blaue Wasserrosen zu Augen geworden und eben so wenig ist der schlanke Leib aus Goldlianen gebildet; die dummen Menschen aber huldigen, obgleich sie das wahre Verhältnis kennen, dem aus Haut, Fleisch und Knochen bestehenden Körper der Gazellenäugigen, weil die Dichter auf jene Weise ihren Geist irre geführt haben." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Sklaven sind alle, in Herren-Gewalt.
Liebes und Leides, Wonne und Weh
Füget der Schöpfer, in eherner Spur
folgend den Werken, die früher gewirkt.
Hölzerne Puppen, am Faden gelenkt,
regen die Hände, heben den Fuß:
Er aber spielet sie. Er — wie der Raum
alles durchdringet — durchwirket sie all,
Wirket den Frevel und wirket das Recht,
Herrscher allein Er, sie allein Knecht.

Stiere am Strick, durch die Nase gezwängt,
Vögel, am Fuße vom Bande gezerrt,
Perlen, auf Schnüre nach Willkür gereiht,
Hölzer, vom Strome weiter geschleppt,
Grashalme, wehrlos vor Sturmes Gewalt
schwankend, die Spitzen zu Boden geneigt:
So sind wir Menschen in seiner Gewalt
Blindlings und machtlos zu Wohl oder Weh.
Rechttat und Sündetat ordnet er an.
Himmel und Hölle verhängt sein Gebot.
‘Tief in den Wesen liegt er versteckt.
Keiner mag sagen: Da, siehe, ist Gott!" (Mahābhārata, Übersetzung: Rudolf Otto)

"DER PUTZ DER FRAU BHAKTI
Glaube (Śraddhā) ist ihr Parfüm, und das Hören der Erzählung vom HERRN ist ihr Schönheitsmittel. Ihn sinnen im Herzen ist ihr Badewasser, das von jeglichem Gliede abwäscht den Schmutz geistlichen Stolzes. Erbarmen ist ihr Badetuch, Demut ist ihr Gewand und Beständigkeit ihr Wohlduft. Der Name des HERRN ist ihr Perlenband, Untertänigkeit dem HERRN und seinen Heiligen sind ihre Ohrringe und geistiges Gebet ihr Nasenring. Gemeinschaft mit den Frommen ist ihre Augenschminke, und Liebe die Purpursalbe ihrer Lippen. — Dies sind die schönen Ziermittel der Dame Bhakti. Und, wie in den Schriften gesungen wird, wer auf sie schaut, der wird vereint mit dem Liebenden und der Geliebten (Rāma und Sītā, Bhagavant und Śrī)." (Bhaktamāla, Übersetzung: Rudolf Otto)

Wichtiger als der Unterschied zum Gleichnis ist für das Textverständnis die Unterscheidung:

Deutsche Beispiele:

Christian Hofmann von Hofmannswaldau <1617-1679>: Allegorisch Sonett

Amanda liebstes Kind, du Brustlatz kalter Herzen,
Der Liebe Feuerzeug, Goldschachtel edler Zier,
Der Seufzer Blasebalg, des Traurens Löschpapier,
Sandbüchse meiner Pein, und Baumöl meiner Schmerzen,

Du Speise meiner Lust, Du Flamme meiner Kerzen,
Nachtstühlchen meiner Ruh, der Poesie Klistier,
Des Mundes Alicant1, der Augen Lustrevier,
Der Komplimenten Sitz, du Meisterin zu Scherzen,

Der Tugend Quodlibet, Kalender meiner Zeit,
Du Andachts-Fackelchen, du Quell der Fröhlichkeit,
Du tiefer Abgrund du, voll tausend guter Morgen,

Der Zungen Honigseim, des Herzens Marzipan,
Und wie man sonsten dich, mein Kind, beschreiben kann,
Lichtputze meiner Not und Flederwisch der Sorgen.

1 Wein von Alicante (Spanien)

Johann Georg Greflinger <ca. 1620 - 1677>: An eine vortreffliche, schöne und tugendbegabte Jungfrau

Gelbe Haare güldne Stricke,
Taubenaugen, Sonnenblicke,
Schönes Mündlein von Korallen,
Zähnlein, die wie Perlen fallen.

Lieblichs Zünglein, in dem Sprachen
Süßes Zürnen, süßes Lachen,
Schnee- und lilienweiße Wangen,
Die voll lauter Rosen hangen.

Weißes Hälslein, gleich den Schwanen,
Ärmlein, die mich recht gemahnen,
Wie ein Schnee, der frisch gefallen,
Brüstlein wie zween Zuckerballen.

Lebensvoller Alabaster,
Große Feindin aller Laster,
Frommer Herzen schöner Spiegel,
Aller Freiheit güldner Zügel.

Ausbund aller schönen Jugend,
Aufenthaltung aller Tugend,
Hofstatt aller edlen Sitten,
Ihr habt mir mein Herz bestritten!

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>: Das Alter

Das Alter ist ein höflich' Mann:
Einmal übers andre klopft er an;
Aber nun sagt niemand: Herein!
Und vor der Türe will er nicht sein.
Da klinkt er auf, tritt ein so schnell,
Und nun heißt's, er sei ein grober Gesell.

Aloys Blumauer <1755 - 1798>: An den Mond

Herr Mond, von mir erwart' er nicht,
Dass ich nach Dichterweise
Nun auch sein Alletagsgesicht
Aus vollen Backen preise.
Ich habe lang ihn observiert,
Und wahrlich wenig ausgespürt,
Was ihm gedieh' zur Ehre,
Und lobenswürdig wäre.

Da pflegt er, wie ein kleines Kind,
Mit seinem Licht zu prahlen;
Allein, man weiß ja wohl, es sind
Nur seines Weibes Strahlen.
Wär' nicht sein Weib, es ging ihm dann
Gewiss wie manchem Ehemann,
Den Niemand regardierte,
Wenn nicht sein Weib brillierte.

Und glaub' er ja nicht, dass dies Licht
Ihn so besonders kleide;
Er hat darin ein bleich' Gesicht,
Als wär's gemalt mit Kreide,
Und gleichet dann bald einem Stier,
Bald einem Becken vom Barbier,
Und wird er voll und heller,
Gar einem Suppenteller.

Mit seinem Weib führt er von je
Ein skandalöses Leben;
Kann man den Männern in der Eh'
Ein schlechter Beispiel geben?
Kaum kömmt Madam nach Haus, so rennt
Er fort, und geht am Firmament
Die ganze Nacht spazieren,
Um sie nicht zu genieren.

Kein Hahnrei noch auf Erden war
So ein publiker Lappe.
Oft steckt er seinen Hauptschmuck zwar
In eine Nebelkappe;
Allein vergisst er die zu Haus,
So geht er auch mit Hörnern aus,
Dass manchen, die ihn sehen,
Die Augen d'rob vergehen.

Und macht Madam ihm dann und wann
Zu Haus zu viele Schwänke,
So geht er, wie so mancher Mann,
In der Frau Thetis Schenke,
Ersäuft im Meere seinen Groll,
Und kömmt nicht selten toll und voll
Zurück vom vollen Glase
Mit einer Kupfernase.

Bei all' dem Hauskreuz sucht er doch
Stets Herzen zu erweichen,
Und ist nebst allem diesem noch
Ein Kuppler ohne gleichen:
Er hält dem liebenden Gezücht
Bei dunkler Nacht so lang das Licht,
Bis oft die guten Lappen
Aus Inbrunst sich verschnappen.

Und dieser Liebeshehlerei
Geheimer Liebsgeschichtchen
Verdankt er manche Räumerei,
Und manches Lobgedichtchen;
Allein bei mir trägt's ihm nichts ein;
Denn auch ohn' allen Hörnerschein
Verstehen uns're Schönen
Sich gut genug auf's Krönen.

Friedrich Schiller <1759 - 1805>: Wissenschaft

Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern
Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt.

Ludwig Tieck <1773 - 1853>: Die Gemälde

»Je mehr ich trinke«, sagte der Pietist, »je mehr hasse ich das, was Ihr, Eulenböck, da schwadroniert habt, je unvernünftiger kommt es mir vor. Lug und Trug! Es ist beinah ebenso dumm, als beim Trinken die Lieder zu singen, die dazu gemacht sind. Jedes Wort darin ist gelogen. Wenn der Mensch nur einen Gegenstand mit dem andern vergleicht, so lügt er schon. ›Das Morgenrot streut Rosen.‹ Gibt es etwas Dümmeres? ›Die Sonne taucht sich in das Meer.‹ Fratzen! ›Der Wein glüht purpurn.‹ Narrenspossen! ›Der Morgen erwacht.‹ Es gibt keinen Morgen; wie kann er schlafen? Es ist ja nichts, als die Stunde, wenn die Sonne aufgeht. Verflucht! Die Sonne geht ja nicht auf; auch das ist ja schon Unsinn und Poesie. O dürft ich nur einmal über die Sprache her, und sie so recht säubern und ausfegen! O verdammt! Ausfegen! Man kann in dieser lügenden Welt es nicht lassen, Unsinn zu sprechen!«

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Schwärmerei ist eine Sinnenpflanze, ein Noli-me-tangere, eine Venus-Fliegenklappe, die, wenn man sie berührt, schnell ihre Krampfblätter zuschließt, und uns für das echte Leben erstickt.

Heinrich Heine <1797 - 1856>:

Den König Wiswamitra,
Den treibt's ohne Rast und Ruh',
Er will durch Kampf und Büßung
Erwerben Wasischtas Kuh.

Oh, König Wiswamitra,
Oh, welch ein Ochs bist du,
Dass du soviel kämpfest und büßest,
Und alles für eine Kuh!

Gebrüder Grimm: König Drosselbart (Kinder- und Hausmärchen 1812/15)

"Nun ward die Königstochter durch die Reihen geführt, aber an jedem hatte sie etwas auszusetzen. Der eine war ihr zu dick, »das Weinfass!« sprach sie. Der andere zu lang, »lang und schwank hat keinen Gang.« Der dritte zu kurz, »kurz und dick hat kein Geschick.« Der vierte zu blass, »der bleiche Tod!« der fünfte zu rot, »der Zinshahn!« der sechste war nicht gerad genug, »grünes Holz, hinterm Ofen getrocknet!« Und so hatte sie an einem jeden etwas auszusetzen, besonders aber machte sie sich über einen guten König lustig, der ganz oben stand und dem das Kinn ein wenig krumm gewachsen war. »Ei,« rief sie und lachte, »der hat ein Kinn, wie die Drossel einen Schnabel;« und seit der Zeit bekam er den Namen Drosselbart."

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Kritik des Herzens (1874)

Ihr kennt ihn doch schon manches Jahr,
Wisst, was es für ein Vogel war;
Wie er in allen Gartenräumen
Herumgeflattert auf den Bäumen;

Wie er die hübschen roten Beeren,
Die andern Leuten zugehören,
Mit seinem Schnabel angepickt
Und sich ganz lasterhaft erquickt.

Nun hat sich dieser böse Näscher,
Gardinenschleicher, Mädchenhäscher,
Der manchen Biedermann gequält,
Am Ende selber noch vermählt.

Nun legt er seine Stirn in Falten,
Fängt eine Predigt an zu halten
Und möchte uns von Tugend schwatzen.

Ei, so ein alter Schlingel! Kaum
Hat er 'nen eignen Kirschenbaum,
So schimpft er auf die Spatzen.

"Metapher (griech. metaphorá, lat. translatio, »Übertragung«) ist das Erzeugnis einer der wichtigsten ästhetischen Apperzeptionsformen (s. Apperzeption) und entsteht dadurch, dass der Redende den ihm gegebenen Schatz seiner Vorstellungen durch Übergriffe in ein andres, dem gegebenen vergleichbares oder mit ihm in Beziehung stehendes Vorstellungsbereich erweitert. Am nächsten steht die Metapher dem Gleichnis, denn beide Ausdrucksformen kommen dadurch zustande, dass zu dem unmittelbaren, eigentlichen Inhalt der Rede uneigentliche, aber innerlich verwandte Vorstellungen zur Belebung und Steigerung hinzugefügt werden. Aber die Funktion der Vergleichung, die in dem Gleichnis zu reinem und vollendetem Ausdruck gelangt, befindet sich bei der metaphorischen Rede gleichsam erst in einem vorbereitenden Entwickelungsstadium: bei Anwendung der Metapher schweift der Sprechende in eine andre, der gegebenen parallel laufende Vorstellungsreihe hinüber, sei es, um dort nur eine oder wenige Vorstellungen, die seinen Zwecken dienen, aufzugreifen, sei es, um dort längere Zeit hindurch, etwa während der Äußerung mehrerer Sätze, zu verweilen; die Funktion der Vergleichung ist noch nicht so weit gediehen, dass er das Eigentliche und Uneigentliche miteinander konfrontiert, dass er also beides zu gleicher Zeit denkt und aneinander abmißt. Die uneigentliche Vorstellung oder Vorstellungsreihe wird bei der Metapher unmittelbar an die Stelle der eigentlichen gesetzt, und die eigentliche gelangt überhaupt nicht mehr zu klarer Apperzeption; der Redende wie der Hörende begnügt sich mit der Erfassung der gefälligen Ersatzvorstellung. Bei dem Gleichnis hingegen werden eigentliche und uneigentliche Vorstellung mit gleicher Deutlichkeit zum Bewußtsein gebracht. Es ist daher, wenn man die psychologische Entstehung beider Ausdrucksformen ins Auge faßt, ganz verkehrt, zu sagen, dass die Metapher ein abgekürztes Gleichnis sei (was zumeist geschieht): viel eher kann man das Gleichnis als eine erweiterte Metapher bezeichnen. Nicht richtig ist es auch, anzunehmen, dass die Metapher auf einen engern Vorstellungskreis, etwa auf ein oder wenige uneigentliche Worte, die in den Satz eingestreut würden, begrenzt sei, und dass nur das Gleichnis über ganze Sätze fortgeführt werden könne: es gibt vielmehr ebensowohl kurze wie breit ausgeführte Gleichnisse und Metaphern. So ist es z. B. ein Gleichnis, wenn Goethe vom Heidenröslein sagt, es sei »morgenschön«, denn hier ist die neben der zum Vergleich herangezogenen Vorstellung des Morgens auch die eigentliche Vorstellung »schön« ausgedrückt; dagegen liegt eine Metapher vor, wenn Lenau schreibt: »Für ernste Wandrer ließ die Urwelt liegen In diesem Tal versteinert ihre Träume«, denn die Vorstellung der versteinerten Träume tritt unmittelbar als Ersatz für die eigentliche Vorstellung »erratische Blöcke« ein. Da nun aber nicht selten in der ästhetisch gehobenen Rede neben der metaphorischen Ersatzvorstellung noch Bruchstücke der eigentlichen Vorstellung eingestreut werden, so ist es leicht zu verstehen, dass es Übergangsformen zwischen Metapher und Gleichnis gibt, und dass die Interpretation der einzelnen konkreten Erscheinungen zweifelhaft sein kann. Meist ist dies jedoch nicht der Fall, und da zeigt sich denn, dass der Metapher unbedenklich der höhere ästhetische Wert zuerkannt werden muß: indem sie die Gedankenparallelen nur andeutet, nicht aber ausführt, wirkt sie belebend und anspornend auf unsre Phantasie, was das Gleichnis nicht in ebenso vollkommener Weise vermag. Im einzelnen hängt der Wert der Metaphern davon ab, wie bedeutsam der Inhalt ist, den sie zu der gegebenen Vorstellung hinzufügen: auch die Metapher ist den Normen der Neuheit, Kontraststeigerung, Harmonie, Abtönung, Lebenswahrheit etc. unterworfen (vgl. Ästhetik, S. 898). Besonders wichtig ist es aber auch, dass die M., ebenso wie das Gleichnis, aus dem innersten Vorstellungsbezirk des Redenden hervorwachse und nicht als äußerlicher Flitter aufgetragen sei. Bei naturgemäßer innerlicher Entstehung ist der metaphorische Ausdruck für den ganzen geistigen Gesichtskreis, ja für die Weltanschauung des Redenden bezeichnend (vgl. dazu z. B. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, 2. Aufl., Freiburg 1899, 2 Bde.; Weinel, Die Bildersprache Jesu in ihrer Bedeutung für die Erforschung seines innern Lebens, Gießen 1900). Leichter zu unterscheiden ist die Metapher von andern Erzeugnissen der ästhetischen Apperzeption. So ist es charakteristisch für die symbolische Apperzeption, dass bei ihr nicht eine der eigentlichen adäquate Vorstellung als Ersatz auftritt, sondern eine solche, die dem eigentlich auszu drückenden Inhalt gegenüber unendlich klein erscheint; sie gibt das zu Sagende im verjüngten Maßstab wieder. Auch die metonymische Apperzeption ist der metaphorischen verwandt, doch sie entsteht immer nur durch äußere, innere oder logische Beziehungen zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Ausdruck, nicht durch ihre Vergleichbarkeit, und außerdem erstreckt sie sich nur auf einzelne Worte und kleinere Bestandteile des Satzes (s. Metonymie). Eine etwas engere Verbindung besteht zwischen der metaphorischen und der beseelenden oder personifizierenden Apperzeption; diese liegt dort vor, wo den nichtmenschlichen Erscheinungen der Welt, welcher Art sie seien, menschliches Denken und Fühlen beigelegt wird; so werden Tiere und Pflanzen, die Gebilde der anorganischen Natur, Erzeugnisse der Menschenhand und abstrakte Begriffe als beseelt vorgestellt. Insofern auch hier der Denkende und Redende in ein von der eigentlichen Gedankensphäre, in der er sich bewegt, abliegendes Gebiet hinübergreift, verhält sich seine Auffassung ähnlich wie die metaphorische Apperzeption. Aber erstens offenbart sich solche Beseelung immer nur in den Eigenschafts-, Zustands- und Tätigkeitsbegriffen des Satzes, die Gegenstände selbst (für welche die Metapher gerade sehr häufig einen Ersatz bietet) bleiben unverändert die eigentlichen; zweitens macht sich die Beseelung immer nur in der einen Richtung der Vermenschlichung des Nichtmenschlichen geltend, während die Metapher sich in unabsehbarer Mannigfaltigkeit bekundet; drittens aber und vor allem bietet die Beseelung überhaupt gar keinen Ersatz für eine Vorstellung, die innerhalb der den Sprechenden beschäftigenden realen Gedankensphäre läge, sondern sie besteht in der freien Einflechtung rein imaginärer Gedankengebilde; die Metapher ist dagegen stets ein Ersatz für Vorstellungen, die auch ohne Bild ausgedrückt werden könnten. In demselben Sinn unterscheidet sich die Metapher auch von der Allegorie, die nichts andres ist als die Beseelung abstrakter Begriffe, die sich dann wie menschliche Wesen in Gedanken und Worten höchst mannigfaltig manifestieren können. Auch solche Allegorie bietet wie jede andre Beseelung niemals Ersatz für eigentliche Wirklichkeitsvorstellungen, sondern besteht in freier, dichterischer Ausschmückung des Gegebenen. So ist die M., die sich von den andern Formen der ästhetischen Apperzeption deutlich unterscheidet, keineswegs, wie es die alte und auch die neue Rhetorik meist tat, als ein äußerlicher Schmuck der Rede aufzufassen, sondern als ein Mittel zur Belebung, Bereicherung und Erleichterung des Abflusses der Gedanken, insbes. aber auch, ähnlich wie das Symbol, wenn auch nicht in demselben Grade wie dieses, als ein Mittel zur Verkörperung solcher Vorstellungen, für welche die dürre Logik der Vernunft keinen hinreichenden Ausdruck besitzt, daher in erster Linie für alles das, wodurch der Gedanke eine subjektive Färbung, eine persönliche Note gewinnt. Vgl. Brinkmann, Die Metaphern (Bonn 1878); Biese, Die Philosophie des Metaphorischen (Hamb. 1893); Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft, Bd. 1 (Halle 1897); Wundt, Völkerpsychologie, Bd. 1 u. 2 (2. Aufl., Leipz. 1904); Gertrude Buck, The metaphor (Ann Arbor 1898)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


4.2.7. apahnuti f. - Verstecken


Gerow: "denial"

प्रकृतं यन्निषिध्यान्यत्साध्यते सा त्वपह्नुतिः ।९६ क।

prakṛtaṃ yan niṣidhyānyat sādhyate sā tv apahnutiḥ ।96a।

Verstecken (apahnuti f.) liegt vor, wenn der tatsächlichen Gegenstand negiert und etwas anderes bejaht wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"das sind nicht schwarze Bienen an einem Mangobaum, sondern vergiftete Pfeile des Liebesgottes"

"sie prangten mit Brüsten ..., die aus Furcht, dass sie wegen ihres außerordentlichen Umfangs herabfallen könnten, unter dem Schein von Brustwarzen gleichsam mit Nägeln befestigt waren" (Subandhu, Übersetzung: Winternitz)

"Ja Perlarmbänder mit rauschenden Steinchen, goldener Fußschmuck;
Dem Safran entsprossne Farbe; Kränze duftig und blumig
Und bunt; und buntes feines Gewand: ach solches stempeln
Kurzsichtige dann zum Weibe! - Doch wer Äußres und Innres
Wohl unterscheidet, gibt den Namen Weib dem Unheil!" (Kṛṣṇamiśra, Übersetzung: Hirzel)

Deutsche Beispiele:

Martin Luther <1483 - 1546>: Predigt über Math. 2,1-12 vom 6.1.1528

Wenn wir Christus nicht in der Schrift aufnehmen, dann nimmt ihn niemand auf. Wie ein schlechter Maler, der eine Kuh malen will, aber ein Pferd malt, darüber schreiben muss: 'Kuh'. So schreibt Gott böse Dinge. Gott schreibt, er schicke den Retter, sofort stellt er sich Pferde vor; Gott verdirbt das Bild und macht einen ganz armen Buben ... und malt ihn der Welt als ganz armseliges Kind, das mehr menschlicher Hilfe bedarf als irgendein anderes Kind. Wenn er dies macht, muss er darüber schreiben: 'Hier ist der Heiland' -- Wenn du urteilst nach dem, wie du siehst, bist du verloren. Wenn aber das Wort ergeht: 'Hier ist der Retter', dann hängst du dich an dies Wort und sagst: 'Du hast schlecht gemalt, aber, was du am Gemälde verdorben hast, hast du umso besser herausgestrichen durch die Schrift. Der Heilige Geist weiß, dass wir nicht an den Werken Gottes hängen können: sie sind zu wunderlich. Deshalb verdammen wir sie, wenn wir nicht das Wort erhalten.

Gotthold Ephraim Lessing <1729 - 1781>: Die schlafende Laura

Ich ließ mich sanfte nieder,
Ich segnete, ich küsste sie,
Ich segnete, und küsste wieder:
Und schnell erwachte sie.
Schnell taten sich die Augen auf.
Die Augen? – nein, der Himmel tat sich auf.

Anonym: Aus der Frauenversammlung (1885)

Man soll nicht nur von Männern sagen,
Dass sie's verstehn, Radau zu schlagen.
Nein doch, die zarten Weiber auch
Gewöhnen sich an solchen Brauch.
Die Frau, die still sonst näht den Mantel,
Wird, sich versammelnd, zur Tarantel.
Was für ein Toben! Welch ein Schrein!
Sind das noch schönre Hälften? Nein!
Laut knirschend mit den Pantherzähnen,
Verwandeln sie sich in Hyänen,
Und selbst den Schutzmann fasst ein Graun,
Nur eins noch fehlt: dass sie sich haun.


4.2.8. śleṣa m. - Mehrdeutigkeit


Gerow: "adhesion or conjoined: paronomasia; pun; double-entendre"

श्लेषः स वाक्य एकस्मिन्यत्रानेकर्थता भवेत् ॥९६ ख॥

śleṣaḥ sa vākya ekasmin yatrānekārthatā bhavet ॥96b॥

Mehrdeutigkeit (śleṣa m.) liegt dann vor, wenn ein einziger Satz mehrere Bedeutungen hat

Man konsultiere dazu den Kommentar.

Beispiele aus dem Sanskrit:

Erste Bedeutung

Zweite Bedeutung

Jener

zum Glück gelangte aufgegangene
schöne liebliche
im Umkreis eines Reiches beliebte rotscheibige
König Mond

bezaubert die Herzen

der Untertanen der Menschen

durch seine milden

Steuern Strahlen

Daṇḍin, Übersetzung: Winternitz

"Im Innern viele Höhlungen (Risse, Blößen), von außen zahlreiche Dornen (Feinde): wie sollten die aus Lotusstängeln bestehenden Stricke (Vorzüge) nicht vergänglich sein?" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Der Vorzügliche ist wie eine Lampe, in der Edelsteine die Stelle des Feuers vertreten: um Andern stets Dienste zu erweisen, kümmert er sich nicht um Liebe (Oel), nicht um einen Würdigen (ein Gefäß) und auch nicht um den Unterschied der Lebenslage (einen andern Docht)." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Einige Dichter gleichen Kindern: sie sind oberflächlich beim Setzen der Füße (beim Niederschreiben von Versfüssen), erwecken Zuneigung (Röte vor Scham) bei der Mutter und sind sehr geschwätzig." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Bar der Vernunft. (Namen einer Bar)

Moritz von Schwind <1804 - 1871>: Krähwinkeliaden (1826)


"Der künftige Bürgermeister wird am Wasser aufgezogen."


"Er versucht sich zu erheben."


"Er kommt zu sich selbst."


"Er nimmt eine unerträgliche Frau."


"Und ringt mit dem Tode."

 

Anonym:

helft behinderten vögeln! = Helft behinderten Vögeln! + Helft Behinderten vögeln!

tiroler weine = Tiroler Weine + Tiroler, weine!

hautkranke studenten = Hautkranke Studenten + Haut kranke Studenten!

Georg Christoph Lichtenberg <1742 - 1799>: Opim und sein Nachbar Seip

Komm, schönste Hälfte, sagt Opim
Und meint damit sein Weib.
Sehr recht, denn halb gehört sie ihm
Und halb dem Nachbar Seip.

Peter Wilhelm Hensler <1742 - 1779>: Verleumdung

Man sagt, dass F** vor der Gemeine
Manchmal geborgte Reden hält.
Glaubt mir, es sind wahrhaftig seine!
Sie kosten ihm sein bares Geld.


4.2.9. samāsokti f. - Kurz-Doppelaussage


Gerow: "concise speech"

परोक्तिर्भेदकैः श्लिष्टैः समासोक्तिः ।९७ क।

paroktir bhedakaiḥ śliṣṭaiḥ samāsoktiḥ ॥97a॥

Kurz-Doppelaussage (samāsokti f.) ist der Ausdruck von etwas anderem durch mehrdeutige Bestimmungen.

d.h. ein Nomen, das als solches nicht mehrdeutig ist, wird durch zusätzliche Aussagen, auf einen anderen Gegenstand bezogen, als er durch die Bedeutung des Nomens gegeben ist.

Beispiele aus dem Sanskrit:

jayalakṣmī (Pracht des Sieges) erhält Adjektive, aufgrund derer der Satz nicht nur auf den Sieg in der Schlacht bezogen werden kann, sondern auch auf die Geliebte des Königs (Lakṣmī, die Sieg bedeutet; oder: Lakṣmī, die ersiegt wurde)

"Die häufigen vom Malaya-Gebirge wehenden Winde (im Frühling) sind dahin, die heiße Jahreszeit mit ihrem Übermaß an Duft von blühendem Jasmin ist gebrochen; wenn du es, o Wolke, vermagst, so schaffe den Lieblosen her! Wer im Stande ist die Kühe zurückzubringen (die Person kümmert uns wenig), der ist der rechte Dhanaṃjaya (Arjuṇa, der die dem Virāṭa geraubten Kühe wieder zurückführte; Dhanaṃjaya bezeichnet zugleich den, der den Preis, den Lohn davonträgt)." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Sobald ihr erfahrt, dass derjenige, der eine Lehre verkündete, auf dass mit Vernunft begabte Wesen erlöst d.i. zu (gefühllosen) Steinen würden, Gotama (Name eines berühmten Philosophen und zugleich der größte Ochs) hieß, so habt ihr den Mann gerade so, wie ihr ihn kennen lernt."  (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Sprichwort:

Saufleisch ist mir verboten, sagte die Jüdin zu einem Jesuiten, der sie um einen nächtlichen Besuch bat.

Anonym (1862):

Ein Rechtsstaat ist jetzt Preußen allerdings,
Nur schade drum: Das ganze Volk steht links.

David Kalisch <1820 - 1872>: Aus Leokadiens Tagebuch

Ich kann keinen Backfisch essen. Und doch heißt es, dass unglückliche Liebe sich selbst verzehrt.

(Backfisch auch = weiblicher junger Teenager; von Backfisch = sehr junger Fisch, der nicht zum Kochen oder Braten, sondern nur zum Backen geeignet ist).


4.2.10. nidarśanā f. - Veranschaulichung


Gerow: "pointing to"

निदर्शना ।९७ क।
अभवन्वस्तुसंबन्ध उपमापरिकल्पकः ॥९७ ख॥
स्वस्वहेत्वन्वयस्योक्तिः क्रिययैव च सापरा ।९८ क।

nidarśanā ।97a।
abhavan-vastu-saṃbanda upamā-parikalpakaḥ ॥97b॥
svasva-hetv-anvayasyoktiḥ kriyayaiva ca sāparā
98a।

Veranschaulichung (nidarśanā f.) liegt vor wenn eine irreale Verbindung (zum Gegenstand der Aussage) zu einem Gleichnis führt.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Die Sonnendynastie mit meinem Verstand beschreiben zu wollen, wäre wie den Ozean mit einem Floß zu durchqueren." Es ist also eine Sonderform von Gleichnis (upamā f.)

Eine andere Form von Veranschaulichung liegt vor, wenn durch die Handlung allein die Verbindung zwischen sich selbst und der Ursache ausdrückt.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Wenn ein leichter Gegenstand eine hohe Stellung erreicht, wird er herunterfallen"  - bezogen auf eine niedere Person, die eine hohe Stellung erreicht. (Dies ist ein impliziter Vergleich.)

"Bleibt das Krokodil im Hause,
bändigt es selbst Elefanten;
doch verlässt es seine Wohnung,
unterliegt es auch dem Hunde." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"In Ungemach und Leiden soll
Der Gute standhaft bleiben:
Der halbe Mond wird wieder voll,
Und auch gefället können wohl
Des Baumes Wurzeln treiben." (Bhartṛhari, Übersetzung: Winternitz).

Deutsche Beispiele:

Johann Wolfgang von Goethe: [Über den Literaturkritiker Wolfgang Menzel und den Publizisten Garlieb Helwig Merkel]

Verwandte sind sie von Natur,
Der Frischling und das Ferkel;
So ist Herr Menzel endlich nur
Ein potenzierter Merkel.

Franz Grillparzer <1791 - 1872>: Unmündigkeit

Wer nicht ausgetreten die Kinderschuhe,
Den klemmen sie ein bis zur Totentruhe.

Karl Kraus <1874 - 1936>: Die Sachverständigen

Dass du nicht merkst, woran man darbe,
verprasst man es in einemfort:
Die Blinden reden von der Farbe,
die Tauben reden von dem Wort;
die Lahmen lehren, wie man tanze,
die Huren, wie man Andacht treibt.
Kurz, Rezensenten gehn aufs Ganze
und können sagen, wie man schreibt.


4.2.11. aprastutapraśaṃsā f. - Indirekte Beschreibung (vgl. Metonymie + Synekdoche)


Gerow: "mentioning the irrelevant"

अप्रस्तुतप्रशंसा या सा सैव प्रस्तुताश्रया ॥९८ ख॥

aprastutapraśaṃsā yā sā saiva prastutāśrayā ॥98b॥
kārye nimitte sāmānye viśeṣe prastute sati |
tad anyasya vacas tulye tulyasyeti ca pañcadhā ॥99॥

Umschreibung (aprastutapraśaṃsā f.) ist die Beschreibung von etwas Nicht-Beschriebenem (aprastuta) als Grundlage für das Beschriebene (prastuta).
Sie ist fünffach, je nachdem ob das zu Beschreibende

  1. Wirkung
  2. Ursache
  3. Allgemeineres
  4. Spezielleres

ist. Dann wird das andere (d.h. die Ursache, Wirkung, etwas Spezielleres, etwas Allgemeineres) ausgesprochen.

  1. oder wenn ein Gleiches durch ein anderes Gleiches ausgedrückt wird.

Während rūpaka n. (Metapher) auf Ähnlichkeit beruht, beruht aprastutapraśaṃsā f. (vgl. Metonymie und Synekdoche) auf einer realen Beziehung (Ursache - Wirkung), Teil - Ganzes, Gleichartiges - Gleichartiges).

Beispiele aus dem Sanskrit:

Im Unterschied zu Metonymie bezieht sich aprastutapraśaṃsā nicht nur auf Wörter, sondern auf ganze Vorgänge, d.h. statt des Vorliegenden wird etwas beschrieben, was in einer der genannten Beziehungen zum Vorliegenden besteht. Siehe die - meist sehr gekünstelten - Beispiele bei Mammaṭa!

Beispiele für Metonymie und Synekdoche aus dem Sanskrit:

"Dafür, dass du auf Erden spielend einen ganz leichten Berg (den Govardhana) auf deinen Armen getragen hast, wirst du im Himmel und auf Erden stets als Govardhana-Träger besungen; dass ich dich, den Träger der Dreiwelt, auf meinen Brustwarzen trage, bleibt unbeachtet. Doch wozu, o Kṛṣṇa, der vielen Reden? Durch verdienstliche Werke erlangt man Ruhm. (Worte der Rādhā)." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Die Wünsche im Herzen haben sich abgenutzt, dahin ist, sieh, die Jugend der Glieder und die Tugenden sind nutzlos geworden, da Niemand da ist sie anzuerkennen. Was ziemt sich jetzt? Plötzlich tritt der mächtige Gott der Zeit, der unbarmherzige Tod, heran; an das Füßepaar des Vernichters des Liebesgottes (d.i. Śiva's) hat man nicht gedacht und doch gibt es keinen andern Weg zur Erlösung." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Brahman hat nur an der Erschaffung des Weltalls seine Freude; dem Zerstörer des Opfers des Dakṣa (d.i. Śiva) rollen, obgleich er ein Gott ist, die Augen hin und her vor Wonne über die Umarmung der Gaurī; der Daitya-Feind (d.i. Viṣṇu) trägt auf seiner Brust Spuren von den farbigen Zeichen auf den Wangen der Lakṣmī und schläft im Meere. Wie kann da bei gewöhnlichen Menschen wohl noch von vollkommener Gemütsruhe die Rede sein?" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Ein Zorniger (Agastya) hat meinen Vater (das Meer) verschluckt, ein Anderer (Bhṛgu) hat in seiner Wut meinem Liebsten (Viṣṇu) einen Schlag mit dem Fuße versetzt, auserwählte Brahmanen tragen meine Nebenbuhlerin (Sarasvatî) von Kindheit an in der Öffnung ihres Gesichts (d.i. im Munde), meine Wohnung (die Lotusblume; vgl. Kamalālajā) haut man Tag für Tag nieder, um den Geliebten der Umā (Śiva) zu ehren: darum bin ich (Lakṣmī) stets betrübt und so ist es wohl ganz angemessen, dass ich die Wohnstätte der Brahmanengeschlechter verlasse (d.i. den Brahmanen den Reichtum entziehe)." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Wenn es in der Welt allgemein heißt, dass der Liebesgott nur fünf Pfeile habe und dass unzählige Menschen, meist nur von unseres Gleichen (d.i. Männer), deren Ziel bilden, so hat sich dieses jetzt bei dir (o Liebesgott) als umgekehrt erwiesen, da ich Verliebter, von unzähligen Pfeilen getroffen, aller Zuflucht bar durch dich in Fünfe verwandelt worden bin (in die fünf Elemente aufgelöst d.i. getötet worden bin)." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele für Metonymie und Synekdoche:

Ursache (Autor):

Gotthold Ephraim Lessing <1729 -1781>: Die Sinngedichte an den Leser

Wer wird nicht einen Klopstock loben?
Doch wird ihn jeder lesen? – Nein.
Wir wollen weniger erhoben,
Und fleißiger gelesen sein.

Heinrich Zille <1858 - 1929>: Der Philosoph


"Quatsch nich, du hättest müssen mehr Nietzsche lesen."

Allgemeineres:

Friedrich von Logau <1604 - 1655>: Welt-Gunst

Manchen treibet große Brunst
Durch geübte List und Kunst,
Welt, zu werben deine Gunst,
Die zu haben fast umsonst
Und für sich doch nichts als Dunst.

(Welt = Mehrheit der Menschen, die "Weltlichen")

Wilhelm Busch <1832 - 1908>:  Die fromme Helene

 »Und wenn er sich auch ärgern sollte,
Was schert mich dieser Onkel Nolte!«
So denkte Helene leider Gotts!
Und schreibt dem Onkel grad zum Trotz:

»Geliebter Franz!
Du weißt es ja, dein bin ich ganz!
Wie reizend schön war doch die Zeit,
Wie himmlisch war das Herz erfreut,
Als in den Schnabelbohnen drin
Der Jemand eine Jemandin,
Ich darf wohl sagen: herzlich küsste. –
Ach Gott, wenn das die Tante wüsste!
Und ach! wie ist es hierzuland
Doch jetzt so schrecklich anigant!
 

Der Onkel ist, gottlob! recht dumm,
Die Tante nöckert so herum,
Und beide sind so furchtbar fromm;
Wenn's irgend möglich, Franz, so komm
Und trockne meiner Sehnsucht Träne!
10.000 Küsse von
Helene.«

Anonym: Münchener Bilderbogen: Was alles zur Morgenzeit geschieht


Abb.: "Schläft noch die Stadt, fährt blasend schon
Durchs Tor hinaus der Postillon."

(Stadt = Stadtbewohner)

Spezielleres:

Gottfried August Bürger <1747 - 1794>: Mannstrotz

So lang' ein edler Biedermann
Mit einem Glied sein Brot verdienen kann,
So lange schäm' er sich nach Gnadenbrot zu lungern!
Doch tut ihm endlich keins mehr gut:
So hab' er Stolz genug und Mut,
Sich aus der Welt hinaus zu hungern.

Joseph Eichendorf <1788 - 1857>: Das Schiff der Kirche (1848)

Die alten Türme sah man längst schon wanken,
Was unsre Väter fromm gebaut, errungen,
Thron, Burg, Altar, es hat sie all verschlungen
Ein wilder Strom entfesselter Gedanken.

Der wühlt sich breit und breiter ohne Schranken,
Ein Meer, wo zornigbäumend aufgeschwungen
Die trüben Fluten Fels um Fels bezwungen,
Und alle Rettungsufer rings versanken.

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Vor 30 Jahren zählte ich 33 Sommer! Doch nein! Zu 33 Jahren zählt man nur noch Frühlinge! Mit 40 Jahren beginnt man die Sommer zu zählen, mit 60 die Winter, und mit 70 zählt man die Allerseelentage."

Heinrich Heine <1797 - 1856>: Simplicissimus I

Das Röcklein, das du trugest, war grün
Und zählte schon sehr viele Lenze;
Die Ärmel zu kurz, zu lang die Schöße,
Erinnernd an Bachstelzenschwänze.

(Lenz = Jahr)

Friedrich Theodor Vischer <1807 - 1887>: Faust III

FAUST.
Die Mode geht jetzt auf ein andres Ziel;
Von außen her umnähet sie den Rock
Mit Flatteraufputz, windigem Gelock,
Nach hinten drängt sie mit vermehrten Kräften,
Der Wölbung dort ein Bauschwerk aufzuheften,
Dort häuft und häuft sie und gestaltet so
Das zücht'ge Weib zum wandelnden Popo;
Sieht man sie gehn, so ist der rechte Name:
Da kommt ja ein Popo mit etwas Dame.


Abb.. Wandelnde Popos: Damen mit Tournüre (1887)
[Bildquelle: Wikimedia. -- Public domain]

Theodor Fontane <1819 - 1898>: Neueste Väterweisheit

Zieh nun also in die Welt,
Tue beharrlich, was dir gefällt,
Werde keiner Gefühle Beute,
Meide sorglich arme Leute,
Werde kein gelehrter Klauber,
Wissenschaft ist fauler Zauber,
Sei für Rothschild1 statt für Ranke2,
Nimm den Main und lass die Panke3,
Nimm den Butt und lass die Flunder,
Geld ist Glück, und Kunst ist Plunder,
Vorwärts auf der schlechtsten Kragge4,
Wenn nur unter großer Flagge.
Pred'ge Tugend, pred'ge Sitte,
Millionär ist dann das dritte,
Quäl dich nicht mit »wohlerzogen«.
Vorwärts mit den Ellenbogen,
Und zeig jedem jeden Falles:
»Du bist nichts, und ich bin alles.«

1 Rothschild: Familie mächtiger Bankiers
2 Leopold von Ranke (1795 - 1886): preußischer Historiker
3 Panke: Nebenfluss der Spree bei Berlin
4 Kragge: schwimmende Insel

Gleiches:

Jean Paul <1763 - 1825>: Die unsichtbare Loge

Der Mond war und wird ewig die Sonne der Liebenden sein, dieser sanfte Dekorationmaler ihrer Szenen: er schwellet ihre Empfindungen wie die Meere an und hebt auch in ihren Augen eine Flut.

Georg Herwegh <1817 - 1875>: Wiegenlied

Kein Kind läuft ohne Höschen1
Am Rhein, dem freien, umher:
Mein Deutschland, mein Dornröschen,
Schlafe, was willst du mehr? –

1 ohne Höschen = Sans-culottes ("ohne Kniebundhosen" der Adligen) = Revolutionäre (der Französischen Revolution)

"Metonymīe (griech., »Namenvertauschung«), rhetorische Figur, die für einen Gegenstand einen andern setzt, nicht auf Grund der zwischen beiden Gegenständen obwaltenden Ähnlichkeit (darin besteht das Wesen der Metapher [s. d.]), sondern auf Grund der nahen und leicht sich aufdrängenden sachlichen Beziehungen, in denen beide zueinander stehen. So setzt die M. den Ort statt dessen, was in ihm sich findet (z. B. der Wald singt des Schöpfers Lob, für: die Vögel im Wald), oder die Zeit statt der darin Lebenden (z. B. Zukunft statt Nachkommen); sie vertauscht die Ursache mit der Wirkung (z. B. Schatten pflanzen, statt Bäume), den Stoff mit dem daraus Verfertigten (z. B. Stahl statt Schwert), das Zeichen mit dem Bezeichneten (z. B. Zepter statt Herrschaft) etc. Abarten der M. sind Antonomasie und ð Synekdoche (s. d.)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

"Synekdŏche (griech., »Mitverstehen«), rhetorische Figur, darin bestehend, dass im sprachlichen Ausdruck etwas Allgemeines durch ein Besonderes, ein Abstraktes durch ein Konkretes, die Gattung durch eine Art, das Ganze durch einen seiner Teile, die Vielheit durch ein Einzelnes etc. oder auch umgekehrt ersetzt wird, z. B. »der Römer« für die Römer, »Kiel« für Schiff, »Jugend« für junge Leute, »Eisen« für Schwert etc."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

"Antonomasīe (griech., »andre Benennung«). Redefigur, darin bestehend, dass man statt eines Eigennamens eine bezeichnende Eigenschaft oder eine Apposition setzt, z. B. »der Sohn der Aphrodite« statt Amor, »der Beherrscher des Meeres« statt Neptun."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


4.2.12. atiśayokti f. - Übertreibung (Hyperbel)


Gerow: "expression involving an exaggeration"

निगीर्याध्यवसानं तु प्रकृतस्य परेण यत् ।
प्रस्तुतस्य यदन्यत्वं यद्यर्थोक्तौ च कल्पनम् ॥१००॥
कार्यकरणयोर्यश्च पौर्वापर्यविपर्ययः ।
विज्ञेयातिशयोक्तिः सा ।१०१।

nigīryādhyavasānaṃ tu prakṛtasya pareṇa yat ।
prastutasya yad anyatvaṃ yady arthoktau ca kalpanam ॥100॥
kārya-kāraṇayor yaś ca paurvāparya-viparyayaḥ ।
vijñeyātiśayoktiḥ sā ।101।

Übertreibung (atiśayokti f.) liegt vor

Übertreibung ist wörtlich nicht nachvollziehbar.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"dieses Mädchen ist nicht die Schöpfung des Schöpfers";

"nur wenn der Mond ohne Flecken wäre, könnte man ihr Gesicht mit dem Mond vergleichen",

"sie verliebte sich in dich bevor sie dich erblickte".

"Zuerst erscheint die Blüte, dann die Frucht,
Zuvor entsteht die Wolke, dann der Regen;
So folgen sich Ursach und Wirkung stets;
Doch deiner Gnade ging voran der Segen." (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

"Wenn du bei einer Übertreibung nicht in Zorn gerätst und wenn du es nicht für Spott hältst, dann rufen wir aus (wem juckt nicht die Zunge, wenn es ein Wunder zu berichten gibt?): »o König, alle Meere, welche durch die brennenden Flammen deiner jugendlichen Majestät ausgetrocknet waren, sind durch die Tränen der Weiber deiner Feinde wieder voll geworden.«" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Motto:

Paul Heyse <1830 - 1914>: Goethes zahme Xenien

Versuch's und übertreib's einmal,
Gleich ist die Welt von dir entzückt.
Das Grenzenlose heißt genial,
Wär's auch nur grenzenlos verrückt.

Deutsche Beispiele:

Aloys Blumauer <1755 - 1798>: Liebeserklärung eines Kraftgenie's

Ha, wie rudert meine ganze Seele
Nun in der Empfindung Ozean?
Laute Seufzer sprengen mir die Kehle,
Die man auf zehn Meilen hören kann.

Gleich Kanonenkugeln rollen Tränen
Aus den beiden Augenmösern mir:
Erd' und Himmel bebt bei meinem Stöhnen,
Und ich brülle schluchzend – wie ein Stier.

Wetterstürme der Empfindung treiben
Mich oft-, west- und süd- und nordenwärts:
Meine Seele hat in mir kein Bleiben,
Und es blitzt und donnert mir das Herz.

Ach! ich muss, ich muss im Sturm versinken!
Rette mich, großmüt'ge Seele, doch!
Ich beginne schon den Tod zu trinken,
Sieh, mein Lebensnachen hat ein Loch!

Heinrich von Kleist <1777 -1811>: Penthesilea

PENTHESILEA.
Nichts vom Triumph mir! Nichts vom Rosenfeste!
Es ruft die Schlacht noch einmal mich ins Feld.
Den jungen trotz'gen Kriegsgott bändg' ich mir,
Gefährtinnen, zehntausend Sonnen dünken,
Zu einem Glutball eingeschmelzt,
so glanzvoll
Nicht, als ein Sieg, ein Sieg mir über ihn.

Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris

OREST.
Soll die Glut denn ewig,
Vorsätzlich angefacht, mit Höllenschwefel
Genährt, mir auf der Seele marternd brennen?

Friedrich Schiller <1759 - 1805>: Die Räuber

MOOR sich losreißend, freudig.
Itzt sind wir frei – Kameraden! Ich fühle eine Armee in meiner Faust – Tod oder Freiheit! Wenigstens sollen sie keinen lebendig haben!

Friedrich Schiller <1759 - 1805>: Die Räuber

MOOR. Es ist unglaublich, es ist ein Traum, eine Täuschung – So eine rührende Bitte, so eine lebendige Schilderung des Elends und der zerfließenden Reue – die wilde Bestie wär in Mitleid zerschmolzen! Steine hätten Tränen vergossen, und doch – man würde es für ein boshaftes Pasquill aufs Menschengeschlecht halten, wenn ichs aussagen wollte – und doch, doch – oh, dass ich durch die ganze Natur das Horn des Aufruhrs blasen könnte, Luft, Erde und Meer wider das Hyänengezücht ins Treffen zu führen!

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>: Wie man Liebesbriefe schreibt

In der Jugend schreibt man zehn Liebesbriefe an einem Tage, und alle atmen glühende Leidenschaft, und jeder ist eine Brandfackel, geschleudert in eine Pulvertonne!

Sie fangen alle an: «Könnte ich meine Feder in die Sonne tauchen!» oder «Was der Tau der lechzenden Rose, das Licht dem im Finstern Wandelnden, das war der Anblick» usw. Oder: «Ihr Sterne da oben, du leuchtende Sonne, leiht mir eure Strahlen», oder: «Wenn Sie zürnen, so zürnen Sie über die Allmacht Ihrer Reize», oder: «Ich habe lange gekämpft, aber hinweg, nagende Geier, hinweg, blutgieriger Gedanken!» usw. usw.

Friedrich Hebbel <1813 - 1863>: Judith

HOLOFERNES: Hätt ich doch nur einen Feind, nur einen, der mir gegenüberzutreten wagte! Ich wollt ihn küssen, ich wollte, wenn ich ihn nach heißem Kampf in den Staub geworfen hätte, mich auf ihn stürzen und mit ihm sterben! Nebucad Necar ist leider nichts als eine hochmütige Zahl, die sich dadurch die Zeit vertreibt, dass sie sich ewig mit sich selbst multipliziert. Wenn ich mich und Assyrien abziehe, so bleibt nichts übrig, als eine mit Fett ausgestopfte Menschenhaut. Ich will ihm die Welt unterwerfen, und wenn er sie hat, will ich sie ihm wieder abnehmen!

Otto Sommerstorff <1859 - 1934>: Verrechnet

Schön Ännchen bezeugte ein tiefes
Gefühl für den Mann ihrer Wahl,
Sie schrieb ihm am Schluss jedes Briefes:
"Ich küsse dich zehntausendmal!"
Auch Emil, der heiß sie bewundert
Mit Liebesbeteurung und Schwur,
Er multipliziert stets mit hundert
Und sendet dies brieflich retour.
Und als er glücklich gelangt war
Zur ersten Quadrillion,
Da lief ihm schön Ännchen, das holde,
Mit einem andern davon.

Joachim Ringelnatz: Maiengruß an den Redakteur

Frühlingszartes Wohlbehagen
Schwellt erfrorne Poesie.
Maiberauscht im Speisewagen
Ballt sich etwas wie Genie.

Weil Berlin voraus in Sicht ist
Und die Sonne mich bestrahlt.
Und je länger ein Gedicht ist,
Desto besser wird's bezahlt.

Darum: Hundertzweiundneunzig
Tausend und fünfhundertzwei
Oder noch mehr
Leute freun sich.
Denn der Winter ist vorbei.

Elf Millionen zweimal hundert
Tausend siebenhundertzehn

Menschen sind etwas verwundert,
Weil kein Maikäfer zu sehn.

Sechs Billionen zwölf Milliarden
Schätzungsweise – fragen sich:
Wo steckt Maximilian Harden.
Nun, verflucht, was kümmert's mich.

Vier Trillionen neun Billionen
Zirka siebenhundertelf
Milliarden fünf Millionen
Achtzehntausend hundertzwölf
– –

Und ich könnte das erweitern
Bis in die Unendlichkeit,
Doch ein Dichter tritt den heitern
Frühlingszarten Mai nicht breit.

Sondern trinkt, sich selbst beschränkend,
Maienbowle, Maienkraut,
Seines Redakteurs gedenkend,
Dem er voll und ganz vertraut.

"In der Rhetorik und Poetik heißt Hyperbel die rednerische, bez. dichterische Übertreibung, d. h. die Charakterisierung eines Gegenstandes durch einen über das wirkliche oder mögliche Maß hinausgehenden Ausdruck. Die Hyperbel ist entweder ernst gemeint oder komisch; sie soll je nachdem die Bedeutung des Objekts steigern oder es in komische Beleuchtung rücken. Am häufigsten findet sie sich bei orientalischen Dichtern, bei Calderon, Shakespeare, Schiller, Victor Hugo, ebenso bei unsern Kraftdramatikern von Lenz und Klinger bis Hebbel. Antike Dichter und Schriftsteller sind damit sparsam, auch Goethe wendet sie selten an. Zahlreiche Beispiele komischer Hyperbeln geben Shakespeare, Jean Paul u. a. (z. B. bei Shakespeare: »Dein Kopf steht so wacklig auf dünnen Schultern, dass ein verliebtes Milchmädchen ihn herunterseufzen kann«)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


4.2.13. prativastūpamā f. - Parallelvergleich


Gerow: "conterpart simile"

प्रतिवस्तूपमा तु सा ॥१०१ ख॥
सामान्यस्य द्विरेकस्य यत्र वाक्यद्वये स्थितिः ।१०२ क।

prativastūpamā tu sā ॥101b॥
sāmānyasya dvir ekasya yatra vākya-dvaye sthitiḥ ।102a।

Parallelvergleich (prativastūpamā f.) liegt vor wo ein Gemeinsames zweimal in zwei verschiedenen Sätzen ausgedrückt wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Wie kann sie, nachdem sie Königin geworden ist, zur Stellung einer Dienerin zurückkehren? Ein Juwel, der das Bildnis eines Gottes trägt, darf nicht getragen werden." (beides ziemt sich nicht - das ist das Gemeinsame).

"Samen, der auf unbestelltes Land gesät wird, geht schon im Boden zu Grunde; aber auch ein unbesäeter Acker ist Nichts als ein geebneter Platz." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Wird wohl die Wirkung der Flammen des Liebesfeuers im Herzen durch einen Sandel- Überzug beseitigt? Die Thonschicht auf dem Ofen des Töpfers dient ja nur zur Verstärkung, nicht zur Milderung der Hitze." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Andreas Tscherning <1611 - 1659>: An eine Jungfrau, die einen Alten heiratet

Wo sind doch deine Sinnen?
Kannst du ein graues Haar,
O Jungfrau, liebgewinnen?
Nimm deiner besser wahr.

Ein Haus, das erst erbauet,
Sieht einer lieber an
Als das vor Alter grauet
Und kaum noch stehen kann.

Will schon ein Widder alten
Und von der Herde ziehn,
Man wird dann höher halten
Sein Fell als selber ihn.

Ein Holz, das schon will fäulen,
Taugt auf die Feuerstatt,
Ein Hund kann nichts als heulen,
Der Zeiten auf sich hat.

Du siehest, wie das Eisen
Vor Alter rosten muss:
So auch, wann Männer greisen
Verschrumpfet Hand und Fuß.

Wann alte Greiser scherzen
Und stellen Buhlschaft an,
So lacht der Tod im Herzen,
Weiß, dass es sei getan.

Bei Alten ist nur Raten,
Ist hoher Worte Pracht.
Bei Jungen ist zu Taten
Und Lieben frische Macht.


4.2.14. dṛṣṭānta m. - Beispiel


Gerow: "example"

दृष्टान्तः पुनरेतेषां सर्वेषां प्रतिबिम्बनम् ॥१०२ ख॥

dṛṣṭāntaḥ punar eteṣāṃ sarveṣāṃ pratibimbanam ॥102b॥

Beispiel (dṛṣṭānta m.) ist das Spiegelbild von all diesen (Gemeinsamkeit, Verglichenes, Vergleichendes).

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Sobald sie dich sieht, beruhigt sich ihr verliebtes Herz. Nur im Mondlicht blüht der Lotus."

"Du weißt, mein Freund, und wärest du der wundersamste Dichter,
Nicht Gnade fändest du noch Gunst beim kritischen Gelichter.
Du schreibe für die Kenner nur und lass sein Spiel es treiben.
Wer möchte spinnenfasernackt aus Furcht vor Läusen bleiben?" (Rudrabhaṭṭa, Übersetzung: Th. Aufrecht)

Dichter waren Kālidāsa und andere, Dichter sind auch wir:
Derselbe Stoff findet sich in Berg und Atom. (Harihārāvalī, Übersetzung: Winternitz)

"Nur zum Heile seiner Untertanen
Hob von ihnen er die Steuer ein:
Hebt ja auch die Sonne nur das Wasser
Auf, um tausendfach es neu zu spenden
." (Kālidāsa, Übersetzung: Winternitz)

"Wie könnt' jemals solche Huldgestalt
Von einem irdschen Weibe stammen?
Der Wetterstrahl, der glänzend droben zuckt,
Er geht hervor nicht aus dem Schoß der Erde." (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

"Der Edle nur vermag Erschütterung durch Leid zu tragen, nicht der Gemeine:
Es hält der Edelstein des Schleifsteins Reibung aus, doch nicht gemeiner Lehm." (Kusumadeva: Dṛṣṭāntaśataka, Übersetzung: Winternitz)

"Dem ist alles Glück beschieden,
Der im Herzen ist zufrieden:
Wessen Fuß im Schuhe steckt,
Dem ist die Erde mit Leder bedeckt." (Tantrākhyāyika, Übersetzung: Winternitz)

"Wer nur geschickt ist, stellt als wahr,
Was noch so falsch ist, dennoch dar:
So malt des kundgen Meisters Hand,
Was nah und fern, an flache Wand." (Hitopadeśa, Übersetzung: Hertel)

"Wozu erregt sich unverschämt
der Mann, der sich nicht rächen kann?
Springt die Erbse noch so hoch,
so bricht die Pfanne nicht entzwei." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"Ein Krieger, der zum Kampf auszieht,
erwäge nie, ob Recht, ob Unrecht.
Im Schlaf ermordet wurde einst
Dhṛṣṭadyumna von Droṇas Sohn." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"»Woher kommt es, o Mädchen, dass deine Brüste in so früher Jugend schon sich gesenkt haben?« »Stürzen denn nicht, o Thor, auch Berge zusammen, wenn man sie untergräbt?«." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Was kommst du zu mir und küssest mir gewaltsam den Mund, du Schamloser, der du Scham nur heuchelst! Lass los, lass los den Saum des Gewandes, du Falscher! Was hintergehst du mich, Schelm, mit deinen Schwüren? Durch dein Nachtwachen (bei einer Anderen) bin ich ganz von Kräften gekommen! Geh doch hin zu jener Geliebten! Welche Freude haben Bienen an Blumengewinden, die man als verbraucht weggeworfen hat?" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Dass Freuden, die aus der Berührung mit der Außenwelt entspringen, von Männern zu meiden seien, weil sie mit Schmerzen verbunden sind, ist eine Vernünftelei der Toren. Wer in aller Welt, dem es um sein Bestes zu tun ist, möchte wohl Reis mit seinen vielen weißen, schönen Körnern verschmähen, weil diese mit einer feinen Hülse bedeckt sind?" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Auf eine Seite geht der Mond, der Fürst
Der Pflanzen, hin zum Rand des Abendbergs;
Und auf der andern kommt, vom Morgenrot
Schon angekündigt, dort der Sonnengott.
Der Auf- und Untergang des Lichterpaars,
Der so im ewig gleichen Wechsel bleibt,
Er zeigt, wie auch im Menschenleben Alles
Demselben Wechsel unterworfen ist." (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

Deutsche Beispiele:

Christian Wernicke <1661 - 1725>: Blumenreiche Gedichte

Man findt, wenn man mit Fleiß die Rosen und Narzissen,
Die unsre deutsche Vers' anfüllen oder schließen,
Mit dem Verstand und Sinn des Dichters überlegt;
Dass ein unfruchtbar Land die meisten Blumen trägt.

Christiana Mariana von Ziegler <1695 - 1760> Cantata

Presst euch der Hass und Neid,
Der überall sein Gift ausspeit,
Vor dem die Unschuld auch sich nicht weis zu verwahren,
So viele Seufzer aus;
O Torheit! dass ihr euch darüber Kummer macht,
Ihr könnt denselben sparen;
Wisst, dass ein Weiser nur darüber lacht,
Wenn ihm ein Simei1 durch Lästern fluchet,
Und seinen guten Ruf stets zu vermindern suchet.
Der Schmähsucht Speichel kann die Tugend nicht beflecken,
Er haftet nicht
An ihrem reinen Angesicht.

Wird, wenn die Wesp auf Blumen fällt,
Die Pracht durch ihren Stich verstellt?

Gar nicht, ihr Glanz bleibt unverletzet,
So scharf die Missgunst auch die stumpfen Zähne wetzet,
So dürft ihr doch dafür nicht zittern,
Wer schleppt ein Maultier, das uns tritt,
Gleich vor das Halsgerichte mit?

Durch ein verächtliches und großmutvolles Lachen
Kann man den Neider schamrot machen. 

1 Simei (um 1010–926 v. Chr.) Einwohner Bahurims, der König David flucht und ihn mit Steinen und Erdklumpen bewirft, als dieser auf der Flucht vor Absalom nach Bahurim gelangt. David lässt ihn gewähren und sichert ihm bei seiner Rückkehr das Leben zu (2 Sam 16,5–13; 19,17–24)

Gottfried August Bürger <1747 - 1794>: Trost

Wann dich die Lästerzunge sticht,
So lass dir dies zum Troste sagen:
Die schlechtsten Früchte sind es nicht,
Woran die Wespen nagen.

Franz Grillparzer <1791 - 1872>: Prostitution

Was soll das sittliche Gekreisch,
Verdammend die und jene?
Am Tische hasst nur der das Fleisch,
Der selber ohne Zähne.

Heinrich Hoffmann <1809 - 1894>: Aus: Eine Kartoffelkomödie

Lulu:

Meinen Rat, du Unglücksgimpel,
Willst du? Ruhig überlegten
Hilferat suchst du bei mir.
Narr, so geh' doch hin zum Meere,
Wenn es mit dem Sturme kämpfet,
Und die wilde Woge aufspringt
Himmelhoch bald zornig schäumend,
Und bald wieder abwärts raset
Von des Sturmes Riesenarm gebändigt!
Geh' dann hin zur Brandung, hübsch manierlich,
Mache, wie sich's ziemt, ein Kompliment
Und sprich:
Liebes Meer, so glätte dich ein wenig,
dass ich mich als Spiegel dein bediene.
Sieh', der Sturm hat mir zerzaust die Locken,
Und ich möchte gern sie wieder ordnen! –
Ungeheure, riesenhafte Dummheit!
Rat willst du von mir, in deren Busen
Jetzt die Stürme grauser toben, tiefer
Als in dunklen Meergrund je sich wühlten.
Ungeheurer, riesenhafter Esel!

Kopf-ab-tsching:

Einen Pathos hat die wie Herr Racine,
Und den Seehumor von Heinrich Heine.
Unbegreiflich feuerspeiend Rätsel!

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Pst

Es gibt ja leider Sachen und Geschichten,
Die reizend und pikant,
Nur werden sie von Tanten und von Nichten
Niemals genannt.

Verehrter Freund, so sei denn nicht vermessen,
Sei zart und schweig auch du.
Bedenk: Man liebt den Käse wohl, indessen
Man deckt ihn zu.


4.2.15. dīpaka n. - Beleuchten (eine Form von Zeugma)


Gerow: "enlightener, zeugma"

सकृद्वृत्तिस्तु धर्मस्य प्रकृताप्रकृतात्मनाम् ।
सैव क्रियासु बह्वीषु कारकस्येति दीपकम् ॥१०३॥

sakṛd-vṛttis tu dharmasya prakṛtāprakṛtātmanām ।
saiva kriyāsu bahvīṣu kārakasyeti dīpakam ॥103॥

Beleuchten (dīpaka n.) liegt vor, wenn eine gemeinsame Eigenschaft von verglichenen und vergleichenden Objekten ein einziges Mal ausgedrückt ist.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"der Besitz Armer, das Kopfjuwel von Kobras, die Mähne von Löwen, die Brüste von Mädchen aus guten Familien - wie kann man diese berühren bevor deren Eigentümer tot sind"

"Was frommt ein Sohn, nicht unterrichtet,
Nicht wandelnd auf der Tugend Spur?
Was frommt ein Auge, das vernichtet?
Sie bringen Augenschmerzen nur." (Hitopadeśa, Übersetzung: Hertel)

"Ihren Liebhaber verbrauchen
die Weiber wie den Unterrock;
ihren Hüften umgeschlungen,
zerreiben sich beide,
der eine an der Schönheit hängt,
der andre hängt am Bande." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"Sesamschminke, Toren, Weiber,
Krebse ebenso wie Fische,
Indigo und Trunkenbolde
Lassen nicht, was sie ergriffen." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"Pläne von Schlangen und Stümpern,
die von andrer Schaden leben,
die werden doch nicht vollendet,
denn dadurch besteht diese Welt." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"Wie Ziegen- und wie Eselsdreck,
wie Staub aus einer Bürste,
wie einen unbrauchbaren Docht,
so wirft man weg den Armen." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

Deutsche Beispiele:

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>:

Neumond und geküsster Mund
Sind gleich wieder hell und frisch und gesund.

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>: Frauenherz und Eisenbahn

Ein Frauenherz und eine Eisenbahn, sie gleichen
Sich alle beid' fast auf das Haar;
Wer so mit ihnen fährt, ist gar nicht mehr sein eigen,
Der fremden Macht gehört er ganz und gar,
Den eig'nen Willen muss man ganz vergessen,
Ist man auf beiden einmal - aufgesessen.

Ludwig Thoma <1867 - 1921>: Mai

Was uns der schöne Frühling tut,
Ist lauter Lieb und Wonne.
Den Mädeln wird es so zumut
Wie Katzen in der Sonne.

Sie schnurren rings um uns herum,
Sie lächeln und sie schmeicheln,
Man fühlt was wie ein Fluidum,
Man muss die Tierchen streicheln.

Und kommt man auch nur leis daran,
So ist 's um uns geschehen,
Dem Frühling und dem Baldrian
Kann keiner widerstehen.

Herr Kirchenrat, Sie schweigen still!
Es lässt sich nicht vermeiden.
Wenn Gott die Sache selbst nicht will,
Muss er die Kater schneiden.

Beleuchten (dīpaka n.) liegt auch vor, wenn ein Substantiv ein einziges Mal vorkommt und in Bezug zu vielen Verben steht.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Wenn sie zu Bett gebracht wird, schwitzt die eben verheiratete Frau, weicht zurück, wendet sich ab, flieht, schließt ihre Augen, schaut aus den Augenwinkeln, freut sich im Geheimen und wünscht sich einen Kuss"

"Sie schauert, stöhnet, winselt, zittert, schweigt,
Sinnt, schwärmet, nickt, fällt, strebet, schwiemet hin;
Nur deine Huld erhält die Holde noch,
O Himmelsarzt, sonst bleibt kein Anhalt ihr." (Jayadeva, Übersetzung: Rückert)

"Sie betören, berauschen, betrügen,
sie bedrohen, entzücken, betrüben.
Was treiben nicht die lieblich Blickenden,
die liebend eines Mannes Herzen bestricken!" (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

Deutsche Beispiele:

Matthias Claudius <1740 - 1815>: Der Mensch

Der Mensch

Empfangen und genähret
Vom Weibe wunderbar
Kömmt er und sieht und höret,
Und nimmt des Trugs nicht wahr;
Gelüstet und begehret,
Und bringt sein Tränlein dar;
Verachtet, und verehret;
Hat Freude, und Gefahr;
Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
Hält nichts, und alles wahr;
Erbauet, und zerstöret;
Und quält sich immerdar;
Schläft, wachet, wächst, und zehret;
Trägt braun und graues Haar etc.
Und alles dieses währet,
Wenn's hoch kommt, achtzig Jahr.
Denn legt er sich zu seinen Vätern nieder,
Und er kömmt nimmer wieder.

Joachim Ringelnatz <1883-1934>: Pinguine

Auch die Pinguine ratschen, tratschen,
Klatschen, patschen, watscheln, latschen,
Tuscheln, kuscheln, tauchen, fauchen
Herdenweise, grüppchenweise
Mit Gevattern,
Pladdern, schnattern
Laut und leise.
"Zeugma (griech., »Verbindung«, Synezeugmenon), eine Wortfigur, die darin besteht, das in Satzverbindungen die den einzelnen Sätzen gemeinschaftlichen Glieder nur einmal gesetzt werden. Man nennt eine solche Satzverbindung einen zusammengezogenen Satz (z. B. »Die Begierde besiegte die Scham, die Verwegenheit die Furcht, der Wahnwitz die Vernunft«). Zuweilen kommt es vor, dass ein Verbum seinem Sinne nach nur zu dem einen Subjekt passt, bei dem andern aber ein verwandter oder modifizierter Begriff zu ergänzen ist. In diesem Falle heißt die Figur auch Syllepsis, z. B. im Psalm: »Die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten und seine Ohren (hören) auf ihr Schreien«."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Direc


4.2.15.1 mālādīpaka n. - Beleuchten einer Reihe (eine Form von Zeugma)


Gerow: "[mālā =] garland, a type of zeugma"

मालादीपकमाद्यं चेद्यथोत्तरगुणावहम् ।१०४ क।

mālādīpakam ādyaṃ ced yathottara-guṇāvaham ।104a।

Es heißt Beleuchten einer Reihe (mālādīpaka n.), wenn dabei das jeweils Vorhergehende dem Folgenden Qualität verleiht.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"König, höre, was durch was erreicht wurde, als du in der Schlacht, die Sehne deines Bogens anzogst: die Pfeile durch die Sehne, die Köpfe der Feinde durch die Pfeile, die Erde durch diese Köpfe, du durch die Erde, unvergleichlicher Ruhm durch dich, die Dreiwelt durch deinen Ruhm."

"Für die Familie verlass den Einen,
für die Gemeinde die Familie,
für das Land doch die Gemeinde,
die Erde aber für dich selbst." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

Deutsche Beispiele:

"Sie reisten von Berlin nach Amsterdam, von Amsterdam nach Bern, von dort nach Barcelona, schließlich nach Zagreb und wieder zurück nach Berlin.." (http://www.jugendfuereuropa.de/foerderung/beispiele-guter-praxis/jiprojekte/jimoviemiento/. -- Zugriff am 2012-09-05)


4.2.16. tulyayogitā f. - Verbindung mit Demselben


Gerow: "equal joining"

नियतानां सकृद्धर्मः सा पुनस्तुल्ययोगिता ॥१०४ ख॥

niyatānāṃ sakṛd-dharmaḥ sā punas tulyayogitā ॥104b॥

Verbindung mit Demselben (tulyayogitā f.) liegt vor, wenn eine gemeinsame Eigenschaft nur gleichartiger (d.h. entweder verglichener oder vergleichender) Objekte nur ein einziges Mal ausgedrückt wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Dein bleiches und abgemagertes Geicht, dein trauriges Herz und dein entkräfteter Körper sind Anzeichen einer unheilbaren Krankheit deines Herzens."

"Welchen Wert hat eine Reihe weißer, roter und blauer Lotusse angesichts Deiner Augen? Nektar, Mond und Lotus werden von einem einzelnen Strahl ihres Gesichts übertroffen."

"Laut auf die Blätter der Palme,
Leis' ins Gezweige der Bäume,
Hart auf die Felsen und Steine,
Dumpf in die Flüsse und Teiche, -
Wie zum Gesange einer Laute geschlagen, -
Also im Takte fallen die Tropfen." (Śūdraka, Übersetzung: Winternitz)

"Missgunst, Unverschämtheit, Schwinden des Glückes, Verlust des moralischen Verdienstes, Verlangen nach fremdem Gut und Unansehnlichkeit, alles dieses geht aus der Habsucht hervor." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Bei Pferden, Fahnen, Knaben, feilen Dirnen, Spaßmachern und Gewändern ist Beweglichkeit ein großer Schmuck." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Wohlregierte Frauen und ein Sohn, der weise,
Wohlbediente Fürsten, wohlverdaute Speise,
Wohlbedachte Werke, wohlbedachtes Wort,
Dauern durch die Zeiten unverändert fort." (Hitopadeśa, Übersetzung: Hertel)

Deutsche Beispiele:

Anonym: Romanphrase

Er warf sich in die Ottomane, seinen Hut auf den Tisch, seine Augen auf das Bild, welches sich ihm bot, die Handschuhe in die Ecke, die Arme um des Liebchens Hals und eine freundliche Bemerkung in das eben vernommene Gespräch; beim Abschied allen eine Kusshand zu, die Flinte nicht ins Korn, sondern sich in den Wagen und in die Wogen neuen Schaffens und dann in Morpheus' Arme.

Sprichwort:

Geistliche reinigen das Gewissen,
Ärzte den Leib,
Jesuiten den Beutel.

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>: Schneider-Courage

»Es ist ein Schuss gefallen!
Mein! sagt, wer schoss da drauß?«
Es ist der junge Jäger,
Der schießt im Hinterhaus.

Die Spatzen in dem Garten,
Die machen viel Verdruss.
Zwei Spatzen und ein Schneider,
Die fielen von dem Schuss;

Die Spatzen von den Schroten,
Der Schneider von dem Schreck;
Die Spatzen in die Schoten,
Der Schneider in den –.

Franz Grillparzer <1791 - 1872>:

Als Kaufmann betrog er die Gläubger,
Als Zensor die Musen nun,
Gebt acht! er stirbt noch als Pfaffe,
Um Gleiches an Gott zu tun.

Franz Grillparzer <1791 - 1872>:

Der Nachbar einer Frommen,
Des Weltbeglückers Kind,
Der Diener des Liberalen,
Drei harte Lose sind.

Moritz Gottlieb Saphir <1795 - 1858>: Stammbuchvers

Die Maus in der Falle,
Die Kuh in dem Stalle,
Das Schaf auf der Wiese
Blökt freudig: Luise!

Heinrich Hoffman <1809-1894>: Der Struwwelpeter

Der Friederich, der Friederich,
Das war ein arger Wüterich !
Er fing die Fliegen in dem Haus
Und riss ihnen die Flügel aus.
Er schlug die Stühl' und Vögel tot,
Die Katzen litten große Not.
Und höre nur, wie bös er war:
Er peitschte, ach, sein Gretchen gar !

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Max und Moritz

Rums!! – da geht die Pfeife los
Mit Getöse, schrecklich groß.

Kaffeetopf und Wasserglas,
Tobaksdose, Tintenfass,
Ofen, Tisch und Sorgensitz –
Alles fliegt im Pulverblitz.

Als der Dampf sich nun erhob,
Sieht man Lämpel, der gottlob!
Lebend auf dem Rücken liegt;
Doch er hat was abgekriegt.

Nase, Hand, Gesicht und Ohren
Sind so schwarz als wie die Mohren,
Und des Haares letzter Schopf
Ist verbrannt bis auf den Kopf. –


4.2.17. vyatireka m. - Kontrast


Gerow: "distinction"

उपमानाद्यदन्यस्य व्यतिरेकः स एव सः ।१०५ क।

upamānād yad anyasya vyatirekaḥ sa eva saḥ ।105a।

Kontrast (vyatireka m.) liegt vor, wenn das Verglichene zum Vergleichenden positiv kontrastiert.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Seine Tugenden (guṇa m.) sind nicht zerbrechlich wie die Fasern (guṇa m.) des Lotus"

"Deine die Dattel beschämende Brust hier,
Sprich, was entziehest du selber die Lust ihr?" (Jayadeva, Übersetzung: Rückert)

"Angesichts der Zierlichkeit ihres Ganges kann sich der Flamingo jetzt nicht mehr brüsten; bei ihrem Gespräch müssen die Kokila sich Schweigen auferlegen; bei der Zartheit ihrer Glieder erscheint die Jasminstaude steinhart; bei ihrer Schönheit muss, um es kurz zu sagen, Lakṣmī zum roten Nonnengewand greifen." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Ein Gesicht, das des Mondes spottet, Augen, die Wasserrosen lächerlich zu machen geeignet sind, eine Farbe der Haut, die die des Goldes übertrifft, starkes Haar, das mit einem Bienenschwarm sich messen kann, Brüste, die den Elefanten die Pracht ihrer Stirnbeulen entziehen, schwere Hüften und der Rede glänzende Zartheit sind der Jungfrauen natürlicher Schmuck." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Philipp von Zesen <1619 - 1689>: Auf die Augen seiner Lieben

Ihr Augen voll von Glut! was Glut? Karfunkel-Strahlen:
auch nicht! sie sein ein Blitz, der durch die Lüfte sprüht
und sich aus ihrem Aug bis in die meinen züht.
Nicht Blitze; Bolzen sein's, damit sie pflegt zu prahlen,
damit sie pflegt den Zoll der Liebe bar zu zahlen.
Nicht bolzen; Sonnen sein's, damit sie sich bemüht
zu blenden andrer Licht; die keiner jemals sieht,
der nicht gestraft muss sein. Nicht Sonnen; Sterne strahlen
vom Himmel ihrer Stirn': auch nicht: was seh ich schimmern,
denn Glut ist nicht so feucht, Karfunkel strahlt nicht so,
der Blitz hat minder Kraft, der Pfeil macht ja nicht froh,
die Sonn' ist nicht so stark, ein Stern kann nicht so glimmern,
warum dann siehet sie des Volkes Aberwahn
vor Glut, Karfunkel, Blitz, Pfeil, Sonn und Sternen an?

Martin Opitz <1597-1632>: An ein kleines Mädchen

Die Mädchen und die Frauen,
Die lob' ich für und für.
Die Blumen auf den Auen
Sind nicht von solcher Zier.
Die Sonne, wenn sie strahlet
Vom Morgenlande her,
Hat schöner nie gemalet
Die Länder und das Meer.

Paul Fleming <1609 - 1640>: Als sie im Schnee sich erlustierete

Spiel immer, wie du tust, doch denke dies dabei,
dass unter diesem Scherz auch etwas Ernstlichs sei!
Du übertriffst, mein Lieb, des lichten Schnees Brauch:
so viel du weißer bist, das bist du kälter auch.

Volkslied (1807): Kein Feuer, keine Kohle

1. Kein Feuer, keine Kohle
Kann brennen so heiß,
|: Als heimlich stille Liebe
   Von der niemand nichts weiß. :|

2. Keine Rose, keine Nelke
Kann blühen so schön,
|: Als wenn zwei verliebte Herzen
   Bei einander tun stehn. :|

3. Setz' du mir einen Spiegel
Ins Herz hinein,
|: Dass du kannst darinnen sehen,
   Wie so treu ich es mein'. :|

Klicken! Melodie

[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/keinfeue.html. -- Zugriff am 2012-08-22]


4.2.18. ākṣepa m. - Übergehung (Paralipse)


Gerow: "objection"

निषेधो वक्तुमिष्टस्य यो विशेषभिधित्सया ॥१०६ ख॥
वक्ष्यमणोक्तविषयः स आक्षेपो द्विधा मतः ।१०७ क।

niṣedho vaktum iṣṭasya yo viśeṣābhidhitsayā ॥106b॥
vakṣyamāṇokta-viṣayaḥ sa ākṣepo dvidhā mataḥ ।107a।

Übergehung (Paralipse) (ākṣepa m.) liegt vor, wenn man, um die Wichtigkeit zu betonen, sagt, dass man sagt, dass man nicht darüber sprechen will, obwohl man schon darüber gesprochen hat oder darüber sprechen wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Du Grausame. Du sollst sterben, da du solches tust. Ich will nicht darüber sprechen."

"Dass die nimmer wiederkehrende Zeit unnütz verstreicht, haben wir nicht berücksichtigt; wir haben diese und jene ob des Einbruchs hundertfachen Unglücks widerwärtigen Verhältnisse ertragen. Doch was sollen wir noch viele Worte verlieren? Alles Mögliche haben wir, o wehe, uns selbst zu Leide getan und dennoch wird, so lange wir leben, immer und immer wieder dasselbe unternommen werden." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Dass in dem ungeschlossenen Käfig, dem neuntorigen Körper, der Vogel Luft (Seele) verbleibt, ist wunderbar; dass er sich auf und davon macht, ist so natürlich, dass man darüber nicht zu reden braucht." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Georg Forster <1754 - 1794>: Ansichten vom Niederrhein

Ich übergehe den Unterschied zwischen dem Asiatischen einhörnigen und dem Afrikanischen zweihörnigen Nashorn, der hier an den beiden Schädeln, unter andern auch darin so auffallend ist, dass diesem die Schneidezähne gänzlich fehlen, die jenes besitzt.

Paul Heyse <1830 - 1914>: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse

Es braucht nicht gesagt zu werden, dass wir allem nachgingen, was von italienischer Art und Kunst in dieser halbfranzösischen Stadt vorhanden ist, Kirchen und Theater besuchten, in der Brera unsere ersten Kunststudien machten und das erhabene Wunderwerk Lionardos im Refektorium von Santa Maria delle Grazie, das trotz der Verwüstung durch den Zahn der Zeit und menschliche Rohheit uns gewaltiger ergriff, als alle ergänzenden Nachbildungen, andächtig bewunderten.

"Paralipse (griech., lat. Praeteritio, »Übergehung«), rhetorische Figur, die darin besteht, das man erklärt, etwas übergehen zu wollen, dabei aber gerade und zwar recht nachdrücklich davon spricht."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


4.2.19. vibhāvanā f. - Wirkung ohne entsprechende (fiktive) Ursache


Gerow: "manifesting"

क्रियायाः प्रतिषेधे ऽपि फलव्यक्तिर्विभावना ॥१०७ ख॥

kriyāyāḥ pratiṣedhe 'pi phala-vyaktir vibhāvanā ॥107b॥

Wirkung ohne entsprechende (fiktive) Ursache (vibhāvanā f.) liegt vor, wenn eine Wirkung genannt wird und eine entsprechende Ursache verneint wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Sie floh, obwohl sie nicht von Bienen gestochen wurde" (d.h. sie floh als ob sie von Bienen gestochen worden wäre)

Deutsche Beispiele:

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Der Undankbare

Einen Menschen namens Meier
Schubst man aus des Hauses Tor,
Und man spricht, betrunken sei er;
Selber kam's ihm nicht so vor.

[...]

Plötzlich will es Meier scheinen,
Als wenn sich die Straße hebt,
So dass er mit seinen Beinen
Demgemäß nach oben strebt.

 

Aber Täuschung ist es leider.
Meier fällt auf seinen Bauch,
Wirkt zerstörend auf die Kleider
Und auf die Zigarre auch.


4.2.20. viśeṣokti f. - Unerwartetes Nichteintreffen


Gerow: "giving a difference"

विशेषोक्तिरखण्डेषु कारणेषु फलावचः ।१०८ क।

viśeṣoktir akhaṇḍeṣu kāraṇeṣu phalāvacaḥ ।108a।

Unerwartetes Nichteintreffen (viśeṣokti f.) liegt vor, wenn man sagt, dass eine Wirkung nicht eintritt, obwohl alle Bedingungen dazu vorliegen.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Obwohl sie aufgewacht war, die Sonne aufgegangen war, ihre Freundinnen zur Haustür gekommen waren und ihr Liebhaber seine Umarmungen gelockert hatte, löste sich die Frau nicht aus seinen Umarmungen"

"Obwohl Śiva den Liebesgott entleibt hat, bezwingt der Liebesgott die Dreiwelt"

Deutsche Beispiele:

Carl Friedrich Drollinger (1688 - 1742): Der wider die Gesetze der Arzneikunst genesene Bauer

Ein Bauer machte sich vom Fieber
Mit Wein und Pfeffer glücklich frei.
Ein junger Doktor lachte drüber,
Und sprach, dass das unmöglich sei.
Ja sagte Jener, der genesen,
An diesem liegt mir nicht ein Haar,
Obs möglich oder nicht gewesen;
Genug für mich: Es ist doch wahr.

Gottlieb Konrad Pfeffel <1736 - 1809>: Circe

Nach des Ulysses Koch und Räten
Berührte Circens Wunderstab
Zuletzt auch seinen Hofpoeten,
Dem er die freie Tafel gab.
Er fleht; allein da half kein Flehen:
Werd eine Gans, rief sie. Doch er
Blieb unverwandelt vor ihr stehen
Und sagte seine Verse her.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Hans Huckebein der Unglücksrabe

Dies wird des Raben Ende sein –
So denkt man wohl – doch leider, nein!

Denn – schnupp! – der Tante Nase fasst er;
Und nochmals triumphiert das Laster!


4.2.21. yathāsaṃkhya n. - Parallele Aufzählung (Parallelismus)


Gerow: "each to each"

यथासंख्यं क्रमेणैव क्रमिकाणां समन्वयः ॥१०८ क॥

yathāsaṃkhyaṃ krameṇaiva kramikāṇāṃ samanvayaḥ ॥108b॥

Parallele Aufzählung (yathāsaṃkhya n.) liegt vor, wenn Geordnetes parallel zu Geordnetem genannt wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Herr, du lebst in den Herzen der Feinde, der Gelehrten und der Frauen, indem du in ihnen Furcht, Freude bzw. Liebe entfachst, durch die Hitze deiner Macht, deiner Bescheidenheit bzw. deiner Anmut"

"Wer nach der Dreiheit strebt: nach Religionsverdienst, nach Geld, nach Liebe,
Der gehe - aber nicht mit leerer Hand - zum Priester hin, zum Fürsten und zum Weibe." (Tantrākhyāyika, Übersetzung: Winternitz)

"Der Bösewicht und der Gute machen es wie die Spitze und das Öhr einer Nadel: der Eine macht ein Loch, der Andere aber, der Tugendhafte (mit einem Faden Versehene), schließt es." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Jagd, Würfelspiel und Trunk sind tadelnswert bei Fürsten; das Unglück, das aus ihnen hervorgeht, hat man (der Reihe nach) an Pāṇḍu, Nala und den Vṛṣṇi gesehen." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Aus welchem Grund, durch welches Mittel,
zu welcher Zeit, auf welche Art,
in welcher Form, von welcher Dauer
und endlich auch an welchem Ort
Gut oder Bös man sich zuzieht,
aus diesem Grund, durch dieses Mittel,
zu dieser Zeit, durch diese Art,
in dieser Form, in dieser Dauer
und eben auch an diesem Ort
tritt es durch des Schicksals Macht dann ein." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"Glückauf! Śakuntalā, du tugendhafte,
Das gute Kind, und du o großer König:
Die Frömmigkeit, Vermögen und der Rechtssinn -
Dies Kleeblatt ist zusammen hier gekommen." (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

Deutsche Beispiele:

Martin Opitz <1597 - 1636>:

Die Sonn', ein Pfeil, der Wind, verbrennt, verwundt, weht hin,
Durch Feuer, Schärfe, Sturm mein' Augen, Herze, Sinn.

Quirinus Kuhlmann <1651 - 1689>: Der Wechsel menschlicher Plagen

Auf Nacht, Dunst, Schlacht, Frost, Wind, See, Hitz,Süd, Ost, West, Nord, Sonn, Feur und Plagen.
Folgt Tag, Glanz, Blut, Schnee, Still, Land, Blitz,Wärm, Hitz, Lust, Kält, Licht, Brand und Not.
Auf Leid, Pein, Schmach, Angst, Krieg, Ach, Kreuz, Streit, Hohn, Schmerz, Qual, Tück, Schimpf als Spott
Will Freud, Zier, Ehr, Trost, Sieg, Rat, Nutz, Fried, Lohn, Scherz, Ruh, Glück, Glimpf stets tagen.
Der Mond, Glunst1, Rauch, Gems, Fisch, Gold, Perl, Baum, Flamm, Storch, Frosch, Lamm, Ochs und Magen
Liebt Schein, Stroh, Dampf, Berg, Flut, Glut, Schaum, Frucht, Asch, Dach, Teich, Feld, Wies und Brot.
Der Schütz, Mensch, Fleiß, Müh, Kunst, Spiel, Schiff, Mund, Prinz, Rach, Sorg, Geiz, Treu und Gott
Sucht's Ziel, Schlaf, Preis, Lob, Gunst, Zank, Port, Kuss, Thron, Mord, Sarg, Geld, Hold, Danksagen.
Was gut, stark, schwer, recht, lang, groß, weiß, Eins, ja, Luft, Feur, hoch, weit genennt,
Pflegt bös, schwach, leicht, krumm, breit, klein, schwarz, Drei, nein, Erd, Flut, tief, nah zu meiden.
Auch Mut, Lieb, Klug, Witz, Geist, Seel, Freund, Lust, Zier, Ruhm, Fried, Scherz, Lob muss scheiden,
Wo Furcht, Hass, Trug, Wein, Fleisch, Leib, Feind, Weh, Schmach, Angst, Streit, Schmerz, Hohn schon rennt.
Alles wechselt, alles liebt, Alles scheinet was zu hassen:
Wer aus diesem nach wird denken, muss der Menschen Weisheit fassen.

1 Glunst = noch glühende Asche

Franz Grillparzer <1791 - 1872>: Als den Weibern verboten wurde, in der Kirche zu singen

Die Weiber, wie vom Chor, treibt auch vom Bette sie,
In Rom singt der Kastrat, der Pfaff treibt Sodomie.

Franz Grillparzer <1791 - 1872>: Rothschilds Sammlung für die Armen

Im Schenken ohne Maß, im Darleihn klug bedacht,
Erquickst du Bettler heut, die gestern du gemacht.

"Parallelismus (griech.), eine Art der Übereinstimmung des Verschiedenen, die darin besteht, dass den Elementen oder Teilen des einen Elemente oder Teile des andern in gesetzmäßiger Weise entsprechen; in der Rhetorik und Poetik die Aneinanderreihung von Satzteilen oder Sätzen gleichen oder irgendwie verwandten Inhalts (P. membrorum), besonders häufig in der hebräischen Poesie der Bibel. Man unterscheidet vorwiegend den synonymen P., wie 5. Mos. 32,2: »Träufle wie Regen meine Lehre, fließe wie Tau mein Wort«, und den antithetischen P., wie Spr. Sal. 10,1: »Ein weiser Sohn erfreuet den Vater, ein törichter Sohn ist der Kummer der Mutter«."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


4.2.22. arthāntaranyāsa m. - Bestätigung durch etwas Allgemeines oder etwas Spezielleres


Gerow: "introduction of another matter"

सामान्यं वा विशेषो वा तदन्येन समर्थ्यते ।
यत् तु सो
ऽर्थान्तरन्यासः साधर्म्येणेतरेण वा ॥१०९॥

sāmānyaṃ vā viśeṣo vā tad-anyena samarthyate ।
yat tu so 'rthāntaranyāsaḥ sādharmyeṇetareṇa vā ॥109॥

Bestätigung durch etwas Allgemeines oder etwas Spezielleres (arthāntaranyāsa m.) liegt vor, wenn

bestätigt wird. Das Bestätigende kann etwas Ähnliches oder etwas Gegensätzliches sein.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Wessen Geist durch seine eigenen Fehler verblendet sind, sieht auch das Beste als schlecht. Jemand, der Gelbsucht hat, sieht auch die schneeweiße Schneckenschale als gelb." (Dem Schwein ist alles Schwein)

"Weh mir, dass ich so Schreckliches aussprechen muss. Selig sind die, die sterben können ohne das Verderben ihrer Freunde gesehen zu haben."

"Auch heute noch lässt Śiva, wie wir wissen, das (bei der Quirlung des Ozeans zum Vorschein gekommene Gift) Kālakūṭa (welches er verschluckte) nicht fahren; auch heute noch trägt ja die Schildkröte die Erde auf ihrem Rücken; auch heute noch erträgt das Meer das schwer zu ertragende höllische Feuer: Tugendhafte halten was sie versprochen." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"In dem fürwahr nichtigen Leben ist das Haus des Schwiegervaters das Beste: Śiva ruht auf dem Himālaya (dem Vater seiner Gattin Durgā), Viṣṇu ruht im großen Ocean (dem Vater seiner Gattin Lakṣmī). (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Man sagt, dass Indra ein Eunuch, der Mond fleckig, Kṛṣṇa der Sohn eines Kuhhirten, Vyāsa der Sohn eines Fisches und das Meer geschmacklos sei, dass das Feuer Alles esse, dass Vasiṣṭha der Sohn einer Buhldirne sei, und nach der Aussage des Volkes sind die Pāṇḍava Bastarde: erwäge solches und dann sage mir, o Fürst, wer keinen Fehler hat." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Zu preisen sind, o schöner Topf, die hundert Schläge mit dürrem Holze, zu preisen der stechende Sonnenschein, gar sehr zu preisen die Leiden der schönen Lehmmasse, zu preisen dein heftiges Brennen im Feuer, weil du dadurch der Freuden des Schaukelvergnügens zwischen der Geliebten Busen und Armlianen teilhaftig geworden bist: ohne Leiden gelangt man nimmer zu Freuden!" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Es gilt für kein Verbrechen Schnaps zu trinken in Magadha, Arack zu genießen in Kaliṅga, seines Bruders Frau beizuwohnen in Odra, Fische zu essen in Gauda und seines mütterlichen Oheims Tochter zu heiraten in Drāvida: die Sitte, die in einem Lande herrscht, wird durch die Tradition bestimmt." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Ein angeerbt Geschäft fürwahr, auch wenn's
Verrufen ist, darf nicht verlassen werden.
Das Tiereschlachten ist ein grausam Handwerk:
Der Opferpriester aber ist barmherzig." (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

Deutsche Beispiele:

Franz Grillparzer <1791 - 1872>: Klerisei

Nichts zwecklos in der weiten Welt,
So lehrten schon die klugen Alten,
Der Mück und Fledermaus erhält,
Wird fürder wohl auch uns erhalten.

Heinrich Heine <1797 - 1856>:

Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.

»Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück


4.2.23. virodha m. - Behaupteter Gegensatz


Gerow: "contradiction"

विरोधः सो ऽविरोधे ऽपि विरुद्धत्वेन यद्वचः ।११० क।

virodhaḥ so 'virodhe 'pi viruddhatvena yad vacaḥ ।110a।

Behaupteter Gegensatz (virodha m.) liegt vor wenn etwas als gegensätzlich behauptet wird, obwohl kein wirklicher (sondern nur scheinbarer) Gegensatz vorliegt.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"In deiner Gegenwart sind Berge nicht hoch, der Wind nicht schnell, die Erde extrem leicht."

"Er, der die Welt schafft erhält und zerstört, wurde ein Fisch - das ist seltsam!"

"In deiner Gegenwart werden die durch Hausarbeit schwieligen Hände der Frauen zart wie Lotus." 

 "Viele Ärzte, die ausschließlich den Āyurveda studieren, sieht man dennoch mitsamt ihren Angehörigen von Krankheiten heimgesucht werden." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Eine Liane wächst wohl auf einem Berge, aber niemals erhebt sich ein Berg aus einer Liane; jetzt sehen wir aber das umgekehrte Verhältnis: auf einer Goldliane (einem schlanken Körper) erhebt sich ein Hügelpaar (die Brüste)." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Der diese Dreiwelt in seine Gewalt gebracht, obgleich er Zwergsgestalt angenommen hatte ... der möge dich stets beschützen ..." (Śivadāsa, Übersetzung: Heinrich Uhle)

Deutsche Beispiele:

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Kritik des Herzens (1874)

Er war ein grundgescheiter Mann,
Sehr weise und hocherfahren;
Er trug ein graumeliertes Haar,
Dieweil er schon ziemlich bei Jahren.

Er war ein abgesagter Feind
Des Lachens und des Scherzens
Und war doch der größte Narr am Hof
Der Königin seines Herzens.

Anonym: Grabinschrift für einen Vegetarier

Nur Grünzeug aß er und Spinat,
Auch Kukurutz mit Hindernissen,
Jedoch trotz Kräuticht und Salat
Hat ungern er ins Gras gebissen.


4.2.24. svabhāvokti f. - Ausdruck des Eigentümlichen


Gerow: "telling the nature (of a thing)"

स्वभावोक्तिस्तु डिम्भादेः स्वक्रियारूपवर्णनम् ॥१११ ख॥

svabhāvoktis tu ḍimbhādeḥ svakriyā-rūpa-varṇanam ॥111b॥

Ausdruck des Eigentümlichen (svabhāvokti f.) ist die Schilderung von einem Kind usw. eigentümlichen Handlungen und Aussehen.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Wenn ein Pferd erwacht, streckt es seine Hinterbeine, streckt es seinen Körper, neigt seinen Kopf auf seine Brust .... "

"Wenn du ihn fütterst, regt den Schwanz der Hund,
Fällt dir zu Füßen, wälzt sich auf dem Grund,
Liegt auf dem Rücken, zeigt den offnen Schlund.
Die Blicke ruhig vor sich hin gewandt,
Erst kosend hundertmal von dir genannt,
Bequemt zum Mahle sich der Elefant." (Hitopdeśa, Übersetzung: Hertel)

"Die tiefbekümmert ist, wenn ich in Kummer bin,
Die froh ist, wenn ich heiter bin, die traurig ist,
Wenn ich in Trauer bin, die, wenn im Zorn ich rase,
Ein heilsam Wort nur spricht,
Gescheite Reden führt, an meinem Lob sich freut -
Gemahlin, Rat und Freund und Dienerschaft zugleich,
Nur eine ist sie und zu vielen wird sie doch." (Bhāsa, Übersetzung: Winternitz)

"Einen Brahmanen, der, am Waldleben stets seine Lust habend, Tag für Tag mit wildwachsenden Früchten und Wurzeln Totenopfer darbringt, nennt man einen Ṛṣi." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Es schütze die Dreiwelt der unbesiegbare Liebesgott, dessen Bogen ein Zuckerrohrstängel ist, dessen Pfeile aus einem Blumenstrauß bestehen, dessen Bogensehne eine Bienenreihe ist, dessen Befehlen Männer, die Königreiche beherrschten, und Andere willig folgten, und von dessen Pfeilen getroffen Brahman, Viṣṇu, Śiva, Indra und andere Götter, so zu sagen, in den Besitz aller Freuden gelangten."" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Michael Richey <1678 - 1761>: Auf die neuesten Regeln der Politik

Verlache, voller Witz, die Einfalt frommer Alten;
Versprich im Überfluss, und denke nichts zu halten;
Erspare keinen Schwur; sei jedermann bereit;
Und trage stets den Mund voll Dienstgefließenheit:
Doch, wenn man deiner braucht, so zeuch den Fuß zurück;
Verändre, nach der Kunst, die sonst gefällgen Blicke;
Und sage nein, doch so, dass man dir danken muss:
So bist du rechter Art, ein Erz Politikus.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Kritik des Herzens (1874)

Wärst du wirklich so ein rechter
Und wahrhaftiger Asket,
So ein Welt- und Kostverächter,
Der bis an die Wurzel geht,

Dem des Goldes freundlich Blinken,
Dem die Liebe eine Last,
Der das Essen und das Trinken,
Der des Ruhmes Kränze hasst –

Das Gekratze und Gejucke,
Aller Jammer hörte auf;
Kracks! mit einem einz'gen Rucke
Hemmtest du den Weltenlauf.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Die Affen

Der Bauer sprach zu seinem Jungen:
Heut in der Stadt da wirst du gaffen.
Wir fahren hin und seh'n die Affen.
Es ist gelungen
Und um sich schief zu lachen,
Was die für Streiche machen
Und für Gesichter
Wie rechte Bösewichter.
Sie krauen sich,
Sie zausen sich,
Sie hauen sich,
Sie lausen sich,
Beschnuppern dies, beknuppern das,
Und keiner gönnt dem andern was,
Und essen tun sie mit der Hand,
Und alles tun sie mit Verstand,
Und jeder stiehlt als wie ein Rabe.
Pass auf, das siehst du heute.
O Vater, rief der Knabe,
Sind Affen denn auch Leute?
Der Vater sprach: Nun ja,
Nicht ganz, doch so beinah.

Ludwig Thoma <1867 - 1921>: Querelles allemandes

Aufzustehen – hochzuschreien –
Blech zu quatschen – Mücken seihen –
Das ist deutsch und treu und echt –
Sakrament! Mir wird es schlecht!

Erich Mühsam <1878 - 1934>: Rezept

Auf Schmerzenszeichen, Dichter, sei bedacht:
zum Beispiel in den Augen trübes Leuchten,
weil ja Betrübnisse den Blick befeuchten,
obwohl ringsum ein lichter Frühling lacht.
Die Haare hängen wirr um Stirn und Ohren, —
denn wer sich grämt, denkt selten an den Kamm.
Die Füße aber waten schmerzverloren im Rinnstein durch den aufgekehrten Schlamm.
Die Finger, selbstverständlich schwarzumrändert,
sie ballen sich in herber Qual zur Faust.
Kein Sinn verrät, was um mich saust und braust
und wer etwan des gleichen Weges schlendert.—
So dicht’ ich mich. Dann tupf ich auf das Bild
hier Sehnsuchtsschatten und da Liebeslicht,
und meine Seele stimmt sich wieder mild.
Denn wohlgefügt ist dieses Schmerzgedicht.


4.2.25. vyājastuti f. - Ironisches Lob bzw. ironischer Tadel


Gerow: "deceptive eulogy"

व्याजस्तुतिर्मुखे निन्दा स्तुतिर्वा रूढिरन्यथा ।११२ क।

vyājastutir mukhe nindā stutir vā rūḍhir anyathā ।112a।

Ironisches Lob bzw. ironischer Tadel liegt vor, wenn, was anscheinend Tadel oder Lob ist, gegenteilig verstanden werden muss.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"König, du bist niemand gegenüber schamlos, außer gegenüber Lakṣmī, der Göttin des Reichtums, die du wegschenkst. Obwohl sie von dir so schlecht behandelt wird, bleibt sie bei dir" (der scheinbare Tadel über die schlechte Behandlung von Lakṣmī ist ein Lob der Freigebigkeit des Königs)

"Ich verbeuge mich vor dir, o Göttin Gier, die du alle Besonnenheit zu Schanden machst, da du ja Viṣṇu, obgleich er der Herr der Dreiwelt ist, in einen Zwerg umgewandelt hast." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Matthias Claudius <1740 - 1815>: Einem Rezensenten zu Ehren

Heil, Heil, dem Kritikaster!
    Zweimal zu lesen hasst er,
Und läs er zehnmal; sein Gesicht
    Scheint schwach, er säh es doch wohl nicht.

Aloys Blumauer <1755 - 1798>: An die Langeweile

Unsterbliche, geliebte Schöne,
Bei deren Lob ich jetzt schon gähne,
Dich preise heute mein Gesang:
Was uns kein Aesculap kann geben,
Gibst du uns; denn du machst das Leben
Uns bis zum Überdrusse lang.

In deinem Arm allein verweilet
Die Göttin, die so schnell sonst eilet,
Die gold'ne, ach! so flücht'ge Zeit;
Und wenn du auch im Himmel wohnest,
Und dort die Sterblichen belohnest,
Wie freu'n wir uns der Ewigkeit!

Du lehrst des Lebens uns genießen,
Zu deinen bleibeschwerten Füßen
Gähnt seufzend eine halbe Welt:
Die göttlichste aus allen Gaben,
Die Ruhe, kann Gott selbst nicht haben,
Wenn er sie nicht durch dich erhält.

Du lehrst Sultane Bilder schnitzen,
Die Damen ihre Zungen spitzen,
Und auf des Nächsten Leumund schmäh'n.
Ja, deine schönen Siegstrophäen
Kann man in allen Assembleen
An hundert offnen Mäulern seh'n.

Der Mönch auf seinem harten Brette,
Der Abt auf seinem Flaumenbette,
Umarmen gleich inbrünstig dich,
Und manche Prediger ereifern
Auf unsern Kanzeln bis zum Geifern
Allein für deine Ehre sich.

Du thronst auf großen Folianten:
Ein ungeheures Heer Pedanten
Steht immerdar in deinem Sold,
Und ach, du lieber Gott! was täten
Romanenschreiber und Poeten,
Wärst du nicht auch den Schluckern hold?

Du wohnst in prächtigen Palästen,
Du präsidierst bei allen Festen,
Die man an Fürstenhöfen hält;
Und o! die Grossen dieser Erde,
Was hätten sie wohl für Beschwerde,
Wärst du's nicht, was sie manchmal quält?

Von dir begeistert, weist die Schöne
Dem Stutzer ihre weißen Zähne,
Und gähnet ihn ekstasisch an:
Du hüllst dich in die reichsten Kleider,
Und nur zu oft trifft man dich, leider!
Auf schönen Mädchenlippen an.

Um deine Freundin Zeit zu töten
Erfand man zwar in großen Städten
Spektakel, Feuerwerk und Spiel;
Allein man gähnet bei Raketten,
Bei Trauerspielen, Operetten,
So wie bei Lomber und Quadrill.

Ja selbst in diesem Augenblicke
Beweist zu meiner Leier Glücke
Sich deine große Macht an mir:
Denn dieses Loblied, das ich singe,
Und das ich dir zum Opfer bringe,
Sing' ich aus langer Weile dir.

Heinrich Heine <1797 - 1856>: Vermächtnis

Nun mein Leben geht zu End',
Mach ich auch mein Testament;
Christlich will ich drin bedenken
Meine Feinde mit Geschenken.

Diese würd'gen, tugendfesten
Widersacher sollen erben
All mein Siechtum und Verderben,
Meine sämtlichen Gebresten.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Ein galantes Abenteuer

Der Morgen graut. Ich kam per Bahn
Stolz in der Stadt der Welfen an.

Und wie ich wandle, seh' ich walten
Im Morgenscheine fünf Gestalten.

»Seid mir gegrüßt, ihr edlen Frauen,
So wunderlieblich anzuschauen!«

»Wat het he seggt?!« So tönt's im Chor,
Fünf Besen heben sich empor.

Ich stolp're in ein Kehrichtfass;
Die Besen sind sehr dürr un

Kaum rett' ich mich, schon halb verdroschen,
Mit 25 Silbergroschen.

Das hemmt der Besengarde Lauf. –
Ein Bad nimmt meine Glieder auf.

So geht's! – Bei Damen sollst du fein
Gar niemals nicht ironisch sein.

Frank Wedekind <1894 - 1918>: Reaktion

Maulkorb, Maulkorb über alles;
Wenn der Maulkorb richtig sitzt,
Wird man immer schlimmsten Falles
Noch als Hofpoet benützt.

Richard Dehmel <1863 - 1920>: Wiegenlied für meinen Jungen

Schlaf, mein Küken – Racker, schlafe!
Kuck: im Spiegel stehn zwei Schafe,
bläkt ein großes, mäkt ein kleines,
und das kleine, das ist meines!
Bengel, Bengel, brülle nicht,
du verdammter Strampelwicht.

[...]

Warte nur, du Satansrachen:
heute Nacht, du kleiner Drachen,
durch den roten Höllenbogen
kommt ein Schmetterling geflogen,
huscht dir auf die Nase, hu,
deckt dir beide Augen zu;

[...]


4.2.26. sahokti f. - "Zusammen mit"


Gerow: "speech containing the word 'with'"

सा सहोक्तिः सहार्थस्य बलादेकं द्विवाचकम् ॥११२ ख॥

sā sahoktiḥ sahārthasya balād ekaṃ dvi-vācakam ॥112b॥

"Zusammen mit" (sahokti f.) liegt vor, wenn kraft eines Ausdrucks im Sinne von "zusammen mit" (saha) zweierlei ausgedrückt wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Wegen ihrer Trennung von dir fallen ihr Tränenströme zusammen mit ihren Juwelenhalsbändern herunter, ihre Hoffnung wird zusammen mit ihrem Körper schwach."

Deutsche Beispiele:

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Wir sahen uns nicht wieder,
Das ist Liebe und Zahnweh!

Arno Holz <1863 - 1929>: Einem Kritiker

Das größte Maul und das kleinste Hirn
Wohnen meist unter derselben Stirn.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Der heilige Antonius von Padua

Und sprach gerührt: »Du gutes Schwein,
Du sollst nun ewig bei mir sein!«

So lebten die zwei in Einigkeit
Hienieden auf Erden noch lange Zeit,

 

Und starben endlich und starben zugleich
Und fuhren zusammen vors Himmelreich. –


4.2.27. vinokti f. - "Ohne"


Gerow: "speech including the word 'without'"

विनोक्तिः सा विनान्येन यत्रान्यः सन्न नेतरः ।११३ क।

vinoktiḥ sā vinānyena yatrānyaḥ san na netaraḥ ।113a।

"Ohne" (vinokti f.) liegt vor, wenn das Eine ohne das Andere gut bzw. schön ist oder schlecht bzw. unschön.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Ohne Nacht ist der Mond nicht schön; ohne Mond ist die Nacht nur Finsternis; und ohne beide leuchtet die Liebe von Liebenden nicht."

"Und wär' ein Haus mit aller Glückesfülle auch gesegnet,
So ist es, fehlt darin die Hausfrau mit Gazellenaugen,
Nichts andres als ein öder Wald." (Jagannātha, Übersetzung: Winternitz)

"Scheine Lampe, glänze Feuer, leuchte Sonne, Mond und Stern;
Fern von euch, Gazellenaugen, ist die Welt mir Finsternis." (Bhartṛhari, Übersetzung: Rückert)

Wie eine Schlange ohne Zahn,
wie ein brunstloser Elefant,
so wird ein König ohne Burg
besiegbar leicht für alle Welt." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"Was ist Wissen ohne Dichtergabe? Was Reichthum ohne Spenden an Bedürftige? Was Tugend ohne Mitleid? Was ist wohl ein Fürst ohne kluges Benehmen? Was ein Sohn ohne gesittetes Benehmen? Was eine achtbare Frau ohne Liebe zu ihrem Herrn? Was Genuss ohne ein reizendes Weib? Was das Leben auf Erden ohne Ruhm?" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Ein Tag ohne Sonne, hohe Stellung ohne Freigebigkeit, Größe ohne Anstand, Würde ohne Beredsamkeit, ein See ohne Wasserrosen, ein Palast ohne Schätze und eine Familie ohne Sohn erscheinen nicht schön." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Schmuck ohne Kleider, Speise ohne Butter, Gesang ohne Stimme, Beischlaf ohne Liebe!" (Śivadāsa, Übersetzung: Heinrich Uhle)

"Wer nicht eine Geliebte umarmt hat, mit weichem Körper und Lotusantlitz, mit zusammenschließenden, vollen, harten, schönen, runden Brüsten, der Blüte des Śiṃśapabaums [Dalbergia sissoo Roxb.] gleich, durch weiche Arme gekennzeichnet, dessen Leben, Geburt und Reichtum ist alles zusammen nichts nütze" (Śivadāsa, Übersetzung: Heinrich Uhle)

Deutsche Beispiele:

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>: Ein Aber dabei

Es wäre schön, was Guts zu kauen,
müsste man nur nicht auch verdauen,
Es wäre herrlich, genug zu trinken,
Tät' einem nur nicht Kopf und Knie sinken,
Hinüber zu schießen, das wären Possen,
Würde nur nicht wieder herüber geschossen,
Und jedes Mädchen wär' gern bequem,
Wenn nur eine andre ins Kindbett käm'.

Franz Grillparzer <1791 - 1872>:

Studenten, die nicht studieren,
Garden, die nichts bewachen,
Regierungen, die nicht regieren,
Das sind mir schöne Sachen!

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Was wär' das Leben immer
Wohl ohne Frauenzimmer?
Ein Demant ohne Schimmer,
Ein Himmel ohne Blau,
Ein Morgen ohne Tau,
Ein Garten ohne Duft,
Ein Atem ohne Luft,
Ein Ärmel ohn' Gigot1,
Ein Stutzer ohn' Jabot1,
Ein Mädchen ohne Herz,
Ein Dasein ohne Scherz,
Ein Nachtstück ohne Licht,
Ein Wechsel ohne Sicht,
Ein Feldzug ohne Feld,
Ein Freier ohne Geld,
Jedoch wo sie sind, sie,
Da fehlt die Sonne nie,
Da herrscht des Seins Magie,
    Harmonie,
    Poesie,
    Symmetrie,
Wenn auch nicht immer Orthographie!

1 Gigot: Lammkeule; Keulenärmel
2 Jabot: Hemdkrause, Brustkrause


4.2.28. parivṛtti f. - Tausch


Gerow: "exchange"

परिवृत्तिर्विनिमयो यो ऽर्थानां स्यात्समासमसमैः ॥११३ ख॥

parivṛttir vinimayo yo 'rthānāṃ syāt samāsamaiḥ ॥113b॥

Tausch (parivṛtti f.) liegt vor, wenn ein Objekte mit Gleichem oder Ungleichem ausgetauscht werden.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Der Wind schenkt blühenden Kriechpflanzen anmutige Bewegungen und empfängt dafür ihren einmaligen Duft; die Kriechpflanzen aber empfangen vom Wanderer einen Blick und geben ihm dafür Schmerzen und Verwirrung."

"Haue nicht einen von Tigern bewohnten Wald nieder, damit nicht die Tiger aus dem Walde verschwinden: der Wald wird ja von den Tigern beschützt und er schützt ja wiederum die Tiger." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Es lasse Indra reichen Regen fallen
Auf deine Untertanen; aber du
Spend Opfer und erfreu die Himmlischen
In vollem Maß!" (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

Deutsche Beispiele:

Angelus Silesius <1624 - 1677>: Der gute Tausch

Mensch, gibst du Gott dein Herz, er gibt dir seines wieder;
Ach, welch ein werter Tausch! du steigest auf, er nieder.

Friedrich Martin von Bodenstedt <1819 - 1892>: Die Lieder des Mirza-Schaffy

Die Weisheit gibt der Anmut Stärke,
Die Anmut gibt der Weisheit Glanz.

Friedrich Theodor Vischer <1807 - 1887>: Faust III

LIESCHEN.
O nein, mein Guter, du auch bildest mich,
Ich dich durch des Gefühles zarte Bande,
Du mich mehr mit dem männlichen Verstande;
O Wechselbildung schön und förderlich!
O Wonne, zu des höchsten Himmels Hallen
Einander bildend so emporzuwallen!


4.2.29. bhāvika n. - Vorstellung


Gerow: "expressive"

प्रत्यक्षा इव यद्भावाः क्रियन्ते भूतभाविनः ।
तद्भाविकम् ॥११४॥

pratyakṣā iva yad bhāvāḥ kriyante bhūta-bhāvinaḥ ।
tad bhāvikam ॥114॥

Vorstellung (bhāvika n.) liegt vor, wenn vergangene bzw. zukünftige Zustände wie wahrnehmbar dargestellt werden.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Da war die Augenschminke, ich sehe deine Augen; ich sehe deinen Körper mit dem Schmuck, den du anlegen wirst."

"Wer anders als der Dichter, der dem Schöpfer gleich
Die lieblichsten Gestalten hervorzuzaubern weiß,
Vermag vergang'ne Zeit als Gegenwart zu zeigen?" (Kalhaṇa, Übersetzung: Winternitz)

Deutsche Beispiele:

Christoph Martin Wieland <1733–1813>:

Goethe hat gewiss poetische Momente, wo er sich für den Heiligen Geist, die Vulpia für die gebenedeite Jungfrau und seinen Jungen für das Christuskind hält.

E. T. A. Hoffmann <1776 - 1822>: Lebensansichten des Katers Murr

Ich stimmte endlich ein Liedlein an im wehmütigsten Ton, ungefähr folgendermaßen:

Rauschende Wälder, flüsternde Quellen,
Strömender Ahnung spielende Wellen,
Mit mir o klaget!
Saget, o saget!
Miesmies, die Holde, wo ist sie gegangen,
Jüngling in Liebe, Jüngling, wo hat er
Miesmies, die süße Huldin, umfangen?
Tröstet den Bangen.
Tröstet den gramverwilderten Kater!
Mondschein, o Mondschein,
Sag' mir, wo thront mein
Artiges Kindlein, liebliches Wesen!
Wütender Schmerz kann niemals genesen!
Trostloser Liebender kluger Berater,
Eil' ihn zu retten
Von Liebesketten,
Hilf ihm, o hilf dem verzweifelnden Kater.

Seht ein, geliebter Leser, dass ein wackerer Dichter weder sich im rauschenden Walde befinden, noch an einer flüsternden Quelle sitzen darf, ihm strömen der Ahnung spielende Wellen doch zu, und in diesen Wellen erschaut er doch alles, was er will, und kann davon singen, wie er will. Sollte jemand über die hohe Vortrefflichkeit obiger Verse zu sehr in Erstaunen geraten, so will ich bescheiden ihn darauf aufmerksam machen, dass ich mich in der Ekstase befand, in verliebter Begeisterung, und nun weiß jeder, dass jedem, der von dem Liebesfieber ergriffen, konnt' er auch sonst kaum Wonne auf Sonne und Triebe auf Liebe reimen, konnt' er, sag' ich, auf diese nicht ganz ungewöhnlichen Reime trotz aller Anstrengung sich durchaus nicht besinnen, plötzlich das Dichten ankommt und er die vortrefflichsten Verse heraussprudeln muss, wie einer, der vom Schnupfen befallen, unwiderstehlich ausbricht in schreckliches Niesen. Wir haben dieser Ekstase prosaischer Naturen schon viel Vortreffliches zu verdanken, und schön ist es, dass oft dadurch menschliche Miesmiese von nicht sonderlicher Beauté auf einige Zeit einen herrlichen Ruf erhielten. Geschieht das nun am dürren Holz, was muss sich am grünen begeben? – Ich meine, werden schon hündische Prosaiker bloß durch die Liebe umgesetzt in Dichter, was muß erst wirklichen Dichtern geschehen in diesem Stadium des Lebens? – Nun! weder im rauschenden Walde saß ich, noch an flüsternder Quelle, ich saß auf einem kahlen hohen Dache, das bisschen Mondschein war kaum zu rechnen, und doch flehte ich in jenen meisterhaften Versen Wälder und Quellen und Wellen und zuletzt meinen Freund Ovid an, mir zu helfen, mir beizustehen in der Liebesnot.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Kritik des Herzens

Wie schad, dass ich kein Pfaffe bin.
Das wäre so mein Fach.
Ich bummelte durchs Leben hin
Und dächt' nicht weiter nach.

Mich plagte nicht des Grübelns Qual,
Der dumme Seelenzwist,
Ich wüßte ein für allemal,
Was an der Sache ist.

Und weil mich denn kein Teufel stört,
So schlief ich recht gesund,
Wär wohlgenährt und hochverehrt
Und würde kugelrund.

Käm dann die böse Fastenzeit,
So wär ich fest dabei,
Bis ich mich elend abkasteit
Mit Lachs und Hühnerei.

Und dich, du süßes Mägdelein,
Das gern zur Beichte geht,
Dich nähm ich dann so ganz allein
Gehörig ins Gebet.

Edwin Bormann <1851 - 1912>: Universal-Phantasie

Wenn der Mensch zur Dämmerstunde
mit der Einsamkeit im Bunde
grübelnd auf dem Sofa weilt,
dann geschieht es wohl bisweilen,
dass Gedanken ihn ereilen,
wie sie ihn noch nie ereilt.

Und er fühlt es ahnungsschaurig,
wie sein Geist, halb froh, halb traurig,
auf der Menschheit Spitzen klimmt;
und er sieht von hohen Gletschern,
wie sein Herz mit leisem Plätschern
in dem Universum schwimmt.

Ach, die ganze Weltgeschichte
schwebt in flüchtigem Gesichte
tatenschwer an ihm vorbei,
von der Menschheit Sündenfalle
bis zum jüngsten Mörserknalle
hinten weit in der Türkei.

Bald ergreift ihn Wonnebeben,
und fast momentan daneben
stöhnt in Schmerz sein ganzes Ich;
liebeleere Schluchten klaffen,
wo noch jüngst mit zarten Waffen
sanft die Hoffnung ihn beschlich.

Jetzt umtönen Flötenklänge,
holde Seraphimgesänge
schmeichlerisch sein trunknes Ohr...
Wehe! sie verstummen, schweigen,
und der Rachegeister Reigen
tobt im Höllentamtamchor!

Diese und noch manche weitre
düstre Phantasien und heitre
haben schon den Geist ereilt,
wenn der Mensch zur Dämmerstunde
mit der Einsamkeit im Bunde
grübelnd auf dem Sofa weilt.

Karl Kraus <1874 - 1936>: Wollust

O Unterschied im Liebesspiele!
Wie kommt es aus ganz andern Quellen:
bei ihr zu sein,
und sie sich vorzustellen!
Denn sie ist nur ein Schein;
doch wenn sie fern, erwachsen die Gefühle.

Kurz ist die Gier,
und man ist bald am Ziel
und fühlt nur eben, was man fühle;
das ist nicht viel.
Gern wär' man aus dem Spiele,
ist man bei ihr.

Wie bin ich anders aufgewühlt,
ist sie entrückt!
Wie wird sie vielfach neu und nah

und endlos bleibe ich verzückt,
denn sie, sie selbst ist da,
und ich, ich fühle, was sie fühlt!


4.2.30. kāvyaliṅga n. - Poetische Begründung


Gerow: "poetic cause"

काव्यलिङ्गं हेतोर्वाक्यपदार्थता ॥११४ ख॥

kāvyaliṅgaṃ hetor vākya-padārthatā ॥114b॥

Poetische Begründung (kāvyaliṅga n.) liegt vor, wenn der Sinn eines Satzes oder eines Wortes eine Begründung ist.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Śiva, daraus, dass ich jetzt einen Körper besitze, schließe ich, dass ich mich in einer früheren Geburt nicht vor dir verneigte; indem ich mich jetzt vor dir verneige, werde ich erlöst und kann mich, körperlos, nicht in einer künftigen Geburt vor dir verneigen. Großer Śiva, verzeih mir beide Vergehen."

"Beschmieren mit Asche - Ade! Rosenkranz - Alles Gute! Heute taucht mich Śiva in die große Dunkelheit, die Erlösung heißt, die das Licht der Freude Löscht, die der Dienst an ihm bereitet."

"Rot und gelb und braun erstrahlen dort der Wolken Spitzen
Gleich als hätt' die Abenddämm'rung sie mit ihren schönsten
Farben selbst gemalt und ausgeschmückt, nur weil sie wusste,
Dass du, krausgelockte Schöne, einst sie schauen werdest." (Kālidāsa, Übersetzung: Winternitz)

"Seimberauschte1, von der Trunkenaugigen berichte mir!
Aber nein, du hast gewiss den Schmuck der Frauen nicht gesehen;
Hättest du den Duft gekostet, welcher ihrem Mund enthaucht,
O, wie könntest du Vergnügen finden an dem Lotos hier?" (kālidāsa, Übersetzung: Rückert)

1 = Biene

"Tritt flugs ins Haus und bleibe nicht draußen stehen, o Geliebte, da jetzt gerade die Zeit ist, dass der Mond gepackt wird. Pass' auf, wenn Rāhu deinen Antlitzmond von reinem Glanze erblickt, verschlingt er ihn bestimmt, indem er den Vollmond laufen lässt." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele <1597 - 1639>:

Martin Opitz:

Mein Ganzes und mein Nichts, mein' Irrung und mein Port,
Mein Schatten und mein Glanz, doch der anjetzt ist fort,
Du wurdest aus Befehl der Venus umgebracht,
Weil deine Zierlichkeit sie schamrot hat gemacht
.

August Wilhelm Schlegel <1767 - 1845>: Schillers Lob der Frauen

Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe,
Wollig und warm, zu durchwaten die Sümpfe,
Flicken zerrißene Pantalons aus;
Kochen dem Manne die kräftigen Suppen,
Putzen den Kindern die niedlichen Puppen,
Halten mit mäßigem Wochengeld Haus.

Doch der Mann, der tölpelhafte
Find't am Zarten nicht Geschmack.
Zum gegornen Gerstensafte
Raucht er immerfort Tabak;
Brummt, wie Bären an der Kette,
Knufft die Kinder spat und fruh;
Und dem Weibchen, nachts im Bette,
Kehrt er gleich den Rücken zu. u.s.w.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Liebesglut

1. Sie liebt mich nicht. Nun brennt mein Herz
Ganz lichterloh vor Liebesschmerz,
Vor Liebesschmerz ganz lichterloh
Als wie gedörrtes Haferstroh.

Und von dem Feuer steigt der Rauch
Mir unaufhaltsam in das Aug',
Dass ich vor Schmerz und vor Verdruss
Viel tausend Tränen weinen muss.

Ach Gott! Nicht lang' ertrag' ich's mehr! –
Reicht mir doch Feuerkübel her!
Die füll' ich bald mit Tränen an,
Dass ich das Feuer löschen kann.

2. Seitdem du mich so stolz verschmäht,
Härmt' ich mich ab von früh bis spät,
So dass mein Herz bei Nacht und Tag
Als wie auf heißen Kohlen lag.

Und war es dir nicht heiß genug,
Das Herz, das ich im Busen trug,
So nimm es denn zu dieser Frist,
Wenn dir's gebacken lieber ist!

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>: Nicolai auf Werthers Grabe

»Freuden des jungen Werthers«

Ein junger Mensch, ich weiß nicht wie,
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward denn auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei,
Der hatte seinen Stuhlgang frei,
Wie's denn so Leute haben.
Der setzt' notdürftig sich aufs Grab
Und legte da sein Häuflein ab,
Beschaute freundlich seinen Dreck,
Ging wohl eratmet wieder weg
Und sprach zu sich bedächtiglich:
»Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben!
Hätt er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!
«

Gotthold Ephraim Lessing <1729 - 1781>: Die Stärke des Weins

Wein ist stärker als das Wasser:
Dies gestehn auch seine Hasser.
Wasser reißt wohl Eichen um,
Und hat Häuser umgerissen:
Und ihr wundert euch darum,
Dass der Wein mich umgerissen?


4.2.31. paryāyokta n. - Umschreibung (Periphrase)


Gerow: "periphrasis"

पर्यायोक्तं विना वाच्यवाचकत्वेन यद्वचः ।११५ क।

paryāyoktaṃ vinā vācya-vācakatvena yad vacaḥ ।115a।

Umschreibung (paryāyokta n.) ist eine Aussage ohne die normale Beziehung zwischen Ausdruck und Ausgedrücktem.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Bei seinem Anblick verließ den Dünkel und den Stolz ihre langgehegte Liebe zum Wohnen im Gesicht von Airāvaṇa bzw. im Herz von Indra." (d.h. Airāvaṇas Gesicht wurde frei von Dünkel und Indras Herz wurde frei von Stolz).

Deutsche Beispiele:

Matthias Claudius <1740 - 1815>:

Klopstock sagt: "Du, der du weniger bist und dennoch mir gleich, nahe dich mir und befreie mich, dich beugend zum Grunde unserer Allmutter Erde, von der Last des staubbedeckten Kalbfells." Ich sage dafür nur: "Johann, zieh mir die Stiefel aus."

Ludwig Uhland <1787 - 1862>: Der Brief

Ob mir dein Mund, ob deine Wang' auch fehle,
So küss ich deinen Brief doch, deine Seele.

Heinrich Seidel <1842 - 1906>: Du ahnst es nicht

Wie in der Frühlingsluft
Das Veilchen Düfte haucht,
In in der Anmut Duft
Dein Tun gehaucht.

Erich Mühsam <1878 - 1934>: Dämmerung

Traurig ist's und jämmerlicht,
wenn der Mensch im Dämmerlicht
früh den Weg nach Hause sucht
und dabei die Welt verflucht.

Aus dem grauen Pflasterstein
grinst Verzweiflung, Laster, Pein,
und vom schwanken Lampenpfahl
flackert Aberwitz und Qual.

In des Menschen bangem Leid
stöbert die Vergangenheit –
und er steigt voll Scham und Schmach
einer späten Hure nach.

Klabund <1890 - 1928>: Bürgerliches Weihnachtsidyll

Was bringt der Weihnachtsmann Emilien?
Ein Strauß von Rosmarin und Lilien.
Sie geht so fleißig auf den Strich.
O Tochter Zions, freue dich!

Doch sieh, was wird sie bleich wie Flieder?
Vom Himmel hoch, da komm ich nieder.
Die Mutter wandelt wie im Traum.
O Tannebaum! O Tannebaum!

O Kind, was hast du da gemacht?
Stille Nacht, heilige Nacht.
Leis hat sie ihr ins Ohr gesungen:
Mama, es ist ein Reis entsprungen!
Papa haut ihr die Fresse breit.
O du selige Weihnachtszeit!

"Periphrāse (griech., lat. Circumlocutio, Begriffsumschreibung), eine in Poesie und Beredsamkeit gleichmäßig vorkommende Redefigur, darin bestehend, dass ein Gegenstand, statt einfach bei seinem Namen genannt zu werden, sei es zur Vermeidung eines anstößigen Ausdrucks, sei es zum Schmuck der Rede durch Bezeichnung seiner Eigenschaften, Beziehungen zu anderm etc., kurz auf Umwegen charakterisiert wird."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


4.2.32. udātta n. - Größe (vgl. Adulation, Schmeichelei)


Gerow: "lofty"

उदात्तं वस्तुनः संपत् । महतां चोपलक्षणम् ॥११५ ख॥

udāttaṃ vastunaḥ saṃpat mahatāṃ copalakṣaṇam ॥115b॥

Größe (udātta n.) ist die Vorzüglichkeit eines Objekts, und auch das in Verbindung-Bringen großer Objekte (mit dem Gegenstand der Darstellung).

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Dass in den Häusern der gelehrten Perlen am Boden so herumliegen, dass sie beiseite gekehrt werden und Papageien sie aufpicken, weil sie diese für Samen halten - dies ist die Folgung deiner Freigebigkeit, König Bhoja!"

"Dies ist der Wald, in dem Rāma die Dämonen besiegte." (die Bedeutsamkeit der Waldes wird durch die Verbindung mit Rāma dargestellt)

"Brahmā-Viergesicht stand als Schiefgesicht, Bṛhaspati, der Guru, stand als Unguru, Sūrya, der Tagesführer, ward Unführer,
Śukra, der Dichter, ward Undichter. Viṣṇu ward stille. Śiva, der ‘Herr’, ward Unherr, die Würde Śeṣa’s, des Herrn der Schlangen, ward verschlungen,
Indra’s Name, der ‘Zerbrecher’, ward zerbrochen vor Deinem Preise! Wer bin ich,
Der Tor und Jämmerliche, Deine Tugenden zu preisen, o Herr der Dreißig (Götter) und der Menschen." (Lob auf Buddha) (Rāmacandra, Übersetzung: Rudolf Otto)

"Hunderte von Frau'n gebären zu Hunderten Söhne,
Aber keine Mutter gebar einen Sohn, der dir gliche:
Sterne gibt es in jeder Gegend des Himmels, aber
Nur der Osten bringt die Sonne hervor mit ihrem
Leuchtenden Strahlennetze, die tausendstrahlige Gottheit." (Über den Jina Ṛṣabha) (Mānatuṅga, Übersetzung: Winternitz)

"Ein liebes Opfer nennen ja den Tanz
Die Weisen, das der Götter Augen gilt;
Gott Śiva, der mit seinem Leib den Leib
Der Gattin Umā einte, tanzt den wilden
Und sanften Tanz zugleich, indem er tanzt;
Das vielgestaltge Treiben in der Welt,
Das Güte, Leidenschaft und Finsternis
Des Geists erzeugen, prägt im Tanz sich aus,
Und einzges Mittel, alle zu erfreun,
Die doch auf gar Verschiednes ihre Lust
Und Neigung lenken, welches ist’s? Der Tanz." (Kālidāsa, Übersetzung: Fritze)

"Einen König wie Vikramāditya,
Der sich so an Wohltun erfreut,
Der so spendet und so furchtlos ist,
Gibt es nicht und wird es niemals geben." (Ānanda, Übersetzung: Winternitz)

"Der Baum wahrhaftig ist zu preisen,
in dessen Schatten Tiere schlafen,
in dessen Blättern Vögel hausen,
in dessen Höhlen Käfer wimmeln,
auf dessen Zweigen Affen kosen,
an dessen Blüten Bienen saugen.
Mit allen Gliedern bringt er Freude
vielen Geschöpfen allzumal
so wie ein zweiter Weltenschützer." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"Vor Zeiten ward, das Meer von einem Weisen (Agastya) ausgetrunken und dann wieder durch Grenzen abgesteckt; vor Zeiten setzte ein Affe (Hanumant) über dasselbe hinüber und dann wieder steckte es der Feind von Laṅkā (Rāma) in Brand; der Feind Mura's (Viṣṇu) quirlte es und der Feind von Laṅkā wieder fesselte (überbrückte) es: welch ein Abstand doch, o König, zwischen deines Ruhmes Meere und dem wirklichen Meere!" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Der alle Wünsche erfüllende Zauberbaum ist ein Stück Holz, der (goldreiche) Meru ein unbeweglicher Berg, das Zauberjuwel ein Stein, die Sonne hat stechende Strahlen, der Mond ist ein Krüppel, das Meer salzig, der Liebesgott hat seinen Körper eingebüsst, der (freigebige) Bali ist ein Sohn der Diti, Nandin ein frei einhergehendes Vieh: diese kann ich, o Rāma, dir nicht gleichstellen; mit wem könnte man dich vergleichen?" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Die Muschel in des Viṣṇu Hand
ist rein, obgleich ein Knochen nur.
Verbindung mit Hochwürdigem,
wem gibt sie nicht Erhabenheit?" (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"Wen erhebt nicht die Berührung mit einem Grossen? Ein Wassertropfen auf dem Blütenblatte einer Wasserrose zeigt einer Perle Pracht." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Selbst solche Männer, die ihren Fuß auf die Stirnbeulen von Elefanten setzten, die des Glückes teilhaftig wurden und in deren Häusern Jungfrauen, wahre Mondleuchten am hellen Tage, wohnten, selbst solche Männer, der Welt Zierden, betrachtet die Welt als nicht da gewesen, auch nicht einmal im Traume. O Tat eines guten Dichters, du meine Schwester, was soll ich dich mit Hunderten von Lobsprüchen preisen? Blind ist die Welt ohne dich!" (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Alois Blumauer <1755 - 1798>: Ode an das Schwein

Heil dir, geborstetes
Ewig geworstetes,
Dutzend geborenes
Niemals geschorenes,
Liebliches Schwein.

Dichter begeisterst du,
Eicheln bemeisterst du,
Alles verzehrest du,
Christen ernährest du,
Gütiges Schwein.

Heil dir drum, ewiges,
Immerfort schäbiges,
Niemals gereinigtes,
Vielfach gepeinigtes,
Liebliches Schwein.

David Kalisch <1820 - 1872>: Die schönste Stunde des Lebens

O himmlisch schöne Stunde,
Erinn’rung heb’ sie auf,
Mein Fürst von Gottes Gnaden —
Er trat mir einst darauf!

dass ich draus Wonne sauge
Für diesen Lebenslauf,
Auf’s schönste Hühnerauge
Trat mir mein Fürst einst drauf!

Es stand zu der Parade
Das Volk gedrängt zu Hauf,
Ich drängte vor mich grade —
Da trat mein Fürst mir drauf!

Noch heute wird mir übel,
Denk’ dran ich — schrie gleich auf
Und zog gleich aus den Stiefel:
Mein Fürst trat mir darauf!

Und endet einst dies Leben,
Sollt Ihr zum Grabeslauf
Den Stiefel mit mir geben,
Mein Fürst trat mir darauf!

Den Englein will ich weisen
Mein Kleinod oben auf,
Dann tönt’s in Paradeisen:
Sein Fürst trat ihm darauf!

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Der Sack und die Mäuse

Ein dicker Sack voll Weizen stand
auf einem Speicher an der Wand. –
Da kam das schlaue Volk der Mäuse
und pfiff ihn an in dieser Weise:

»O du da in der Ecke,
großmächtigster der Säcke!
Du bist ja der Gescheitste,
der Dickste und der Breitste!
Respekt und Reverenz
vor Eurer Exzellenz!«

Mit innigem Behagen hört
der Sack, dass man ihn so verehrt.

Ein Mäuslein hat ihm unterdessen
ganz unbemerkt ein Loch gefressen.

Es rinnt das Korn in leisem Lauf.
Die Mäuse knuspern's emsig auf.

[...]

Jetzt ziehn sie ihn von seinem Thron;
Ein jedes Mäuslein spricht ihm Hohn;

  

und jedes, wie es geht, so spricht's:
»Empfehle mich, Herr Habenichts!«

Adolf Glassbrenner <1810 - 1876>: Die alte Leier

Hofrat, Stadtrat, Registrator,
Baurat, Kriegsrat, Auskultator,
Supernumerarius,
Marschall, Secretarius,
Geht die alte Leier.
Titel sind nicht teuer!

Bänder, blaue, grüne, weiße,
Kreuze, Sterne, Stanisläuse,
Rote Krebse vierter Klasse,
Eine ungeheure Masse,
Geht die alte Leier.
Orden sind nicht teuer!

Edel-, Wohl- und Hochgeboren,
Gnaden und Hochwohlgeboren;
Frau Major und Excellenzen,
Euer Durchlaucht, Eminenzen,
Geht die alte Leier.
Unsinn ist nicht teuer!

Möchte, könnte, dürfte, sollte,
Allerhöchst geruhen wollte,
Tunlichst, möglichst, in Betrachtung,
In submissester Erwartung,
Geht die alte Leier!
Die verdammte Leier!

Ganz ergeb'ne, treue, schlechte,
Tiefste, untertän'ge Knechte;
Demutsvoll und ehrfurchtsvoll!
Nein, sie klingt denn doch zu toll
Die verdammte Leier!
Hol' euch All' der Geier!


4.2.33. samuccaya m. - Anhäufung


Gerow: "accumulation"

तर्सिद्धिहेतावेकस्मिन् यत्रान्यत्तत्करं भवेत् ।
समुच्चयो
ऽसौ ॥११६॥

tat-siddhi-hetāv ekasmin yatrānyat tat-karaṃ bhavet ।
samuccayo 'sau । sa tv anyo yugapad yā guṇa-kriyāḥ ॥116॥

Anhäufung (samuccaya m.) liegt vor, wenn, obwohl schon eine hinreichende Ursache genannt ist noch eine andere Ursache genannt wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Unwiderstehlich sind die Pfeile des Liebesgottes, meine Geliebte ist mir fern; ich sorge mich; unsere Liebe ist tief; .... ; der Todesgott ist unfähig, mein Leben zu beenden - wie soll ich den Trennungsschmerz ertragen?" (Die unwiderstehlichen Pfeile des Liebesgottes reichen schon, um den Trennungsschmerz unerträglich zu machen; dennoch werden weitere Gründe genannt)

"Wenn du, o Herzbewohnerin, mein Herz,
Das einzig dir ergeben ist, verkennst,
O dann verwundest du, Schönaugige,
Den von der Liebe Pfeil schon Wunden nochmals." (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst meier)

Deutsche Beispiele:

Anonym (Fliegende Blätter Nr. 1688): Unnötige Vorsicht


"Aber geben Sie doch dem Kind nicht so viel Zwetschgen - er kriegt ja Bauchweh!" -- "Macht nix! Er hat's ja schon!"

स त्वन्यो युगपद् या गुणक्रियाः ॥११६ ख॥

 sa tv anyo yugapad yā guṇa-kriyāḥ ॥116॥

Eine andere Form von Anhäufung (samuccaya m.) liegt vor, wenn Eigenschaften und / oder Tätigkeiten gleichzeitig genannt werden.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Plötzlich kam diese unerträgliche Trennung von meiner Geliebten, und da frische Wolken gekommen sind und es nicht mehr so heiß ist, sind die Tage erträglicher geworden."

Deutsche Beispiele:

Gottfried Keller <1819 - 1890>: Prolog zur Schillerfeier in Bern 1859

Auf allen Meeren schwimmen unsre Güter,
Und wo die großen Völker ihre Märkte
Wetteifernd halten, breitet auch der Schweizer
Rühmlich die reichgehäuften Waren aus.
Zugleich wird fort und fort das alte Schwert
Mit neuem Eifer vorbedacht geschliffen,
Dem ärmsten Mann im Land zu Trost und Freude.

Das ist ihm nun die wahre Lust,
Ein Jauchzer steigt aus seiner Brust
Hoch über allen Lärm und Drang.

Ludwig Eichrodt <1827 - 1892>: Altes Schwedenlied

König Hundingur
Genas zugleich von der Bierkur,
Vor Freuden fiel er ins Bierfass,
König Hadding der ging fürbass.


4.2.34. paryāya m. - Abfolge


Gerow: Siehe a.a.O. S. 205

एकं क्रमेणानेकस्मिन् पर्यायः ।११७ क।

ekaṃ krameṇānekasmin paryāyaḥ ।117a।

Abfolge (paryāya m.) liegt vor, wenn Eines in Vielen schrittweise dargestellt wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Das Gift war zuerst im Urozean, dann im Hals Śivas und ist jetzt in den Worten der Bösen."

"Mädchen!, Röte (rāga) war zuerst nur auf deinen Lippen, jetzt ist sie (rāga = Liebe) in deinem Herzen."

"Ein Weltherrscher verlangt noch nach der Würde eines Gottes; wer diese Würde inne hat, verlangt nach der Herrschaft über alle Götter; der Herrscher der Götter verlangt noch nach der Erlösung; aber auch hier hört das Verlangen noch nicht auf." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Vom Himmel auf Śiva's Haupt, von Śiva's Haupte auf einen Berg (den Himālaya), vom hohen Berge auf die Erde und von der Erde ins Meer, ganz allmählich gelangte die Gaṅgā hier zu einer immer tieferen Stelle. Aber so geht es: für den, der um die richtige Einsicht gekommen ist, gibt es hundert Gelegenheiten zu Fall zu kommen." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Friedrich Rückert <1788 - 1866>:

Der Himmel hat eine Träne geweint,
Die hat sich ins Meer zu verlieren gemeint.
Die Muschel kam und schloss sie ein;
Du sollst nun meine Perle sein.
Du sollst nicht vor den Wogen zagen,
Ich will hindurch dich ruhig tragen.
O du mein Schmerz, du meine Lust,
Du Himmelsträn' in meiner Brust!
Gib, Himmel, dass ich in reinem Gemüte
Den reinsten deiner Tropfen hüte!

Conrad Ferdinand Meyer <1895 - 1898>: Der römische Brunnen


Abb.: Römischer Brunnen, Kloster Maulbronn
[Bildquelle: Bastian Gläßer / Wikipedia. -- GNU FDLicense]

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

H. E. Rümelin: Der indische Nabelbeschauer (ca. 1863)

Auf des Berges Gipfel saß er
Dreißig Jahre lang,
Seines Nabels Zipfel maß er
Dreißig Jahre lang:

»Dich erforsch’ ich, alles Lebens
Brenn- und Knotenpunkt.
Ach mit Anderem vergebens
Der Gelehrte prunkt.

Eine Kette Eines Nabels
Zieht sich durch die Welt
Schon seit Kains Zeit und Abels,
Bis sie einst zerfällt.

Und ich bin von diesem großen
Nabel abgezwickt;
Drum ihr Augen unverdrossen
Nabelwärts geblickt.«

Und so saß er eine Leiche
Eines Morgens da,
Nach dem Nabel noch das bleiche
Stille Antlitz sah.

Heinrich Zille <1858 - 1929>: Die Witwe


"Ein Kilo! Und im Leben hat er 82 Kilo gewogen."

Erich Mühsam <1878 - 1934>: Die Ahnung

Ich trank meinen Morgenkaffee und ahnte nichts Böses.
Es klingelte. Ich ahnte noch immer nichts Böses.
Der Briefträger brachte mir ein Schreiben.
Nichts Böses ahnend, öffnete ich es.
Es stand nichts Böses darin.
Ha! rief ich aus. Meine Ahnung hat mich nicht betrogen.

अन्यस्ततो ऽन्यथा ।११७ क।

anyas tato 'nyathā ।117a।

Eine andere Form von Abfolge (paryāya m.) liegt im umgekehrten Fall vor (d.h. wenn Vieles schrittweise in Einem dargestellt wird).

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Das Wort des Bösen ist zunächst voll von Honigseim, dann offenbart sich das Gift, das in ihm verborgen ist."

Deutsche Beispiele:

Sprichworte:

Liebe ist bald Honig, bald Gift.

Käs' ist am Morgen Gold, zu Mittag Silber und am Abend Blei.


4.2.35. anumāna n. - Schlussfolgerung


Gerow: "inference"

अनुमानं तदुक्तं यत्साध्यसाधन्योर्वचः ॥११७ ख॥

anumānaṃ tad uktaṃ yat sādhya-sādhanayor vacaḥ ॥117b॥

Schlussfolgerung (anumāna n.) ist der Ausdruck von Begründendem und Begründetem.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Wohin der Mädchen Blick fällt, dahin fallen scharfe Pfeile; darum meine ich, der Liebesgott laufe mit dem Pfeile auf dem Bogen vor ihnen her." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Fächlung und dergleichen hob des Fürsten
Sinnumnachtung, aber sie blieb liegen;
Denn nur da kann Rettungsanstalt frommen,
Wo vom Leben übrig ist ein Funken. (Kālidāsa, Übersetzung: Rückert)

Weil, was das liebende Paar in der Nacht spricht, morgens dem Hausherrn
Plaudert der Hauspapagei, wirft ihm zum Lohne das Weib
Erst ihr Rubinschmuck-Ohrengehenk auf die Krümmung des Schnabels,
Stopft dann aber beschämt ihm mit Limonen den Mund. (Amaru, Übersetzung: Rückert)

"Ein Sohn geht aus allen Gliedern der Mutter hervor und wird aus ihrem Herzen geboren; darum ist er ihr lieber als die übrigen Angehörigen." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Der Schöpfer hat gleichsam deshalb, weil innerhalb des Herzens der Weiber kein Platz fürs Abgerundete (für gute Werke) ist, außerhalb desselben die schön gerundeten Brüste gebildet." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Das eigene Selbst, welches man selbst erzeugt, nennen die Weisen Sohn; deshalb schaue der Mann auf seine Frau, seines Sohnes Mutter, wie auf seine Mutter." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Zwischen den Freuden und Leiden Indra's und eines schmutzigen Ebers besteht kein Unterschied: aus freiem Willen hat jener Nektar, dieser Kot zur Lieblingsspeise sich erwählt; die Nymphe Rambhā und eine schmutzige Sau, beide sind Gegenstände höchster Zuneigung; auch Furcht vor dem Tode ist bei Beiden gleich; auch können Beide durch den Gang ihrer Werke dazu kommen, die Rollen zu tauschen." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Brahman, der Herr der Welt, hat ausser den Weibern niemals ein anderes Juwel hervorgebracht, das bei der Erwähnung, beim Anblick, bei der Berührung, ja sogar bei der Erinnerung Männer entzückte. Daher kommt es, dass das Gute und das Nützliche, Söhne und sinnliche Freuden aus ihnen hervorgehen. Die Weiber müssen als Glücksgöttinnen des Hauses stets durch Ehrenbezeugungen und wertvolle Gaben geehrt werden." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Wenn dadurch, dass die gesammelten Knochen in die Gaṅgā gelangen, ein längst Verstorbener selig wird, dann bekommt auch ein zu Asche gewordener Baum durch Besprengen mit Wasser wieder Zweige." (Śivadāsa, Übersetzung: Heinrich Uhle)

"Nicht auf der Erde wächst das Fleisch, nicht auf Bäumen oder Halmen; aus den Organen wächst das Fleisch, darum soll man kein Fleisch essen." (Śivadāsa, Übersetzung: Heinrich Uhle)

Motto:

Heinrich Hoffmann <1809 - 1894>: Aus: Der Badeort Salzloch

Um dessen Kopf ist's sicher schlecht bestellt,
Der nicht beweisen kann vor aller Welt,
Dass schwarz der Schnee und weiß der Rabe ist,
Und salzig Wasser süße Labe ist.

Deutsche Beispiele:

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Viele Menschen sind besser als ihr Ruf, weil ihr Ruf schlechter ist als sie.

Karl Immermann <1796 - 1840>: Philosophisches Ständchen

Von den Büchern hab' ich mich
Noch Glock eilfe losgerissen,
Da ich einmal liebe dich,
Sollst du nicht des Ständchens missen.
Zärtlich steht dein Philosoph,
O Laurentia, hier im Hof.

Du ein Weib, und ich ein Mann,
Sind wir beiderlei Geschlechte,
Und in solchem Falle kann
Lieb' entstehn nach Fug und Rechte.
Was natürlich, ziemet sich,
Ergo darf ich lieben dich.

Von dem Wirbel bis zum Zeh
Bist du, Schatz, schlechthin vollkommen;
Das Vollkommne hat von je
Herz und Sinne eingenommen.
Ist denn nicht stringent der Schluss:
Dass ich drum dich lieben muss?

Im Begriff der Liebe sitzt
Torheit fest, gleich einem Keile,
Torheit ist es, dass ich itzt
Klimpernd, singend hier verweile.
Wär' ich aber nicht ein Tor,
Trät' ein Widerspruch hervor.

Sieh, so hab' ich Satz für Satz
Unsre Liebe demonstrieret,
Und zugleich am selben Platz
Dir ein Ständchen konstruieret.
Schlafe wohl, Laurentia,
Denn des Schlafes Stund' ist da.

Heinrich Heine <1797 - 1856>: Beine hat uns zwei gegeben ...

Als zur blonden Teutolinde
ich in solcher Weise sprach,
seufzte sie und sagte: Ach!
Grübeln über Gottes Gründe,
kritisieren unsern Schöpfer,
ach! das ist, als ob der Topf
klüger sein wollt als der Töpfer!
Doch der Mensch fragt stets: Warum?
Wenn er sieht, dass etwas dumm.
Freund ich hab dir zugehört,
und du hast mir gut erklärt,
wie zum weisesten Behuf
Gott den Menschen zweifach schuf
Augen, Ohren, Arm´ und Bein´,
während er ihm nur ein
Exemplar von Nas und Mund –
doch nun sage mir den Grund:
Gott, der Schöpfer der Natur,
warum schuf er einfach nur
das skabröse Requisit,
das der Mann gebraucht, damit
er fortpflanze seine Rasse
und zugleich sein Wasser lasse?
Teurer Freund, ein Duplikat
wäre wahrlich hier vonnöten,
um Funktionen zu vertreten,
die so wichtig für den Staat
wie fürs Individuum,
kurz fürs ganze Publikum.
Zwei Funktionen, die so greulich
und so schimpflich und abscheulich
miteinander kontrastieren
und die Menschheit sehr blamieren.
Eine Jungfrau von Gemüt
muss sich schämen, wenn sie sieht,
wie ihr höchstes Ideal
wird entweiht so trivial!
Wie der Hochaltar der Minne
wird zur ganz gemeinen Rinne!
Psyche schaudert, denn der kleine
Gott Amor der Finsternis,
er verwandelt sich beim Scheine
ihrer Lamp – in Mankepiß.

Also Teutolinde sprach,
und ich sagte ihr: Gemach!
Unklug wie die Weiber sind,
du verstehst nicht, liebes Kind,
Gottes Nützlichkeitssystem,
sein Ökonomie-Problem
ist, dass wechselnd die Maschinen
jeglichem Bedürfnis dienen,
dem profanen wie dem heilgen,
dem pikanten wie langweilgen, -
alles wird simplifiziert;
klug ist alles kombiniert:
Was dem Menschen dient zum Seichen,
damit schafft er seinesgleichen.
Auf demselben Dudelsack
spielt dasselbe Lumpenpack.
Feine Pfote, derbe Patsche,
fiedelt auf derselben Bratsche.
Durch dieselben Dämpfe, Räder
springt und singt und gähnt ein jeder,
und derselbe Omnibus
fährt uns nach dem Tartarus.

Hanns von Gumppenberg <1866 - 1928>: Ballade (Nach Heinrich Heine)

Das ist der alte, traurige Traum,
Wir sitzen unter der Linde,
Dein kahles Köpfchen fasst es kaum,
Dass ich so hold dich finde.

Und leise seufzt dein wurmiger Mund:
Ich bin doch schon angemodert –
O sage mir, warum jetzund
Dein krankes Herz noch lodert?

Es haben von meinen Wangen bereits
Zwei hungrige Ratten gefressen:
Und du, du willst mich deinerseits
Noch immer nicht vergessen?

O sag' mir, bleicher Heinerich,
Ich bin doch im Grab gelegen,
Und doch noch immer liebst du mich –
Ich frage dich: weswegen?

Und ich entgegne dir gequält:
Mir fehlen zum Buch der Lieder
Noch sieben Nummern wohlgezählt –
Drum lieb' ich dich schon wieder.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Der zu wachsame Hund

Vom Wirtshaus kommt Herr Petermann,
Sein treuer Hund geht ihm voran.

Pardauz! da liegt Herr Petermann,
Weil er den Steg nicht finden kann.


4.2.36. parikara m. - Attribute


Gerow: "entourage"

विशेषणैर्यत्साकूतैरुक्तिः परिकरस्तु सः ।११८ क।

viśeṣaṇair yat sākūtair uktiḥ parikaras tu saḥ ।118a।

Attribut (parikara m.) ist eine Aussage mittels relevanter Merkmale.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Bogenschützen, tapfer, die Stolz als Schatz haben, mit Reichtümern beschenkt, die in Kriegen Ruhm erwarben ... wollen seine Wünsche erfüllen, selbst unter Aufopferung ihres Lebens."

"Den nach des Freundes Umfangen verlangenden, bangenden, einzig erkornen
Busen lass wallen am Busen mir, stille die Glut des Gemütegebornen!" (Jayadeva, Übersetzung: Rückert)

"Diese weitgeaugt-blicklüstige,
Vollgewölbt-schwellbrüstige,
Breitgelendet träge Gängerin,
Meine liebste Herzempfängerin." (Jayadeva, Übersetzung: Rückert)

"Śiva möge euch behüten, der Gott, an dessen Halse das Gift wie Rosenäpfel, auf dessen Haupt die himmlische Gaṅgā wie Wassertropfen, auf dessen Schoße das Gesicht der Gebirgstochter (seiner Gattin) wie eine Wasserrose, auf dessen Hüfte das umgeworfene Tigerfell wie eine Vallisneria prächtig glänzen, und dessen Trugbild wie ein Netz die gesamte Welt umstrickt." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Diese vom heiligen Herd entlehnten,
Rings um den Altar gelegten,
Mit Kuśa-Gras umstreuten
Und mit Holz genährten Feuer:
O mögen sie, mit dem Duft des Opfers
Die Sünde vertreibend, dich reinigen!" (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

Deutsche Beispiele:

Friedrich von Logau <1604 - 1655>: Abgedankte Soldaten

Würmer im Gewissen,
Kleider wohl zerrissen,
Wohlbenarbte Leiber,
Wohlgebrauchte Weiber,
Ungewisse Kinder,
Weder Pferd noch Rinder,
Nimmer Brot im Sacke,
Nimmer Geld im Packe
Haben mit genommen,
Die vom Kriege kommen.
Wer dann hat die Beute?
Eitel fremde Leute.

Heinrich Heine <1797 - 1856>: Das Buch le Grand

Ich will aber jetzt erzählen, wie die schöne Hand aussah, die ich im vorigen Kapitel geküsst habe. Zuvörderst muss ich eingestehen: – ich war nicht wert, diese Hand zu küssen. Es war eine schöne Hand, so zart, durchsichtig, glänzend, süß, duftig, sanft, lieblich – wahrhaftig, ich muss nach der Apotheke schicken und mir für zwölf Groschen Beiwörter kommen lassen.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Glückspilz

Geboren ward er ohne Wehen
Bei Leuten, die mit Geld versehen.
Er schwänzt die Schule, lernt nicht viel,
Hat Glück bei Weibern und im Spiel,
Nimmt eine Frau sich, eine schöne,
Erzeugt mit ihr zwei kluge Söhne,
Hat Appetit, kriegt einen Bauch,
Und einen Orden kriegt er auch,
Und stirbt, nachdem er aufgespeichert
Ein paar Milliönchen, hochbetagt;
Obgleich ein jeder weiß und sagt:
Er war mit Dummerjan geräuchert!

Kurt Tucholsky <1890 - 1935>: Die Seriösen

Wenn dir ein ernster Kaufmann spricht:
so hör ihn nicht! so hör ihn nicht!
Er spricht dir von den schweren Zeiten,
von Wirtschaft und Notwendigkeiten . . .

Erst wird er fachlich. Und dann krötig.
Der hats nötig –!

[...]

Das Geld ist hin. Die Arbeit knapp.
Die Konjunktur sank tief herab . . .

Wer sich und uns derart verwirrt hat;
wer dauernd sich so oft geirrt hat;
wer sich in allen schweren Tagen
nur Pleiten holt und Niederlagen,
ein Heros der Finanz-Etappe –:

der erzähle uns nichts, sondern halte die Klappe!


4.2.37. vyājokti f. - Vorwand


Gerow: "pretext"

व्याजोक्तिश्छद्मनोद्भिन्नवस्त्रूपनिगूहनम् ॥११८ ख॥

vyājoktiś chadmanodbhinna-vastu-rūpa-nigūhanam ॥118b॥

Vorwand (vyājokti f.) ist das Verbergen einer offenkundigen Tatsache unter einem Deckmantel.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Ist das kalt!" während man in Wirklichkeit aus innerer Erschütterung zittert.

"Sie stand am Rand des Lagers,
Als, unter'm Schein, die Wange sich zu jucken,
Das Lachen sich verhaltend
,
Der aufmerksamen Mägde Schar hinausging;" (Jayadeva, Übersetzung: Rückert)

"»Woher diese überaus große Magerkeit der Glieder? Woher das Zittern? Woher, du Einfältige, das Gesicht mit den bleichen Wangen?« Auf diese Fragen des Gatten erwiderte die Schlanke: »Alles dieses ist von selbst gekommen«, entfernte sich und entließ aufseufzend anderswo die Tränenlast, welche ihre Wimpern erfüllte." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Nur wenig Schritte ging die Schlanke vorwärts,
Da blieb sie stehn und sagte, sich verstellend:
"Ein Kuśa-Halm hat mir den Fuß geritzt.!"
Sodann mit rückgewendetem Gesicht
Begann ihr Bastkleid sie von dem Gezweige
Der Bäume loszumachen, ob es gleich
An keinem Zweige hangen war geblieben." (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

Deutsche Beispiele:

Christian Fürchtegott Gellert <1715 - 1769>: Lisette

Was tut man nicht, um sich von Gram und Pein,
Von Langeweile zu befrein?
Der Mann sieht Lorchen an und red't mit ihr durch Blicke,
Weil er nicht anders reden darf;
Und jeder Blick, den er auf Lorchen warf,
Kam, wo nicht ganz, doch halb erhört zurücke.
Ach, arme kranke Frau! es ist dein großes Glücke,
Dass du nicht sehen kannst; dein Mann tut recht galant;
Dein Mann, ich wollte viel drauf wetten,
Hat Lorchen schon vorher gekannt
Und sie mit Fleiß zur Wärterin ernannt.
Ja, wenn sie bloß durch Blicke red'ten:
So möcht' es endlich wohl noch gehn;
Allein bald wird man sie einander küssen sehn.
Er kömmt und klopft sie in den Nacken
Und kneipt sie in die vollen Backen;
Sie wehrt sich ganz bequem, bequem wie eine Braut,
Und findet bald für gut, sich weiter nicht zu wehren.
Sie küssen sich recht zärtlich und vertraut;
Allein sie küssten gar zu laut.
Wie konnt' es anders sein? Lisette musst' es hören.
Sie hört's und fragt: »Was schallt so hell?« –
»Madam, Madam!« ruft Lorchen schnell,
»Es ist Ihr Herr, er ächzt vor großem Schmerz
Und will sich nicht zufrieden geben.« –
»Ach!« spricht sie, »lieber Mann, wie redlich meint's dein Herz!
O! gräme dich doch nicht! ich bin ja noch am Leben.«

Friedrich Theodor Vischer <1807–1887>: Faust III

FAUST.
Man kann ja weichen und im Weichen sagen:
Ich weiche nicht, ich will nur Rechnung tragen.

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Was mich betrifft

Es ist Nacht in der kunst- und bierberühmten Residenz. Ich komme natürlich aus dem Wirtshause, bin aber bereits in der Vorstadt und strebe meinem einsamen Lager zu. Links die Planke, rechts der Graben. Hinter mir eine Stadt voll leerer Maßkrüge, vor mir die schwankende Nebelsilhouette eines betagten Knickebeins. Bald drückt er zärtlich die Planke, bald zieht ihn der Graben an; bis endlich die Planke, des falschen Spieles müde, ihm einen solch verächtlichen Schubs gibt, dass er dem Graben, mit Hinterlassung des linken Filzschuhes, sofort in die geschmeidigen Arme sinkt. Ich ziehe ihn heraus bei den Beinen, wie einen Schubkarren. Er wischt sich die Ohren und wimmert kläglich: »Wissen's, i ßiech [sehe] halt nimma recht!« – Gewiss häufig eine zutreffende Ausrede für ältere Herrn in verwickelten Umständen.


4.2.38. parisaṃkhyā f. - Ausschluss


Gerow: "delimitation"

किंचित्पृष्टमपृष्टं वा कथितं यत्प्रकल्पते ।
तादृगन्यव्यपोहाय परिसंख्या तु सा स्मृता ॥११९॥

kiṃcit pṛṣṭam apṛṣṭaṃ vā kathitaṃ yat prakalpate ।
tādṛg-anya-vyapohāya parisaṃkhyā tu sā smṛtā ॥119॥

Ausschluss (parisaṃkhyā f.) liegt vor, wenn etwas - sei's gefragt, sei's ungefragt - erzählt wird, um Ähnliches auszuschließen.

Hierher zählt auch, wenn das Ausgeschlossene nur angedeutet wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Was ist ein wahres Juwel? -- Ein guter Ruf, nicht Edelsteine."
"Hingabe an Śiva, nicht Reichtum; Leidenschaft fürs Lernen, nicht Frauen; Besorgnis um seinen guten Ruf, nicht den Körper".

"Mit Unrecht man die Zunge Zunge nennt,
Die keinen schönen Ausspruch kennt;
Ein Fleischstück ist sie, in den Mund gesteckt,
Aus Furcht, dass eine Krähe es entdeckt." (Sanskrit-Sprichwort, Übersetzung: Fritze)

"Die gleichen Schmerzen zeigen freilich sich
Wie bei der Liebe, so auch bei der Hitze;
Nur dass die Hitze nicht die lieben Mädchen
Auf eine gleich süßholde Weise quält." (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

Deutsche Beispiele:

Christian Wernicke <1661 - 1725>: Auf Cremons eitle Dankbarkeit

Dass vor erwiesne Dienst' oft Cremon mich gepriesen,
Ist keine Dankbarkeit, und nichts als Gaukelei;
Er trachtet darzutun, was er, nicht was ich sei;
Mehr, dass er sie verdient, als dass ich sie erwiesen.

Christian Wernicke <1661 - 1725>: An Acron

Hör', Acron, kürzlich was du bist:
Scharfsinnig,
doch ein guter Christ;
Ein Staatsmann, doch gewissenhaft,
Und sittsam bei viel Wissenschaft;
Ein großer Spieler ohne Trug,
Und, ohne Rat zu geben, klug;
Gottsfürchtig
ohne Heuchelei,
Ein Hofmann, und dennoch getreu;
Sehr scherzhaft, doch dass nie ein Freund
Sich durch den Scherz getroffen meint;
Aufrichtig,
doch mit Höflichkeit,
Ein Buchler ohne falschen Eid;
Vorsichtig
auf der Wollust Pfad,
Und, sonder Eigensinn, ein Rat;
Geschäftig,
sonder Ungeduld,
Freigebig,
doch in niemands Schuld:
Noch eins, und ich hab' ausgescherzt,
Du bist gelehrt, und doch
beherzt.

Anonym <um 1890>: Keine Ballade

's war keine wundervolle Sommernacht,
kein Mond ging auf in majestät'scher Pracht,
es ging kein Liebespaar durch jenen dunklen Wald,
es lauscht kein Nebenbuhler dort im Hinterhalt,
sie setzen sich sogar auf keine grüne Bank,
von ferne hört man nicht des Abendglöckleins Klang,
kein Häschen schreckte auf durch fernen Posthornschall,
im dunklen Fliederbusch sang keine Nachtigall,
es zog kein junger Bursch vorbei an Liebchens Haus,
es guckt kein Lockenkopf zum kleinen Fenster raus,
kein Kettenhund war da, zu schützen seinen Herrn,
am hohen Himmelszelt erglänzte auch kein Stern,
aus jenem Felsen dort entsprang kein Bächlein klar,
nicht mal die Sonne schien - weil überhaupt nichts war!

Jean Paul <1763 - 1825>: Die unsichtbare Loge

"War der Tag gar zu toll und windig – es gibt für uns Wichte solche Hatztage, wo die ganze Erde ein Hatzhaus ist und wo die Plagen wie spaßhaft gehende Wasserkünste uns bei jedem Schritte ansprützen und einfeuchten –, so war das Meisterlein so pfiffig, dass es sich unter das Wetter hinsetzte und sich nichts darum schor; es war nicht Ergebung, die das unvermeidliche Übel aufnimmt, nicht Abhärtung, die das ungefühlte trägt, nicht Philosophie, die das verdünnte verdauet, oder Religion, die das belohnte verwindet: sondern der Gedanke ans warme Bett wars. »Abends«, dacht' er, »lieg' ich auf alle Fälle, sie mögen mich den ganzen Tag zwicken und hetzen, wie sie wollen, unter meiner warmen Zudeck und drücke die Nase ruhig ans Kopfkissen, acht Stunden lang.« – Und kroch er endlich in der letzten Stunde eines solchen Leidentages unter sein Oberbett: so schüttelte er sich darin, krempte sich mit den Knien bis an den Nabel zusammen und sagte zu sich: »Siehst du, Wutz, es ist doch vorbei.«"


4.2.39. kāraṇamālā f. - Begründungs-Kette


Gerow: "garland of causes"

यथोत्तरं चेत्पूर्वस्य पूर्वस्यार्थस्य हेतुता ।
तदा कारणमाला स्यात् ॥१२०॥

yathottaraṃ cet pūrvasya pūrvasyārthasya hetutā ।
tadā kāraṇamālā syāt ॥120॥

Begründungs-Kette (kāraṇamālā f.) liegt vor, wenn in einer Reihung das jeweils Folgende Begründung für das Vorhergehende ist.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Sinneszügelung ist die Ursache für einen guten Charakter, ein guter Charakter bewirkt gute Eigenschaften, wegen guter Eigenschaften mögen einen die Leute, wenn einen die Leute mögen, wird man wohlhabend."

"Durch Nichtspenden wird man arm, in Folge der Armut verübt man Böses; tut man Böses, so fährt man zur Hölle; darauf wird man wieder arm und wieder frevelhaft." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Der Tugend Frucht ist der Reichtum, des Reichtums Frucht das Wohlbehagen, des Wohlbehagens Wurzel aber sind die Schlankgliedrigen; woher käme das Wohlbehagen, wenn diese nicht wären?" (Śivadāsa, Übersetzung: Heinrich Uhle)

Deutsche Beispiele:

Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Balduin Bählamm der verhinderte Dichter

Als Huldigung mit Scherz und Necken
Ein Sträußlein an den Busen stecken.

 

 

Ein Prall – ein Schall – dicht am Gesicht –

  

Verloren ist das Gleichgewicht.

  

So töricht ist der Mensch. – Er stutzt,
Schaut dämisch drein und ist verdutzt,
Anstatt sich erst mal solche Sachen
In aller Ruhe klarzumachen. –

Hier strotzt die Backe voller Saft;
Da hängt die Hand, gefüllt mit Kraft.
Die Kraft, infolge von Erregung,
Verwandelt sich in Schwungbewegung.
Bewegung, die in schnellem Blitze
Zur Backe eilt, wird hier zu Hitze.
Die Hitze aber, durch Entzündung
Der Nerven, brennt als Schmerzempfindung
Bis in den tiefsten Seelenkern,
Und dies Gefühl hat keiner gern.

Ohrfeige heißt man diese Handlung,
Der Forscher nennt es Kraftverwandlung.

Joachim Ringelnatz <1883 - 1934>: Aus meiner Kinderzeit

Vaterglückchen, Mutterschößchen,
Kinderstübchen, trautes Heim,
Knusperhexlein, Tante Röschen
Kuchen schmeckt wie Fliegenleim.

Wenn ich in die Stube speie
Lacht mein Bruder wie ein Schwein
Wenn er lacht, haut meine Schwester,
Wenn sie haut, weint Mütterlein.

Wenn die weint, muss Vater fluchen.
Wenn er flucht, trinkt Tante Wein
Trinkt sie Wein, schenkt sie mir Kuchen:
Wenn ich Kuchen kriege, muss ich spein.

Ernst Mühsam <1878 - 1934>: Erziehung

Der Vater zu dem Sohne spricht:
Zum Herz- und Seelengleichgewicht,
zur inneren Zufriedenheit
und äußeren Behaglichkeit
und zur geregelten Verdauung
bedarf es einer Weltanschauung.
Mein Sohn, du bist nun alt genug.
Das Leben macht den Menschen klug,
die Klugheit macht den Menschen reich,
der Reichtum macht uns Herrschern gleich,
und herrschen juckt uns in den Knöcheln
vom Kindesbein bis zum Verröcheln.
Und sprichst du: Vater, es ist schwer.
Wo nehm ich Geld und Reichtum her?
So merk: Sei deines Nächsten Gast!
Pump von ihm, was du nötig hast.
Sei's selbst sein letzter Kerzenstumpen –
besinn dich nicht, auch den zu pumpen.
Vom Pumpen lebt die ganze Welt.
Glück ist und Ruhm auf Pump gestellt.
Der Reiche pumpt den Armen aus,
vom Armen pumpt auch noch die Laus,
und drängst du dich nicht früh zur Krippe,
das Fell zieht man dir vom Gerippe.
Drum pump, mein Sohn, und pumpe dreist!
Pump anderer Ehr, pump anderer Geist.
Was andere schufen, nenne dein!
Was andere haben, steck dir ein!
Greif zu, greif zu! Gott wird's dir lohnen.
Hoch wirst du ob der Menschheit thronen!


4.2.40. anyonya n. - Wechselseitigkeit


Gerow: "reciprocal"

क्रियया तु परस्परम् ॥१२० ख॥
वस्तुनोर्जनने
ऽन्योन्यम् ।१२१ क।

kriyayā tu parasparam ॥120b॥
vastunor janane 'nyonyam ।121a।

Wechselseitigkeit (anyonya n.) liegt vor, wenn durch eine einzige Handlung zwei Sachverhalte sich gegenseitig bewirken.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Teiche werden schöner durch Schwäne und Schwäne werden schöner durch Teiche."

Deutsche Beispiele:

Franz Grillparzer <1791 - 1872>:

Der Staat stützt sich auf Adel und Kirche,
Die beide sich wieder nur stützen auf ihn.
Das gleicht dem Versuch des Baron Münchhausen,
Sich am eigenen Zopf aus dem Sumpfe zu ziehn.


4.2.41. uttara n. - Antwort


Gerow: "answer"

उत्तरश्रुतिमात्रतः ।
प्रश्नस्योन्नयनं यत्र क्रियते तत्र वा सति ॥१२१॥
असकृद्यदसंभाव्यमुत्तरं स्यात्ततदुत्तरम् ।१२२ क।

uttara-śruti-mātrataḥ ।
praśnasyonnayanaṃ yatra kriyate tatra vā sati ॥121॥

asakṛd yad asaṃbhāvyam uttaraṃ syāt tad uttaram ।122a।

Antwort (uttara n.) liegt vor, wenn nur die Antwort ausgedrückt ist und die Frage erschlossen werden kann. Antwort liegt auch vor, wenn mehr als eine Frage gestellt wird und nicht-triviale Antworten gegeben werden.

Eine einzige explizite Frage mit Antwort gilt nicht als Schmuckmittel.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Händler, woher sollten wir Elfenbein und Tigerfelle haben solange meine Schwiegertochter mit aufgelösten Haaren in meinem Hause lebt?" (Sinn: Kannst du mir Elfenbein und Tigerfelle verkaufen. Ich habe keine, weil mein Sohn mit seiner Frau Sex hat statt jagen zu gehen.)

"Was ist abwegig? Die Wege des Schicksals. Was lohnt sich zu finden? Jemand, der Verdienst schätzt. Was ist Glück? Ein gutes Weib. Was ist Unglück? Schlechte Leute."

"Was ist Edlen gut zu sehen? Liebchens klares Angesicht.
Was zu atmen? dessen Mundhauch. Was zu hören? dessen Wort.
Was zu kosten? dessen Lippe. Was zu fühlen? dessen Leib.
Was zu denken? dessen Anmut. Reizend ist es allerwärts." (Bhartṛhari, Übersetzung: Rückert)

Was ist Gewinn? mit Guten streben.
Was Schaden? unter Toren leben.
Was ist Verlust? verlorne Zeit.
Der beste Witz was? Redlichkeit.
Der rechte Mut? vorm Bösen scheu.
Das beste Liebchen? Ehweib treu.
Was Reichtum? seine Kunst verstehn.
Was ist Glück? nicht auf Reisen gehn.
Was Königsmacht? die Seinigen sich gehorchen sehn." (Bhartṛhari, Übersetzung: Rückert)

Was ist Glück? Gesundheitsblüte.
Was ist Tugend? Mitleidshegung.
Was ist Liebe? Herzensgüte.
Was ist Weisheit? Überlegung. (Hitopadeśa, Übersetzung: Hertel)

"Was verdient vor Allem gesehen zu werden? Der Rehäugigen vor Liebe heiter strahlendes Gesicht.
Was gerochen zu werden? Ihres Mundes Atem.
Was gehört zu werden? Ihre Reden.
Was geschmeckt zu werden? Ihrer Lippenknospen Nass.
Was berührt zu werden? Ihr Leib.
Woran sollen Empfindungsvolle vor Allem denken? An ihre frische Jugend.
Überall stehen sie obenan." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>: Katechisation

Lehrer
Bedenk, o Kind! woher sind diese Gaben?
Du kannst nichts von dir selber haben. 

Kind
Ei! alles hab ich vom Papa.

Lehrer
Und der, woher hat's der?

Kind
Vom Großpapa.

Lehrer
Nicht doch! Woher hat's denn der Großpapa bekommen?

Kind
Der hat's genommen.

Joachim Ringelnatz <1883 - 1934>: Was die Irre sprach

Nein danke! Ich bin nicht müde.
Oder spreche ich Ihnen zu viel? –
Die Quintessenz der Güte
Liegt schließlich nicht im Peitschenstiel.
Er hebt oder senkt die Blüte. –
Nun aber genug im grausamen Spiel.
Sie haben doch recht! Ich bin müde.


4.2.42. sūkṣma n. - Feinheit


Gerow: "subtle"

कुतोपि लक्षितः सूक्ष्मो ऽप्यर्थो ऽन्यस्मै प्रकाश्यते ॥१२२ ख॥
धर्मेण केनचिद्यत्र तत्सूक्ष्मं परिचक्षते ।१२३ क।

kutopi lakṣitaḥ sūkṣmo 'py artho 'nyasmai prakāśyate ।।122b॥
dharmeṇa kenacid yatra tat sūkṣmaṃ paricakṣate ।123a।

Feinheit (sūkṣma n.) liegt vor, wenn ein subtiler Sachverhalt, der irgendwie wahrgenommen wird, jemand anderem durch irgendeinen Zusammenhang klargemacht wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Ein Mädchen, das da sah, dass der Geliebte bei der Menge von Menschen nicht gut fragen konnte, wann sie Beide zusammenkommen würden, schloss eine bei Tage blühende Wasserrose, mit der sie spielte (wodurch sie zu verstehen gab, dass die Zusammenkunft bei Sonnenuntergang stattfinden würde)." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Die junge Spröde spricht:

Die Braue furchet sich geschickt,
Allein das Auge schmachtend blickt;
Das Herz hat sich mit Stolz ummauert,
Allein die Haut des Leibes schauert.
Das Wort des Mundes hemmt der Groll,
Doch glüht die Lippe lächelvoll.
Wie ist es möglich sich zu fassen.
Wo sich die Männer sehen lassen." (Amaru, Übersetzung: Rückert)

"»Diese Wasserrose hat zwei Knospen, die eines Flamingos Schnabel verwundet hat; die Mangoranke hat einen jungen Spross, an dem ein Kokila-Männchen gekostet hat.« Als sie ein solches Zwiegespräch der Freundinnen am Ufer des Teiches vernahm, verhüllte sie ihren Busen mit dem Zipfel des Tuches und ihre Bimba-Lippen mit der Hand (weil sie erriet, dass diese gemeint waren)." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Jakob Michael Reinhold Lenz <1751 - 1792>:

Aus ihren Augen lacht die Freude,
Auf ihren Lippen blüht die Lust,
Und unterm Amazonenkleide
Hebt Mut und Stolz und Drang die Brust;

Doch unter Locken, welche fliegen
Um ihrer Schultern Elfenbein,
Verrät ein Seitenblick beim Siegen
Den schönen Wunsch besiegt zu sein
.

Christian August Fehre <1774 - >:

Ihr Mädchen, stehet ja nicht still,
Wenn euch ein Jüngling küssen will.
Wie bald kann's der und jener sehen!
Flieht, flieht und ahmt Dorinden nach;
Um Damons Küssen zu entgehen,
Floh die geschwind ins Schlafgemach -
Und ließ die Türe offenstehen.

Ludwig Uhland <1787 - 1862>: Liebeszeichen

Mein Liebchen liebt so treulich mich,
Erfreut mich alle Tage;
Sie zeigt am kleinen Fenster sich
Genau beim Stundenschlage.

Nur heute, wie ich lauschend tret
Ans traute Gartenheckchen,
Da fehlt sie, doch am Fenster steht
Ihr schönstes Rosenstöckchen.

Heinrich Heine <1797 - 1856>: Reisbilder I

Am allerwenigsten begriff der junge Mensch die diplomatische Bedeutung des Balletts. Mit Mühe zeigte ich ihm, wie in Hoguets Füßen mehr Politik sitzt als in Buchholz' Kopf, wie alle seine Tanztouren diplomatische Verhandlungen bedeuten, wie jede seiner Bewegungen eine politische Beziehung habe, so z.B., dass er unser Kabinett meint, wenn er, sehnsüchtig vorgebeugt, mit den Händen weit ausgreift; dass er den Bundestag meint, wenn er sich hundertmal auf einem Fuße herumdreht, ohne vom Fleck zu kommen; dass er die kleinen Fürsten im Sinne hat, wenn er wie mit gebundenen Beinen herumtrippelt; dass er das europäische Gleichgewicht bezeichnet, wenn er wie ein Trunkener hin und her schwankt; dass er einen Kongress andeutet, wenn er die gebogenen Arme knäuelartig ineinander verschlingt; und endlich, dass er unsern allzu großen Freund im Osten darstellt, wenn er in allmählicher Entfaltung sich in die Höhe hebt, in dieser Stellung lange ruht und plötzlich in die erschrecklichsten Sprünge ausbricht. Dem jungen Manne fielen die Schuppen von den Augen, und jetzt merkte er, warum Tänzer besser honoriert werden als große Dichter, warum das Ballett beim diplomatischen Korps ein unerschöpflicher Gegenstand des Gesprächs ist und warum oft eine schöne Tänzerin noch privatim von dem Minister unterhalten wird, der sich gewiss Tag und Nacht abmüht, sie für sein politisches Systemchen empfänglich zu machen. Beim Apis! wie groß ist die Zahl der exoterischen und wie klein die Zahl der esoterischen Theaterbesucher! Da steht das blöde Volk und gafft und bewundert Sprünge und Wendungen und studiert Anatomie in den Stellungen der Lemiere und applaudiert die Entrechats der Röhnisch und schwatzt von Grazie, Harmonie und Lenden – und keiner merkt, dass er in getanzten Chiffren das Schicksal des deutschen Vaterlandes vor Augen hat.

Ludwig Thoma <1867 - 1921>: D' Marie

Sie sträubte sich; doch war der Ton
Mit dem sie's tat, Gewährung schon.
Es klang in das verschämte »Nein«
Ganz leise hörbar »ja« hinein.

Ludwig Thoma <1867 - 1921>: Der Tanz

Beim Walzer hält man sich manierlich,
Nie leidenschaftlich, immer zierlich.
Das Zeichen, dass man sich was denkt,
Ist auf den Händedruck beschränkt.


4.2.43. sāra m. - Essenz-Reihe


Gerow: "pith"

उत्तरोत्तरमुत्कर्षो भवेत्सारः परावधिः ॥१२३ ख॥

uttarottaram utkarṣo bhavet sāraḥ parāvadhiḥ ॥123b॥

Essenz-Reihe (sāra m.) liegt vor, wenn stufenweise bis zum Höchsten die Überlegenheit ausgedrückt wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Die Erde ist die Essenz des Königreichs, die Stadt die Essenz der Erde, der Palast die der Stadt, das Bett die des Palasts, die Essenz des Betts ist die liebliche Frau, der Inbegriff der Erotik."

"Von den Flüssigkeiten ist das Beste die zerlassene Butter, von der Butter ist das Beste das, was geopfert wird; vom Opfer das Beste ist der Himmel, vom Himmel das Beste sind die Weiber." (Śivadāsa, Übersetzung: Heinrich Uhle)

"Mehl ist zehn Mal besser als Reis, Milch zehn Mal besser als Mehl, Fleisch acht Mal besser als Milch und Schmelzbutter zehn Mal besser als Fleisch." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Zehn Erzieher überragt ein Lehrer an Würde, zehn Lehrer ein Vater, zehn Väter oder wohl auch die ganze Erde eine Mutter. So ehrwürdig wie eine Mutter ist Niemand und weil eine Mutter so überaus ehrwürdig ist, darum achten sie die Menschen." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Die ganze Welt hängt von einem Gotte ab, ein Gott hängt von einem Spruche ab, dieser Spruch aber hängt von einem Brahmanen ab, darum ist ein Brahmane mein Gott." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Russisches Beispiel:


Statt eines Textes: satirische Matrjoschka (Матрёшка): Die russischen Führer:

Das Reihenfolge der "Essenzen": Jelzin (Ельцин) - Gorbatschow (Горбачёв) - Breschnew (Брежнев) - Chruschtschow (Хрущёв) - Stalin (სტალინი) - Lenin (Ленин) - Nikolaus II. (Николай II) - Katharina die Große (Екатерина Великая) - Peter der Große (Пётр I Вели́кий) - Iwan der Schreckliche (Ива́н Гро́зный)

[Bildquelle: KoS / Wikipedia. -- Public domain]


4.2.44. asaṃgati f. - Unübliche Fernwirkung


Gerow: "non-concomitance"

भिन्नदेशतयात्यन्तं कार्यकारणभूतयोः ।
युगपद्धर्मयोर्यत्र ख्यातिः सा स्यदसंगतिः ॥१२४॥

bhinna-deśatayātyantaṃ kārya-kāraṇa-bhūtayoḥ ।
yugapad dharmayor yatra khyātiḥ sā syād asaṃgatiḥ ॥124॥

Unübliche Fernwirkung (asaṃgati f.) liegt vor, wenn zwei Sachverhalte, die im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen, als an völlig getrennten Orten vorkommend dargestellt werden.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Wenn man sagt, dass der, der die Wunde trägt, auch die Schmerzen hat, stimmt nicht: der Biss ist im Nacken der jung vermählten Frau, der Schmerz ist bei ihren Mit-Gattinnen."

"Obgleich mit Füßen getreten
und geschlagen mit hartem Stab,
tötet die Schlange doch einzig,
wen sie berührt mit dem Zahn.
Anders ist der bösen Menschen
heimtückisch grausames Treiben:
Dem einen hängen sie am Ohr,
vernichten den anderen ganz." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey) (Über Verräter, die durch ihren Verrat den Verratenen zugrunderichten)

"Ein Weiser, der den Herrn beleidigt,
schläft nicht, auch wenn er weit entfernt ist.
Lang sind des Verständigen Arme,
womit er verletzt, wer ihn verletzt." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"Wenn durch übermäßige Fütterung der Brahmanenschar die Ahnen befriedigt werden, warum wird dann nicht dadurch, dass ein anderer Schmelzbutter trinkt, ein anderer fett?" (Śivadāsa, Übersetzung: Heinrich Uhle)

Deutsche Beispiele:

Christian Morgenstern <1871 - 1914>: Das Fernklavier

Castor sitzt in Leipzig hier.
Auch in Pest steht ein Klavier.
Castor spielt. Und seine Weise
rührt die Tasten, laut (auch leise)
dort in Pest.

Pest strömt zum Fest.

Karl Kraus <1874 - 1936>: Genua

Genua, 13. April. Nach einer Statistik der Konferenz sind am Montag 205.000 Worte von Genua aus telegraphiert worden, darunter 90.000 vom Pressehaus.

Und selbst dieses war überflüssig. Von allem Abscheu, den dieser Erdball bietet, mag der Anblick des Pressgesindes in den Hotelhallen von Genua derzeit das Abscheulichste gewesen sein. Mehr als die aus aller Herren Ländern herbeigeflogenen Kokotten von der Unentbehrlichkeit im Dienste des Überflüssigsten durchdrungen, die Frechheit des Berufs auf der Stirn, gehoben durch die Gelegenheit, zudringlicher als sonst zu sein, und durch die Wichtigkeit der Mission, eine authentische Lüge voreinander vorauszuhaben. Ein Schwärm von Gestalten, vor deren jeder das ligurische Meer sich gebäumt hat und deren Fernwirkung noch den Ätna zum Speien gebracht haben muss. Immer bereit, aufzuschwärmen, Informationen zu saugen, immer hinter den Delegierten, die auch keine Freude der Landschaft gewesen sein dürften, »hinter den Tanzenden her wie die Häscher, leicht wie die Falter, die Rosentau-Näscher«.


4.2.45. samādhi m. - Günstiges Zusammentreffen


Gerow: "conjunction"

समाधिः सुकरं कार्यं कारनान्तरयोगतः ।१२५ क।

samādhiḥ sukaraṃ kāryaṃ kāraṇāntara-yogataḥ ।125a।

Günstiges Zusammentreffen (samādhi m.) liegt vor, wenn durch zusätzliche Bedingungen eine Wirkung leichter eintritt.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Als ich ihren Groll besänftigen wollte und ihr zu Füssen fiel, kam mir Donner glücklicherweise zur Hilfe."

"Wie laut der Donner in den Lüften rollet,
Vergisst die Liebende mit wirrem Sinn
Des frühern Haders ganz und schmieget ängstlich
Sich inniger dem Auserwählten hin. (Kālidāsa, Übersetzung: P. v. Bohlen)

Deutsche Beispiele:

David Kalisch <1820 - 1872>: Des Ahnherrn Fluch (1854)

Kühl wehte schon der Abendschauer,
Da sprach zum Knapp der Jaromir:
"Geh, hol mir ein Paar warme Jauer
Und eine Flasche Bairisch Bier!"

"O Herr! Nicht darf ich's euch verhehlen,"
Sprach bleich der Knapp zum Jaromir,
"Wo nehmen her - und doch nicht stehlen?" -
Da polterte es an die Tür.

Der Urahn Jaromirs - der tote -
Er war's! - mit kalter Grabeshand
Warf er vier Groschen auf die Kommode
Und seinen Fluch - Ha! - und verschwand!


4.2.46. sama n. - Zusammenpassen


Gerow: "together"

समं योग्यतया योगो यदि संभावितः क्वचित् ॥१२५ ख॥

samaṃ yogyatayā yogo yadi saṃbhāvitaḥ kvacit ॥125b॥

Zusammenpassen (sama n.) liegt vor, wenn irgendwo eine Verbindung passend ist.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Welch Wunder! Der Schöpfer hat es so arrangiert, dass die Früchte des Nimbaums wohlschmeckend sind, und dass die Krähen Experten darin sind, sie zu fressen."

"Grausam, zart,
Falsch und wahr,
immerdar
Spendend Gabe,
Suchend Habe,
Immer gebend,
Gut erstrebend:
Also sei wie eine Dirne
Wandelbar der Fürsten Stirne." (Hitopadeśa, Übersetzung: Hertel)

Deutsche Beispiele:

Anonym (Fliegende Blätter): Blätter aus Hymens Memoiren


Weil Gleiches nur mit Gleichem gedeiht,
Der Geldsack eine Geldkatz' freit.

Volkslied (1603): Die Fisch im Wasser wohnen

Die Fisch im Wasser wohnen,
das G'wild wohl in dem Wald.
So halten sie zusammen
die Menschen jung und alt;
damit sie tun sich mehren
gar viel und mannigfalt.

Beid Jung und Jung zum scherzen
gehört allzeit zusamm;
in ihrer beiden Herzen
brennen die Liebesflamm’n,
doch dass soliches Alles
gescheh in Gottes Nam’n.

Das Jung und auch das Alte
sich ihm nit reimen woll:
Das Alt ist ungestalte,
das Jung ist freudenvoll:
Darum auch seines Gleichen
ein Jeder nehmen soll.

Zwei rosinfarben Mündelein,
vier Äuglein hell und klar,
auch zwei liebhabend Herzelein,
goldfarbes krauses Haar,
gehörn allzeit zusammen,
sag ich stetigs fürwahr.

Christian Wernicke <1661 - 1725>: Auf die lachende Mathilde

Oft lacht Mathild', und hält so oft sie lacht, die Hand
Vor ihren weiten Mund: Warum mag es geschehn?
Sie deckt zugleich die schwarze Zähn',
Und zeigt uns ihren
Diamant.

Rudolf Wilke <1873 - 1918>: Zum Preise des Höchsten


"Auch über uns wacht Gott! Wenn er die Wanzen bellen ließe, könnte keiner von uns schlafen."


4.2.47. viṣama m. - Unverträglichkeit


Gerow: "dissimilar"

क्वचिद्यदतिवैधर्म्यान्न श्लेषो घटनामियात् ।
कर्तुः क्रियाफलावाप्तिर्नैवानर्थश्च यद्भवेत् ॥१२६॥
गुणक्रियाभ्यां कार्यस्य कारणस्य गुणक्रिये ।
क्रमेण च विरुद्धे यत्स एष विषमो मतः ॥१२७॥

kvacid yad ativaidharmyān na śleṣo ghaṭanām iyāt ।
kartuḥ kriyā-phalāvāptir naivānarthaś ca yad bhavet ॥126॥

guṇa-kriyābhyāṃ kāryasya kāraṇasya guṇa-kriye ।
krameṇa ca viruddhe yat sa eṣa viṣamo mataḥ ॥127॥

Unverträglichkeit (viṣama m.) liegt vor,

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Wo ist die Großäugige mit dem extrem zarten Körper? - Wo ist das Feuer der Liebe, grässlich wie ein Strohfeuer?"

"Der Hase floh aus Furcht vor dem Sohn der Siṃhikā (Löwin) zum Mond - trotzdem wurde er von einem anderen Sohn der Siṃhikā (nämlich Rāhu) verschlungen."

"Lotusäugige du verursachst diese gewaltige Freude und trotzdem martert die Trennung, die allein Du verantwortest, meinen Körper."

"Zwei Wege auf einmal kannst du nicht wandeln,
Mit zweispitz'ger Nadel kannst du nicht nähen;
Du kannst nicht auf einmal beides genießen:
Der Sinne Lust und Erlösung im Jenseits." (Samayasundara, Übersetzung: Winternitz)

"Wär' auch der Krähe Schnabel mit Gold belegt
Und ihre Füße mit Rubinen geziert,
Und hingen Perlen auch an ihren Flügeln -
Sie bliebe Krähe doch und würde
Zum Goldflamingo nie." (Nītiratna, Übersetzung: Winternitz)

"Was nicht sein kann, kann nicht sein;
Nur was möglich ist, ist möglich;
Auf dem Wasser kann der Wagen nicht,
Auf dem Lande kann das Schiff nicht fahren." (Tantrākhyāyika, Übersetzung: Winternitz)

"Wer des Königs Vorteil dient,
zieht des Volkes Hass sich zu;
wer des Landes Vorteil dient,
der verliert des Königs Gunst.

Weil hierin liegt ein Widerspruch
so unvereinbar und so groß,
ist doch ein Mann, der Fürst und Land
gleichmäßig dient, ein seltner Schatz." (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"Ehrenglanz und Weisheit finden sich niemals beisammen: dem Ehrenglanz fällt ja, wie man weiß, diese Welt, der Weisheit aber jene Welt anheim." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Abraham a Sancta Clara <1644 - 1709>: Merk's Wien

Der Prophet Ezechiel hat einen Wagen gesehen, an dem ein Ochs und ein Löw neben einander gespannt; Ungleiche Tier seind diese gewest; die Eheleut werden auch an ein Joch gespannt, dahero sie Conjuges benamset werden; aber gar oft auch ungleich, deswegen manches Mal diese elende Motteten in lauter la – mi – fa – re. gehört wird, nämlich.

Will er Saur, so will ich Süß,
Will er Mehl, so will ich Grieß,
Schreit er Hu, so schrei ich Ha,
Ist er dort, so bin ich da,
Will er Essen, so will ich fasten,
Will er gehen, so will ich rasten,
Will er recht, so will ich link,
Sagt er Spatz, so sag ich Finck,
Isset er Suppen, so iss ich Brocken,
Will er Strümpf, so will ich Socken,
Sagt er ja, so sag ich nein,
Sauft er Bier, so trink ich Wein,
Will er dies, so will ich das,
Singt er den Alt, so sing ich den Bass,
Steht er auf, so sitz ich nieder,
Schlagt er mich, so kratz ich wieder,
Will er Hü, so will ich Hott,
Das ist ein Leben, erbarm es Gott.

Friedrich von Sallet <1812 - 1843>: Hyperboräische Ballade

Es war ein König von Thule,
Zu seinem Volk der sprach:
„Geh nur erst in die Schule!
Die Freiheit folgt schon nach.

Mit einem Eid gewaltig
Versprech ich sie dir klar,
Und was ich verspreche, das halt ich
Am 30sten Februar.“

Da war das Volk bestochen,
Manch Jahr lang Vivat schrie,
Bis endlich Lunte rochen
Die größten Pfiffici.

„Ach, stünd er im Kalender!
Jetzt bleibt uns nicht als Spott.“ -
So ändert den Kalender!
Helft euch, so hilft euch Gott.

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[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/eswareko.html. -- Zugriff am 2012-08-31]

Frank Wedekind <1864 - 1918>: Altes Lied

Es war einmal ein Bäcker,
Der prunkte mit einem Wanst,
Wie du ihn kühner und kecker
Dir schwerlich träumen kannst.

Er hat zum Weibe genommen
Ein würdiges Gegenstück;
Sie konnten zusammen nicht kommen,
Sie waren viel zu dick.

Rudolf Wilke <1873 - 1908>: Undenkbar


"Papa, kann ein Oberhof-Zermonienmeister auch die Diarrhöe kriegen?"


4.2.48. adhika n. - Überquellen


Gerow: "superabundant"

महतोर्यन्महीयांसावाश्रिताश्रयोः क्रमात् ।
आश्रयाश्रयिनौ स्यातां तनुत्वे
ऽप्यधिकं तु तत् ॥१२८॥

mahator yan mahīyāṃsāvāśritāśrayayoḥ kramāt ।
āśrayāśrayiṇau syātāṃ tanutve 'py adhikaṃ tu tat ॥128॥

Überquellen (adhika n.) liegt vor, wenn Behältnis bzw. Inhalt, obwohl sie groß sind, als für Inhalt bzw. Behältnis zu groß beschrieben werden.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"König, die Dreiwelt ist wirklich groß: dein Ruhm, der zu groß ist, um in ihr Platz zu finden, findet in ihr Platz."

"Viṣṇu, in dem in den Zwischenzeiten die Welten leicht Platz finden, könnte in seinem Leib nicht die Freude enthalten, die die Ankunft des Heiligen bewirkte."

"Der Schöpfer hat den Weltenraum zu klein geschaffen, Schönste,
Und nicht bedacht, dass einst dein Busen derart schwellen würde." (Übersetzung: Winternitz)

"Diese schwellenden Brüste, o Mädchen mit dem tadellosen Körper, haben ja nicht Platz auf deinem Brustbein." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Angelus Silesius <1624 - 1677>: Ich bin so breit als Gott

Ich bin so breit als Gott, nichts ist in aller Welt,
Das mich, o Wunderding, in sich umschlossen hält.

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Wenn der Mensch in einem gewissen Alter alle seine Liebesbriefe lesen würde, bliebe es ihm unbegreiflich, wie in ein Wesen von fünf Fuß Höhe eine ganze Bibliothek von Dummheiten geraten konnte.

Der Saal fasste nicht die Hörerinnen, und diese fassten nicht den Vortrag.


4.2.49. pratyanīka n. - Stellvertretende Feindseligkeit


Gerow: "conter-attack"

प्रतिपक्षमशक्तेन प्रतिकर्तुं तिरस्क्रिया ।
या तदीयस्य तत्स्तुत्यै प्रत्यनीकं तदुच्यते ॥१२९॥

pratipakṣam aśaktena pratikartuṃ tiras-kriyā ।
yā tadīyasya tat-stutyai pratyanīkaṃ tad ucyate ॥129॥

Stellvertretende Feindseligkeit (pratyanīka n.) liegt vor, wenn jemand, der seinem Feind nicht schaden kann, jemandem, der zum Feind gehört, schmäht, und dies dem Lob des Schmähenden dient.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Rāhu ist dem Kṛṣṇa feindselig, weil dieser ihm den Kopf abgeschlagen hat; er kann dem Kṛṣṇa aber nicht schaden; deswegen greift er (bei Mondfinsternissen) den Mond an, der Kṛṣṇas lieblichem Gesicht gleicht."

"Der Niedrige schlägt den Mann, der grad' in der Näh',
Um eines kleinen Fehlers willen zu Boden,
Nicht aber den Feind in der Ferne, wenn er auch vieles
Verbrochen, - so beißt der wütende Hund den Stein,
Der ihn getroffen, nicht den, der den Stein geschleudert." (Kalhaṇa, Übersetzung: Winternitz)

Deutsche Beispiele:

Joachim Ringelnatz <1883 - 1934>: Biegemann

Biegemann war mein Lehrer.
Biegemann war mal zu mir gut.
Ich bleibe doch sein Verehrer.
Denn was tut's, wenn, was tat, nicht mehr tut.

Biegemann warfen schließlich
Seine Freunde allerlei vor.
Biegemann wurde verdrießlich,
Unverschämt. – Bis er den letzten verlor.

Als ich ihn weiter besuchte –
Denn er war einst mein geistiger Halt –,
Schlug er und wälzte und fluchte
Alles auf mich, was den Freunden galt.


4.2.50. mīlita n. - Verdecktes


Gerow: "fused"

समेन लक्ष्मणा वस्तु वस्तुना यन्निगूह्यते ।
निजेनागन्तुना वापि तन्मीलितमिति स्मृतम् ॥१३०॥

samena lakṣmaṇā vastu vastunā yan nigūhyate ।
nijenāgantunā vāpi tan mīlitam iti smṛtam ॥130॥

Verstecktes (mīlita n.) liegt vor, wenn  ein Sachverhalt durch einen anderen Sachverhalt durch eine beiden gemeinsame Eigenschaft versteckt wird; diese Eigenschaft kann eigentümlich oder zufällig sein.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Ihr Äußeres ist infolge ihres Charmes so, dass man nicht sieht, dass sie vergiftet wurde." (die Anzeichen des Charmes und einer Vergiftung sind identisch, sodass man nicht erkennt, dass sie vergiftet wurde).

"Die Kälte ist so, dass man zittert, darum sieht man nicht, dass sie vor den Feinden zittern."

Deutsche Beispiele:

Gottfried August Bürger <1747 - 1794>: [Über seinen Besuch bei Goethe 1789]

Mich drängt’ es in ein Haus zu gehn, 
Drin wohnt’ ein Künstler und Minister. 
Den edlen Künstler wollt’ ich sehn 
Und nicht das Alltagsstück Minister. 
Doch steif und kalt blieb der Minister 
Vor meinem trauten Künstler stehn, 
Und vor dem hölzernen Minister 
Kriegt’ ich den Künstler nicht zu sehn

Hol ihn der Kuckuck und sein Küster!

Ludwig Tieck <1773 - 1853>: Der Naturfreund

Er las uns heute aus dem Klopstock etwas vor; liest sehr schlecht, und dann machte mir auch der unaufhörliche Kram von Engeln und bösen Geistern, die unverständlichen Verse, und dass das Gedicht durchaus nicht spaßhaft war, so viel Langeweile, dass mir die Kinnbacken vom verbissnen Gähnen weh taten; meine Augen gingen endlich davon über, und er hielt es für Rührung.

Anastasius Grün <1806 - 1876>: Der alte Komödiant

Der Alte lehnt im Stuhle tot,
Doch Leben heuchelt der Schminke Rot,
Die auf dem Antlitz blass und kalt,
Wie eine große Lüge, prahlt.


4.2.51. ekāvalī f. - Einfache Perlenschnur


Gerow: "a single row"

स्थाप्यते ऽपोह्यते वापि यथापूर्वं परं परम् ।
विशेषणतया यत्र वस्तु सैकावली द्विधा ॥१३१॥

sthāpyate 'pohyate vāpi yathā-pūrvaṃ paraṃ param ।
viśeṣaṇatayā yatra vastu saikāvalī dvidhā ॥131॥

Einfache Perlenschnur (ekāvalī f.) liegt vor, wenn in einer Reihe von Sachverhalten, der jeweils folgende vom vorhergehenden bejaht bzw. verneint wird. Diese ist dementsprechend zweifach.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"In der Stadt sind großartige Frauen; Schönheit schmückt diese großartigen Frauen; ihre Schönheit ist voll Lüsternheit; Lüsternheit ist die Waffe des Liebesgottes."

"Das nenne ich nicht Wasser, was nicht prächtige Lotusblumen hat; das nenne ich nicht Lotusblume, was keine Bienen in sich birgt; das nenne ich nicht Biene, was nicht lieblich summte; das nenne ich kein Gesumme, was nicht das Herz fortriss." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Wer Hundert hat, begehrt nach Tausend,
wer Tausend hat, will Hunderttausend,
wer Hunderttausend hat, will Herrschaft,
wer diese hat, den Himmel gar" (Pañcatantra, Übersetzung: Benfey)

"Dem Monde nähert sich durch seinen weißen Glanz der Flamingo, dem Flamingo durch ihren reizenden Gang die Geliebte, der Geliebten durch seine angenehme Weichheit das Wasser, dem Wasser durch ihre Durchsichtigkeit die Luft." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Des Mannes Zierde ist eine schöne Gestalt, die Zierde einer schönen Gestalt ist Tugend, der Tugend Zierde das Wissen, des Wissens Zierde die Nachsicht." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Wo die Wahrheit ist, da ist die Göttin des Glückes; wo die Göttin des Glückes ist, da ist Viṣṇu (ihr Gatte); wo Viṣṇu ist, da ist das Recht; wo das Recht ist, da ist der Sieg." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Scham bringt die Armut, Kraftverlust die Scham,
Entkräftung Hohn, Hohn Kleinmut, Kleinmut Gram,
Und Gram betört; ins Elend stürzt der Tor.
All Unheil sich den Armen auserkor." (Hitopadeśa, Übersetzung: Hertel)

"O Śiva, schaffe uns lieber gar nicht! Schaffst du, so gib wenigstens nicht Geburt als Mensch, oder wenn doch, verschone uns mit der Liebe, oder wenn doch, mit der Trennung!" (Śivadāsa, Übersetzung: Heinrich Uhle)

"Die am Morgen da sind, sind es nicht am Mittag, die am Mittag da sind, sind es nicht am Abend, und die am Abend da waren, sieht man nicht mehr: Die Welt ist einem Zauber gleich." (Śivadāsa, Übersetzung: Heinrich Uhle)

Deutsche Beispiele:

Anonym: Auszählreim

1, 2, 3, 4, 5, 6, 7,
auf der Straße Numero sieben
steht ein kleines Bauernhaus,
in dem Haus steht ein Garten,
in dem Garten ist ein Baum,
auf dem Baum ist ein Ast,
in dem Ast ist ein Nest,
in dem Nest ist ein Ei,
in dem Ei ist ein Dotter,
in dem Dotter ist eine kleine Uhr,
die schlägt: 1, 2, 3,
du bist frei.

Klicken: Ähnliche Melodie

[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/EinsZwei.html. -- Zugriff am 2012-09-12]

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Die Dichter sind mit der Liebe übel dran; sie können nicht lieben, ohne zu singen, sie können nicht singen, ohne zu trinken, sie haben aber nichts zu trinken, ehe sie nicht gesungen haben; sie müssen also lieben, singen und trinken zu gleicher Zeit, müssen immer ein Tintenglas, ein Augenglas und ein Weinglas in der Hand haben. Daher vertrinken sie die Liebe, verlieben sich in den Trunk und versingen beides.

Das Leben opfert man der Freundschaft, die Freundschaft der Liebe, die Liebe dem Stolze, den Stolz der Eitelkeit, und nur die Eitelkeit opfert der Mensch für nichts als für den - Hunger!

Adolf Glaßbrenner <1810 - 1876>: Logische Beweise für die Notwendigkeit der Handwerker

Buchbinder. Gäbe es keine Buchbinder, so hätten wir auch keinen Einband; hätten wir keinen Einband, so kauften die Vornehmen auch keine Bücher; kauften die Vornehmen keine Bücher, so müssten die Schriftsteller verhungern; müssten die Schriftsteller verhungern, so brauchten auch keine Bücher verboten zu werden, ergo muss es auch Buchbinder geben.

Weber. Gäbe es keine Weber, so gäbe es auch keine Hungernden; gäbe es keine Hungernden. so existierten auch keine reichen Fabrikherren; existierten keine reichen Fabrikherren, so könnten sie auch in den Kammern nicht liberal sein; könnten sie in den Kammern nicht liberal sein. so würde dem Menschenfreund nicht alle Tage unwohl werden: Dem Menschenfreund wird aber alle Tage unwohl, ergo muss es auch Weber geben.

Christian Morgenstern <1871 - 1914>: In Phantas Schloss

Andre Zeiten, andre Drachen,
andre Drachen, andre Märchen,
andre Märchen, andre Mütter,
andre Mütter, andre Jugend,
andre Jugend, andre Männer –:
Stark und stolz, gesund und fröhlich,
leichten, kampfgeübten Geistes,
Überwinder aller Schwerheit,
Sieger, Tänzer, Spötter, Götter!


4.2.52. smaraṇa n. - Anklang


Gerow: "recollection"

यथानुभवमर्थस्य दृष्टे तत्सदृशे स्मृतिः ।
स्मरणम् ॥१३२॥

yathānubhavam arthasya dṛṣṭe tat-sadṛśe smṛtiḥ ।
smaraṇam ॥132॥

Anklang (smaraṇa n.) liegt vor, wenn man beim Anblick eines ähnlichen Sachverhalts sich eines anderen Sachverhalts so erinnert, wie man ihn erfahren hat.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Verbeuge dich vor dem Haarsträuben Kṛṣṇas, der sich an an seine Schneckentrompete Pañcajanya erinnerte, als er seine Unterlippe an Yaśodhās Brustwarze setzte und ihre Brust mit beiden Händen hielt."

"Geliebte Laute, einst hast du geruht
An ihrem Busen und in ihrem Schoß;
Wie rau warst du gebettet in dem Wald,
Wo Vögel dich einscharrten in den Staub!
Gefühllose Laute! Hast du die Arme vergessen -
Wie sie auf meinem Schoß, in meinen Armen ruhte,
An mich in Liebesglut gepresst den heißen Busen;
Die Musikpausen sie mit heitrem Plaudern füllte;
Doch wenn von mir getrennt, sie sich erging in Klagen!" (Bhāsa, Übersetzung: Winternitz)

"Die Augen erinnern sich des früheren Daseins und erkennen den, der ihnen lieb oder unlieb war: erblicken sie einen ihnen lieben Menschen, so öffnen sie sich; beim Anblick eines unlieben Menschen schließen sie sich." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Dass der Beglückte, wenn er Schönes sieht,
Wenn liebliche Musik sein Ohr berührt,
Von tiefer Sehnsucht sich ergriffen fühlt:
Es ist wohl, weil sich unbewusst und dunkel
Die Seel' erinnert eines frühern Seins
Und dort geschlungner holder Liebesbande." (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

Deutsche Beispiele:

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>:

In tausend Formen magst du dich verstecken,
Doch, Allerliebste, gleich erkenn ich dich;
Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken,
Allgegenwärt'ge, gleich erkenn ich dich.

An der Zypresse reinstem, jungem Streben,
Allschöngewachsne, gleich erkenn ich dich;
In des Kanales reinem Wellenleben,
Allschmeichelhafte, wohl erkenn ich dich.

Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet,
Allspielende, wie froh erkenn ich dich;
Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet,
Allmannigfalt'ge, dort erkenn ich dich.

An des geblümten Schleiers Wiesenteppich,
All-bunt-besternte, schön erkenn ich dich;
Und greift umher ein tausendarm'ger Eppich,
O Allumklammernde, da kenn ich dich.

Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet,
Gleich, Allerheiternde, begrüß ich dich;
Dann über mir der Himmel rein sich ründet,
All-herz-erweiternde, dann atm' ich dich.

Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne,
Du Allbelehrende, kenn ich durch dich;
Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne,
Mit jedem klingt ein Name nach für dich.

Heinrich Seidel <1842 - 1906>: Erinnerung

In Andacht stand ich jüngst versunken
Vor jenem Haus, wo manches Mal
Ich viel gegessen und getrunken
Und gut, nach meines Herzens Wahl

Nach jener Zeit, nach jenen Tagen
Ward meine Sehnsucht wieder jung,
Und leise fiel auf meinen Magen
Die Träne der Erinnerung.

Volkslied aus der Gegend von Nordhausen (1821): Wo mag denn nur mein Christian sein

1. |: Wo mag denn nur mein Christian sein,
In Hamburg oder Bremen? :|
|: Schau ich nur seine Stube an,
   So denk ich an mein Christian. :|

2. |: In seiner Stub' da hängt ein Holz,
Damit hat er gedroschen. :|
|: Schau ich nur diesen Flegel an
   So denk ich an mein Christian. :|

3. |: Auf unserm Hof, da steht ein Klotz,
Darauf hat er gesessen. :|
|: Schau ich nur diesen Kolzklotz an
   So denk ich an mein Christian. :|

4. |: Der Esel, der den Milchkarrn zog,
Den hat er selbst geführet. :|
|: Hör ich nur diesen Esel schrei'n,
   So fällt mir gleich mein Christian ein. :|

5. |: In unserm Stall, da steht 'ne Kuh,
Die hat er oft gemolken. :|
|: Schau ich mir dieses Rindvieh an,
   So denk ich an mein Christian. :|

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Rudolf Wilke <1873 - 1908>: Völkische Erinnerung


"Beim Betreten eines Schwimmbades denken wir unwillkürlich an die Schlacht bei Arausio, wo unsere tapferen Vorfahren durch den bloßen Anblick ihrer Leiber den Schrecken der Römer erregten."


4.2.53. bhrāntimant m. - Trugbild


Gerow: "confused"

भ्रान्तिमानन्यसंवित्तत्तुल्यदर्शने ॥३२ ख॥

bhrāntimān anya-saṃvit tat-tulyadarśane ॥32b॥

Trugbild (bhāntimant m.) ist, wenn man beim Wahrnehmen eines Sachverhalts einen anderen, diesem ähnlichen Sachverhalt wahrnimmt.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"An den Mondstrahlen auf einer Schüssel leckt eine Katze, in der Meinung, es sei Milch; in Baumspalten eingedrungene Mondstrahlen hält ein Elefant für Wurzelschosse von Wasserrosen; so greift nach beendigtem Liebesgenuss auch ein Weib nach den Mondstrahlen auf einem Bette, weil sie sie für ihr Tuch hält: seltsam, der von seinem Glanze trunkene Mond verwirrt diese Welt." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Küssend umarmt sie der nächtlichen Schatten
Wolkengebild, das sie hält für den Gatten,
Hari, o Hort!
Rādhā erliegt in der Laube dort." (Jayadeva, Übersetzung: Rückert)

"Ein dummes Gänschen wurde oft betrogen
Wenn in der Nacht der Sterne Widerschein
Im Teiche Lotusblüten ihm gelogen
Und war gar sehr enttäuscht, biss es hinein,
Bei Tag auch meidet's nun die zarte Beute:
Auch Gute fürchten schelmbetörte Leute." (Hitopadeśa, Übersetzung: Hertel)

"Eine Blumenleserin, die durch den Widerschein der eigenen Augen im Wasser häufig getäuscht wurde, bedenkt sich auch an eine wirkliche blaue Wasserrose die Hand zu legen."  (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Den Mond nennt sie Sonne, das Sandelholz hält sie für einen Waldbrand, den Lotus für ein Feuer, den Scheiterhaufen denkt sie als ein schneeiges Lager. Mit einem von der heißen Kohle der Perlenschnur gereinigten Geiste weiß die Schöne, jetzt feuerglühend, von dieser ganzen Schöpfung nichts: von dir verlassen ist sie elend." (Śivadāsa, Übersetzung: Heinrich Uhle)

"Wie ein Verliebter doch sich selbst gern täuscht,
Indem er des geliebten Wesens Stimmung
Nach seinem eignen Herzenswunsche auffasst.

Denn dass sie freundlich nach mir blickte, wenn
Auch sonstwohin ihr Augenpaar sie wandte,
Und dass sie, ob der Fülle ihrer Hüfte
Als wie im Liebesscherze langsam ging;
Dass sie erzürnt auf ihre Freundin ward,
Weil diese sie zurückzuhalten suchte:
Ei, sollte mir das gelten? Ach Verliebte
Beziehn und deuten Alles auf sich selbst!" (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

"Wenn Jemand spräch': das ist kein Elefant,
Der doch an ihm vorüberschritt leibhaftig,
Und dann sich überzeugte durch die Fußspur:
Von solcher Art war meine Geistverblendung." (Kālidāsa, Übersetzung: Ernst Meier)

Deutsche Beispiele:

Gotthold Ephraim Lessing <1729 - 1781>: Die Schöne von hinten

Sieh Freund! sieh da! was geht doch immer
Dort für ein reizend Frauenzimmer?
Der neuen Tracht Vollkommenheit,
Der engen Schritte Nettigkeit,
Die bei der kleinsten Hindrung stocken,
Der weiße Hals voll schwarzer Locken,
Der wohlgewachsne schlanke Leib,
Verrät ein junges art'ges Weib.

Komm Freund! komm, lass uns schneller gehen,
Damit wir sie von vorne sehen.
Es muß, triegt nicht der hintre Schein,
Die Venus oder Phyllis sein.

Komm, eile doch! – O welches Glücke!
Jetzt sieht sie ungefähr zurücke.
Was wars, das mich entzückt gemacht?
Ein altes Weib in junger Tracht.

Gottlieb Konrad Pfeffel (1736 - 1809>: Der Himmel

Ein Toller kam bei Nacht von seinen Ketten los,
Und lief aufs freie Feld, in dessen grünem Schoß
Ein stiller Bach, hell wie ein Spiegel floss.
Der Sterne glänzendes Gewimmel,
Der Mond in voller Pracht erleuchteten den Himmel
Und malten sich als wirklich in dem Bach.
Der Tor blieb an dem Ufer stehen
Und bückte sich die Szene recht zu sehen,
Und sah und staunte lang und sprach:
Was hab ich doch entdecken müssen!
Der ganze Himmel liegt zu meinen Füßen,
Ein leichter Schritt, so ist er mein.
Ich Glücklicher! Jetzt wirft er sich hinein
Und sinkt! Vergebens ist sein Streben,
Der Irrtum kostet ihn das Leben.

Friedrich Hebbel <1813 - 1863>: Parabel

Jüngst traf ich einen alten Mann
Und hub ihm vorzusingen an,
Doch an den Mienen des Gesichts
Bemerkt' ich bald, er höre Nichts.
Da dachte ich: der Greis ist taub,
Drum wird dein Lied des Windes Raub,
So tu ihm denn, nicht durch den Mund,
Durch Zeichen Dies und Jenes kund.
Ich tat's, doch ward mir leider klar,
Dass er auch schon erblindet war,
Denn, wie der Frosch aus seinem Sumpf,
Hervor glotzt, sah er dumpf und stumpf,
Und ungestört in seiner Ruh',
Der Sprache meiner Finger zu.
Ich rief: mit dem steht's schlimm genug,
Doch mögt' ich ihm den letzten Zug
Noch gönnen aus dem Lebensquell!
Da reicht' ich ihm die Rose schnell,
Die ich für meine Braut gepflückt,
Allein auch das ist schlecht geglückt,
Ihm schien der Duft nicht mehr zu sein,
Wie einem Gartengott von Stein.
Nunmehr verlor ich die Geduld,
Ich dacht' an meines Mädchens Huld,
Die mir so schmählig jetzt entging,
Da sie die Rose nicht empfing,
Und jagte ihm im ersten Zorn
Ins dicke Fell den scharfen Dorn;
Doch bracht' auch dies ihm wenig Not,
Er zuckte nicht, er – war wohl tot!

Eduard Mörike <1804 - 1875>:  Scherz bei Gelegenheit, dass ich im Pfarrhaus zu W in einer Kammer zu schlafen hatte, wo Zwiebeln aufbewahrt wurden.

Ganz richtig hört ich sagen,
dass, wer in Zwiebeln schlief,
hinunter ward getragen
in Träume schwer und tief.
Dem Wachen selbst geblieben
sei Irren Wahnes Spur,
die Nahen und die Lieben
halt' er für Zwiebeln nur
.

Und gegen dieses Übel,
das sehr unangenehm,
hilft selber nur die Zwiebel,
nach Hahnemanns System.
Dies lasst uns gleich versuchen -
Gott gebe, dass es glückt -
und schafft mir Zwiebelkuchen,
sonst werd' ich noch verrückt!

Volkslied aus dem Taunus (19. Jhdt.): Der Jäger längs dem Weiher ging

1. Der Jäger längs dem Weiher ging.
Lauf, Jäger, lauf!
Die Dämmerung den Wald umfing.
Lauf, Jäger, lauf, Jäger,

Lauf, lauf, lauf,
Mein lieber Jäger, guter Jäger,
Lauf, lauf ,
|: Lauf, mein lieber Jäger, :|
   Lauf!

2. "Was raschelt in dem Grase dort?"
Lauf, Jäger, lauf!
"Was flüstert leise fort und fort?"
Lauf, Jäger, lauf, Jäger,
Lauf, lauf, lauf, . . . . .

3. Ein Häschen spielt im Mondenschein.
Lauf, Jäger, lauf!
Ihm leuchten froh die Äugelein.
Lauf, Jäger, lauf, Jäger,
Lauf, lauf, lauf, . . . . .

4. "Was ist das für ein Untier doch!"
Lauf, Jäger, lauf!
"Hat Ohren wie ein Blocksberg hoch!"
Lauf, Jäger, lauf, Jäger,
Lauf, lauf, lauf, . . . . .

5. "Das muß fürwahr ein Kobold sein,"
Lauf, Jäger, lauf!
"Hat Augen wie Karfunkelstein!"
Lauf, Jäger, lauf, Jäger,
Lauf, lauf, lauf, . . . . .

6. Der Jäger furchtsam um sich schaut,
Lauf, Jäger, lauf!
"Jetzt gilt es wagen, o mir graust!"
Lauf, Jäger, lauf, Jäger,
Lauf, lauf, lauf, . . . . .

7. O, Jäger, lass die Büchse ruh'n,
Lauf, Jäger, lauf!
Das Tier könnt' dir ein Leid antun.
Lauf, Jäger, lauf, Jäger,
Lauf, lauf, lauf, . . . . .

8. Der Jäger lief zum Wald hinaus,
Lauf, Jäger, lauf!
Verkroch sich flink im Jägerhaus,
Lauf, Jäger, lauf, Jäger,
Lauf, lauf, lauf, . . . . .

9. Das Häschen spielt im Mondenschein,
Lauf, Jäger, lauf!
Ihm leuchten froh die Äugelein,
Lauf, Jäger, lauf, Jäger,
Lauf, lauf, lauf, . . . . .

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[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/derjagel.html. -- Zugriff am 2012-08-22]


4.2.54. pratīpa n. - Widersinn


Gerow: "against the grain"

आक्षेप उपमानस्य प्रतीपमुपमेयता ।
तस्यैव यदि वा कल्प्या तिरस्कारनिबन्धनम् ॥१३३॥

ākṣepa upamānasya pratīpam upameyatā ।
tasyaiva yadi vā kalpyā tiras-kāra-nibandhanam ॥133॥

Widersinn (pratīpa n.) liegt vor, wenn ein Einwand gegen das Vergleichende erhoben wird, oder wenn das Vergleichende selbst in Hinblick auf die Schmähung als Verglichenes behandelt wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Herr, da der Schöpfer dich geschaffen hat ... Warum hat er dann den Mond geschaffen? Warum die Sonne? Warum den wunschgewährenden Stein? Warum hat er dann die Gebirge geschaffen, die (angesichts deiner) überflüssig sind?"

"Schöne Frau, hören Sie das Empörende: die Leute vergleichen den Mond mit Ihrem Gesicht."

"Wozu geht noch dieser andere kaltstrahlige Mond auf, da schon dein Antlitzmond da ist, der die Farbe der Wasserrose vernichtet, den Augen Entzücken schafft und den Fischträger (Meer und zugleich Liebesgott) durch seinen bloßen Anblick schwellen lässt? Sollte er sich auf den Nektar Etwas einbilden, so ist auch dieser auf der Bimba-Lippe hier." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>: Zur Farbenlehre

Denn wie kann man mit Gelassenheit anhören, wenn er [Bacon von Verulam] die Werke des Aristoteles und Plato leichten Tafeln vergleicht, die eben, weil sie aus keiner tüchtigen gehaltvollen Masse bestünden, auf der Zeitflut gar wohl zu uns herüber geschwemmt werden können.

Gustav Freytag <1816 - 1895>: Die verlorene Handschrift

»Wie kann man ihre [der Tiere] Seele mit der des Menschen vergleichen!« rief Ilse, »das Vernunftlose mit dem Vernünftigen, das Vergängliche mit dem Ewigen!«

Bertha von Suttner <1843 - 1914>: Die Waffen nieder!

»Wie kann man einen Dichter mit einem Feldherrn nur vergleichen!« rief mein Vater.

Ludwig Ganghofer <1855 - 1920>: Der Herrgottschnitzer von Ammergau

LONI tritt unter die Thüre rechts. D' Schnepf'n sind noch net fertig, Herr Fritz!

BAUMILLER. Die pressir'n auch net! Aber da geh' amal her! Geh' nur her!

LONI erstaunt. Was wollt's denn?

BAUMILLER zieht sie nach der Mitte. So geh' nur g'rad her und paß' auf! Er stellt Loni in die Mitte des Zimmers, läßt sie die Arme erheben in der Art wie die Maria unter dem Kreuze und sieht mit lebhafter Verwunderung vom Schnitzwerk auf das Mädchen und vom Mädchen auf das Schnitzwerk.

LONI will die Arme sinken lassen. Aber –

BAUMILLER. Bleibst gleich steh'n!

LEHNL. Wie g'sagt, die ganz' Muttergottes, auf und nieder!

LONI noch immer in der Stellung. Aber – wie kann man denn nur so an Vergleich anstell'n. Das is ja a Sünd'! Läßt die Arme wieder sinken.

Peter Altenberg <1859–1919>: Mein Lebensabend

Wie kann man den »Hofgarten« in Innsbruck oder den »Volksgarten« in Wien mit unseren zwei Rathaus-Parken vergleichen, in denen jeder Baum ein Wunderwerk der Natur selbst ist?!?s


4.2.55. sāmānya n. - Gleichsetzung


Gerow: "identity"

प्रस्तुतस्य यदन्येन गुणसाम्यविवक्षया ।
ऐकात्म्यं बध्यते योगात्तत्सामान्यमिति स्मृतम् ॥१३४॥

prastutasya yad anyena guṇa-sāmya-vivakṣayā ।
aikātmyaṃ badhyate yogāt tat sāmānyam iti smṛtam ॥134॥

Gleichsetzung liegt vor, wenn ein Sachverhalt mit einem anderen verbunden wird, um die Gleichheit der Eigenschaften infolge von Zusammentreffen auszudrücken.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Die für das Liebesabenteuer weiß gekleideten und geschminkten Frauen werden unsichtbar, wenn der Mond die Erde in weißes Licht taucht." (die gleiche Eigenschaft ist "weiß")

Deutsche Beispiele:

Eduard Mörike <1804 - 1875>: Die Schwestern

Wir Schwestern zwei, wir schönen,
So gleich von Angesicht,
So gleicht kein Ei dem andern,
Kein Stern dem andern nicht.

Wir Schwestern zwei, wir schönen,
Wir haben lichtbraune Haar,
Und flichtst du sie in einen Zopf,
Man kennt sie nicht fürwahr.

Wir Schwestern zwei, wir schönen,
Wir tragen gleich Gewand,
Spazieren auf dem Wiesenplan
Und singen Hand in Hand.

Wir Schwestern zwei, wir schönen,
Wir spinnen in die Wett,
Wir sitzen an einer Kunkel,
Und schlafen in einem Bett.

O Schwestern zwei, ihr schönen,
Wie hat sich das Blättchen gewendt!
Ihr liebet einerlei Liebchen –
Und jetzt hat das Liedel ein End.


4.2.56. viśeṣa m. - Außergewöhnliches


Gerow: "difference"

विना प्रसिद्धमाधारमाधेयस्य व्यवस्थितिः ।
एकात्मा युगपद्वृत्तिरेकस्यानेकगोचरा ॥१३५॥
अन्यत्प्रकुर्वतः कार्यमशक्यस्यान्यवस्तुनः ।
तथैव करणं चेति विशेषस्त्रिविधः स्मृतः ॥१३६॥

vinā prasiddham ādhāram ādheyasya vyavasthitiḥ ।
ekātmā yugapad vṛttir ekasyāneka-gocarā ॥135॥

anyat prakurvataḥ kāryam aśakyasyānya-vastunaḥ ।
tathaiva karaṇaṃ ceti viśeṣas trividhaḥ smṛtaḥ ॥136॥

Das dreifache Außergewöhnliche (viśeṣa m.) liegt vor, wenn behauptet wird

  1. die Existenz von etwas Enthaltenem ohne sein allbekanntes Behältnis
  2. das Vorkommen ein und desselben Dings in derselben Form und zur selben Zeit in vielen Dingen
  3. dass jemand, während er etwas tut, gleichzeitig etwas anderes bewirkt, das man nicht gleichzeitig bewirken kann

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Die Worte der Dichter erfreuen die Welt bis zum Weltende, auch wenn die Dichter schon gestorben sind."

"Sie ruht in deinem Herzen, deinen Augen und deinen Worten. Wo kann da ich noch Platz finden?"

"Als der Schöpfer dich schuf - schuf er in Wirklichkeit einen neuen Liebesgott, eine neue Sonne und einen neuen Bṛhaspati."

Deutsche Beispiele:

Anonym: Kapuzinerpredigt

Ja glaubt mir, meine lieben Brüder,
Ein leerer Raum ist unsers Lebens Lauf,
Gesund und frisch legt ihr euch abends nieder,
Und mausetot steht ihr am Morgen auf.

Christian Wernicke <1661 - 1725>: Auf des Phalaris Ochse

Hier macht die Grausamkeit Pythagors Lehre wahr,
Nicht nur, dass in ein Tier des Menschen Seele fahr';
Es zeigt uns Phalaris noch mehr durch seine List:
Dass eine Seel auf einst im Tier und Menschen ist.

Christian Morgenstern <1871 - 1914>: Das Knie

Ein Knie geht einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts!
Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist ein Knie, sonst nichts.

Im Kriege ward einmal ein Mann
erschossen um und um.
Das Knie allein blieb unverletzt –
als wär's ein Heiligtum.

Seitdem geht's einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts.
Es ist kein Baum, es ist kein Zelt.
Es ist ein Knie, sonst nichts.

Christian Morgenstern <1871 - 1914>: Der Lattenzaun

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –

und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm
mit Latten ohne was herum,

ein Anblick grässlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri – od – Ameriko.


4.2.57. tadguṇa m. - Eigenschafts-Transplantation


Gerow: "having that thing's attribute"

स्वमुत्सृज्य गुणं योगादत्युज्ज्वलगुणस्य यत् ।
वस्तु तद्गुणतामेति भण्यते स तु तद्गुणः ॥१३७॥

svam utsṛjya guṇaṃ yogād aty-ujjvala-guṇasya yat ।
vastu tad-guṇatām eti bhaṇyate sa tu tadguṇaḥ ॥137॥

Eigenschafts-Transplantation (tadguṇa m.) liegt vor, wenn etwas infolge der Verbindung mit etwas anderem, das sehr glänzende Eigenschaften hat, seine eigene Eigenschaft aufgibt und die Eigenschaft des anderen annimmt.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Die Sonnenrosse hatten ihre Farbe durch den Glanz des Sonnen-Wagenlenkers geändert, dann aber gaben ihnen bambusgrüne Juwelen durch ihren Glanz ihre ursprüngliche Farbe zurück."

Die von geküssetem, dunkelgeschminketem Auge geliehenen Schwärzen
Färben die rötlichen Lippen, o Kṛṣṇa, dir ganz überein mit dem Herzen. (Jayadeva, Übersetzung: Rückert)

"Die höchste Schönheit gibt der Frau der Mann,
Auch wenn sie kein Geschmeide ziert.
Doch ist vom Gatten sie genommen, dann
Die Schönste ihren Glanz verliert." (Hitopadeśa, Übersetzung: Hertel)

"Als du, o Schlanke, ins Wasser stiegst um zu baden, hat sicherlich die weiße Wasserlilie dir die Anmut des Lachens gestohlen, die blaue Wasserlilie die Anmut der Augen und die am Abend sich schließende Wasserrose die Anmut des Antlitzes." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

"Welcherlei Eigenschaften der Gatte besitzt, mit dem ein Weib gesetzmäßig sich verbindet, solcherlei Eigenschaften nimmt sie an: es geht ihr wie dem Flusse, der sich mit einem Meere verbindet." (Übersetzung: Böthlingk, Indische Sprüche)

Deutsche Beispiele:

Angelus Silesius <1624 - 1677>: Das schönste Ding

Kein Ding ist hier noch dort, das schöner ist als ich,
Weil Gott, die Schönheit selbst, sich hat verliebt in mich.

Johann Wolfgang von Goethe <1749 - 1832>: Des Paria Gebet

Großer Brahma, Herr der Mächte!
Alles ist von deinem Samen,
Und so bist du der Gerechte!
Hast du denn allein die Brahmen,
Nur die Rajas und die Reichen,
Hast du sie allein geschaffen?
Oder bist auch du's, der Affen
Werden ließ und unseresgleichen?

Edel sind wir nicht zu nennen:
Denn das Schlechte, das gehört uns,
Und was andre tödlich kennen,
Das alleine, das vermehrt uns.
Mag dies für die Menschen gelten,
Mögen sie uns doch verachten;
Aber du, du sollst uns achten,
Denn du könntest alle schelten.

Also, Herr, nach diesem Flehen,
Segne mich zu deinem Kinde;
Oder eines lass entstehen,
Das auch mich mit dir verbinde!
Denn du hast den Bajaderen
Eine Göttin selbst erhoben;
Auch wir andern, dich zu loben,
Wollen solch ein Wunder hören.

Wilhelm Müller <1794 - 1827>: Das Bad

Sie ist in's Meer gegangen –
Wie wird so rot das Meer!
Wird's rot von ihren Wangen?
Wird's rot vom Himmel her?

Wie glühen meine Wangen!
Ist's Glut vom Himmel her?
Ist's Glut, die mein Verlangen
Entsog dem tiefen Meer?

Karl Herloßsohn <1804-1849> : An die Geliebte

Wie den Schneemann sich die Straßenbengel
So aus Äther webten dich die Engel.
All ihre Schönheit schenkten sie der Einen,
Dass sie nun selbst wie schwarze Kater scheinen.


4.2.58. atadguṇa m. - Ausbleiben der Eigenschafts-Transplantation


Gerow: "not having that thing's attribute"

तद्रूपानुहारश्चेदस्य तत्स्यादतद्गुणः ।१३८ क।

tad-rūpānanuhāraś ced asya tat syād atadguṇaḥ ।138a।

Ausbleiben der Eigenschtstransplantation (atadguṇa m.) liegt vor, wenn unter der vorigen Kārikā genannten Umständen keine Übernahme der Eigenschaft erfolgt.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Obwohl du weiß bist, hast du mein Herz gerötet (verliebt gemacht), obwohl du in meinem roten (verliebten) Herzen wohnst, hat das dich nicht gerötet (verliebt gemacht)."

"Das Wasser des Ganges ist weiß, das Wasser der Yamunā ist schwarz wie Kollyrium. Königlicher Schwan, wenn du in beiden Flüssen untertauchst, bleibt deine Weiße gleich, sie wird nicht stärker oder schwächer.

Deutsche Beispiele:

Georg Anton von Halem <1752 - 1819>: Eifersucht

Du, Eifersucht, wärst Amors Kind?
So sei von mir bewundert.
Dein Vater, saget man, ist blind;
du hast der Augen hundert
.

Gottlieb Moritz Saphir <1795 - 1858>:

Es gibt viele Kinder, die ihrem Vater nicht gleichsehen: zum Beispiel das spanische Rohr ist der Vater der türkischen Justiz, die Ungeduld des Mannes ist die Mutter der himmlischen Geduld der Frau, und das römische Recht ist zuweilender Vater von manchem deutschen Unrecht.


4.2.59. vyāghāta m. - Gegenschlag


Gerow: "obstacle"

यद्यथा साधितं केनाप्यपरेण तदन्यथा ॥१३८ ख॥
तथैव यद्विधीयेत स व्याघात इति स्मृतः ।१३९ क।

yad yathā sādhitaṃ kenāpy apareṇa tad anyathā ॥138b॥
tathaiva yad vidhīyeta sa vyāghāta iti smṛtaḥ ।139a।

Gegenschlag (vyāghāta m.) liegt vor, wenn etwas, was jemand auf eine Weise bewirkt hat, von einem anderen auf dieselbe Weise zu etwas anderem gemacht wird.

Beispiele aus dem Sanskrit:

"Lob den Frauen, die durch ihre Augen den Liebesgott wiederbeleben, den Śiva mit seinem Auge verbrannt hatte - sie übertreffen Śiva."

Deutsche Beispiele:

Gotthold Ephraim Lessing <1729 - 1781>: Auf die Iris

Der Iris blühend volle Brust
Reizt uns, o D*, zu welcher Lust!
Doch ihr erbärmliches Gesichte,
O D*, macht Reiz und Lust zu nichte.
Sieh, Freund, so liegen Frost und Flammen,
Und Gift und Gegengift beisammen.

Christian Morgenstern <1871 - 1914>: Die Korfsche Uhr

Korf erfindet eine Uhr,
die mit zwei Paar Zeigern kreist
und damit nach vorn nicht nur,
sondern auch nach rückwärts weist.

Zeigt sie zwei, somit auch zehn;
zeigt sie drei, somit auch neun;
und man braucht nur hinzusehn,
um die Zeit nicht mehr zu scheun.

Denn auf dieser Uhr von Korfen,
mit dem janushaften Lauf,
(dazu ward sie so entworfen):
hebt die Zeit sich selber auf.


4.2.60. saṃsṛṣṭi f. - Koexistenz von Schmuckmitteln


Gerow: "combination"

सेष्टा संसृष्टिरेतेषां भेदेन यदिह स्थितिः ॥१३९ ख।

seṣṭā saṃsṛṣṭir eteṣāṃ bhedena yad iha sthitiḥ ॥139b॥

Koexistenz von Schmuckmitteln (saṃsṛṣṭi f.) liegt vor, wenn verschiedene der genannten Schmuckmittel  an einer literarischen Stelle unabhängig voneinander vorhanden sind.

Beispiele aus dem Sanskrit:

Für Beispiele siehe den Kommentar!

Deutsche Beispiele:

Im folgenden Gedicht von Friedrich Rückert identifiziert J. Dominik Harjung <1953 - > (a.a.O., S. 10) über zwanzig abendländische Stilformen (alaṃkāra):

Friedrich Rückert <1788 - 1866>: Bedrückung

Große, große, große Maus,
   friss mir nicht die Hirs’ im Haus!
Drei Jahre hast du mich geplagt.
  Wie in Jammer bringst du mich!
  Auszuwandern zwingst du mich.
Das Land, zu dem ich wander' aus,
gewähre mir, was mir behagt!

  Große, große, große Maus,
  friss mir leer nicht Feld und Haus!
Drei Jahre hast du mich genagt;
   nächstens gar verschlingst du mich,
   zu dem ärgsten dringst du mich,
in fremdes Lind zu wandern aus,
wo man die Ruh mir nicht versagt.

  Große, große, große Maus,
  friss mir ganz nicht Hof und Haus!
Drei Jahr' hab’ ich umsonst geklagt;
  seit drei Jahren plagst du mich,
  aus dem Lande jagst du mich;
nun zieh ich in ein Land hinaus,
wo man nicht vor Bedrückern zagt.


4.2.61. saṃkara m. - Vermischung von Schmuckmitteln


Gerow: "intermixture"

अविश्रन्तिजुषामात्मन्यङ्गाङ्गित्वं तु संकरः ।१४० क।

aviśrānti-juṣām ātmany aṅgāṅgitvaṃ tu saṃkaraḥ ।140a।

Vermischung von Schmuckmitteln (saṃkara m.) liegt vor, wenn Schmuckmittel, die nicht allein stehen können, im Verhältnis von Übergeordnetem und Untergeordnetem stehen.

Zu Arten und Einzelheiten siehe die darauf folgenden Kārikās sowie den Kommentar.


5. dhvani m. - Unausgesprochenes, Angedeutetes


इदमुत्तममतिशयिनि व्यङ्ग्ये वाच्याद्ध्वनिर्बुधैः कथितः ॥४ ख॥

idam uttamam atiśayini vyaṅgye vācyād dhvanir budhaiḥ kathitaḥ ॥4b॥

Die beste Art von Poesie, bei der das Implizite das explizit Gesagte übertrifft, heißt Angedeutetes (dhvani m.).

अनुस्वानाभसंलक्ष्यक्रमवङ्ग्यस्थितिस्तु यः ॥३७ ख॥
शब्दार्थोभयशक्त्युत्थस्त्रिधा स कथितो ध्वनिः ।३८ क।

anusvānābha-saṃlakṣya-krama-vyaṅgya-sthitis tu yaḥ ॥37b॥
śabdārthobhaya-śakty-utthas tridhā sa kathito dhvaniḥ ।38a।

Die Andeutung (dhvani m.), die besteht in einer beständigen Implikation, die in der Art eines Widerhalls wahrnehmbar folgt, ist dreifach:

Entstehend

  1. kraft des Worts
  2. kraft der Bedeutung
  3. kraft von beidem

Einzelheiten siehe im Sanskrit-Kommentar!

"Zu einem guten Gedicht gehört nach Ānandavardhana zweierlei,
  • das Ausgesprochene, d. h. das, was mit Worten ausgedrückt und durch Ālamkāras verziert wird, und
  • das Unausgesprochene, d. h. das, was von dem Leser oder Hörer hinzugedacht wird.

Und in diesem Unausgesprochenen (was als dhvani oder »Ton« bezeichnet wird) liegt die wahre Seele der Poesie. Schon die Ālamkāras selbst, die Metaphern und anderen poetischen Figuren, sind dadurch so eindrucksvoll, dass sie das Unausgesprochene nur andeuten, erraten lassen, »wie das Mieder den Busen verhüllt und ihm dennoch größere Reize verleiht«. Vor allem aber gehören die Gefühle und die Stimmung (rasa) zu dem Unausgesprochenen. Ānandavardhana unterscheidet demnach drei Arten der Dichtung:

  1. die wahre Poesie, in der das Unausgesprochene die Hauptsache ist;
  2. eine Poesie zweiter Güte, in der das Unausgesprochene eine Nebenrolle spielt und nur zur Ausschmückung des Ausgesprochenen dient;
  3. die minderwertige Poesie, in der alles Gewicht auf prächtige Sprache und Künsteleien der Rede gelegt wird.

Nach dieser Lehre gibt es allerdings, wie Ānandavardhana selbst sagt, nur ganz wenige — »zwei oder drei oder höchstens fünf oder sechs« — wirkliche Dichter, wie Kālidāsa und Amaru. Es ist begreiflich, dass diese strengen Lehren der Ästhetik nicht allgemein anerkannt worden sind."

[Quelle: Winternitz, Moriz <1863 - 1937>: Geschichte der indischen Literatur. Stuttgart : Koehler. -- Band 3: Die Kunstdichtung, die wissenschaftliche Literatur, neuindische Literatur. - 1920. -- S. 18.]

Beispiele aus dem Sanskrit:

Die Verlassene
Nach zerbrochnem Freundschaftsbande, nach zerstobner Hochbewerbungsehre,
Nach hinweggegangnem lieben Mann, als ob ein fremder Mann es wäre;
So betrachtend, so betrachtend, liebe Freundin, jene Tag' im Glücke,
Sagen kann ich nicht, warum das Herz mir nicht zerspringt in hundert Stücke. (Amaru, Übersetzung: Rückert)

Die bei Mondschein trinkenden Schönen
Der Mond ward eingetrunken mit dem Weine,
Wie er im Becher schwebt' im Widerscheine.
Das Dünkeln stolzer Frauen bricht sein Licht;
Sehr! Huld versagt mir selbst die Sprödste nicht. (Amaru, Übersetzung: Rückert)

Eine geschmiegt an die Seite der Wangen, um etwas ins Ohr ihm zu raunen,
Küsset geschwinde den Liebsten und machet den wonnedurchschauerten staunen.
Hari im munteren Mädchengedräng,
Mit Scherzenden scherzt er im Freudengepräng. (Jayadeva, Übersetzung: Rückert)

Deutsche Beispiele:

Christian Wernicke <1661 - 1725>: Ein Neuvermählter

Als einen, der sich nur den Tag zuvor vermählt,
Mit einer, welcher nichts an Schein und Tugend fehlt',
Des Morgends auf dem Markt zwei seiner Freunde fanden:
Was habt ihr, fragten sie, so frühe doch zu tun?
Nichts, sagt' er, Ich bin aufgestanden,
Um mich ein wenig auszuruhn.

Christian Wernicke <1661 - 1725>: Beicht-Frage

Einst kam ein schönes Kind zur Beicht',
Von Sünden schwer, von Jahren leicht;
Sie fiel so gleich auf ihre Knie,
Entdeckte,
was sie drückt, mit angenehmen Klagen,
Und gab bescheidenlich Bericht auf alle Fragen.
Als Ihre Ehrwürd' aber sie
Nach ihrem Namen fragt; so sagte sie geschwinde:

Es ist mein Name keine Sünde.

Gotthold Ephraim Lessing <1726 - 1781>: Auf das Jungfernstift zu **

Denkt, wie gesund die Luft, wie rein
Sie um dies Jungfernstift muss sein!
Seit Menschen sich besinnen,
Starb keine Jungfer drinnen.

Gotthold Ephraim Lessing <1726 - 1781>: Auf einen Brand zu **

Ein Hurenhaus geriet um Mitternacht in Brand.
Schnell sprang, zum Löschen oder Retten,
Ein Dutzend Mönche von den Betten.
Wo waren die? Sie waren – – bei der Hand.
Ein Hurenhaus geriet in Brand.

Wilhelm Hauff <1802 - 1827>: Der Mann im Monde

Aber wie, ein Geräusch von der Türe her? die Türe geht auf, im matten Schimmer des Nachtlichtes erkennt sie Martiniz' blendendes Gesicht; sein dunkles, wehmütiges Auge fesselt sie so, dass sie kein Glied zu rühren vermag, sie kann die Decke nicht weiter heraufziehen, sie kann den Marmorbusen nicht vor seinem Feuerblick verhüllen; sie will zürnen über den sonderbaren Besuch, aber die Stimme versagt ihr. Aufgelöst in jungfräuliche Scham und Sehnsucht drückt sie die Augen zu; er naht, weiche Flötentöne erwachen und wogen um ihr Ohr, er kniet nieder an ihrem bräutlichen Lager, »Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme«, flüsterte er in ihr Ohr; er beugt das gramvolle, wehmütige Gesicht über sie hin, heiße Tränen stürzen aus seinem glühenden Auge herab auf ihre Wangen, er wölbt den würzigen Mund – er will sie kü–

Sie erwachte, sie fühlte, dass ihre eigenen heftigströmenden Tränen sie aus dem schönen Traume erweckt hatten.

[Satire auf den Romanschriftsteller Heinrich Clauren <1771 - 1854>]

Wilhelm Busch: Pfannkuchen und Salat

Geduld, es währt nur noch ein bissel,
Dann liegt der Kuchen auf der Schüssel.
Doch späterhin die Einverleibung,
Wie die zu Mund und Herzen spricht,
Das spottet jeglicher Beschreibung,

Und darum endet das Gedicht.

Frank Wedekind <1864 - 1918>: Stallknecht und Viehmagd. Carmen bucolicon.

Der Stallknecht kommt herbeigesprungen
Auf dass er rasch ihr Hilfe bringt;
Cupido trifft den guten Jungen,
Dass er mit ihr zu Boden sinkt.

Da liegen Stallknecht nun und Viehmagd
Und schauen sich verwundert an,
Und nachher tun sie, was man nie sagt,
Doch was man leicht erraten kann.


6. kāvyarīti f. - Stilart


"Er [Daṇḍin] sagt, es gebe eine Menge verschiedener Stilarten, die aber nicht allzu sehr voneinander abweichen. Ein scharfer Unterschied bestehe nur zwischen dem Vidarbhastil und dem Gauḍastil. Schmiegsamkeit, Klarheit, Ebenmäßigkeit, Anmut und Zartheit sind Vorzüge des Vidarbhastils, während der Gauḍastil mehr zum Dunklen und Bombastischen neigt, sich in maßlosen Übertreibungen gefällt und besonders auch lange Komposita liebt. Während z. B. ein Dichter im Vidarbhastil etwa sagen würde:

»Dies dein schwellend Brüstepaar, du Tadellosschöne, — Zwischen "deinen Armlianen hat’s nicht Raum genug«,

sagt der Gauda-Dichter:

»Der Schöpfer hat den Weltenraum zu klein geschaffen, Schönste, Und nicht bedacht, dass einst dein Busen derart schwellen würde.«"

[Quelle: Winternitz, Moriz <1863 - 1937>: Geschichte der indischen Literatur. Stuttgart : Koehler. -- Band 3: Die Kunstdichtung, die wissenschaftliche Literatur, neuindische Literatur. - 1920. -- S. 14.]


Abb.: Lage von Vidarbha (Berar) und Gauḍa (Bengal)
[Bildquelle: Wikipedia. -- Public domain]

Deutsches Beispiel für Gauḍa-Stil:

Hanns v. Gumppenberg <1866 - 1928>: Sommermädchenküssetauschelächelbeichte

An der Murmelrieselplauderplätscherquelle
Saß ich sehnsuchtstränentröpfeltrauerbang:
Trat herzu ein Augenblinzeljunggeselle
In verweg’nem Hüfteschwingeschlendergang,
Zog mit Schäkerehrfurchtsbittegrußverbeugung
Seinen Federbaumelriesenkrämpenhut --
Gleich verspürt’ ich Liebeszauberkeimeneigung,
War ihm zitterjubelschauderherzensgut!
Nahm er Platz mit Spitzbubglücketückekichern,
Schlang um mich den Eisenklammermuskelarm:
Vor dem Griff, dem grausegruselsiegesichern,
Wurde mir so zappelseligsiedewarm!
Und er rief: „Mein Zuckerschnuckelputzelkindchen,
Welch ein Schmiegeschwatzeschwelgehochgenuss! "
Gab mir auf mein Schmachteschmollerosenmündchen
Einen Schnurrbartstachelkitzelkosekuss.
Da durchfuhr mich Wonneloderflackerfeuer —
Ach, das war so überwinderwundervoll...
Küsst’ ich selbst das Stachelkitzelungeheuer,
Sommersonnenrauschverwirrungsrasetoll!
Schilt nicht, Hüstelkeifewackeltrampeltante,
Wenn dein Nichtchen jetzt nicht knickeknirschekniet,
Denn der Plauderplätscherquellenunbekannte
Küsste wirklich wetterbombenexquisit! !


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