Internationale Kommunikationskulturen

3. Verbale Kommunikation

3. Funktionen von Sprache


von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Internationale Kommunikationskulturen. -- 3. Verbale Kommunikation. -- 3. Funktionen von Sprache. --  Fassung vom 2011-01-11. -- URL: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur033.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 12.10.2000

Überarbeitungen: 2011-01-11 [leichte Korrekturen]; 2006-05-15 [Verbesserungen]

Anlass: Lehrveranstaltung, HdM Stuttgart, 2000/2001; MBA der HdM und der Sächsischen Hochschule Zwickau, 2011

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

©opyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung der Herausgeberin.

Dieser Text ist Teil der Abteilung Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht



1. Funktionen von Sprache


Um Sprache zu verstehen und angemessen reagieren zu können, ist es nötig zu erkennen, welche Funktionen der sprachliche Ausdruck in der jeweiligen Situation erfüllt. Dies ist besonders wichtig bei fremden Sprachen bzw. von Nicht-Muttersprachlern gesprochenen Sprachen, da die Kennzeichen für die Funktionen abhängig von Sprache, Kultur und Individuum sind.

Im seinem hervorragenden Werk

Crystal, David <1941 - >:  Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. -- Köln : Parkland, 1998 (©1993). --  ISBN 3880599548. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

nennt David Crystal folgende kulturellen, gesellschaftlichen und persönlichen Funktionen von Sprache. Alle spielen für die Kommunikation eine wichtige Rolle.

Im Normalfall hat eine bestimmtes sprachliches Verhalten gleichzeitig mehrere dieser Funktionen. Diese Funktionen werden hier nur aus Gründen der Darstellung gesondert behandelt.


2. Sprache als Mittel zum Austausch von Fakten und Ansichten



Abb.: Mitteilung von Fakten und Ansichten (©ArtToday)

Die Funktion von Sprache, Mittel für den Austausch von Fakten und Ansichten zu sein ("um unsere Gedanken mitzuteilen"), ist die Funktion, die den meisten zuerst einfällt. Diesen Sprachgebrauch nennt man referentiell (= sich auf etwas beziehend) oder propositional. Es ist aber keinesfalls die einzige Sprachfunktion.


3. Sprache als emotionaler Ausdruck


Sprache kann als emotionaler Ausdruck und als Mittel zum Abbau von Spannungen dienen:


Abb.: Fluchen als Mittel zum Abbau von Spannungen (©ArtToday)


Abb.: Zeigen von Zuneigung (©ArtToday)

Abb.: Ausdruck von Bewunderung (©ArtToday)

Die Situationen, in denen Emotionen im Sprachausdruck gezeigt werden dürfen und die Art und Weise des Ausdrucks ist sehr kulturabhängig und kann zu großen Missverständnissen führen.


4. Sprechen als soziale Interaktion


Soziale Interaktion

Abb.: Soziale Interaktion (©ArtToday)

Sprachliche Kommunikation dient oft vor allem der reinen sozialen Interaktion und dienen nicht dem Austausch von Gedanken u.ä.. Ihr Zweck ist, zwischenmenschlichen Kontakt aufrecht zu erhalten. So z.B.

Der kontakterhaltende Austausch von formelhaften Redewendungen ist sehr stark kulturabhängig: So verabschieden sich Frauen der Rundi (in Burundi) mit der höflichen Floskel: "Ich muss jetzt heimgehen, sonst schlägt mich mein Mann!" Manche Kulturen fordern Schweigen, wo wir eine Floskel erwarten. So schweigt man z.B. in Teilen Südindiens bei der "Verabschiedung", wo wir "Auf Wiedersehen" sagen würden. Auch sagt man in Indien in vielen Situationen, in denen wir uns formelhaft bedanken, kein Danke. Danke zu sagen, würde dann sogar als unhöflich gelten!

Begrüßung

Abbildungen: Begrüßung

4.1. Zum Beispiel: Begrüßung bei den Maori (Neuseeland)


Abb.: Zwei Maori-Frauen begrüßen sich durch Nasenreiben (©ArtToday)

"In manchen Kulturen sind Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale durch kunstvolle und stark konventionalisierte Ausdrucksformen gekennzeichnet, in denen sich häufig die gesellschaftliche Stellung der Sprecher widerspiegelt. 

Bei den Maori markieren zum Beispiel charakteristische Verhaltens- und Sprachformen die rituellen Begegnungen zu Anfang der feierlichen Versammlungen (oder hui), die bei Hochzeiten, Trauerfeiern, Besuchen von Würdenträgem und anderen Anlässen stattfinden.

Dieses Begegnungsritual kann aus bis zu sieben Abschnitten bestehen, von denen nur zwei ohne Sprache vor sich gehen. Grundbedingung ist in jedem Fall peinlichste Genauigkeit im Ausdruck, da sonst ein Übel droht:

  1. Das waerea ist ein Schutzzauber, der zu Beginn einer Versammlung gesungen wird. Sein Vokabular ist archaisch und wird oft nicht verstanden. 
  2. Das wero ist eine rituelle Herausforderung mit Lärm und Bewegungen, aber ohne Sprache. 
  3. Das karanga ist ein Wechselgesang hoher Begrüßungsrufe und Totenbeschwörungen zwischen den alten Frauen der Einheimischen und der Besucher. Z.B.:

    Einheimische: "Willkommen, Ehrwürdiger der Häuptlinge, bringe unsere vielen Toten! Willkommen! Willkommen!
    Besucherin: "Rufe, Haus der Ahnen, jene an, die trauern! Rufe die Stämme an!"
    Einheimische: "Ziehet heran aus allen Ecken der Insel! Bringt die Toten, die in die Nacht gegangen sind!"
    Besucherin: "Komm zurück im Geiste, alter Mann! Auf den Ruf und das Willkommen derer, die dich beweinen! Komm zurück im Geiste Vater!"

  4. Das poowhiri ist ein handlungsreicher Begrüßungsgesang mit rhythmischen Bewegungen und lauten Schreien.
  5. Das tangi besteht aus hohem Wehklagen und Schluchzen für die Toten auf einem einzigen Vokal.
  6. Das whaikoorero bildet den Hauptteil des Rituals. Die Einheimischen sowie jede Besuchergruppe haben je ein Redner»team«. Die Reden wechseln einander ab, wobei jede Rede mit einem Warnschrei beginnt, auf den ein archaischer Sprechchor, Grüße an die Lebenden und die Toten und eventuell ein Vorschlag für ein zu besprechendes Thema folgen. Geschlossen wird mit einem traditionellen Lied, das alle gemeinsam singen.
  7. Das hongi oder Nasenreiben beendet das Ritual.

Wenn hochrangige Ausländer zu einem offiziellen Besuch nach Neuseeland kommen, werden sie meist mit den kunstvollen Sprüngen und Grimassen der Herausforderungszeremonie der Maori (wero) begrüßt. Derartige rituelle Kraftdemonstrationen sind bei der ersten Begegnung mit Fremden schon immer gebräuchlich gewesen. Von den frühesten Siedlern wurden sie oft als Äußerung tatsächlicher kriegerischer Absichten missverstanden, was zu tödlichen Zusammenstößen führen konnte!"

[Crystal, David <1941 - >:  Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. -- Köln : Parkland, 1998 (©1993). --  ISBN 3880599548. -- S. 49. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


5. Macht des Klanges


In vielen Fällen ist die klangliche Wirkung auf Sprecher und Hörer ein wichtiger, wenn nicht sogar der einzige Grund für den Sprachgebrauch. Dies gilt z.B. für

Rosenkranz

Abb.: Katholischer Geistlicher mit Brevier und Rosenkranz (©ArtToday) Abb.: Katholischer Rosenkranz mit Erklärung der Gebetsformeln in Chinesisch [Quelle: http://religion-cults.com/art/pentecost1.htm. -- Zugriff am 12.10.2000]

 

 

Abb.: Buddhistische Ladakhi mit Rosenkranz und Gebetsmühle (©ArtToday) Audio: Om Mani Padme Hum, das Rosenkranzgebet eines tibetischen Buddhisten (wav-Datei)

6. Sprache als Kontrolle über die Realität


"Der Glaube, dass Gegenstände, Menschen und Geister von Wörtern gelenkt werden, zeigt sich in der Verwendung von

und vielen anderen Riten der schwarzen und weißen Magie wie der organisierten Religion. 

Danach hat die Sprache die Kraft, 

Solche Formeln sind mit peinlichster Genauigkeit zu verwenden, soll die gewünschte Wirkung erzielt werden: 

Sorgfältig wird auf 

geachtet. Häufig ist oftmalige Wiederholung verlangt, welche die Macht der Worte verstärken soll. Sie müssen jedoch nicht unbedingt verstanden werden, um Wirkung zu haben: Viele Zaubersprüche haben keinen Sinn für den, der sie ausspricht, aber der Glaube an ihre Wirksamkeit ist dennoch stark.


Abb.: Die magische Kraft des Wortes

Beispiele für sprachlichen Aberglauben gibt es in Hülle und Fülle. »Naturvölkern« muss geschriebene Sprache beim ersten Kennenlernen wie etwas Allwissendes erscheinen. Wir kennen Geschichten von Analphabeten, die einen Gegenstand aus einem Päckchen entwendeten und ertappt wurden, als sie die beigelegte Nachricht überbrachten. Es musste ihnen so erscheinen, als hätte das Geschriebene eine eigene Stimme -- oder als wohnte ein Gott in den Briefen. Auf solche Vorstellungen stößt man überall in der Geschichte. Die Suche nach einer mystischen Bedeutung alphabetischer Schriftzeichen ist in der Verwendung runischer Zauberformeln ebenso zu erkennen wie in heute noch gebräuchlichen Systemen, die Buchstaben mit Zahlen verknüpfen (z. B. Gematrie)."

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6.1. Namenstabus


Nach altem Volksglauben kann man den Teufel durch bloßes Nennen seines Namens herbeizitieren (Wie man den Teufel nennt, so kommt er g'rennt). Deshalb fürchtet man sich, den Namen des Teufels zu nennen -- er ist ein Tabuwort -- und verwendet statt dessen ein Hüllwort bzw. einen Euphemismus wie Gottseibeiuns, der Böse, Leibhaftige, Deixel, Kuckuck u.ä. Ein Euphemismus beschönigt durch Vermeidung des rechten, gewöhnlichen Namens. In extremen Fällen führt das zum völligen Schweigen über jemand (z.B. Verstorbene) bzw. zur völligen Nichtnennung des Namens (z.B. in Thailand bei Kindern, von denen man nur den Kosenamen nennen darf). Ausdruck findet dieser Glaube, dass die Nennung des Namens von jemandem ihn herbeizitiert, also Macht über ihn verleiht, im Märchen von Rumpelstilzchen [http://gutenberg.aol.de/grimm/maerchen/rumpel.htm. -- Zugriff am 8.10.2000]:

Abb.: Rumpelstilzchen

Ach wie gut ist, dass niemand weiß,
dass ich Rumpelstilzchen heiß!

David Crystall illustriert Namenstabus sehr anschaulich, deren Beachtung bei interkultureller Kommunikation sehr wichtig ist:

"Die Verwendung von Wörtern zur Benennung von Personen ist von besonderer Bedeutung. Angehörige vieler »Naturvölker« glauben, dass ihr Name ihr ganzes Wesen enthält und sie hören ihn deshalb nicht gerne aus fremdem Munde, insbesondere, wenn die Umstände ungünstig sind. Ihrer Ansicht nach könnten sie dadurch unter den Einfluss anderer geraten. 

Als noch größer wird die Gefahr bei Ethnien empfunden (z. B. in Australien), wo die Menschen zwei Namen erhalten: 

Den Toda in Südindien widerstrebt es, den eigenen Namen auszusprechen. Dies geht soweit, dass sie auf die entsprechende Frage hin einen anderen für sich antworten lassen. ...

Der Prozess der persönlichen Namensgebung kann sich sogar auf eine Sprache in ihrer Gesamtheit auswirken. Nicht selten wird davon berichtet, dass ein Stamm Wörter des täglichen Gebrauchs ändert, wenn ein Stammeshäuptling mit Amtsantritt seinen Namen wechselt: Alle Begriffe, die diesem Namen ähneln, werden ausgetauscht, damit ihn niemand unter unheildrohenden Umständen im Munde führen kann.

Zum Beispiel wurde nach der Thronbesteigung von Königin Rasoherina bei den Merina auf Madagaskar der Gebrauch des Worts soperina (»Seidenraupe«) verboten. Als Ersatz sollte zana dandy (»Seidenkind«) verwendet werden. 

Durch den Tod eines Menschen kann sein Name zum Tabu werden. Häufig dürfen die Namen der Toten nicht ausgesprochen werden, wenngleich dies manchmal eher aus Furcht denn aus Achtung geschieht: Solange ein Name gegenwärtig bleibt, geht auch der Mensch nicht, dem er gehörte, und wer den Namen des Toten ausspricht, kann das Übel des Todes auf sich ziehen.

In manchen Kulturen (wie bei den Polynesiern) müssen nach einem Todesfall alle umgetauft werden, die den gleichen Namen wie der Tote tragen, und entspricht dieser Name einem konkreten Wort der Sprache, dann ist auch dieses zu ändern. 

In anderen Kulturen (etwa in Grönland) werden die Namen der Verstorbenen dagegen sehr hoch geschätzt: Dort meint man, der Tote finde keinen Frieden, bis ein Kind nach ihm benannt worden ist. 

In wieder anderen erhält das Kind einer Mutter, deren vorheriges Kind gestorben ist, einen »schlechten« Namen, um dem Todesgeist anzuzeigen, dass es kein lohnendes Opfer für ihn wäre.

Auch »höher entwickelte« Gesellschaften sind nicht frei von Aberglauben. Bei den Truppenaushebungen der Römer achteten die Behörden sehr genau darauf, zuerst Männer mit vielversprechenden Namen wie Felix ["Glücklicher] oder Victor ["Sieger"] zu rekrutieren. Die Namen griechischer Götter wurden in Steine gehauen, die man zum Schutz vor Entweihung ins Meer warf. In Platons Kratylos sorgen sich die Debattierenden darum, dass die Namen von Göttern als etymologische Beispiele herangezogen werden, und seit Beginn des Christentums besteht das Verbot, den Namen des Herrn »unnütz zu gebrauchen«. ...

Nach der Wahl Adrians VI. [Nicholas Breakspear, 1100 - 1159; Papst von 1154 - 1159] zum Papst brachte man ihn davon ab, seinen eigenen Namen zu behalten, weil alle Päpste, die dies getan hatten, im ersten Jahr ihrer Amtszeit gestorben waren. 


Abb.: Titanic, 1912 (©ArtToday)

Wir im 20. Jahrhundert tun solche Haltungen schnell als Aberglauben ab, doch hat sich im Grunde nichts geändert: Würde es die öffentliche Meinung zulassen, dass ein neues Schiff auf den Namen Titanic getauft wird?"

[Crystal, David <1941 - >:  Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. -- Köln : Parkland, 1998 (©1993). --  ISBN 3880599548. -- S. 9. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


6.2. Tabuwörter


Jede Sprache und jede Kultur und Subkultur hat ihre Tabuwörter. 

Verbale Tabus erstrecken sich meist auf:

Tabuwort und Tabuthema Tod

Abb.: Hans Baldung, genannt Grien <1484 - 1545>: Der Tod und das Mädchen, 1517 (Kunstmuseum Basel)

Einige Euphemismen für sterben:
  • abtreten
  • sich auflösen
  • auslöschen
  • hinüberschlummern
  • entschlafen
  • erblassen
  • erlöschen
  • heimgehen in Gottes Frieden
  • heimkehren
  • in die Ewigkeit vorausgehen
  • scheiden
  • vollendet haben
  • die Augen schließen
  • abberufen werden
  • in das ewige Licht eingehen
  • die Augen schließen
  • das Zeitliche segnen
  • vgl. Französisch: n'avoir plus mal aux dents = "keine Zahnschmerzen mehr haben"

Euphemismen für den Tod

  • Freund Hein
  • Knochenmann
  • Sensenmann

Vorkehrungen beim Nennen eines Toten: Hinzufügen von

  • (lieb und) selig ("(lieb) Vater selig")
  • Gott hat (hab) ihn (sie) selig

Es gibt aber noch viele weitere Bereiche, auf die sich Worttabus erstrecken können, z.B.:

Der Gebrauch eines Tabuwortes kann eine Vielzahl von Redensarten, Handlungen bzw. Reaktionen hervorrufen, z.B.

Crystall [a.a.O., S. 8] weist darauf hin, dass Tabuwörter über die Sprachgrenzen hinauswirken können:

Weiterführende Ressource zum Euphemismus:

Beth, K.: Art. Euphemismus. -- In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens / hrsg. von Hanns Bächthold-Stäubli ... -- Berlin : de Gruyter. -- Bd. 2. -- 1930. -- Sp. 1979 - 1084]


6.3. Flüche


Flüche sind Redeformeln, durch welche man Unheil auf jemand anderen, dessen Habe oder auf sich selbst herabwünscht. Flüche haben nicht nur eine emotionale Funktion, sie werden oft auch heute noch als wirksamer Zauber verstanden. Hol Dich der Teufel ist dann nicht einfach Ausdruck des Ärgers sondern eine für den Angefluchten äußerst gefährliche Verwünschung. Dies ist -- neben Fragen der Höflichkeit -- ein wichtiger Grund, in fremder kultureller Umgebung auf Flüche zu verzichten. Auch bei uns gelten (galten) Verfluchungen durch bestimmte Personen als besonders wirksam und gefährlich: so Verfluchungen durch

Weiterführende Ressource zum Fluch:

Beth, K.: Art. Fluch. -- In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens / hrsg. von Hanns Bächthold-Stäubli ... -- Berlin : de Gruyter. -- Bd. 2. -- 1930. -- Sp. 1636 - 1652]


6.4. Wortschadenszauber und Gegenmittel


"Berufen" ("verschreien", "vermeinen", "bereden") bezeichnet das Herbeirufen der Zufügung von Schadenszauber durch Worte oder durch Neid ("verneiden"). Man riskiert "berufen", wenn man den Neid von anderen schadensmächtigen Wesen hervorruft, indem man etwas lobt, z.B. Gesundheit, Wohlergehen, Schönheit, Besitz. Deshalb wendet man einen Gegenzauber an:

Die Furcht vor dem Berufen aus Neid ist weltweit verbreitet und auch in Mitteleuropa noch weit verbreitet. Man muss deshalb vorsichtig sein, wenn man in einer kulturell fremden Umgebung Wohlergehen, Kinder u.ä. lobt. Viele Asiaten fühlen sich z.B. unwohl, wenn man sie lobt: man will nicht den Neid der anderen hervorrufen. Wegen dieser negativen Einstellung zu (öffentlichem) Lob betrachten Asiaten solches Lob manchmal sogar als Form subtiler Kritik.  


7. Aufzeichnen von Fakten


Abb.: Schweizerischer Bundesbrief von 1291 (Bundesbriefarchiv Schwyz)

Sprache dient der Aufzeichnung (Beurkundung) von Fakten für künftigen Gebrauch, z.B. in

Von der Funktion als Mittel zum Austausch von Fakten und Ansichten unterscheidet sich diese Sprachfunktion dadurch, dass der "Dialog" fehlt. Die Aussagen müssen also in sich geschlossen sein, da die Arten künftiger Nutzung nicht vorhersehbar sind.

Abb.: "Die Ziviltrauung" (1887, Ausschnitt) von Albert Anker <1831 - 1910>


8. Sprache als Werkzeug des Denkens


"Was wir genau gemeint haben, wissen wir erst, wenn wir es ausgesprochen haben."

Joseph Joubert <1754 - 1824>

Sprachgebundenes Denken ist nicht die einzige Form des Denkens, es gibt auch sprachunabhängiges Denken, wie jede Besitzerin einer Katze oder eines Hundes weiß (oder man denke an die großartigen Denkleistungen, die Eichhörnchen vollbringen können).

Für die interkulturelle Kommunikation ist die Frage wichtig, wie weit Denken durch die Sprache des Denkenden geprägt ist. Wäre Denken durch die betreffende Sprache völlig bestimmt (Sprachdeterminismus), wäre interkulturelle Kommunikation nur zwischen Menschen möglich, die ähnliche Sprachen sprechen. Die Hypothese des Sprachdeterminismus war und ist sehr verbreitet und populär. 

Sprachdeterminismus:  

vertraten die Ansicht, dass die einzelnen Sprachen die Denkstrukturen und Denkmöglichkeiten ihrer Sprecher determinieren. Unter den neueren Hypothesen des Sprachdeterminismus ist am bekanntesten die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese. Da demnach Denken, Fühlen und Erkenntnis nur relativ zur jeweiligen Einzelsprache möglich sind, handelt es sich dabei für Whorf um ein linguistisches Relativitätsprinzip. Die Gültigkeit dieses Prinzips würde bedeuten, dass "Übersetzung" zwischen verschiedenen Sprachen letztendlich unmöglich ist.

Abb.: Joanne Yellowhair, eine Hopi: das Missverstehen der Hopi-Sprache veranlasste Whorf zu vielerlei falschen Behauptungen über Sprache und Denken, die in angeblich seriösen Büchern bis heute herumgeistern (Foto: Arizona, 1996 ©Corbis)

"Das linguistische Relativitätsprinzip. Diese Tatsache ist für die moderne Naturwissenschaft von großer Bedeutung. Sie besagt, dass kein Individuum Freiheit hat, die Natur mit  völliger Unparteilichkeit zu beschreiben, sondern eben, während es sich am freiesten glaubt, auf bestimmte Interpretationsweisen beschränkt ist. Die relativ größte Freiheit hätte in dieser Beziehung ein Linguist, der mit sehr vielen äußerst verschiedenen Sprachsystemen vertraut ist. Bis heute findet sich noch kein Linguist in einer solchen Position. Wir gelangen daher zu einem neuen Relativitätsprinzip, das besagt, dass nicht alle Beobachter durch die gleichen physikalischen Sachverhalte zu einem gleichen Weltbild geführt werden, es sei denn, ihre linguistischen Hintergründe sind ähnlich oder können in irgendeiner Weise auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden (be calibrated).

Dieser ziemlich überraschende Schluss wird nicht so deutlich, wenn wir nur unsere modernen europäischen Sprachen miteinander vergleichen, und vielleicht zur Sicherheit noch Latein und Griechisch dazunehmen, Unter diesen Sprachen herrscht eine Einstimmigkeit der Grundstrukturen, die auf den ersten Blick der natürlichen Logik Recht zu geben scheint Die Einhelligkeit besteht jedoch nur, weil diese Sprachen alle indoeuropäische Dialekte sind, nach dem gleichen Grundriss zugeschnitten und historisch überkommen aus dem, was vor sehr langer Zeit eine Sprachgemeinschaft war; weil die modernen Dialekte seit langem am Bau einer gemeinsamen Kultur beteiligt sind; und weil viele der intellektuelleren Züge dieser Kultur sich aus dem linguistischen Hintergrund des Lateinischen und des Griechischen herleiten. Diese Sprachgruppe erfüllt daher die spezielle Bedingung des mit es sei denn beginnenden Nebensatzes in der Formel des linguistischen Relativitätsprinzips am Ende des vorhergehenden Absatzes. Aus dieser Sachlage ergibt sich auch die Einstimmigkeit der Weltbeschreibung in der Gemeinschaft der modernen Naturwissenschaftler. Es muss aber betont werden, dass alle modernen indoeuropäisch sprechenden Beobachter nicht das gleiche ist wie alle Beobachter. Wenn moderne chinesische oder türkische Naturwissenschaftler die Welt in den gleichen Termini wie die westlichen Wissenschaftler beschreiben, so bedeutet dies natürlich nur, dass sie das westliche System der Rationalisierung in toto übernommen haben, nicht aber, dass sie dieses System von ihrem eigenen muttersprachlichen Gesichtspunkt aus mitaufgebaut haben.

Deutlicher wird die Divergenz in der Analyse der Welt, wenn wir das Semitische, Chinesische, Tibetanische oder afrikanische Sprachen unseren eigenen gegenüberstellen. Bringen wir gar die Eingeborenensprachen Amerikas hinzu, wo sich einige tausend Jahre lang Sprachgemeinschaften unabhängig voneinander und von der Alten Welt entwickelt haben, dann wird die Tatsache, dass Sprachen die Natur in vielen verschiedenen Weisen aufgliedern, unabweisbar. Die Relativität aller begrifflichen Systeme, das unsere eingeschlossen, und ihre Abhängigkeit von der Sprache werden offenbar. Dass amerikanische Indianer, die nur ihre Eingeborenensprache beherrschen, niemals als wissenschaftliche Beobachter herangezogen werden, ist hier völlig irrelevant. Das Zeugnis auszuschließen, welches ihre Sprachen über das ablegen, was der menschliche Geist tun kann, wäre ebenso falsch, wie von den Botanikern zu fordern, sie sollten nur Gemüsepflanzen und Treibhausrosen studieren, uns dann aber berichten, wie die Pflanzenwelt aussieht."

[Whorf, Benjamin Lee <1897-1941>:Sprache, Denken, Wirklichkeit : Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. -- Reinbeck : Rowohlt, ©1963. -- (rde ; 174). -- Originaltitel: Language, thought, and reality (1956). -- S.12 - 13.

Dieter E. Zimmer fasst die Kritik an der Whorf-Hypothese treffend zusammen:

"Wie ist es bei alldem der Whorf-Hypothese ergangen? Nicht gut. Die Sprachen unterscheiden sich nicht willkürlich. Bei etwa gleicher Distanz zu den Dingen wird die gegenständliche Welt von allen auch etwa gleich aufgeteilt. Ähnliche kognitive Prozesse führen dazu, dass unter ähnlichen Umständen auch ähnliche Konzepte gebildet werden. Wo diese benannt werden und damit zu Begriffen gerinnen, entsteht kein Babel. Auf der Ebene der konkreten Benennungen sind die Sprachen recht gut ineinander übersetzbar. Nimmt man hinzu, dass entweder universale kognitive Prozesse oder ein für alle gleiches genetisches Programm auch Grammatiken erzeugen, die sich auf einer tieferen Ebene gleichen, so scheint ausreichend dafür gesorgt, dass sich Menschen verschiedener Sprachen nicht allzu sehr missverstehen müssen, dass nicht jeder hoffnungslos in seine Sprache eingeschlossen ist und sich keinem Sprecher einer anderen Sprache je mitteilen kann. Wir alle ordnen die Welt nach den gleichen, sozusagen natürlichen Prinzipien, unsere Sprachen spiegeln diese Ordnung und unterscheiden sich in dieser Hinsicht auch nicht erheblich. Dass Kulturen einzelne Lebensbereiche mehr oder weniger fein differenzieren, je nachdem, wie wichtig sie für sie sind, bedeutet nicht, dass ihre Angehörigen verschieden wahrnähmen und verschieden dächten. Einem alten Wissenschaftsgerücht zufolge soll der Eskimo Wörter über Wörter für die verschiedenen Schneearten haben, der Europäer aber nur eins, eben Schnee. Das Gerücht irrt. Die Eskimosprache bescheidet sich mit zwei Wortstämmen, einem für den fallenden und einem für den liegenden Schnee. Und sobald der Europäer sich für Schnee zu interessieren beginnt, stehen ihm durchaus weitere differenzierende Wörter zur Verfügung: Flocken, Firn, Harsch, Pulver, Sulz... Whorfs Vermutung, der Eskimo fände den Generalbegriff Schnee »fast undenkbar«, war nicht nur vage, sondern falsch. Nicht die Sprache nämlich bestimmt, welche Ober- und Unterkategorien ein einzelner oder ein Volk bilden kann, sondern etwas anderes: der Bedarf.

Dass jedoch alle Sprachen die konkrete Welt ähnlich klassifizieren, nach ähnlichen Prinzipien, jedoch ausschnittweise hier mehr, dort weniger differenziert, bedeutet nicht, dass auch bei abstrakteren Begriffen eine solche Übereinstimmung bestehen muss. Konkrete Begriffe strukturieren unsere Wahrnehmungen, abstrakte Begriffe sind die Bausteine unserer Interpretationen. Welche gebildet werden, wie sie voneinander abgesetzt werden, worauf sie sich erstrecken, mit welchen Nebenbedeutungen sie geladen werden, welche Gefühlsvaleurs ihnen zuteil werden -- darüber befinden nicht so sehr die Verbindlichkeiten unserer kognitiven Mechanismen, sondern mehr die gewundenen Entwicklungen und Zufälle der Kulturgeschichte, die hinter einer gewachsenen Sprache steht. Kein Übersetzer muss befürchten, in irgendeiner Sprache keinen Begriff für »Wasser« oder »Auge« oder »Bauen« anzutreffen. Bei »Sicherheit«, »Empörung«, »Urteil« kann er diese Gewissheit nicht haben. Bei »Instanz«, »Parameter« oder »Aufklärung« kann er, wenn er in die Sprache einer fernen Kultur übersetzt, von vornherein sicher sein, dass er sehr wahrscheinlich kein Äquivalent vorfinden wird und sich mit notdürftigen Umschreibungen behelfen muss. Seit je klagen Übersetzer, dass sich zum Beispiel das hebräische hesed im Deutschen nicht wiedergeben lässt. Es steckt darin eine Tradition gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Treue zwischen Stammeshäuptling und Untertanen, so schreibt Eugene Nida, die sich von keinem deutschen Wort wiedergeben lässt, auch nicht von Huld oder Güte. Der Filmregisseur Edgar Reitz beklagte, dass sich das Geheischnis des Hunsrücker Platt nur sehr unvollständig ins Hochdeutsche übersetzen lasse (»Geborgenheit und Vertrauen, mehr als Freundschaft, weniger als Liebe...«). Und, als markantestes Exempel, natürlich Faust der Übersetzer, der mit dem griechischen logos seine Qual hatte, weil er, zu Recht, die Standardübersetzung Wort etwas dünn fand, gemessen an der Bedeutungsbreite des Originals. Diese starken Nichtübereinstimmungen bei den abstrakten Begriffen, die sich in großen Übersetzungsschwierigkeiten niederschlagen, haben ihre Ursache natürlich darin, dass abstrakte Begriffe fast beliebig gebildet werden können. Sie haben sich gegenüber keine Realität, an der sich ihre Tauglichkeit Tag für Tag erweisen muss. Ein Begriff wie »Verstand« hat eine Geschichte. Ein Begriff wie »Hand« eigentlich nicht. Eine Hand war immer eine Hand. ...

Whorfs Hypothese ist also nicht rundheraus falsch. Aber erst recht ist sie nicht rundheraus richtig. Je stärker sie formuliert wird, desto falscher scheint sie zu werden.

Ganz sicher hilft die Sprache dem Denken ganz ungemein. Indem ein Konzept mit einem Wort belegt wird, wird es zu einer Art Gegenstand: Es existiert, auch wenn es gerade nicht gedacht wird, es erhält Dauer, man kann damit sehr leicht hantieren, ganze Gefüge von Konzepten zu neuen Aussagen zusammenstellen, man kann mit einem Wort ein Konzept in seinem Geist hervorrufen, man kann seine eigenen Konzepte mit anderen Menschen austauschen. Im Experiment wurde gezeigt, dass umfangreiche logische Probleme besser gelöst werden, wenn man während der Arbeit an ihnen alle seine Denkschritte verbalisiert. Die Erfindung der Sprache hat die denkerischen Möglichkeiten des Menschen gewiss potenziert. Und nur sprachlich gefasste Gedanken sind mitteilbar; alle anderen gehen mit dem, der sie denkt, zugrunde.

Die Sprache hält ihre Sprecher nicht gefangen; denken lässt sich auch, wofür die Sprache keine bequemen oder gar keine Mittel zur Verfügung stellt. Aber wofür fertige Ausdrucksmittel bereitstehen, lässt sich leichter denken; und wofür es sehr geläufige Ausdrucksmittel gibt am allerleichtesten.

Wenn verschiedene Sprachen nicht zu einem völlig verschiedenen Denken führen, so vor allem darum, weil sie alle auf einem ähnlichen Fundament ruhen. Die Grundbegriffe für die konkrete Welt und wahrscheinlich auch die Grundregeln ihrer grammatischen Verknüpfung sind für alle sehr ähnlich. Hier, bei den fundamentalen Kategorisierungen, werden alle Sprachen von ähnlichen kognitiven Mechanismen geformt. So treiben die Sprachen nie allzu weit auseinander; Verständigung bleibt möglich. Bei den abstrakten Begriffen aber kann sie schon sehr schwierig sein. Und die Bedeutungsnuancen, die den Begriffen durch die Kulturgeschichte ihrer Benutzer zugewachsen sind, sind oft schlechthin unübersetzbar. In einem sehr eingeschränkten Sinn hatte Whorf also recht."

[Zimmer, Dieter E. <1934 - >: So kommt der Mensch zur Sprache : über Spracherwerb, Sprachentstehung, Sprache & Denken. -- Zürich : Haffmans, ©1986. -- S. 158 - 161. -- Taschenbuchausgabe: München : Heine, 1994. -- ISBN 3453078128. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


Abb.: Für Eskimos spielt Schnee offensichtlich eine große Rolle: Eskimo Walfänger, ca. 1994, Barrow, Alaska, USA  (©CORBIS)

Geoffrey K. Pullum, der die ganze Whorf-Hypothese vernichtend entlarvt hat, schreibt:

"An dieser leichtfertigen Übertragung und Ausweitung einer falschen Behauptung ist unter anderem bedrückend, dass es objektiv gesehen völlig uninteressant wäre, selbst wenn in irgendeiner arktischen Sprache eine große Anzahl von Wortstämmen für verschiedene Arten von Schnee existieren würde. Diese Tatsache wäre höchst profan und nebensächlich. Pferdezüchter kennen verschiedene Bezeichnungen für Pferderassen, -größen und -alter, Botaniker unterscheiden zwischen verschiedenen Blattformen, Innenarchitekten zwischen verschiedenen malvenfarbigen Schattierungen, und Drucker kennen zahlreiche Namen für verschiedene Schrifttypen (Carlson, Garamond, Helvetica, Times Roman usw.) -- wen wundert's? ... Käme irgend jemand auf die Idee, über Drucker denselben Unsinn zu verzapfen, den wir in schlechten sprachwissenschaftlichen Lehrbüchern über Eskimos verbreitet finden? Nehmen wir das folgende zufällig ausgewählte Lehrbuch ..., in dem allen Ernstes behauptet wird: »Es ist ganz offensichtlich, dass in der Kultur der Eskimos ... der Schnee eine so große Bedeutung besitzt, dass der begriffliche Bereich, der sich im Englischen auf ein Wort und einen Gedanken bezieht, in mehrere voneinander getrennte Klassen aufgespalten wird ...« Nun stellen Sie sich vor, folgendes zu lesen: » Es ist ganz offensichtlich, dass in der Kultur der Drucker ... die Schrifttypen eine so große Bedeutung besitzen, dass der begriffliche Bereich, der sich unter Nichtdruckern auf ein Wort und einen Gedanken bezieht, in mehrere voneinander getrennte Klassen aufgespalten wird ...« Zum Gähnen langweilig, selbst wenn es stimmt. Allein der Verbindung mit jenen sagenumwobenen, die Promiskuität pflegenden, Speck knabbernden Jägern des Packeises ist es zu verdanken, dass uns etwas derart Banales zum Nachdenken vorgelegt werden konnte."

[Pullum, Geoffrey K.: The great Eskimo vocabulary hoax, and other irreverent essays on the study of language. -- Chicago : University of Chicago Press, ©1991. -- 236 S. -- ISBN 0226685349. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}. --  Zitiert in: Pinker, Steven<1954 - >: Der Sprachinstinkt : wie der Geist Sprache bildet. -- München : Knaur, 1998 (©1996). -- (Kanur Taschenbuch ; 77363). -- ISBN 3426773635. -- Originaltitel: The language instinct (1994). -- S. 76 - 77. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


9. Sprache als Ausdruck von Identität


Wir alle kennen viele soziale Situationen, in denen Sprachverhalten in erster Linie vereint -- soziales Zugehörigkeitsgefühl zeigt und erzeugt --  und nicht informiert, z.B.

Der Sprachgebrauch verrät viel über die teilnehmenden Personen, z.B.

Sprache signalisiert, wer wir sind und wo wir hingehören. Solche Signale zu deuten und zu verstehen, ist für Auswärtige oft sehr schwierig. Andrerseits können solche Signale unabhängig vom Inhalt verschiedenste positive oder negative Reaktionen hervorrufen. Man denke nur an die regionalen Akzente im Deutschen: ein Hofrat-österreichischer Akzent wird von den meisten Deutschen als sympathisch empfunden, ein sächsischer Akzent als unsympathisch. Jemand mit einem solchen österreichischen Akzent hat es mit der sonst gleichen sprachlichen Äußerung leichter akzeptiert zu werden, als jemand mit einem sächsischen Akzent.

In den 60er Jahren machte das Institut für Werbepsychologie und Markterkundung, Frankfurt a. M. eine Erhebung über die Beliebtheit deutscher Dialekte. Wenn auch die Zahlen heute etwas anders aussehen mögen, zeigt diese Umfrage doch sehr deutlich unsere Tendenz, aufgrund der Dialektfärbung zu stereotypisieren ("sympathisch" -- "unsympathisch").

Beliebtheit deutscher Dialekte in den 60er Jahren
Beliebtheitsrang Dialekt von Prozent
1. Wien 19%
2. Hamburg 18%
3. Köln 16%
4.  München 15%
5. Berlin 13%
6. Stuttgart 9%
7. Frankfurt a. M. 8%
8. Leipzig 2%

[Angaben nach: Bausinger, Hermann <1926 - >: Dialekte, Sprachbarrieren, Sondersprachen. -- erweiterte Ausgabe. -- Frankfurt a. M. : Fischer, 1978 (©1972). -- (Deutsch für Deutsche ; Bd. 2). -- (Fischer Taschenbücher ; 6145). -- ISBN 3-596-26145-7. -- S. 21]


10. Sprache als Ausdruck von physischer Identität


Es bestehen klare Zusammenhänge zwischen Sprache und


10.1. Zum Beispiel: weibliche und männliche Sprache im Japanischen



Abb.: Japanerin serviert Tee, Iwaso Ryokan, Miyajima Island, Japan, 1986 (©CORBIS)

"Ein eindeutiger Fall geschlechtsspezifischer Sprachvariation ist das Japanische, wo klar abgegrenzte Sprachvarianten seit dem frühen 11. Jahrhundert bekannt sind. Unter Frauen der Oberschicht bildete sich eine Varietät namens Joseigo oder Onnakotoba heraus, mit der die Sprecherinnen ihre gesellschaftliche Sonderstellung signalisierten. 

In Büchern über feminine Umgangsformen wurde, neben den Normen für ein sanftes und unterwürfiges Verhalten, zur Verwendung eines speziellen Wortschatzes und einer speziellen Grammatik geraten. Diese traditionelle Sichtweise ist heute zwar beträchtlichen Veränderungen unterworfen, doch herrschen immer noch klar definierte Geschlechterrollen vor, und die unterschiedlichen sprachlichen Formen sind weitverbreitet.

Die weibliche Varietät des Japanischen ist eine Sprachform, die der bewussten Kontrolle der Sprecherinnen unterliegt. Sie wird eingesetzt, wenn Frauen ihre Weiblichkeit betonen möchten; zu anderen Gelegenheiten benutzen sie eine geschlechtsneutrale Varietät. So bedient sich eine Frau vielleicht der weiblichen Varietät, wenn sie mit ihren Freundinnen über ihre Kinder spricht, während sie im Gespräch mit Arbeitskollegen oder -kolleginnen in eine neutrale Varietät überwechselt. Frauen können auch die männliche Varietät verwenden, wenn sie bestimmt auftreten wollen -- heutzutage tun dies viele Frauen, denen daran gelegen ist, die Emanzipation voranzutreiben. Ein gutes Beispiel hierfür ist die steigende Gebrauchshäufigkeit von boku (»ich«) unter Schülerinnen: Dieses Wort war früher ausschließlich männlichen Sprechern vorbehalten.

Auch in der Gebrauchshäufigkeit von Formen gibt es Unterschiede. Sowohl Männer als auch Frauen verwenden die sprachlichen Höflichkeitsformen, Frauen jedoch häufiger und vielseitiger. So wählt ein Mann vielleicht eine bestimmte Höflichkeitsform nur im Gespräch mit einem Vorgesetzten, während eine Frau sie unter Umständen auch gegenüber Gleichrangigen einsetzt. Die Höflichkeitsformen von Substantiven, Verben und Adjektiven werden ebenfalls häufiger von Frauen verwendet.

Über die männliche Varietät liegen weniger Daten vor, was die traditionelle Haltung widerspiegelt, derzufolge die weibliche Varietät die »besondere« sei. Auch wird nur selten eine spezielle Bezeichnung für die männliche Varietät benutzt, obwohl sie sich klar definieren lässt und man sie in Situationen hören kann, in denen althergebrachte Vorstellungen von Männlichkeit (Selbstsicherheit, Härte usw.) herrschen. Allerdings gilt dies nicht für jede Äußerung eines Mannes: Wie die Frauen bevorzugen auch die Männer häufig eine geschlechtsneutrale Varietät, und gelegentlich greifen sie auch auf weibliche Formen zurück, als Zeichen für Freundlichkeit und Achtung."

[Crystal, David <1941 - >:  Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. -- Köln : Parkland, 1998 (©1993). --  ISBN 3880599548. -- S. 21. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


11. Sprache als Ausdruck von psychischer Identität 


Wie schon gesagt, tendieren wir dazu, aufgrund unserer Bewertung von Sprecheigenschaften (Attraktivität von Stimme, Akzent, Dialekt, Stil) die Persönlichkeit des Sprechers (Schuld, Unschuld, Intelligenz, Dummheit usw.) zu typisieren. So konstruieren wir (meist unbewusst) Beziehungen zwischen Sprache und

Obwohl es eine große Anzahl psychologischer Untersuchungen zu diesem Thema gibt, haben sich keine signifikanten Beziehungen dieser Art nachweisen lassen. Umso gefährlicher sind unsere spontanen "Diagnosen" aufgrund sprachlicher Eigenschaften. 

Abb.: Sprachliche Eigenschaften und Verhaltensweisen führen in unterschiedlichen Kulturen zu unterschiedlichen Typisierungen (©ArtToday)

Wir müssen aber immer gewärtig sein, dass wir selbst aufgrund sprachlicher Eigenschaften gemäß den Bewertungen im jeweiligen kulturellen Kontext beurteilt werden. Lebhafter Sprachstil kann dabei z.B. in Lateinamerika als Zeichen höchster Intelligenz bewertet werden, in Südostasien aber als Zeichen von "Verrücktheit" ("Er benimmt sich wie ein Narr") und sozialer Ungehobeltheit.


12. Sprache als Ausdruck von geographischer Identität


Mit 

zeigt ein Sprecher gewollt oder ungewollt seine geographische Identität. So lange die regionale Mobilität gering ist, ist die regionale Dialektgliederung sehr kleinräumig wie die traditionelle Mundartgliederung im Kreis Tübingen sehr anschaulich zeigt: 


Abb.: Gliederung der Mundart um Tübingen

[Vorlage der Abb.: Bausinger, Hermann <1926 - >: Dialekte, Sprachbarrieren, Sondersprachen. -- erweiterte Ausgabe. -- Frankfurt a. M. : Fischer, 1978 (©1972). -- (Deutsch für Deutsche ; Bd. 2). -- (Fischer Taschenbücher ; 6145). -- ISBN 3-596-26145-7. -- S. 17]

Mit zunehmender Mobilität werden die Verhältnisse bedeutend komplizierter, wie das im Folgenden dargestellte Beispiel von Kusterdingen bei Tübingen zeigt.


12.1. Zum Beispiel: Dialektgebrauch in Kusterdingen (Kreis Tübingen)


Hermann Bausinger schildert sehr schön den Dialektgebrauch in Kusterdingen in den 50er Jahren:

"Gewiss hat es noch immer einen gewissen Sinn, von örtlichen Mundarten zu reden; aber weniger denn je lassen sich über die Sprache eines einzelnen Sprechers die tatsächlichen sprachlichen Strukturen in einem Ort erfassen. Die bisher letzte große Erhebungsaktion ging deshalb andere Wege als die früheren. Im Jahr 1955 begann diese Aktion, die vom Deutschen Spracharchiv [Webpräsenz: http://www.ids-mannheim.de/dsav/. -- Zugriff am 11.10.2000; 2011-01-10] unter der Leitung von Eberhard Zwirner ausging. Über die Karte der Bundesrepublik wurde ein Quadratnetz gespannt; in jedem Quadrat (von 16 km Seitenlänge) wurde ein Ort zur Aufnahme ausgewählt. Dort aber sollte die Sprache von mindestens sechs Personen auf Tonband genommen werden -- Alten und Jungen, Männern und Frauen, Bauern und Beamten, Angestellten und Arbeitern, Einheimischen und Zugezogenen, so dass sich wenigstens annähernd ein Querschnitt ergab.

Ich greife das Beispiel des kleinen schwäbischen Orts Kusterdingen [Vgl.: http://cityinfonetz.de/tagblatt/gemeinde/kusterdingen/index.html. -- Zugriff am 11.10.2000] heraus. 

Die sprachliche Charakterisierung und Einteilung kann bei einem solchen Querschnitt aufgrund des Gesamteindrucks vorgenommen werden; genauer und überprüfbarer wird das Bild, wenn »dialektale Stufenleitern« -- so hat es Ulrich Ammon genannt -- gebildet und bei den einzelnen Sprechern verfolgt werden. 

Ein Beispiel: die Perfektform haben gehabt lautet bei den beiden ersten Sprecherinnen hant ghet. Der dritte Sprecher formuliert gewissermaßen Honoratiorenschwäbisch: habet ghabt, und die beiden folgenden Aufnahmen gehen in ähnliche Richtung. Der letzte Sprecher dagegen, der junge Reisende, sagt es -- wenn man mit diesem Begriff keine zu strengen Maßstäbe verbindet -- auf hochdeutsch: haben gehabt.

Argumentiert man vom Einzelfall aus, so kann man bei der Feststellung bleiben, dass die Position auf der dialektalen Stufenleiter von Situation und Rolle abhängt; bei dem älteren Bauern, der sich bewusst aufs Mikrophon einstellt, ist das ganz offensichtlich. Aber schon der Überblick über ganz wenige Fälle zeigt, dass die Wahl der Sprechrollen keineswegs völlig oder auch nur überwiegend ins Belieben des einzelnen gestellt ist; den Begriffen Situation und Rolle gliedern sich andere, sie bedingende Faktoren an. Auch von Sprechrollen gilt, dass jeder nur ein begrenztes Rollenrepertoire hat; die Rollen bündeln sich um eine festere Größe, die in der Soziologie als Status bezeichnet wird. Insofern also zielen die Begriffe Rolle und auch Situation zu kurz. Sprachliches Verhalten äußert sich zwar grundsätzlich in Rollen und Situationen; aber durch sie hindurch werden die Bedingungen sichtbar, welche das Niveau der Situationen, die Enge oder Vielfalt der Rollen bestimmen. Diese Bedingungen sind verschiedener Art und gehören verschiedenen Dimensionen an: Berufszugehörigkeit und Bildungsgrad, Geschlecht und Alter, Prestige und Sachkenntnis. Aber die wichtigeren dieser Bedingungen sind vielfach, dies zeigen die wenigen Beispiele so gut wie ein größerer Überblick, Ausdruck der Soziallage des einzelnen. So ist es nicht verwunderlich, dass das Thema: Sprache und soziale Schicht immer stärker in den Mittelpunkt sprachlicher Gegenwartsbeobachtungen rückt."

[Vorlage der Abb.: Bausinger, Hermann <1926 - >: Dialekte, Sprachbarrieren, Sondersprachen. -- erweiterte Ausgabe. -- Frankfurt a. M. : Fischer, 1978 (©1972). -- (Deutsch für Deutsche ; Bd. 2). -- (Fischer Taschenbücher ; 6145). -- ISBN 3-596-26145-7. -- S. 37 - 38]


13. Sprache als Ausdruck von ethnischer und nationaler Identität


Sprache dient oft zur Markierung der Zugehörigkeit zu "Volksgruppen", "Ethnien", "Nationen". Man sollte sich immer klar machen, dass Begriffe wie "Volk", "Nation" oder "Ethnie" als solche völlig nichtssagend sind, aber immer wieder gefühlsmäßig instrumentalisiert werden. Die Bewegungen des sprachlichen Nationalismus, d.h. der Staatenbildung aufgrund echter oder fiktiver sprachlicher Gegebenheiten waren nicht nur im 19. Jahrhundert eine wichtige politische Kraft, sondern sind auch heute noch sehr mächtig (siehe z.B. ehemaliges Jugoslawien, ehemalige Sowjetunion). Dabei ergab eine Übersicht im Jahre 1971 über damals 132 Staaten, dass

In Teil 1 sind die tatsächlichen sprachlichen Verhältnisse weiter Teile der Welt dargestellt. Die dort gezeigten Karten zeigen deutlich, dass sprachlicher Nationalismus eine für die Welt gefährliche Fiktion ist.

Zwei Sprachen, eine Kultur


Abb.: Wien, Österreich, Rathaus (©Corbis)


Abb.: Budapest, Ungarn, Parlament (©Corbis)

Dass auch radikale Sprachunterschiede keine kulturellen oder sonstigen Unterschiede sein müssen, zeigt z.B. ein Vergleich der beiden Städte Wien und Budapest: obwohl ihre Mehrheitssprachen (Deutsch bzw. Ungarisch gegenseitig völlig unverständlich sind), haben Budapest und Wien und ihre Bewohner viel mehr Gemeinsamkeiten als z.B. Wien und München oder Wien und Stuttgart. Eine ungarische oder österreichische (bzw. deutsche) Nation sind Fiktionen, die mehr Unheil angerichtet haben als dass sie genützt haben. Wenn keine Sprache unterdrückt wird, kann man auf demagogische Begriffe wie Nation, Volk, Ethnie für Menschen, die eine gemeinsame Standardsprache sprechen, getrost verzichten.

Sprache als Ausdruck angeblicher ethnischer und nationaler Identität ist eine wichtige Ursache für politische Unruhen, gewaltsame und kriegerische Auseinandersetzungen.

Einige wenige Beispiele mögen genügen


Abb.: Pais Vasco -- das Baskenland, Spanien (©MSEncarta)


Abb.: Belgien: Flamen und Wallonen  (©MSEncarta)


Abb.: Kanton Jura  (©MSEncarta)

In der Provinz Quebec ist seit 1969 Französisch die einzige Amtssprache, 1977 wurde Französisch zur einzigen Sprache für Verwaltung, Erziehungswesen und Handel, 1985 wurde der Gebrauch anderer Sprachen als Französisch auf Hinweisschildern verboten, 1989 wurde diese Entscheidung nach langen Debatten dahin modifiziert, dass auf Schildern neben Französisch auch andere Sprachen (besonders Englisch) verwendet werden dürfen, wenn Französisch sichtbar dominierend angebracht ist.


Abb.: Stop-Schild in Montreal, Quebec, Kanada (©Corbis)


Abb.: Lage von Quebec, Kanada   (©MSEncarta)

Beim Stop-Schild hat Quebec eine besonders drollige Lösung gewählt: 


14. Sprache als Ausdruck von sozialer Identität


"Mehr noch als darüber, was das Kind essen und trinken soll, macht sich der Vater Sorgen darüber, ob es wohl lernen wird, wie ein britischer Gentleman zu sprechen."

Meredith, George <1828 - 1909>: The adventures of Harry Richmond (1871), Kap. 3

Sprache spiegelt oft die soziale Schichtung wieder und wird auch oft ganz bewusst dazu eingesetzt, um die eigene Stellung im Statussystem zu signalisieren (siehe dazu das Musical My Fair Lady).

Sprache spiegelt u.a. 

Um unter anderem Gruppenzugehörigkeit zu betonen, entwickelte man


14.1. Zum Beispiel: "Personalpronomina" im Thai



Abb.: Ein jüngerer Thai begrüßt (wai)  höflich einen älteren

Die Verwendung des richtigen Wortes zur Bezeichnung von sich selbst und dem/der Angesprochenen ist in Standard-Thai eine Kunst, die ein(e) Auswärtige(r) nie voll beherrscht. Die folgende Übersicht soll einen ersten Eindruck in die Komplexheit des Ausdrucks von sozialen Beziehungen in Thai geben.

Sprecher(in) Angesprochene(r) "Pronomen" für "Ich" Anmerkungen
männlicher Erwachsener gleichrangige oder höherrangige Männer und Frauen

POM

 
  höherrangige, Lehrer

GAPOM

 
  Kinder, Frauen, Dienstboten, Geliebte

CAN

meist auch in allen informellen Schreiben verwendet
weibliche Erwachsene gleichrangige oder höherrangige

DICAN

ziemlich formell
  gleichrangige, Freundinnen, Kinder, Dienstboten u.ä.

CAN

informell
alle Freunde

GU

sehr umgangssprachlich und informell
Eltern Kinder, Dienstboten

GU

wenn man tadelt bzw. mit den Angesprochenen unzufrieden ist
Mädchen, Frauen höherrangige, Lehrer, Eltern, Freundinnen

NU

 
Redner, Beamte allgemeines Publikum

KAPAJAU

auch in formellen Schreiben und Rechtsdokumenten
alle jüngere Geschwister, Cousin, Freund(in), Ehefrau, Geliebte, Mitarbeiter u.ä.

PI

 
alle ältere Geschwister, Cousin, Freund(in), Ehemann, Geliebten, Mitarbeiter u.ä.

NONG

 
alle alle

LAU

informell, ziemlich unhöflich
Mönch Laien

ATAMA

 
Mönch Mitmönch

POM

 

Sehr oft verwendet man statt eines pronomens für "Ich" den eigenen Kosenamen (z.B. Noy) oder die verwandtschaftliche Stellung (KhunMae = Frau Mutter, KhunPo = Herr Vater). Man spricht dann von sich gleichsam in der dritten Person.

Sprecher(in) Angesprochene(r) "Pronomen" für "Du", "Sie" Anmerkungen
alle Freund, Erwachsener

KUN (+ Name)

z.B. KUNNoy, KUNMae (= Frau Mutter), KUNLung (= Herr Onkel)
alle höherrangige, Respektpersonen, Mönche

TAN

 
Erwachsene Kinder

NU

 
Lehrer, Erwachsene Schüler, Kinder

TE

 
Frauen, Mädchen Freundinnen

TE

 
alle Freund(in)

MÜNG

sehr umgangssprachlich und informell
alle ältere Geschwister, Cousin, Freund(in), Geliebte, Mitarbeiter u.ä.

PI

 
alle jüngere Geschwister, Cousin, Freund(in), Geliebte, Mitarbeiter u.ä.

NONG

häufiger als NONG wird der Kosenamen benutzt
Eltern, Lehrer Kinder, Schüler

wenn man tadelt bzw. mit den Angesprochenen unzufrieden ist
Mönch Laie

YOM

 

Aus obigen Pronomina für "Du" bzw. "Sie" bildet man die entsprechende Mehrzahl, indem man für zwei Personen (Dual) TANG SONG nachstellt, bei mehreren TANG LAI.

Sprecher(in) Bezug auf dritte Person "Pronomen" für "er", "sie" Anmerkungen
alle alle

KAU

 
alle Respektsperson, Mönch

TAN

 
alle Freund, Mitarbeiter, Bekannter, Kind

informell, umgangssprachlich
alle Kind, Dienstbote, sehr enge Freunde

MAN

 
Mann junge Dame

LON

selten benutzt
alle berühmte junge Dame (z.B. Filmstar, Sängerin)

TE

 
Mönch Laie

YOM

 
alle Tiere, Sachen

MAN

 

Aus obigen Pronomina bildet man die entsprechende Mehrzahl, indem man für zwei Personen (Dual) TANG SONG nachstellt, bei mehreren TANG LAI.

[Vorlage für obige Tabellen: Allison, Gordon H.: Modern Thai. -- 2. ed. -- Bangkok : Nibondh, 1962. -- S. 248 - 252. -- Da dieses Buch fast vierzig Jahre alt ist, geben obige Listen nicht den präzisen aktuellen Stand wieder: Sprache und Höflichkeitsformeln verändern sich!]


14.2. Zum Beispiel: Javanisch



Abb.: Java, Indonesien (©MSEncarta)

Extrem ist Sprache als Ausdruck sozialer Identität und von Status- und Rollenbeziehungen im Javanischen. Javanisch ist dadurch für Auswärtige praktisch nicht erlernbar.

Das Javanische hat fünf verschiedene Stilebenen. Die Wahl der Stilebene hängt vom Status des Sprechers, vom Status des Angesprochenen ab: so verwendet ein Sprecher von hohem Status gegenüber einem Sprecher von niederem Status eine andere Stilschicht als dieser gegenüber ihm: die beiden sprechen im Gespräch miteinander also faktisch zwei verschiedene Sprachen. Die Wahl der Stilschicht hängt aber auch von folgenden kontextuellen Faktoren ab

Zwischen den einzelnen Stilschichten im Javanischen bestehen so große Unterschiede, dass es sich faktisch um verschiedene Sprachen handelt. Dies demonstriert folgendes Beispiel: ein Satz mit der Bedeutung Wirst Du nun gleich Reis und Maniok essen?

  hohe Stilebene mittlere Stilebene niedrige Stilebene
  krama inggil  krama biasa madya ngoko madya ngoko biasa
Wirst / werden

menapa

napa

apa
Du / Sie

pandjenengan

sampejan

kowe

nun bade

adjeng

arep
essen

dahar

neda

mangan

Reis

sekul

sega

und kalijan lan
Maniok

kaspe

gleich samenika

saniki

saiki

Der das gleiche bedeutende Satz lautet also je nach sozialer Stilebene:

krama inggil Menapa pandjenengan bade dahar sekul kalijan kaspe samenika?
krama biasa Menapa sampejan bade neda sekul kalijan kaspe samenika?
madya Napa sampejan adjeng neda sekul lan kaspe saniki?
ngoko madya Apa sampejan arep neda sega lan kaspe saiki?
ngoko biasa Apa kowe arep mangan sega lan kaspe saiki?

In Kursivschrift sind jeweils die Wörter wiedergegeben, die sich gegenüber der unmittelbar höheren Stilschicht unterscheiden.


Abb.: Meister der Feinheiten javanischer Sprache: Javanische Adelige, Jogyakarta, um1910

[Quelle der Abb.: Wit, Augusta de: Java : facts and fancies. -- Den Hag : Stockum, 1912. -- S. 252 - 253]


14.3. Zum Beispiel: Reden und Schweigen auf Kirundi



Abb.: Lage von Burundi (©MSEncarta)

"Im zentralafrikanischen ... Burundi bestimmen Alter und Geschlecht in Verbindung mit der Kastenzugehörigkeit in vieler Hinsicht das sprachliche Handeln. Das Verhalten der Menschen wird durch ihren Rang aufgrund des Alters (ubukuru) festgelegt. Es gibt deutliche Kastenunterschiede; ältere Personen stehen über jüngeren, Männer über Frauen. Die Reihenfolge, in der innerhalb einer Gruppe gesprochen wird, folgt strikt dem jeweiligen Rang der Anwesenden. Die ranghöchsten Männer sprechen zuerst, unabhängig vom Alter. Frauen sprechen in Gegenwart Außenstehender überhaupt nicht, es sei denn, sie werden angesprochen.

Sprecher aus der höchsten Kaste erheben nie ihre Stimme und zeigen keine Gefühle. Wenn die ranghöchste Person in einer Debatte schweigt, bedeutet dies Missbilligung. Dann müssen auch die anderen verstummen, und die Diskussion ist damit beendet. Rhetorische Fähigkeiten gelten bei Männern als Zeichen guter Erziehung. Ab ihrem zehnten Lebensjahr erhalten Jungen der oberen Kasten Rhetorikunterricht -- sie erlernen den Gebrauch sozialer Formeln, das Sprechen mit Höher- und Niedrigergestellten und das Reden bei besonderen Anlässen. Mädchen aus den oberen Kasten sprechen nicht bei offiziellen Gelegenheiten, entwickeln aber großes Verhandlungsgeschick, das sie hinter den Kulissen nutzbringend anwenden. Sie werden darin unterrichtet, aufmerksam zuzuhören, damit sie den männlichen Familienmitgliedern die Äußerungen von Besuchern genau wiedergeben können."

[Crystal, David <1941 - >:  Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. -- Köln : Parkland, 1998 (©1993). --  ISBN 3880599548. -- S. 38. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


15. Sprache und kontextuelle Identität


Situationsbestimmte ("wo und wann?") Varietäten von (gesprochener und geschriebener) Sprache:

All dies bestimmt

16. Stilistische Identität  und Textsorten


Für bestimmte Kommunikationssituationen besitzt jede Kultur ganz bestimmte Textbildungsmuster (Textsorten). Die Kenntnis dieser Muster ist für das richtige Textverständnis unerlässlich: Wer z.B. einen Nachruf auf einen Toten oder eine Todesanzeige in einer deutschen Provinzzeitung für eine objektive Lebensbeschreibung des Verstorbenen nimmt, liegt völlig daneben:

"Es scheint so, dass auf dem Planeten,
den wir so gern mit Füßen treten
und ihn dadurch total verderben --
dass hier also nur Gute sterben!

Denn: las man je im Inserat,
dass ein Verblichner Böses tat,
dass er voll Neid war und verdorben,
und dass er nun mit Recht gestorben?

Es kann hier keinen Zweifel geben:
die Schlechten bleiben alle leben!"

[Erhardt, Heinz <1909 - 1979>: Es scheint so. -- In. Das große Heinz Erhardt Buch. -- München : Goldmann, ©1970. -- (Goldmann Taschenbuch). -- ISBN 3442066786. -- S. 293 -294. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Wenn man in eine Sprache übersetzt, oder sich in einer fremden Sprache ausdrückt, ist es sehr wichtig, dass man die entsprechenden Textbildungsmuster der betreffenden Sprache kennt (z.B. Form eines Geschäftbriefs, eines Vorworts, eines Medikamentenbeipackzettels, einer Dankesrede, einer Präsentation usw. usw.). Dazu muss man entweder entsprechende Anleitungen (z.B. Briefsteller) benutzen oder von kompetenten Muttersprachlern abgefasste Texte der entsprechenden Textsorte studieren.

Folgende unvollständige Typologie gibt eine Vorstellung von der Vielfalt der Textsorten (eine Bibliographie von 1995 enthält eine Liste von fast 4000 verschiedenen Textsortenbezeichnungen!):

  1. Informative Texte: dienen primär der Vermittlung von Nachrichten, Wissen, Meinungen, Tatsachen  u.ä.
    1. Wissenschaftliche Texte
      1. akademisch wissenschaftliche Texte: Kommunikation zwischen Wissenschaftlern
        • wissenschaftliche Monographie
        • wissenschaftlicher Artikel
        • Forschungsbericht
        • Lexikoneintrag
        • Abstract
        • Diskussionsbeitrag
        • mündliches Referat
        • usw.
      2. fachpraktische Texte: Kommunikation zwischen Fachpraktikern
        • Börsenbericht
        • Protokoll
        • Reparaturhandbuch
        • Packliste
        • Prüfzertifikat
        • Diskussionsbeitrag
        • Werkstattgespräch
        • Unterrichtsgespräch
        • usw.
      3. populärwissenschaftlicher Texte: Kommunikation von Wissenschaftlern und Fachpraktikern mit Laien
        • Packungsbeilage für Medikamente
        • Bedienungsanleitung
        • Speisekarte
        • Aktienmarktanalyse für Bankkunden
        • Artikel in Publikumszeitschrift
        • Verkaufsgespräch
        • Einstellungsgespräch
        • usw.
    2. nicht-wissenschaftliche Texte
      1. Zeitungstexte
        • Nachricht
        • Kommentar
        • Artikel
        • Feuilletontext
        • Reportage
        • usw.
      2. amtliche Texte
        • Ausschreibung
        • Vertrag
        • Versicherungspolice
        • Studienordnung
        • Eheurkunde
        • Zeugnis
        • Garantiererklärung
        • Gerichtsurteil
        • Zollbestimmungen
        • usw.
  2. expressive Texte: dienen primär der Vermittlung von künstlerisch gestalteten Inhalten
    1. Lyrik
    2. Dichterische Prosa
    3. Dramatik
  3. operative Texte: dienen primär der Auslösung von Verhaltensimpulsen

[Vorlage der Liste: Kautz, Ulrich: Handbuch Didaktik des Übersetzens und Dolmetschens. -- München : iudicium, ©2000. -- ISBN 3891294492. -- S. 76 - 79. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Die verschiedenen Textsorten überlappen sich, wie im folgenden Diagramm von Katharina Reiß schön gezeigt wird:

Abb.: Textsorten

[Quelle der Abb.: Reiss, Katharina: Texttyp und Übersetzungsmethode : der operative Text. -- 3., unveränderte Aufl. -- Heidelberg : Gross, ©1993. -- ISBN 3872765094. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


Zu Kapitel 4: Nonverbale Kommunikation