Kāmasūtra : Leitfaden der Liebeskunst

3. Buch III

4. Kapitel 4


verfasst von Vātsyāyana

übersetzt und erläutert von Alois Payer

mailto:payer@payer.de


Zitierweise | cite as:

Vātsyāyana: Kāmasūtra : Leitfaden der Liebeskunst / übersetzt und erläutert von Alois Payer. -- 3. Buch III. -- 4. Kapitel 4. -- Fassung vom 2007-05-28. -- http://www.payer.de/kamasutra/kamas304.htm        

Erstmals publiziert: 2007-05-28

Überarbeitungen:

Anlass: Lehrveranstaltung SS 2007

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kanyāsaṃprayuktakaṃ tṛtīyam adhikaraṇam

Buch 3: Über Partnerwahl


caturtho 'dhyāyaḥ

Vierter Lehrabschnitt


ekapuruṣābhiyogaprakaraṇam

Kapitel über die Bemühungen des einzelnen Mannes


darśiteṅgitākārāṃ kanyām upāyato 'bhiyuñjīta |1|

1. Hat das Mädchen durch Gebärden und Mienenspiel [ihre Zuneigung, III,3,31] gezeigt, dann soll er es mit geeigneten Mitteln umwerben.

dyūte krīḍanakeṣu ca vivadamānaḥ sākāram asyāḥ pāṇim avalambeta |2|

2. Beim Würfelspiel und Spielchen lege er mit entsprechender Miene seine Hand auf die ihre.

yathoktaṃ ca spr̥ṣṭakādikam āliṅganavidhiṃ vidadhyāt |3|

3. Er führe die Regeln für die berührende und die anderen Umarmungen wie oben dargestellt1 aus.

Kommentar:

1 wie oben dargestellt: Kāmasūtra II,2,6-13 (II,2 = āliṅganavicāraprakaraṇam)

tatrāsamāgatayoḥ prītiliṅgadyotanārtham āliṅganacatuṣṭayam ---spṛṣṭakam, viddhakam, uddhṛṣṭakam, pīḍitakam, iti |6|

sarvatra saṃjñārthenaiva karmātideśaḥ |7|

saṃmukhāgatāyāṃ prayojyāyām anyāpadeśena gacchato gātreṇa gātrasya sparśanaṃ spr̥ṣṭakam |8|

prayojyaṃ sthitam upaviṣṭaṃ vā vijane kiṃcid gr̥hṇatī payodhareṇa vidhyet | nāyako 'pi tām avapīḍya gr̥hṇīyād iti viddhakam |9|

tadubhayam anatipravr̥ttasaṃbhāṣaṇayoḥ |10|

tamasi janasaṃbādhe vijane vātha śanakair gacchator nātihrasvakālam uddharṣaṇaṃ parasparasya gātrāṇām uddhr̥ṣṭakam |11|

tad eva kuḍyasaṃdaṃśena stambhasaṃdaṃśena vā sphuṭakam avapīḍayed iti pīḍitakam |12|

tad ubhayam avagataparasparākārayoḥ |13|

6. Da gibt es für die beiden, wenn sie noch keinen Geschlechtsverkehr miteinander hatten, viererlei Umarmungen, um ihre Liebe auszudrücken:
  • die berührende (spṛṣṭaka)
  • die durchbohrende (viddhaka)
  • die reibende (uddhṛṣṭaka)
  • die pressende (pīḍitaka)

7. Bei allen ist schon durch die Bezeichnung das Tun ausgedrückt.

8. Die berührende (spṛṣṭaka) Umarmung ist die Berührung von Körper (gātra) zu Körper, wenn die zu Gewinnende ihm vor Augen getreten ist und er unter einem Vorwand an sie herantritt.

9. Den zu Gewinnenden, der abseits von Menschen steht oder sitzt, soll sie indem sie nach irgendetwas greift mit ihrem Busen durchbohren. Der Liebhaber soll sie an sich drücken und festhalten. Das ist die durchbohrende (viddhaka) Umarmung.

10. Diese beiden Umarmungen sind für solche Paare, die noch nicht sehr viel miteinander gesprochen haben.

11. Die reibende (uddhṛṣṭaka) Umarmung ist nicht zu kurz dauernde gegenseitige Reiben der Körper die reibende (uddhṛṣṭaka) aneinander, wenn das Paar in Dunkelheit, in einem Menschengedränge oder in Einsamkeit ganz langsam geht.

12. Diese reibende Umarmung wird zur pressenden (pīḍitaka) Umarmung, wenn er sie offen mit einer "Mauerzange" oder einer "Säulenzange" an sich presst.

13. Diese beiden Umarmungen sind für Paare, die ihren gegenseitigen Gefühlsausdruck (ākāra) schon erfahren haben.

Kāmasūtra II,2,6-13

patracchedyakriyāyāṃ ca svābhiprāyasūcakaṃ mithunam asyā darśayet |4|

4. Beim Ausschneiden von Blättern1 zeige er ihr ein Paar, das seine Absicht andeutet2.

Kommentar:

1 patracchedya: ist vermutlich dasselbe wie viśeṣakacchedya = Ausschneiden von Blättern als Stirnschmuck in Kāmasūtra I,3,15 (Aufzählung der Künste einer Frau)

2 ein Paar, das seine Absicht andeutet:

svābhprāyasūcakaṃ saṃprayogasūcakaṃ haṃsādimithunam || Ein seine Absicht d.i. den Geschlechtsverkehr andeutendes Paar Gänse und dergleichen.
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā z. St.
evam anyad viralaśo darśayet |5|

5. So zeige er gelegentlich auch anderes.

Kommentar:

evam iti | anyad api yan mithunaṃ bhavati tilakādikaṃ sākāram | viralaśa iti | satatadarśane hi grāmyatā saṃbhāvyate kautukaṃ cāpaiti || So. Auch anderes, was ein Paar ist, wie z.B. ein Stirnzeichen (tilaka). Mit entsprechender Miene. Gelegentlich - wenn er es nämlich ständig zeigt, dann empfindet sie das als Dörflichkeit und ihre Neugier vergeht.
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā z. St.

jalakrīḍāyāṃ taddūrato 'psu nimagnaḥ samīpam asyā gatvā spr̥ṣṭvā caināṃ tatraivonmajjet |6|

6. Beim Wasserspiele tauche er fern von ihr ins Wasser, begebe sich in ihre Nähe, berühre sie und tauche dann dort (bei ihr) auf.

navapatrikādiṣu ca saviśeṣabhāvanivedanam |7|

7. Beim Jungblattspiel1 und ähnlichen Spielen mache er ihr ganz besonders seinen verliebten Gemütszustand kund.

Kommentar:

1 Jungblattspiel (navapatrikā):

siehe Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28

navapatrikā -- prathamavarṣaṇena prarūḍhanavapatrāsu vanasthalīṣu yā krīḍā sā prāyeṇāṭavīsamīpavāsināṃ āṭavikānāṃ ca | Jungblattspiel -- Ein Spiel in Waldgegenden, in denen durch den ersten Regen die neuen Blätter hervorgesprossen sind; hauptsächlich bei Leuten, die in der Nähe eines Waldes oder im Walde selbst wohnen.
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28

ātmaduḥkhasyānirvedena kathanam |8|

8. Er erzähle ihr ohne überdrüssig zu werden sein Herzeleid.

Kommentar:

ātmaduḥkasya ca kathanam 'na jāne kiṃkṛtā mama cetasi pīḍā' iti | tatrāpy anirvedena bhūyō bhūyaḥ pradhānakāryatvāt kathanam || Und er erzähle ihr sein Herzeleid: "Ich weiß nicht, was mich in meinem Herzen bedrückt." Und dabei erzähle er ohne Überdruss immer wieder immer mehr, da es ein hauptsächliches Anliegen ist.
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28
svapnasya ca bhāvayuktasyānyāpadeśena |9|

9. Er erzähle auch von einem erotischen Traum, indem er eine andere als Vorwand nimmt.

Kommentar:

anyāpadeśeneti tvattulyarūpayā sahopagamaḥ svapne mamābhūd iti kathanam || Indem er eine andere als Vorwand nimmt -- er erzählt: 'Im Schlaf bin ich mit einer zusammengekommen, die gleich wie du aussah."
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28

prekṣaṇake svajanasamāje vā samīpopaveśanam | tatrānyāpadiṣṭaṃ sparśanam |10|

10. Beim Schauspiel oder bei einer Gesellschaft seiner Angehörigen setze er sich in ihre Nähe. Dabei berühre er sie unter einem Vorwand.

apāśrayārthaṃ ca caraṇena caraṇasya pīḍanam |11|

11. Er drücke ihren Fuß mit seinem Fuß, um sich auf sie zu stützen.

tataḥ śanakair ekaikām aṅgulim abhispr̥śet |12|

12. Dann berühre er ganz langsam einen Zehen nach dem anderen.

pādāṅguṣṭhena ca nakhāgrāṇi ghaṭṭayet |13|

13. Mit der großen Zehe streiche er über ihre Fußnagelspitzen.

tatra siddhaḥ padāt padam adhikam ākāṅkṣet |14|

14. Ist er damit fertig, verlange er schrittweise von Stelle zu Stelle mehr.

Kommentar:

tatreti | siddho nakhāgraghaṭṭane | padāt padam iti sthānāt sthānāntaraṃ jaghanorunitambādikaṃ spraṣṭuṃ sopānakrameṇa kāṅkṣet || Damit. Fertig mit dem über die Nagelsputen Streichen. padāt padam nach einer (Körper)stelle verlange er leiterartig aufsteigend die nächste (Körperstelle) zu berühren: Schamgegend, Schenkel, Hinterbacken und so fort.
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28
kṣāntyarthaṃ ca tad evābhyaset |15|

15. Um sie dazu zu bringen, dass sie es duldet, soll er es immer wieder tun.

pādaśauce pādāṅgulisaṃdaṃśena tadaṅgulipīḍanam |16|

16. Beim Reinigen der Füße nehme er ihre Zehen mit seinen Zehen in die Zange und drücke sie.

dravyasya samarpaṇe pratigrahe vā tadgato vikāraḥ |17|

17.  Beim Überreichen oder Annehmen eines Gegenstandes mache er eine diesbezügliche Geste (vikāra).

ācamanānte codakenāsekaḥ |18|

18. Am Ende der Mundspülung bespritze er sie mit Wasser.

vijane tamasi ca dvandvam āsīnaḥ kṣāntiṃ kurvīta | samānadeśaśayyāyāṃ ca |19|

19. Wenn er in Einsamkeit und Dunkelheit mit ihr beisammen sitzt, bringe er sie dazu, zu dulden; und wenn er mit ihr an dergleichen Stelle liegt.

tatra yathārtham anudvejayato bhāvanivedanam |20|

20. Dabei tue er ihre seine Verliebtheit wahrheitsgemäß kund, ohne sie zu verschrecken.

vivikte ca kiṃ cid asti kathayitavyam ity uktvā nirvacanaṃ bhāvaṃ ca tatropalakṣayet | yathā pāradārike vakṣyāmaḥ |21|

21. Dabei mag er sagen "Es gibt etwas, was ich in der Einsamkeit erzählen muss" und dann ohne Worte seine Verliebtheit ausdrücken; so wie wir im Buch über die Frauen anderer1 darlegen werden.

Kommentar:

1 Im Buch über die Frauen anderer: Kāmasūtra V,2

viditabhāvas tu vyādhim apadiśyaināṃ vārtāgrahaṇārthaṃ svam udavasitam ānayet |22|

22. Wenn er ihre Verliebtheit erkannt hat, täusche er eine Krankheit vor und lasse sie in sein Haus holen, um zu erfahren, was vorgeht.

āgatāyāś ca śiraḥpīḍane niyogaḥ | pāṇim avalambya cāsyāḥ sākāraṃ nayanayor lalāṭe ca nidadhyāt |23|

23. Wenn sie gekommen ist, beauftrage er sie, seinen Kopf zu drücken. Er nehme ihre Hand und lege sie mit einer entsprechenden Miene auf seine Augen und Stirn.

Kommentar:

śiraḥpīḍana iti śiro me duḥkhayati pīḍaya hasteneti niyogaḥ || seinen Kopf zu drücken: er beauftragt sie: "Mir tut mein Kopf weh, drücke ihn mit deiner Hand."
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28

auṣadhāpadeśārthaṃ cāsyāḥ karma vinirdiśet |24|

24. Unter er weise sie zu einer vorgeblichen Arzneizubereitung an.

idaṃ tvayā kartavyam | na hy etad r̥te kanyayā anyena kāryam iti gacchantīṃ punar āgamanānubandham enāṃ visr̥jet |25|

25. "Das musst du machen. Dies kann nämlich niemand außer ein Mädchen tun." Wenn sie geht, so entlasse er sie und verpflichte sie mit diesen Worten, wieder zu kommen.

asya ca yogasya trirātraṃ trisaṃdhyaṃ ca prayuktiḥ |26|

26. Diese erschlichene Behandlung1 ist in drei Nächten und bei drei Morgengrauen anzuwenden.

Kommentar:

1 yoga = List + medizinische Anwendung/Behandlung

abhīkṣṇadarśanārtham āgatāyāś ca goṣṭhīṃ vardhayet |27|

27. Um sie andauernd sehen zu können, dehne er die Unterhaltung aus.

anyābhir api saha viśvāsanārtham adhikam adhikaṃ cābhiyuñjīta | na tu vācā nirvadet |28|

28. Auch mit anderen Frauen zusammen bemühe er sich mehr und mehr um sie, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Nicht aber soll er es mit Worten aussprechen.

dūragatabhāvo 'pi hi kanyāsu na nirvedena siddhyatīti ghoṭakamukhaḥ |29|

29. Auch jemand, der es mit seiner Verliebtheit schon weit gebracht hat, kommt bei Mädchen nicht zu Ziel, wenn er überdrüssig wird. So sagt Ghoṭakamukha.

yadā tu bahusiddhāṃ manyeta tadaivopakramet |30|

30. Erst wenn er meint, dass er bei ihr vielfach sein Ziel erreicht hat, schreite er zum Angriff.

pradoṣe niśi tamasi ca yoṣito mandasādhvasāḥ suratavyavasāyinyo rāgavatyaś ca bhavanti | na ca puruṣaṃ pratyācakṣate | tasmāt tatkālaṃ prayojayitavyā iti prāyovādaḥ |31|

31. Bei Einbruch der Dunkelheit, in der Nacht und in der Dunkelheit werden Frauen in ihrer Scheu lahm, zur Wohllust entschlossen und geil und weisen einen Mann nicht zurück. Darum soll man sie zu dieser Zeit nutzen. So lautet ein gewöhnlicher Ausspruch.

ekapuruṣābhiyogānāṃ tv asaṃbhave gr̥hītārthayā dhātreyikayā sakhyā vā tasyām antarbhūtayā tam artham anirvadantyā sahainām aṅkam ānāyayet | tato yathoktam abhiyuñjīta |32|

32. Wenn es nicht möglich ist, dass sich der Mann allein sich um sie bemüht, dann lasse er sie zu sich bringen mit ihrer Milchschwester oder Freundin, die in seine Absicht eingeweiht ist, mit ihr intim ist und die Absicht nicht ausplaudert. Dann bemühe er sich um sie wie es dargestellt wurde.

svāṃ vā paricārikām ādāv eva sakhītvenāsyāḥ praṇidadhyāt |33|

33. Oder er sende seine Dienerin aus, damit sie zuerst ihre Freundin wird.

yajñe vivāhe yātrāyām utsave vyasane prekṣaṇakavyāpr̥te jane tatra tatra ca dr̥ṣṭeṅgitākārāṃ parīkṣitabhāvām ekākinīm upakrameta |34|

34. Bei einem Opfer, einer Hochzeit, Prozession oder Pilgerreise, einem Fest, Unglücksfall, wenn Volk mit Schaustellungen beschäftigt ist, und hier und dort achte er auf ihre Gebärden und ihr Mienenspiel, prüfe ihre Verliebtheit und nähere sich ihr1, wenn sie allein ist.

Kommentar:

1 nähere sich ihr

upakrameta gāndharveṇa vidhineti artha nähere sich ihr - gemeint ist nach Art der Gāndharvaehe [d.h. durch den Vollzug des Geschlechtsverkehrs in gegenseitigem Einvernehmen].
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28
na hi dr̥ṣṭabhāvā yoṣito deśe kāle ca prayujyamānā vyāvartanta iti vātsyāyanaḥ | ity ekapuruṣābhiyogāḥ |35|

35. Denn nicht kehren Frauen, deren Verliebtheit man erkannt hat, um, wenn man sie am rechten Ort und zur Rechten Zeit nutzt. So sagt Vātsyāyana. Soviel über die Bemühungen des einzelnen Mannes.


prayojyasyopāvartanaprakaraṇam

Kapitel über Zuwendung zum Mann, den sie erobern will.


mandāpadeśā guṇavaty api kanyā dhanahīnā kulīnāpi samānair ayācyāmānā mātāpitr̥viyuktā vā jñātikulavartinī vā prāptayauvanā pāṇigrahaṇaṃ svayam abhīpseta |36|

36. Ein Mädchen

soll selbst die ihre Verheiratung arrangieren.

Kommentar:

Vgl. Manu IX,90 - 91

trīṇi varṣāṇy udīkṣeta kumāry ṛtumatī satī |
ūrdhvaṃ tu kālād etasmād vindeta sadṛśaṃ patim |90|
adīyamānā bhartāram adhigacched yadi svayam |
nainaḥ kiṃcid avāpnoti na ca yaṃ sādhigacchati |91|
90. Ein Mädchen, soll nach der Menarche drei Jahre lang warten. Nach dieser Zeit finde sie selbst einen entsprechenden Mann.
91. Wenn sie nicht verheiratet wird und selbst zu einen Mann geht, dann trifft sie keine Schuld und auch nicht den Mann, zu dem sie geht. 
Manu IX,90-91
sā tu guṇavantaṃ śaktaṃ sudarśanaṃ bālaprītyābhiyojayet |37|

37. Mit der kindlicher Freundlichkeit gewinne sie einen tugendhaften, fähigen, gut aussehenden Mann.

yaṃ vā manyeta mātāpitror asamīkṣayā svayam apy ayam indriyadaurbalyān mayi pravartiṣyata iti priyahitopacārair abhīkṣṇasaṃdarśanena ca tam āvarjayet |38|

38. Oder sie mache sich mit lieben und nützlichen Umsorgungen und durch ständiges Erscheinen einen Mann zugewandt, von dem sie meint, dass er sich ihr ohne Rücksicht auf seine Eltern aufgrund der Schwäche seiner Sinnlichkeit zuwenden wird.

mātā caināṃ sakhībhir dhātreyikābhiś ca saha tadabhimukhīṃ kuryāt |39|

39. Ihre Mutter1 stelle das Mädchen ihm zusammen mit ihren Freundinnen und Milchschwestern vor.

Kommentar:

1 ihre Mutter

sā na jīvati cet kṛtakamātā | Oder wenn die Mutter nicht mehr lebt, eine vorgemachte Mutter.
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28

puṣpagandhatāmbūlahastāyā vijane vikāle ca tadupasthānam | kalākauśalaprakāśane vā saṃvāhane śirasaḥ pīḍane caucityadarśanam | prayojyasya sātmyayuktāḥ kathāyogāḥ bālāyām upakrameṣu yathoktam ācaret |40|

40. Sie warte ihm auf in der Einsamkeit und und der Abenddämmerung mit Blumen, Düften und Betelblättern1 in der Hand. Oder sie zeige ihre Geübtheit, wenn sie ihre Geschicklichkeit in den Künsten offenbart, ihn massiert oder ihm den Kopf drückt. Sie erzähle dem, den sie erobern will, Geschichten, die seinem Wesen entsprechen, und verhalte sich so, wie es im Kapitel "Über das Herangehen an ein Mädchen"2 dargestellt wurde-

Kommentar:

1 Betelblättern: Piper betle L.

 
Abb.: Piper betle L.
[Bildquelle: Wikipedia]

2 Kapitel "Über das Herangehen an ein Mädchen": Kāmasūtra III,3

na caivāntarāpi puruṣaṃ svayam abhiyuñjīta | svayam abhiyoginī hi yuvatiḥ saubhāgyaṃ jahātītyācāryāḥ |41|

41. Auch wenn sie ihm nahe ist, soll sie den Mann nicht selbst umwerben; denn eine junge Frau, die den Mann selbst umwirbt, verliert ihr Glück - so sagen die Lehrer.

Kommentar:

sa ced abhiyuñjīta pratigṛhṇīyāt | Wenn er sie umwirbt, greife sie zu.
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28

tatprayuktānāṃ tv abhiyogānām ānulomyena grahaṇam |42|

42. Seine Eroberungsversuche nehme sie in entsprechender Weise an.

pariṣvaktā ca na vikr̥tiṃ bhajet | ślakṣṇam ākāram ajānatīva pratigr̥hṇīyāt | vadanagrahaṇe balāt kāraḥ |43|

43. Wenn er sie umarmt, lasse sie sich nichts anmerken. Ein zartes Mienenspiel nehme sie so, als ob sie es nicht verstände. Ihren Mund soll er nur mit Gewalt ergreifen können.

ratibhāvanām abhyarthyamānāyāḥ kr̥cchrād guhyasaṃsparśanam |44|

44. Wenn sie um die Entfaltung des Liebesgenusses gebeten wird, soll sie die Schamteile1 sich gegenseitig nur unter Schwierigkeiten berühren lassen.

Kommentar:

1 guhyasaṃsparśana: es sind weder nur seine (so Kommentar), noch nur ihre (so manche Übersetzungen) gemeint, sondern das Aneinanderkommen der Schamteile beider (eine Form des Pettings) (saṃsparśana).

abhyarthitāpi nātivivr̥tā svayaṃ syāt | anyatrāniścayakālāt |45|

45. Auch wenn er sie darum bittet, entblöße sie sich selbst nicht allzusehr; außer in einer Zeit, in der man nicht klar erkennt1.

Kommentar:

1 außer in einer Zeit, in der man nicht klar erkennt: d.h. in der düsteren Dämmerung oder unbeleuchteten Nacht. Der Kommentar und die Übersetzungen fassen den Ablativ als Begründung, er ist aber m. E. von anyatra (außer) abhängig. R. Schmidt: "da die Zeiten sich ändern können", dies scheint mir aber eine gewaltsame Konstruktion.

yadā tu manyetānurakto mayi na vyāvartiṣyata iti tadaivainam abhiyuñjānaṃ bālabhāvamokṣāya tvarayet |46|

46. Glaubt sie aber, dass er in sie verliebt ist und sich nicht mehr von ihr abwenden wird, dann sporne sie den Eroberer an, sie von ihrem Kindsein zu befreien1.

Kommentar:

1 von ihrem Kindsein zu befreien: sie zu entjungfern

vimuktakanyābhāvā ca viśvāsyeṣu prakāśayet | iti prayojyasyopāvartanam |47|

47. Wenn sie von ihrer Jungfräulichkeit befreit ist, tue sie dies bei Vertrauenswürdigen kund. Soviel über die Zuwendung zum Mann, den sie erobern will.


abhiyogataḥ kanyāyāḥ pratipattiḥ

Kapitel über die Erlangung des Mädchens durch Eroberung


Kommentar

yadā prayojyam upāvartamānā bahubhir abhiyujyate tadābhiyogataḥ kanyāyāḥ pratipattir ucyate | Wenn das Mädchen, das sich dem Mann zuwendet, den es erobern will, von vielen umworben wird, dann nennt man das "Erlangung des Mädchens durch Eroberung".
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28

bhavanti cātra ślokāḥ --

Hierzu gibt es folgende Verse:

kanyābhiyujyamānā tu
yaṃ manyetāśrayaṃ sukham |
anukūlaṃ ca vaśyaṃ ca
tasya kuryāt parigraham |48|

48. Ein Mädchen, das umworben wird, soll den nehmen, von dem sie meint, dass er ihr Stütze und Glück ist, zu ihr passt und ihr ergeben ist.

anapekṣya guṇān yatra
rūpam aucityam eva ca |
kurvīta dhanalobhena
patiṃ sāpatnakeṣv api |49|
tatra yuktaguṇaṃ vaśyaṃ
śaktaṃ balavad arthinam |
upāyair abhiyuñjānaṃ
kanyā na pratilobhayet |50|

49. - 50. Wenn ein Mädchen aus Gier nach Reichtum jemanden zum Gatten machen will, ohne dass sie sich um Vorzüge, Schönheit, Geschicklichkeit und Erfahrung kümmert, und selbst Nebenbuhlerinnenrivalitäten in Kauf nimmt, dann soll dieses Mädchen nicht die Liebe erwidern von einem Mann, der Vorzüge hat, ergeben und fähig ist, heftig nach ihr verlangt und sie mit den Mitteln umwirbt.

varaṃ vaśyo daridro 'pi
nirguṇo 'py ātmadhāraṇaḥ |
guṇair yukto 'pi na tv evaṃ
bahusādhāraṇaḥ patiḥ |51|

51. Besser ist ein Ergebener, auch wenn er arm ist, einer, der nur sein Selbst1 erhält, auch wenn er keine Vorzüge hat; nicht aber ein Gatte, der vielen Frauen gemeinsam gehört, auch wenn er Vorzüge besitzt.

Kommentar

1 sein Selbst (ātman):

ātmadhāraṇaḥ kuṭumbamātradhārakaḥ | der sein Selbst erhält -- der nur seine Kernfamilie (kuṭumba) erhält.
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28

prāyeṇa dhanināṃ dārā
bahavo niravagrahāḥ |
bāhye saty upabhoge 'pi
nirvisrambhā bahiḥsukhāḥ |52|

52. Meist haben Reiche viele Frauen, die unbehindert sind. Wenn auch äußerlicher Genuss da ist, fehlt ihnen das Vertrauen1, auch wenn sie äußerlich glücklich sind.

Kommentar

1 fehlt ihnen das Vertrauen:

nirvisrambhā āntareṇa ratākhyasukhena varjitā ityarthaḥ | fehlt ihnen das Vertrauen -- das bedeutet: sie sind ohne das innere Glück, welches Liebeslust (rata) heißt.
Yaśodhara: Jayamaṅgalāṭīkā zu Kāmasūtra I,4,28
nīco yas tv abhiyuñjīta
puruṣaḥ palito 'pi vā |
videśagatiśīlaś ca
na sa saṃyogam arhati |53|

53. Wenn ein niederer Mann sie umwirbt, ein Graukopf oder ein häufig Verreisender, dann verdient ein solcher die sexuelle Verbindung nicht.

yadṛcchayābhiyukto yo
dambhadyūtādhiko 'pi vā |
sapatnīkaś ca sāpatyo
na sa saṃyogam arhati |54|

54. Wer vom Zufall bestimmt ist oder ein außerordentlicher Heuchler und Spieler ist, wer Frau oder Kinder hat, ein solcher verdient die sexuelle Verbindung nicht.

guṇasāmye 'bhiyoktr̥̄ṇām
eko varayitā varaḥ |
tatrābhiyoktari śreṣṭhyam
anurāgātmako hi saḥ |55|

55. Bei Gleichheit der Vorzüge ist unter den Werbern nur einer ein Freiender, ein Freier (vara). Bei diesem Bewerber ist das Vortrefflichste, denn er hat als Wesen Verliebtheit (anurāga).


Zu Kāmasūtra III,5