Internationale Kommunikationskulturen

8. Kulturelle Faktoren: Bürokratie und Korruption

Teil I: Bürokratie


von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Internationale Kommunikationskulturen. -- 8. Kulturelle Faktoren: Bürokratie und Korruption. -- 1. Teil I: Bürokratie. -- Fassung vom 2001-03-05. -- URL: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur081.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2001-03-05

Überarbeitungen:

Anlass: Lehrveranstaltung, HBI Stuttgart, 2000/2001

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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0. Übersicht



1. Einleitung



Abb.: F. Tersch: Bureaukratie. -- Titelbild zu: Olszewski, Józef.: Bureaukratie. -- Würzburg : Stubers, 1904

Die Begriffe Bürokrat, bürokratisch und Bürokratie haben einen ehrenrührigen Unterton, obwohl -- wie der Soziologe Max Weber (1864 - 1920) immer wieder betonte, Bürokratie einen großen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit darstellt.

Der österreichische Wirtschaftsliberale Ludwig von Mises (1881 - 1973), der jede Wirtschaftsbürokratie bekämpfte, betonte 1944( im amerikanischen Exil) die hohe Bedeutung von -- maßvoller - Bürokratie für eine Demokratie:

"Demokratie bedeutet die Herrschaft des Gesetzes. Andernfalls wären die Amtsinhaber unverantwortliche und willkürliche Despoten und die Richter unbeständige und launische Kadis. Die zwei Säulen des demokratischen Staates sind der Vorrang des Gesetzes und der Haushalt. 

Abb.: Aus Ostelbien

Amtsrichter: "Sie können versichert sein, Her Graf, es war mir selber peinlich genug. Aber der Mann war infolge Ihrer Verletzung drei Monate arbeitsunfähig, nach dem Gesetz musst' ich Sie da verurteilen."
Graf: "Ja, lieber Amtsrichter, wenn Sie sich vom Gesetz beeinflussen lassen!"

[Quelle der Abb.: Paul, Bruno: Aus Ostelbien. -- In: Simplizissimus. -- 1901]

Vorrang des Gesetzes bedeutet, dass kein Richter oder Amtsinhaber das Recht hat, in individuelle Angelegenheiten und Lebensumstände einzugreifen, wenn nicht ein Gesetz dies von ihm verlangt oder ihn dazu ermächtigt. Nulla poena sine lege, keine Strafe, wenn sie nicht vom Gesetz gefordert wird. Gerade ihre Unfähigkeit, die Wichtigkeit dieses grundlegenden Prinzips zu erkennen, weist die Nazis als undemokratisch aus. lm totalitären System Hitler-Deutschlands muss der Richter seine Entscheidung gemäß dem »gesunden Volksempfinden« treffen. Da der Richter selbst entscheiden kann, welche die gesunden Empfindungen des Volks sind, ist er auf seiner Richterbank so souverän wie der Häuptling eines primitiven Stamms.

Es ist in der Tat eine missliche Angelegenheit, wenn ein Schurke seiner Bestrafung entgeht, weil ein Gesetz unvollkommen ist. Aber verglichen mit richterlicher Willkür ist es das kleinere Übel. Wenn die Gesetzgeber erkennen, dass ein Gesetz unzulänglich ist, können sie es durch ein besseres ersetzen. Sie sind die Stellvertreter des Souveräns, des Volkes. In dieser Eigenschaft herrschen sie und sind sie dem Wähler verantwortlich. Wenn die Wähler die angewendeten Methoden missbilligen, werden sie bei der nächsten Wahl andere wählen, die ihr Handeln besser dem Willen der Mehrheit anpassen.

Das gleiche gilt für die ausführende Gewalt. Auch auf diesem Feld gibt es nur die Alternative zwischen der willkürlichen Herrschaft despotischer Amtsinhaber und der Herrschaft des Volks, die durch Gesetzestreue erzwungen wird. Nur beschönigend kann ein Staat, in dem die Herrscher nach belieben alles tun können, was nach ihrer Meinung dem Gemeinwohl am dienlichsten ist, ein Wohlfahrtsstaat genannt und mit einem Staat verglichen werden, in dem die Verwaltung an das Gesetz gebunden ist und die Bürger vor Gericht ihre Rechte gegen illegale Eingriffe der Behörden durchsetzen können. Dieser sogenannte Wohlfahrtsstaat ist vielmehr die Tyrannei der Herrschenden. (Nebenbei müssen wir uns klarmachen, dass sogar ein despotischer Staat nicht ohne Vorschriften und bürokratische Anweisungen auskommen kann, soll er nicht zu einem chaotischen System von Kleinherrschern verkommen und in eine Vielzahl unbedeutender Despotien zerfallen.) Öffentliche Wohlfahrt ist auch das Ziel des Verfassungsstaates. Das charakteristische Merkmal, das ihn vom Despotismus unterscheidet, ist, dass nicht die Behörden, sondern die ordnungsgemäß gewählten Volksvertreter entscheiden müssen, was am besten für das Gemeinwohl ist. Nur dieses System macht das Volk souverän und sichert sein Recht auf Selbstbestimmung. In diesem System sind die Bürger nicht nur am Wahltag, sondern auch zwischen den Wahlen souverän.

Die Verwaltung einer demokratischen Gemeinschaft ist nicht nur an das Gesetz gebunden, sondern auch an den Haushalt. Demokratische Kontrolle ist Haushaltskontrolle. Die Volksvertreter haben die Schlüssel zum Staatsschatz. Kein Pfennig darf ohne die Zustimmung des Parlaments ausgegeben werden. Es ist illegal, öffentliche Mittel für andere als die vom Parlament angewiesenen Ausgaben zu verwenden.

Bürokratisches Wirtschaften bedeutet in einer Demokratie Wirtschaften in strikter Übereinstimmung mit dem Gesetz und dem Haushaltsplan. Es ist nicht die Aufgabe des Verwaltungspersonals oder der Richter, zu erforschen, was für die öffentliche Wohlfahrt getan werden sollte und wie die öffentlichen Mittel verwendet werden sollten. Das ist die Aufgabe des Souveräns - des Volkes und seiner Vertreter. Die Gerichte, die verschiedenen Zweige der Verwaltung, die Armee und die Marine führen aus, was ihnen das Gesetz und der Haushalt vorgeben. Nicht sie, sondern der Souverän macht die Politik. ...

Bürokratie an sich [ist] weder gut noch schlecht. Sie ist eine Methode des Wirtschaftens, die in verschiedenen Bereichen menschlichen Handelns verwendet werden kann. Es gibt einen Bereich -- den der Handhabung des Staatsapparates -- in dem bürokratische Methoden unerlässlich sind. Was viele Leute heute für ein Übel halten ist nicht die Bürokratie als solche, sondern die Ausweitung des Bereiches, in dem bürokratisch gewirtschaftet wird. Diese Ausweitung ist eine unvermeidbare Konsequenz der fortschreitenden Freiheitsbeschränkung des einzelnen Bürgers, des anhaltenden Trends heutiger Wirtschafts- und Sozialpolitik hin zum Austausch der Eigeninitiative gegen staatliche Kontrolle. Die Menschen machen die Demokratie verantwortlich, aber was sie wirklich meinen, sind die Bemühungen, den Staat sozialistisch und totalitär zu machen."

[Mises, Ludwig von <1881 - 1973>: Die Bürokratie. -- Sankt Augustin : Academia, ©1997. -- (Klassiker der Freiheit ; Bd. 3). -- ISBN 3896650262. -- Originaltitel: Bureaucracy (1944). -- S. 56 - 58. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Ganz anders der reaktionäre Soziologe Alfred Vierkandt, der 1931 ganz im Sinne des nationalsozialistischen Zeitgeistes Bürokratie als "Feind des persönlichen Lebens" darstellte:

"Kapitalismus, Imperialismus, Bürokratie und Parlamentarismus sind zu Mächten geworden, die uns über den Kopf gewachsen sind: wir sind nicht mehr ihre Herren, sondern ihre Sklaven. ...

Wir betrachten jetzt eine Reihe von einzelnen Seiten des Sachverhaltes. 1. Die Bürokratie kann man auffassen als Herrschaft der Sachlichkeit im öffentlichen Leben, genauer in der Verwaltung. Verwaltung und Behörde erscheinen hier als Selbstzweck: sie kennen kein anderes Ziel als Korrektheit, unbekümmert um die Folgen im Einzelfall und zum Teil selbst im Ganzen. Die alten Behörden in kleinen Gemeinden mit ihrem patriarchalischen Charakter waren eingefügt in den Zusammenhang des Gesamtlebens. Der heutige Mechanismus folgt nur seiner Eigengesetzlichkeit: er ist gleichgültig gegen die Einzelperson, indem er nur die gestaltlose Masse des Publikums kennt; er ist darüber hinaus bedroht von der Gefahr der Verknöcherung, von der Herrschaft des Schematismus und der Pedanterie, die ohne Rücksicht auch auf schädliche Wirkungen ihrer Natur folgen. Bürokratismus und Kapitalismus sind die beiden modernen großen Feinde des persönlichen Lebens), beide als Auswirkungen des modernen Rationalismus von derselben zwiespältigen Wirksamkeit:"

[Vierkandt, Alfred: Kultur des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart. -- In: Handwörterbuch der Soziologie / hrsg. von Alfred Vierkandt. -- Stuttgart : Enke, ©1931. -- S. 154]


2. Max Webers Definition von Bürokratie



Abb.: Max Weber (1864 - 1920), um 1918

Die grundlegenden Ausführungen zu Bürokratie stammen vom Soziologen Max Weber (1864 - 1920). Deshalb sei die wichtigste Stelle hier im vollen Wortlaut wiedergegeben. In seinem unvollendeten Hauptwerk

Weber, Max <1864 - 1920>: Wirtschaft und Gesellschaft : Grundriss der verstehenden Soziologie. -- Tübingen : Mohr, 1922. -- Enthalten in: Max Weber im Kontext : gesammelte Schriften, Aufsätze und Vorträge. -- Berlin : Worm, 1999.. -- 1 CD-ROM. -- ISBN 39320943069. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}

schreibt er auf S. 650ff.:

"Die spezifische Funktionsweise des modernen Beamtentums drückt sich in folgendem aus:

  1. Es besteht das Prinzip der festen, durch Regeln, Gesetze oder Verwaltungsreglements generell geordneten behördlichen Kompetenzen, d.h.:
    1. Es besteht eine feste Verteilung der für die Zwecke des bürokratisch beherrschten Gebildes erforderlichen, regelmäßigen Tätigkeiten als amtlicher Pflichten;
    2. Die für die Erfüllung dieser Pflichten erforderlichen Befehlsgewalten sind ebenfalls fest verteilt und in den ihnen etwa zugewiesenen (physischen oder sakralen oder sonstigen) Zwangsmitteln durch Regeln fest begrenzt;
    3. Für die regelmäßige und kontinuierliche Erfüllung der so verteilten Pflichten und die Ausübung der entsprechenden Rechte ist planmäßige Vorsorge getroffen durch Anstellung von Personen mit einer generell geregelten Qualifikation. 

      Diese drei Momente konstituieren in der öffentlichrechtlichen Herrschaft den Bestand einer bürokratischen »Behörde«, in den privatwirtschaftlichen den eines bürokratischen »Betriebes«. In diesem Sinn ist diese Institution in den politischen und kirchlichen Gemeinschaften erst im modernen Staat, in der Privatwirtschaft erst in den fortgeschrittensten Gebilden des Kapitalismus voll entwickelt. Kontinuierliche Behörden mit fester Kompetenz sind auch in so umfangreichen politischen Bildungen wie denen des alten Orients, ebenso in den germanischen und mongolischen Eroberungsreichen und in vielen feudalen Staatsbildungen nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Gerade die wichtigsten Maßregeln vollzieht der Herrscher dort durch persönliche Vertraute, Tischgenossen oder Hofbedienstete mit für den Einzelfall zeitweilig geschaffenen und nicht fest begrenzten Aufträgen und Befugnissen.

  2. Es besteht das Prinzip der Amtshierarchie und des Instanzenzuges, d.h. ein fest geordnetes System von Über- und Unterordnung der Behörden unter Beaufsichtigung der unteren durch die oberen, - ein System, welches zugleich dem Beherrschten die fest geregelte Möglichkeit bietet, von einer unteren Behörde an deren Oberinstanz zu appellieren. Bei voller Entwicklung des Typus ist diese Amtshierarchie monokratisch geordnet. Das Prinzip des hierarchischen Instanzenzuges findet sich ganz ebenso wie bei staatlichen und kirchlichen auch bei allen anderen bürokratischen Gebilden, etwa großen Parteiorganisationen und privaten Großbetrieben, gleichviel ob man deren private Instanzen auch »Behörden« nennen will. Bei voller Durchführung des »Kompetenz«prinzips ist aber, wenigstens in den öffentlichen Ämtern, die hierarchische Unterordnung nicht gleichbedeutend mit der Befugnis der »oberen« Instanz, die Geschäfte der »unteren« einfach an sich zu ziehen. Das Gegenteil bildet die Regel und daher ist im Fall der Erledigung eines einmal eingesetzten Amts dessen Wiederbesetzung unverbrüchlich. 
  3. Die moderne Amtsführung beruht auf Schriftstücken (Akten), welche in Urschrift oder Konzept aufbewahrt werden, und auf einem Stab von Subalternbeamten und Schreibern aller Art. Die Gesamtheit der bei einer Behörde tätigen Beamten mit dem entsprechenden Sachgüter- und Aktenapparat bildet ein »Büro« (in Privatbetrieben oft »Kontor« genannt). Die moderne Behördenorganisation trennt grundsätzlich das Büro von der Privatbehausung. Denn sie scheidet überhaupt die Amtstätigkeit als gesonderten Bezirk von der privaten Lebenssphäre, die amtlichen Gelder und Mittel von dem Privatbesitz des Beamten. Dies ist ein Zustand, der überall erst Produkt einer langen Entwicklung ist. Heute findet es sich ganz ebenso in öffentlichen wie privatwirtschaftlichen Betrieben, und zwar erstreckt er sich in diesen auch auf den leitenden Unternehmer selbst. Kontor und Haushalt, geschäftliche und Privatkorrespondenz, Geschäftsvermögen und Privatvermögen sind, je folgerechter der moderne Typus der Geschäftsgebarung durchgeführt ist - die Ansätze finden sich schon im Mittelalter - prinzipiell geschieden. Man kann ganz ebenso als die Besonderheit des modernen Unternehmers hinstellen: dass er sich als »ersten Beamten« seines Betriebes geriere, wie der Beherrscher eines spezifisch bürokratischen modernen Staates sich als dessen »ersten Diener« bezeichnete. Die Vorstellung, dass staatliche Bürotätigkeit und privatwirtschaftliche Kontortätigkeit etwas innerlich wesensverschiedenes seien, ist europäisch-kontinental und den Amerikanern im Gegensatz zu uns gänzlich fremd. 
  4. Die Amtstätigkeit, mindestens alle spezialisierte Amtstätigkeit - und diese ist das spezifisch Moderne - setzt normalerweise eine eingehende Fachschulung voraus. Auch dies gilt zunehmend vom modernen Leiter und Angestellten eines privatwirtschaftlichen Betriebs ganz ebenso wie von den staatlichen Beamten. 
  5. Beim vollentwickelten Amt nimmt die amtliche Tätigkeit die gesamte Arbeitskraft des Beamten in Anspruch, unbeschadet des Umstandes, dass das Maß seiner pflichtmäßigen Arbeitszeit auf dem Büro fest begrenzt sein kann. Dies ist als Normalfall ebenfalls erst Produkt einer langen Entwicklung im öffentlichen wie privatwirtschaftlichen Amt. Das Normale war früher in allen Fällen umgekehrt die »nebenamtliche« Erledigung der Geschäfte.
  6. Die Amtsführung der Beamten erfolgt nach generellen, mehr oder minder festen und mehr oder minder erschöpfenden, erlernbaren Regeln. Die Kenntnis dieser Regeln stellt daher eine besondere Kunstlehre dar (je nachdem: Rechtskunde, Verwaltungslehre, Kontorwissenschaft), in deren Besitz die Beamten sich befinden. 

    Die Regelgebundenheit der modernen Amtsführung ist so sehr in ihrem Wesen begründet, dass die moderne wissenschaftliche Theorie z.B. annimmt: eine gesetzlich einer Behörde eingeräumte Befugnis zur Ordnung bestimmter Materien durch Verordnung berechtige diese nicht zur Regelung durch Einzelbefehle von Fall zu Fall, sondern nur zur abstrakten Regelung, - der äußerste Gegensatz gegen die, wie wir sehen werden, z.B. für den Patrimonialismus schlechthin beherrschende Art der Regelung aller nicht durch heilige Tradition festgelegten Beziehungen durch individuelle Privilegien und Gnadenverleihungen."

3. Bürokratie in Unternehmen der Privatwirtschaft


Bürokratie ist kein Spezifikum der öffentlichen Verwaltung. Ab einer bestimmten Größe wird die Verwaltung aller Unternehmen mehr oder wenig bürokratisch. Das können auch die schönsten Managementtheorie nicht verhindern. Deswegen bringt auch die Privatisierung von gut geführten staatlichen Großunternehmen meist gar nichts (siehe Die Deutsche Bahn AG). Deswegen sind in der Kommunikation mit und innerhalb von Großunternehmen die gleichen Probleme gegeben wie in großen öffentlichen Verwaltungen.

Abb.: Bürokratische Verwaltung eines Weltkonzerns: Konzernhauptverwaltungen von Daimler-Chrysler (Photos: Daimler-Chrysler) 

"Während der Hochindustrialisierung, vor allem im Zeitraum zwischen 1890 und 1910, vollzog sich der große Wandel im Bürosektor der Industrie. Waren die Angestellten bislang eine exklusive Minderheit, so verzeichneten insbesondere die expandierenden Großunternehmen nun einen sprunghaft wachsenden Angestelltenanteil. Noch 1860 kam beispielsweise die Verwaltung der Mechanischen Baumwollspinnerei und Weberei in Augsburg bei über 1000 Arbeitern mit einer Verwaltung aus, die neben dem kaufmännischen und dem technischen Direktor nur aus einem Kontrolleur, einem Buchhalter und vier Hilfskräften ohne Vorbildung bestand. Selbst der innovative Maschinenbau hatte lange Zeit einen recht niedrigen Angestelltenbedarf; so beschäftigte die Carl Reichenbach'sche Maschinenfabrik 1852 bei 175 Betriebsangehörigen 10 und die Cramer-Klett'sche Maschinenfabrik im gleichen Jahr bei insgesamt 500 Arbeitnehmern 22 Beamte. Bis 1891 wuchs die Zahl der Angestellten in dem Nürnberger Unternehmen allmählich auf ungefähr 140, um dann aber in einem Zeitraum von 11 Jahren auf 570 und bis 1913 auf 1040 emporzuschnellen; im Vorkriegsjahr entfiel damit bereits über 1/5 der Gesamtbelegschaft auf das angestellte Personal. Ähnlich rapide vollzog sich die Zunahme der Angestellten bei der Elektrizitäts-Aktiengesellschaft, vormals Schuckert und Co., in Nürnberg. Schon 1898 waren hierin den 26 Büros der technischen Abteilung 444 Beamte und in den 14 Büros der kaufmännischen und administrativen Abteilung 210 Beamte tätig. Hinzu kamen in den Werkstätten 25 Werkführer, 30 Meister sowie ein Betriebsoberingenieur mit einem Stab von sechs Betriebsassistenten.

Der Trend zum Großbetrieb mit seinen steigenden Organisations- und Verwaltungsaufgaben, aber auch die Verwissenschaftlichung der Produktion und die Kommerzialisierung der Unternehmenspolitik ließen die Industrieverwaltungen zu umfangreichen Apparaten anschwellen, deren Arbeitsweise nun zunehmend durch bürokratische Verfahren und ökonomische Rationalitätskriterien bestimmt wurde. Anstelle patriarchalisch gefärbter Ordnungen traten formalisierte, vielfältig untergliederte und streng hierarchische Großorganisationen, die zur Bestandssicherung schriftlich fixierter Regeln bedurften. Büroreglements, Instruktionen und Stellenbeschreibungen legten die Kompetenzen der einzelnen Abteilungen und Unterabteilungen fest, bestimmten den genauen Dienstweg und schematisierten weite Teile des Routinehandelns, so dass die Industrieverwaltungen mehr und mehr staatlichen Bürokratien glichen. 

Mit dem Erfordernis, das Betriebsgeschehen kalkulatorisch zu durchdringen, exakte Zeit- und Materialpläne zu erstellen und die Geschäftsverbindungen systematisch zu pflegen, gewann gleichzeitig ein weiteres bürokratisches Prinzip, nämlich der Grundsatz der Schriftlichkeit und Aktenmäßigkeit aller Geschäftsvorgänge, immer größere Bedeutung. Die damit verbundenen Aufgaben waren außerordentlich und konnten nur bei strenger Normierung bewältigt werden. Zahlreiche Büroordnungen enthielten deshalb detaillierte Vorgaben für die Erstellung und Aufbewahrung von Konstruktions- und Werkstattzeichnungen, von Stücklisten, Fabrikationskarten, Materialtabellen und Bestellzetteln, für die Führung von Auftragsbüchern, Ausgangs-Journalen und Bestellbüchern sowie für die Verteilung, Registrierung und karteimäßige Ablage der Geschäftskorrespondenz. 

Bemerkenswerterweise zielten diese Regelungen dabei nicht allein auf die lückenlose Aufzeichnung und Archivierung der betriebsrelevanten Daten, sondern verbanden sich gleichzeitig mit der Absicht, die hierarchische Verteilung des Betriebswissens zu sichern. In diesem Sinne sah beispielsweise die 1908 erlassene BureauOrdnung der Felten u. Guilleaume-Lahmeyerwerke AG in Nürnberg folgende Bestimmungen vor:

Die bürokratischen Ordnungsprinzipien bezweckten offenbar beides: sowohl die erhöhte Effizienz, als auch die verstärkte Kontrolle des Verwaltungshandelns; Alfred Krupp [1812 - 1887] hatte dieses Ziel 1874 so formuliert: 

»Was ich erstreben will, ist, dass nichts abhängig sein soll von dem Leben oder Dasein einer bestimmten Person, dass mit derselben kein Wissen und keine Funktion entweiche, dass nichts geschehe, nichts geschehen sei (von eingreifender Bedeutung), das nicht im Zentrum der Prokura bekannt sei oder mit Vorwissen und Genehmigung derselben geschehe, dass man die Vergangenheit der Fabrik sowie die wahrscheinliche Zukunft derselben im Büro der Hauptverwaltung studieren und übersehen kann, ohne einen Sterblichen zu fragen.«

Die Wandlungsvorgänge im Bürosektor erschöpften sich allerdings nicht in den skizzierten Bürokratisierungstendenzen; ebenso auffällig war, dass die Industrieverwaltungen nun einem Rationalisierungsprozess unterzogen wurden, in dessen Verlauf allmählich manufaktur- und fabrikmäßige Arbeitsformen in das Büro eindrangen. Wegen ihres massenhaften Anfalls konnten routinehafte Operationen, vor allem Schreib- und Zeichenarbeiten, von komplexen Tätigkeiten abgespalten und an einen Kreis von Hilfskräften als deren ausschließliche Aufgabe delegiert werden. Aus dem gleichen Grund boten sich für die Technisierung der Büroarbeit immer vielfältigere Möglichkeiten, die von der entstehenden Büromaschinenindustrie rasch aufgegriffen wurden."

[Engelhardt, Thomas: Die Privatbeamten. -- In: Leben und arbeiten im Industriezeitalter : eine Ausstellung zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns seit 1850 / Germanisches Nationalmuseum. -- Stuttgart : Theiss, ©1985. -- (Kataloge des Germanischen Nationalmuseums). -- ISBN 3-8062-0443-8. -- S. 320f.]


4. Entartungen der Bürokratie



Abb.: Apparatschiks

[Karikatur von Henri Gustave Jossot <1866 - 1951>. -- In: Asiette au Beurre. -- Heft 59. -- 1902-05-17. -- Bildquelle: Bilderwelten II : satirische Illustrationen im Frankreich der Jahrhundertwende. -- Dortmund : Museum für Kunst- und Kulturgeschichte, 1986. -- ISBN 3.924302-17-0. -- S. 162]

Bürokratie als solche ist weder gut noch böse. Sie birgt allerdings -- wie jede Organisationsform -- die Gefahr von Entartungen. Im Folgenden werden einige der wichtigsten Entartungen genannt.


4.1. Amtssprache


"Auf die Prosa eines Beamten

A:
Welch ein Gedankendrang in den Perioden! ein wahrer
Stilus infarctus, von dem Quintilian nichts gewusst! [Quintilian = römischer Redner, 30 - 96 n. Chr., Verfasser der Institutio oratoria]

B:
Ganz wurstartig, auf Ehre! Die Schrift ist ein einzig farcimen [Wurst],
Und der Zipfel, er guckt hinten und vorne heraus."

[Mörike, Eduard <1804-1875>: Gedichte. -- Stuttgart : Göschen, 1867. --  In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- ( Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 129660. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}]

Ein Mittel, bürokratisches Herrschaft durch (Schein-)Herrschaftswissen abzusichern, ist Bürokratensprache.

Ludwig Börne (1786-1837) schildert das in den Aphorismen und Miszellen, die er für die erste Ausgabe seiner Gesammelten Schriften (Hamburg : Hoffmann und Campe, 1828/32) zusammengestellt hat:

"Caligula hatte seine Gesetze hoch aufhängen lassen, damit sie die Bürger nicht lesen können, damit sie sie übertreten und so in Strafe verfallen. Hätte Caligula hier und dort in Deutschland regiert, wäre diese seine Tücke ganz unnötig gewesen. Denn manche Verordnungen, im üblichen Kanzleistile abgefasst, sind nicht allein unverständlich, sondern oft auch unleserlich, weil auf dem langen holperigen Wege die Augen den Atem verlieren, ehe sie zu einem Punktum kommen, und nachdem sie sich etwas ausgeruhet, seufzend wieder umkehren. 

Ein lustiges Beispiel, das hierher gehört: ein gewisser Beamter eines gewissen Staats, in einem gewissen Lande, das in einem gewissen Weltteile liegt (so lernt man endlich Bescheidenheit!) hatte vor einigen Jahren eine Verfügung erlassen, mit dem schnackischen Anfange: Da die den das (nämlich: Da die den das sechzigste Lebensjahr erreicht habenden Rat N.N. betroffen habende Augenkrankheit sich verschlimmert hat). Diese Sprachverschönerung erregte damals die Bewunderung des ganzen Landes. Es war vorauszusehen, dass mancher Geschäftsmann sich im stillen nach einem solchen Muster zu bilden versuchen würde, und die Erwartung ward nicht getäuscht. Vor wenigen Wochen kam wirklich ein Amtsbericht ein mit den Anfangsworten: Die des dem (nämlich: Die des dem Bärenwirt zugefügten Diebstahls verdächtigen Juden sind nunmehr in Polizeiarrest). Die Behörde aber, an die der Bericht eingesendet war, nahm das Ding übel auf und bedeutete dem Berichterstatter: es sei ebenso ungeeignet, dergleichen Muster nachzuahmen, als sie zu verspotten. Diesem blieb zu seiner Entschuldigung nichts anderes übrig, als der Wahrheit gemäß zu erklären: er habe gar nicht die Absicht gehabt, ironisch zu sein, sondern es sei ihm mit dem die des dem völliger Ernst gewesen."

[Börne, Ludwig <1786-1837>: Aphorismen und Miszellen, Aphorismus Nr. 175. --  In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- ( Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 11975. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 


4.2. Amtsgeheimnis


"Herr von Hornthal hat in der bayerischen Kammer der Abgeordneten den Antrag gemacht, dass man die bestehenden strengen Verordnungen über die pflichtmäßige Verschwiegenheit der Beamten, als unvereinbar mit einer konstitutionellen Regierung, aufheben oder lindern möchte. Das ist ein Wort zu seiner Zeit, aber freilich nur ein Wort, und zu einer langen Rede wäre Stoff genug vorhanden. Wenn irgend eine Regierung geheimnisvoll verfährt, so ist dies das Traurigste nicht -- das Traurigste wäre, wenn sie das Bedürfnis fühlte, so zu verfahren. Wenn bestehende und bekannte Gesetze in gegebenen Fällen nach voraus bestimmten Regeln angewendet werden, wozu täte dann Verschwiegenheit der Beamten not? Sollte man nicht vielmehr jede Gelegenheit benutzen, den Bürgern, die sich selten auf den theoretischen Wert der Gesetze verstehen, bei deren Ausübung zu zeigen, wie nützlich sie sind? Wozu jener Hokuspokus und aller sonstiger Schnickschnack, dem man in dem Treiben der Beamten so oft begegnet? Ernst soll der Gesetzgeber, streng der Richter, aber der Verwaltungsbeamte kann nicht heiter, nicht freundlich, nicht zutraulich, nicht offen genug sein. Man muss denjenigen Teil der Regierung, der heilkünstlerisch verfährt und die Schärfe des wundärztlichen Messers wie die Bitterkeit der Arzneien nicht erlassen kann, von demjenigen unterscheiden, der die Lebensordnung der Bürger regelt und sich nur der Hausmittel bedient. Aber in einer deutschen Amtsstube riecht alles nach der Apotheke. Tritt man hinein, so geschieht von zweien Dingen eins. Entweder man ist unerfahren, und dann fühlt man sich das Herz wie zugeschnürt über diese ängstliche Stille, diese Grämlichkeit der Beamten und ihr geisterartig hohles und gefühlloses Reden. Oder man kennt die Welt, und dann lächelt man nur allzu viel, weil man nur allzu gut weiß, dass diese finstern Götter so unerbittlich nicht sind. In dem einen Falle geht die Liebe, in dem andern die Achtung verloren."

[Börne, Ludwig <1786-1837>: Aphorismen und Miszellen, Aphorismus Nr. 41. --  In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- ( Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 11875 ff. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 


4.3. Pflicht statt Verantwortung


" »Pflicht! Du Polarstern des Beamten, du Ankergrund der Diensttreue, stärke mich jetzt! Ein Mann, der mit blutendem Herzen tut, was ihm obliegt, ist ein Schauspiel für Götter. In diesem Zimmer hört der Mensch auf; es kennt nur den Diener des Staats.«

[Immermann, Karl <1796-1840>: Die Epigonen. -- Düsseldorf : Schaub, 1836. --  In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- ( Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 96133f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 

"Der Regierrat Jenner sah unter den Beamten lauter krumme Rücken - krumme Wege - krumme Finger - krumme Seelen. -- »Aber krumm ist ein Bogen, und der Bogen ist ein Sektor vom Zirkel, diesem Sinnbild aller Vollendung«, sagte der Konsistorialbote Viktor. Allein Jenner ärgerte sich am meisten darüber, dass ihn die Beamten so sehr verehrten, da er sich doch nur für einen Regier-Rat ausgab und für keinen Regenten. -- Viktor versetzte: »Der Mensch kennt nur zwei Nächsten, der Nächste zu seinem Kopf ist sein Herr, der zu seinem Fuße sein Sklave - was über beide hinausliegt, ist ihm Gott oder Vieh.«"

[Jean Paul <1763-1825>: Hesperus. -- Berlin, 1795. --  In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- ( Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 98943. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 


4.4. Kleinkrämerei


"Aber kann denn überhaupt ein Beamter, selbst wenn er aussteigen und mit der Sache sich befassen wollte, nach dem, was der Vater, der arme, müde, gealterte Mann, ihm vormurmelt, sich ein Bild von der Sache machen? Die Beamten sind sehr gebildet, aber doch nur einseitig, in seinem Fach durchschaut ein Beamter auf ein Wort hin gleich ganze Gedankenreihen, aber Dinge aus einer anderen Abteilung kann man ihm stundenlang erklären, er wird vielleicht höflich nicken, aber kein Wort verstehen. Das ist ja alles selbstverständlich; man suche doch nur selbst die kleinen amtlichen Angelegenheiten, die einen selbst betreffen, winziges Zeug, das ein Beamter mit einem Achselzucken erledigt, man suche nur dieses bis auf den Grund zu verstehen, und man wird ein ganzes Leben zu tun haben und nicht zu Ende kommen. Aber wenn der Vater an einen zuständigen Beamten geraten wäre, so kann doch dieser ohne Vorakten nichts erledigen und insbesondere nicht auf der Landstraße, er kann eben nicht verzeihen, sondern nur amtlich erledigen und zu diesem Zweck wieder nur auf den Amtsweg verweisen, aber auf diesem etwas zu erreichen, war ja dem Vater schon völlig misslungen." 

[Kafka, Franz <1883-1924>: Das Schloss. -- München, 1926. --  In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- ( Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 106305f.. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 


4.5. Überregulierung


Die folgende Aussage stammt nicht aus der Deregulierungsdebatte unserer Zeit!

"Die Bürokratie, die den Kleinbürgern Bedürfnis ist, wird aber den Bourgeois sehr bald zur unerträglichen  Fessel. Schon bei der Manufaktur wird die Beamtenüberwachung und Einmischung sehr lästig; die Fabrikindustrie ist kaum möglich unter einer solchen Aufsicht. Die deutschen Fabrikanten haben sich bisher die Bürokratie durch Bestechung möglichst vom Halse gehalten, was ihnen gar nicht zu verdenken ist. Aber dies Mittel befreit sie doch nur von der geringeren Hälfte der Last; abgesehen von der Unmöglichkeit, alle Beamte, mit denen ein Fabrikant in Berührung kommt, zu bestechen, befreit ihn die Bestechung nicht von Sporteln, Honoraren für Juristen, Architekten, Mechaniker und sonstigen durch die Überwachung hervorgerufenen Ausgaben, von Extraarbeiten und Zeitverlust. Und je weiter sich die Industrie entwickelt, desto mehr »pflichttreue Beamte« tauchen auf, d.h. solche, die entweder aus purer Borniertheit oder aus bürokratischem Hass gegen die Bourgeoisie den Fabrikanten die ärgsten Schikanen antun. Die Bourgeoisie ist also genötigt, die Macht dieser übermütigen und schikanensüchtigen Bürokratie zu brechen. Von dem Augenblick an, da die Staatsverwaltung und Gesetzgebung unter die Kontrolle der Bourgeoisie gerät, fällt die Selbständigkeit der Bürokratie zusammen; ja, von diesem Augenblick an ver-
wandeln sich die Plagegeister der Bourgeois in ihre untertänigen Knechte. Die bisherigen Reglements und Reskripte, die nur dazu dienten, den Beamten die Arbeit auf Unkosten der industriellen Bourgeois zu erleichtern, machen neuen Reglements Platz, wodurch den Industriellen die Arbeit auf Unkosten der Beamten erleichtert wird.

Die Unterordnung der Douane und der Bürokratie unter das Interesse der industriellen Bourgeoisie sind die beiden Maßregeln, an deren Durchsetzung die Bourgeoisie am direktesten beteiligt ist. Damit aber sind ihre Bedürfnisse noch lange nicht erschöpft. Sie ist genötigt, das ganze Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Justizsystem fast aller deutschen Länder einer 
durchgreifenden Revision zu unterwerfen, denn dies ganze System dient der Erhaltung und Stützung eines gesellschaftlichen Zustandes, an dessen Umwälzung die Bourgeoisie fortwährend arbeitet."

[Engels, Friedrich  : Der Status Quo in Deutschland. -- Entstanden 1847, erstmals veröffentlicht 1933. -- In Marx, Engels: Ausgewählte Werke. -- Berlin : Directmedia, 1998 -- 1 CD-ROM. -- ( Digitale Bibliothek ; Band 11). -- ISBN 3932544153. -- S. 53f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 


4.6. Vergessen des Zwecks


Was Karl Marx als Merkmal jeder Bürokratie missversteht, ist tatsächlich eine große Gefahr von Bürokratie: die Verselbständigung zum Selbstzweck:

"Die Bürokratie gilt sich selbst als der letzte Endzweck des Staats. Da die Bürokratie ihre »formellen« Zwecke zu ihrem Inhalt macht, so gerät sie  überall in Konflikt mit den »reellen« Zwecken. Sie ist daher genötigt, das Formelle für den Inhalt und den 
Inhalt für das Formelle auszugeben. Die Staatszwecke verwandeln sich in Bürozwecke oder die Bürozwecke in Staatszwecke. Die Bürokratie ist ein Kreis, aus dem niemand herausspringen kann. Ihre Hierarchie ist eine Hierarchie des Wissens. Die Spitze vertraut den untern Kreisen die Einsicht ins Einzelne zu, wogegen die untern Kreise der Spitze die Einsicht in das Allgemeine zutrauen, und so tauschen sie sich wechselseitig."

[Marx, Karl : Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. -- Entstanden 1844, erstmals veröffentlicht 1927. -- In Marx, Engels: Ausgewählte Werke. -- Berlin : Directmedia, 1998 -- 1 CD-ROM. -- ( Digitale Bibliothek ; Band 11). -- ISBN 3932544153. -- S. 251. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 


4.7. Korruption


siehe Teil 3


5. Rechte gegenüber der Bürokratie: Verwaltungsrecht



Abb.: Honoré-Victorin Daumier <1808 - 1879>: Drei Richter bei der Sitzung, 1862

Wichtig für den Umgang mit Verwaltung sind die Möglichkeiten, sich gegen eine Verwaltungsentscheidung zur Wehr zu setzen. In einem  Rechtsstaat sind diese Möglichkeiten durch das Verwaltungsrecht geregelt. Verwaltungsrecht ist in erster Linie nicht das Recht der Verwaltung, sondern das Recht des Bürgers gegen die Verwaltung

Es gibt dafür grundsätzlich zwei Möglichkeiten:

Es ist unmöglich, hier den Stand des Verwaltungsrechts in verschiedenen Ländern zu behandeln. Deshalb will ich mich auf Deutschland beschränken und so einige verwaltungsrechtliche Denkweisen vorstellen.

Die Zitate im Folgenden stammen aus dem hervorragenden Werk:

Wesel, Uwe <1933 - >: Fast alles, was Recht ist : Jura für Nichtjuristen / Uwe Wesel. - 6. Aufl., aktualisierte Neuausgabe. - Frankfurt am Main : Eichborn, 1999. -- 430 S. -- (Die andere Bibliothek ; Bd. 92). -- ISBN 3821844736. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

Der Standard an Rechten des Bürgers gegenüber der Verwaltung, den wir in Deutschland genießen, ist keinesfalls selbstverständlich. Dies zeigt ein kurzer Blick auf die Geschichte des Verwaltungsrechts in Deutschland.

"Verwaltung hat für das zu sorgen, was man mit den Worten Sicherheit und Ordnung umschreibt. Ganz allgemein wurde das - im Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts Polizei genannt. Die Verwaltung hat dafür zu sorgen, dass man nicht durch Gebäude gefährdet wird, die technische Mängel haben, durch Gewerbetreibende, die unzuverlässig sind, oder durch Kriminelle, die Straftaten begehen. Sicherheit und Ordnung erfordern auch, meinte man, dass alle Bürger jederzeit identifiziert werden können und mit ihrem Wohnsitz genau erfasst sind, also durch das Meldewesen. Die Ausländerbehörden gehörten auch dazu, denn »Ausländer sind es meist, die hier verbreiten den bösen Geist der Rebellion« (Heinrich Heine).

Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen

Wir, Bürgermeister und Senat,
Wir haben folgendes Mandat
Stadtväterlichst an alle Klassen
Der treuen Bürgerschaft erlassen.

»Ausländer, Fremde, sind es meist,
Die unter uns gesät den Geist
Der Rebellion. Dergleichen Sünder,
Gottlob! sind selten Landeskinder.

Auch Gottesleugner sind es meist;
Wer sich von seinem Gotte reißt,
Wird endlich auch abtrünnig werden
Von seinen irdischen Behörden.

Der Obrigkeit gehorchen, ist
Die erste Pflicht für Jud' und Christ.
Es schließe jeder seine Bude,
Sobald es dunkelt, Christ und Jude.

Wo ihrer drei beisammenstehn,
Da soll man auseinandergehn.
Des Nachts soll niemand auf den Gassen
Sich ohne Leuchte sehen lassen.

Es liefre seine Waffen aus
Ein jeder in dem Gildenhaus;
Auch Munition von jeder Sorte
Wird deponiert am selben Orte.

Wer auf der Straße räsoniert,
Wird unverzüglich füsiliert;
Das Räsonieren durch Gebärden
Soll gleichfalls hart bestrafet werden.

Vertrauet eurem Magistrat,
Der fromm und liebend schützt den Staat
Durch huldreich hochwohlweises Walten;
Euch ziemt es, stets das Maul zu halten.«

[Heine, Heinrich <1797-1856>: Vermischte Schriften. --  Hamburg : Hoffmann und Campe, 1854]

Heute unterscheidet man Ordnungsbehörden und Polizei. Sie haben dieselben Aufgaben wie im 19. Jahrhundert: Sicherheit und Ordnung oder, wie man es auch nennt, Gefahrenabwehr. Man hat sie nur aufgeteilt, das Ganze etwas weniger martialisch organisiert. Normalerweise ist die Ordnungsbehörde zuständig, also der Stadtdirektor für das Verbot der Schweinemästerei des Bauern B. Polizei ist nur noch die sogenannte Vollzugspolizei, also Schutzpolizei, Kriminalpolizei, Bereitschaftspolizei. Sie wird nur tätig, wenn es notwendig ist, sofort einzugreifen, zum Beispiel zur Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten. Mit Polizei und Ordnungsbehörden sind wir auf dem klassischen Gebiet der Verwaltung. Diese Verwaltung greift ordnend und regelnd in das gesellschaftliche Leben und oft auch in individuelle Rechte von Bürgern ein, der Stadtdirektor zum Beispiel in Eigentum und Berufsfreiheit des Bauern mit der Schweinemast. Man nennt das Eingriffsverwaltung. Sie erlässt Verwaltungsakte. Lange meinte man, es gäbe nichts anderes.

Dann kam ein Mann, der der Welt die Augen öffnete. Er hieß Ernst Forsthoff [1902 - 1974], war 36 Jahre alt, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht in Königsberg, später in Heidelberg, sehr konservativ und durchaus nicht unbeteiligt an dem, was im Dritten Reich geschehen ist. 1938 hat er ein Buch geschrieben mit dem Titel Die Verwaltung als Leistungsträger.

[Forsthoff, Ernst <1902 - 1974>: Die Verwaltung als Leistungsträger. -- Stuttgart [u.a.]:  Kohlhammer, 1938. -- 50 S.]

Ein kluges Buch, schön geschrieben, in dem ein anderes Gebiet der Verwaltung entdeckt worden ist, die Leistungsverwaltung, für das Ernst Forsthoff ein sehr passendes Wort erfunden hat, das man noch heute gebraucht: Daseinsvorsorge. Daseinsvorsorge ist nicht nur die wirtschaftliche Tätigkeit der Verwaltung für die technischen Grundbedürfnisse der Bürger, also die Versorgung mit Wasser, Gas und Elektrizität, die Müllabfuhr, die öffentlichen Verkehrsmittel, das Telephon, die Post. Zur Daseinsvorsorge gehören auch Kindergärten und Bildungseinrichtungen, Schulen und Hochschulen, die Gesundheitsversorgung, Badeanstalten, Krankenhäuser und Friedhöfe, und schließlich die Organisation sozialer Leistungen, also zum Beispiel von Sozialversicherung, Sozialhilfe und Ausbildungsförderung. Seitdem unterscheidet man 

Ernst Forsthoff hat diese Entdeckung nicht zufällig gemacht. Er war nämlich einer jener Verwaltungsrechtler, deren Vorliebe für eine gut funktionierende Verwaltung verbunden war mit einer starken Abneigung gegen Verwaltungsgerichte. Verwaltungsgerichte, meinte er, sind Störfaktoren. Sie haben es immer nur mit pathologischen Fällen zu tun, die davon ablenken, dass es Tausende anderer Fälle gibt, bei denen alles in Ordnung ist. Anfechtungsklagen beruhen auf Vorstellungen des Liberalismus von individuellen Rechten des Bürgers, die der Staat mit seinen Verwaltungsakten verletzen könne. Jetzt aber hieß es: Du bist nichts, dein Volk ist alles. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde damals sehr kritisch betrachtet und von den Nationalsozialisten in wichtigen Bereichen erheblich eingeschränkt. Sie war ein ärgerliches Hindernis auf dem Weg zum starken Staat, dem sich der einzelne nicht entgegenstellen durfte.

Deshalb hat Ernst Forsthoff die Leistungsverwaltung entdeckt, nach dem Motto: Wo bleibt das Positive, Herr Kästner? Hier konnte er nämlich zeigen, dass die Verwaltung durchaus nicht immer nur -- negativ -- in Rechte von Bürgern eingreift. Hier konnte er zeigen, dass sie -- positiv -- etwas leistet, nämlich Daseinsvorsorge, ohne Verwaltungsakte und Anfechtungsklagen. Das verwaltungsrechtliche Paradies auf Erden, ohne Sünden und ohne Streit. Der Bürger sollte an der Daseinsvorsorge teilhaben. Und genauso sollte es in allen Bereichen der Verwaltung zugehen. »Es dürfte aber aus den vorangestellten Ausführungen klar geworden sein«, schrieb er, »dass es sich hier nicht um Rechtsschutz, sondern um Teilhabe handelt.«

Zunächst ging alles gut. Aber dann kam die Bundesrepublik mit ihrem Grundgesetz und mit dem Prinzip eines umfassenden Rechtsschutzes für den Bürger. Schon war es passiert. In einer seiner ersten Entscheidungen hat das Bundesverwaltungsgericht 1954 verkündet, der Bürger könne vor den Verwaltungsgerichten klagen, wenn ihm die Leistungsverwaltung eine Leistung verweigert. Es war zu allem Überfluss auch noch ein Fürsorgeempfänger, heute sagt man Sozialhilfe, der den Streit vom Zaune gebrochen, geklagt und die Forsthoffsche Verwaltungsidylle zerstört hat." [S. 256 - 258]

»Die unantastbare, von der staatlichen Gewalt zu schützende Würde des Menschen (Artikel 1) verbietet es, ihn lediglich als Gegenstand staatlichen Handelns zu betrachten, soweit es sich um die Sicherung . . . seines Daseins überhaupt handelt. Das folgt auch aus dem Grundrecht der freien Persönlichkeit (Artikel 1 Absatz 1).

Im Rechtsstaat sind die Beziehungen des Bürgers zum Staat grundsätzlich solche des Rechts; daher wird auch das Handeln der öffentlichen Gewalt ihm gegenüber der gerichtlichen Nachprüfung unterworfen (Artikel 19 Absatz 4). Mit dem Gedanken des demokratischen Staates wäre es unvereinbar, dass zahlreiche Bürger, die als Wähler die Staatsgewalt mitgestalten, ihr gleichzeitig hinsichtlich ihrer Existenz ohne eigenes Recht gegenüberständen.«

BVerwGE 1.159

"Die Klage war also zulässig und die Tür geöffnet zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der Leistungsverwaltung. Für den alten Mann in Hannover war es trotzdem kein Erfolg. Denn bei der Frage der Begründetheit kam das Gericht für ihn zu einem negativen Ergebnis. Die mit ihm in der Wohnung lebende Frau könne und müsse die Hälfte der Miete zahlen. Darauf habe er ihr gegenüber einen Anspruch, und deshalb sei er insofern nicht bedürftig. Die Behörde habe richtig entschieden. Die Klage war zwar zulässig, aber unbegründet und wurde abgewiesen.

Ein Sieg für den Rechtsstaat? Letztlich ja, denn seitdem hat es natürlich auch Klagen im Bereich der Leistungsverwaltung gegeben, die begründet waren und Erfolg hatten. Aber so untypisch ist dieses erste Urteil nicht. Bei der Frage der Zulässigkeit sind Verwaltungsgerichte nämlich oft sehr viel großzügiger als bei der Begründetheit. Warum? Ganz einfach. Auf diese Weise erweitern sie ihre eigene Kompetenz. Wenn sie sagen, eine Klage sei zulässig, haben sie die Befugnis, das Handeln der Verwaltung zu überprüfen. Sonst nicht. Sie werden dadurch zu einer Art Oberbehörde von eigenen Gnaden. Für den Bürger bringt das erst einmal gar nichts. Ihm kann es egal sein, ob seine Klage als unzulässig abgewiesen wird oder als unbegründet. Mit der Zulässigkeit verschiebt sich nur die Kompetenz der endgültigen Entscheidung von den Behörden auf die Verwaltungsgerichte, die die eigentlichen Gewinner dieser Machtverschiebung von der zweiten auf die dritte Staatsgewalt sind. Erst in zweiter Linie profitiert davon der Rechtsstaat und der einzelne Bürger." [S. 260]

"Auch hinter der Verpflichtungsklage stehen privatrechtliche Vorstellungen. Hinter ihr steht die Vorstellung vom Anspruch, die im Privatrecht des 19. Jahrhunderts entstanden ist und bedeutet, dass der eine dem anderen etwas schuldet, die Zahlung von Geld, die Lieferung einer Sache, den Bau eines Hauses oder Arbeit im Betrieb. Es war durchaus nicht selbstverständlich, dass dieser Begriff in das Verwaltungsrecht übertragen wurde, denn er setzt voraus, dass es zwei Personen gibt, die im Prinzip gleiche Rechte und Pflichten haben können. Zwei Rechtssubjekte, wie die Juristen sagen. Die Verwaltung wurde lange noch als Teil eines alles umfassenden Staates gesehen, den man natürlich nicht mit dem Bürger auf eine Stufe stellen wollte. Du bist nichts, dein Volk ist alles. Die entscheidende Wende kam mit dem Grundgesetz und seiner Rechtsschutzgarantie in Artikel 19 Absatz 4. Im Verwaltungsrecht war es die Entscheidung von 1954 zur Sozialhilfe, auch wenn sie dem alten Mann in Hannover das gewünschte Ergebnis nicht gebracht hat. Sie brachte etwas anderes. Man nennt es die Subjektivierung im Verhältnis von Staat und Bürger. Beide werden seitdem -- wie im Privatrecht -- als prinzipiell gleichberechtigte Rechtssubjekte angesehen, die gegenseitig Rechte und Pflichten haben können. Die Würde des Menschen und erste Lektionen einer Orthopädie des aufrechten Gangs, sogar im Verwaltungsrecht." [S. 264]

Wichtig für die Beurteilung von Behördenwillkür sind die Begriffe Ermessen und Beurteilungsspielraum:

"Unklarheiten ... gibt es oft im Recht. Sie sind selten vermeidbar. Meistens entstehen sie ungewollt, aber manchmal werden sie auch absichtlich produziert, wie im Verwaltungsrecht mit den Begriffen Ermessen und Beurteilungsspielraum. Sie sollen Spielraum schaffen für eine Verwaltung, die nicht immer wie ein Uhrwerk funktionieren kann, sondern flexibel bleiben muss. Das ist nicht ganz unproblematisch, weil man nie so genau weiß, ob Freiräume geschaffen werden, die wirklich notwendig sind, oder ob nur das Rechtsstaatsprinzip ein bisschen gelockert werden soll und Behörden von der Bindung an das Gesetz freigestellt werden.

Die Verwaltung als Uhrwerk, die Bindung an das Gesetz, sie bleiben das Ideal, von dem man auszugehen hat. Tatsächlich gibt es viele Fälle, in denen eine Behörde nur eine einzige Entscheidung treffen kann, wenn sie richtig handeln will, ohne Wenn und Aber. Zum Beispiel im Baurecht. Hat sich jemand ein Grundstück gekauft und will ein Haus bauen, dann muss die Behörde das genehmigen, wenn es ein normaler Bauplan ist und wenn er den Vorschriften entspricht. So steht es in den Bauordnungen der Länder, zum Beispiel mit diesem Wortlaut:

»Die Baugenehmigung ist zu erteilen, wenn das Vorhaben den öffentlich-rechtlichen Vorschriften entspricht.«

In solchen Fällen hat die Verwaltung keinen Spielraum. So will es der Gesetzgeber, wenn er sagt: »ist zu erteilen«, was dasselbe bedeutet wie: »muss erteilt werden«. Im umgekehrten Fall sieht es schon ganz anders aus. Hat jemand ein Haus ohne Genehmigung gebaut, sind die Bestimmungen für das, was die Behörde zu tun hat, sehr viel großzügiger formuliert. Zum Beispiel so:

»Werden bauliche Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert, so kann die Bauaufsichtsbehörde die teilweise oder vollständige Beseitigung der baulichen Anlage verlangen, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.«

Das Entscheidende ist das Wort »kann«. Die Behörde muss nicht, sie kann den Abriss verlangen. Sie hat einen Spielraum. Diesen Spielraum nennt man Ermessen. Natürlich ist sie dabei nicht völlig frei. Es gibt gewisse Regeln, wie man sich dabei zu verhalten hat. Aber sie ist ziemlich frei. Bei solchen Schwarzbauten kann das dann durchaus bedeuten, dass sie die Wahl hat zwischen Abreißen und Stehenlassen. Es kommt zwar darauf an, wie schwer der Verstoß gegen die Bauvorschriften wiegt und wie sie sich vorher in ähnlichen Fällen verhalten hat. Aber sie ist ziemlich frei, und die Kompetenz der Verwaltungsgerichte ist entsprechend eingeschränkt. Sie können nur überprüfen, ob die Behörde den Spielraum überschritten und, wenn nicht, ob sie sich in ihm formal richtig bewegt hat. Sich formal richtig bewegen heißt, dass man die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten aus sachlichen Gründen trifft, nicht willkürlich, blindlings oder aufs Geratewohl, aus persönlicher oder politischer Sympathie oder Antipathie. Das wäre »ermessensfehlerhaft« und rechtswidrig. Es gibt eine reichhaltige Rechtsprechung dazu, die manchmal sogar zu dem Ergebnis kommt, dass sich das Ermessen in einzelnen Fällen auf Null reduziert, nämlich bei Gefahren für wesentliche Rechtsgüter.

Bleiben wir beim anderen Fall, bei der Baugenehmigung, die ordnungsgemäß vorher beantragt worden ist. Entspricht der Bauplan den Vorschriften, dann hat die Behörde keine andere Möglichkeit. Sie muss genehmigen. So steht es im Gesetz. Aber grau ist alle Theorie. Denn jetzt kommen wir in einen Bereich anderer Unklarheiten, und schon wieder stehen wir vor dem Dilemma, dass die Verwaltung sich so oder so entscheiden kann. Nehmen wir zum Beispiel an, es gehe nicht um einen normalen Bauplan, sondern um einen ehrgeizigen Architekten, der neue Wege gehen will. Die Fassade soll mit asymmetrischen Versatzstücken gebaut werden, aus unterschiedlichem Material und in verschiedenen auffälligen Farben. Kitschig sagen die einen, farbenfroh die anderen. Das kann nicht genehmigt werden, entscheidet die Baubehörde und beruft sich auf eine Vorschrift in der Bauordnung:

»Bauliche Anlagen müssen nach Form, Maßstab, Verhältnis der Baumassen und Bauteile zueinander, Werkstoff und Farbe so gestaltet sein, dass sie nicht verunstaltet wirken.«

»Das kann doch nicht wahr sein«, sagt der Bauherr. »Etwas Schöneres habe ich nie gesehen. Was heißt hier verunstaltet?« Und so klagt er vor dem Verwaltungsgericht gegen die Ablehnung der Baugenehmigung. Hat die Baubehörde auch hier einen Ermessensspielraum, und hat das Gericht deshalb nur eine eingeschränkte Kompetenz der Überprüfung?

Der Unterschied zum Ermessen -- beim Abriss etwa -- besteht hier zunächst darin, dass das Gesetz diesen Spielraum nicht ausdrücklich mit dem Wort »kann« benannt hat. In der Bauordnung steht einfach nur »verunstaltet«. Man sagt, das sei ein unbestimmter Rechtsbegriff. Und er besteht weiter darin, dass diese Wörter, »kann« und »verunstaltet«, zu verschiedenen Teilen des Gesetzes gehören. Jedes Gesetz hat nämlich grundsätzlich zwei Teile. Tatbestand und Rechtsfolge. Vereinfacht sieht das so aus:

1. Fall: 

2.Fall: 

Im ersten Fall, beim Abriss, ist der Tatbestand unbestritten. Das Haus ist ohne Genehmigung gebaut worden. Das Wort »kann« steht in der Rechtsfolge Abriss oder nicht. 

Im zweiten Fall streitet man sich um den Tatbestand. »Was heißt hier verunstaltet?« sagt der Bauherr. Wenn das geklärt ist, bleibt die Rechtsfolge unbestritten. Sie tritt dann sozusagen automatisch ein. 

Es sind also verschiedene Probleme, und deshalb unterscheidet man sie auch in ihrer Bezeichnung. Vom Ermessen spricht man nur, wenn es um die Rechtsfolge geht. Anders ausgedrückt: Die Verwaltung kann ein Ermessen nur haben, wenn der Tatbestand geklärt ist, und ihr für die Rechtsfolge vom Gesetzgeber ein Spielraum eingeräumt worden ist.

Im zweiten Fall, wenn es um die Auslegung des Tatbestandes geht, spricht man von einem Beurteilungsspielraum. Und die juristische Frage lautet, ob die Verwaltung bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe einen Beurteilungsspielraum hat, der ihr eine ähnliche Freiheit gibt, wie wenn ihr vom Gesetzgeber bei der Entscheidung über die Rechtsfolge ein Ermessen eingeräumt wird, so dass ihre Entscheidung auch in diesem Fall von den Verwaltungsgerichten nur eingeschränkt überprüft werden kann. Das Ermessen gehört zur Rechtsfolge, der Beurteilungsspielraum zum Tatbestand. Aber im Grunde ist es wieder dasselbe Problem. Was ist wichtiger? Rechtsstaatsprinzip oder Flexibilität der Verwaltung? Der starke Staat steht dabei immer im Hintergrund.

Das Handgemenge um die Antwort auf diese Frage ist noch nicht endgültig entschieden. Man kann aber wohl schon sagen, wer gewinnen wird. Es findet nämlich statt zwischen einigen Professoren der Verwaltungsrechtswissenschaft auf der einen Seite und den Verwaltungsgerichten auf der anderen. Wer wird also gewinnen ? Die Gerichte. Sogar zu Recht. Sie sagen nämlich, hier sei das ganz anders als beim Ermessen. Hier könnten sie alles überprüfen. Es gibt für die Verwaltung grundsätzlich keinen Beurteilungsspielraum bei unbestimmten Rechtsbegriffen. Also können die Richter am Verwaltungsgericht bei der ungewöhnlichen Fassade des geplanten Hauses ohne weiteres zu demselben Ergebnis kommen wie der Bauherr. Toll, können sie sagen, wunderschön. Und die Baubehörde muss genehmigen.

Warum? Ganz einfach. Das Grundgesetz hat in Artikel 19 Absatz 4 das Programm eines umfassenden Rechtsschutzes entworfen und sich gegen den starken Staat entschieden. Die Verwaltungsgerichte sollen zum Schutz des Bürgers alle Maßnahmen der Behörden überprüfen können. Ausnahmen muss es geben, im Interesse der Flexibilität von Verwaltung. Dann soll der Gesetzgeber das aber auch ausdrücklich anordnen, zum Beispiel mit Worten wie »kann«, »darf«, »soll« oder ähnlichen. Nur dann darf das Uhrwerk auch mal einen anderen Vogel aus der Klapptür über dem Zifferblatt rufen lassen. Nur dann muss es nicht der an sich vorgeschriebene Kuckucksruf sein.

Einigen wenigen Behörden haben die Gerichte ausnahmsweise einen Beurteilungsspielraum zugebilligt. Ausnahmen haben sie zum Beispiel bei Schulen und Universitäten gemacht. Prüfungsentscheidungen -- im Abitur oder im Examen -- sind Verwaltungsakte. Aber ob eine Leistung gut oder sehr gut ist, befriedigend, ausreichend oder mangelhaft, das ist vom Gericht nur sehr eingeschränkt nachprüfbar. Hier hat der Lehrer oder Professor einen ziemlich weiten Beurteilungsspielraum, hier ist er frei wie die Baubehörde bei der Entscheidung über den Abriss. Sein oder Nichtsein, das ist hier dieselbe Frage." [S. 272 - 276]

Ausführlich zu den Prinzipien des Verwaltungsrechts siehe das Standardlehrbuch:

Maurer, Hartmut <1931 - >: Allgemeines Verwaltungsrecht. - 13., überarbeitete und ergänzte Aufl. -- München : Beck, ©2000. -- 841 S. -- (Grundrisse des Rechts). -- ISBN 3406471609. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

6. Exkurs: Advokaten und Richter außer Rand und Band


Auch in einer Demokratie können die drei, vom Bürger als Souverän   -- zumindest in der Theorie -- legitimierten Gewalten  sich verselbständigen und mehr oder weniger außer Kontrolle geraten:


Abb.: Honoré-Victorin Daumier <1808 - 1879>: "Der Advokat verteidigt Witwen und Waisen -- wenn sie ihn bezahlen", 1846

Berüchtigt sind in Hinsicht auf Gerichte die USA. Da Anwälte auf Erfolgshonorar arbeiten  und oft fifty-fifty mit ihren Mandanten machen, haben Winkelanwälte übelster Sorte ideale Bedingungen. Folgende Warnung von Paul Watzlawick ist leider keine Satire:

"Während die Verkehrsgesetze vieler europäischer Länder es auch unbeteiligten Drittpersonen zur Pflicht machen, in Lebensgefahr schwebenden oder verletzten Verkehrsteilnehmern Hilfe zu leisten, muss ich Sie -- so unmenschlich es scheinen mag -- davor warnen, in den USA den guten Samariter zu spielen. Sie riskieren nur, dass Ihnen ein geschäftstüchtiger und auf solche Fälle spezialisierter Rechtsanwalt einen Prozess anhängt, weil Ihre unsachgemäße Hilfe die Verletzungen seines Klienten angeblich noch verschlimmert hat."

[Watzlawick, Paul <1921 - >: Gebrauchsanweisung für Amerika / Paul Watzlawick. -- 19. Aufl. -- München [u.a.] : Piper, 1996. -- ISBN 3492049885. -- S. 48. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Den rechtlichen Hintergrund skizziert folgender Artikel:

"Schadenersatzprozesse in den USA: Das große Geld für Pechvögel: Die gewaltigen Entschädigungszahlungen in amerikanischen Schadenersatzprozessen -- zuletzt im Fall der US-Tabakindustrie -- lösen immer wieder weltweites Staunen aus. Dabei weist das tort law (Schadenersatzrecht) in seinen Zielen (Ausgleich, Sanktion, Prävention) und in den Haftungsvoraussetzungen (Schaden, Kausalität, Rechtswidrigkeit, Verschulden oder Gefährdung) starke Ähnlichkeiten zu europäischen Rechtsordnungen auf. Einige Besonderheiten lassen jedoch viele US-Prozesse bei uns spektakulär erscheinen.

Zur Entscheidung in Schadenersatzprozessen sind in der Regel Geschworene berufen, zu deren Aufgaben auch die Festsetzung der Höhe des Schadenersatzbetrags zählt. Dieser Betrag umfasst auch bei nur leichter Fahrlässigkeit des Schädigers die volle Vergütung des vom Geschädigten erlittenen Nachteils einschließlich entgangenem Einkommen und Schmerzengeld. Bei grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz des Täters kann ihm zwecks Bestrafung und Abschreckung zusätzlich zum Schadenersatz (compensatory damages) eine Geldbuße (punitive and exemplary damages) zugunsten des Verletzten auferlegt werden. Trotz gewisser legislativer und richterlicher Einschränkungstendenzen belaufen sich solche Bußen oft auf ein Vielfaches des tatsächlichen Schadens.

Die Aussicht, von mitfühlenden Juroren exorbitante Beträge zugesprochen zu erhalten, verleiten nicht selten dazu, auch wegen kurios anmutender Schadensfälle Millionenklagen gegen zahlungskräftige Unternehmen zu erheben. Der Fall eines Hundebesitzers, der sein Tierchen in der Mikrowelle trocknete und dann den Hersteller klagte, weil er keinen Warnhinweis bezüglich des Trocknens von Haustieren angebracht hatte, ist nur eines von vielen Beispielen. Die Einbringung solcher Klagen wird durch eine in den USA verbreitete, in vielen europäischen Rechtsordnungen (auch in Österreich) hingegen verbotene Honorarvereinbarung gefördert: Der Anwalt des Klägers lässt sich von diesem einen Anteil (meist ein Drittel) des Betrages versprechen, der durch Gerichtsurteil oder Vergleich zuerkannt wird. Mit dieser contingent fee übernimmt der Anwalt das Prozesskostenrisiko und erhält bei Prozessverlust kein Honorar. Das europäische Prinzip, dass der Gewinner dem Verlierer die Anwaltskosten erstattet, ist in den USA weithin unbekannt.

Sammelklagen

Ein beliebtes Mittel zur Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen bei Großereignissen wie Flugzeugabstürzen oder Silikonimplantaten sind die im US-Zivilprozessrecht vorgesehenen Sammelklagen (class actions). Unter bestimmten Voraussetzungen können einzelne Geschädigte stellvertretend für alle anderen in der gleichen Schadenssituation („Klasse“) den Schädiger klagen. Über die Zulassung der class action entscheidet das zuständige Gericht unter Berücksichtigung der Effizienz, Konsistenz in der Rechtsprechung und Prozessökonomie. Wird eine class action zugelassen, so werden alle bekannten Mitglieder der Klasse vom Gericht aufgefordert, sich dieser anzuschließen oder einen Antrag auf gesonderte Prozessführung zu stellen. Je größer die Klasse, desto stärker ihr Auftreten gegenüber dem Schädiger. Für geklagte Unternehmen können class actions zwar im Falle einer Verurteilung zu großen Schadenersatzzahlungen führen, dafür aber reduzieren sie zukünftige Prozessrisiken."

[Hausmaninger, Christian: Schadenersatzprozesse in den USA: Das große Geld für Pechvögel. -- In: DER STANDARD. -- ©1997-09-09. -- S. 23. -- URL: http://www.rdb.co.at/zeitungen/standard/archiv/9.September1997/140.htm. -- Zugriff am 2001-02-15]


7. New Public Management als Alternative zur Bürokratie


Der Berner Volkswirt Dominik Egli beschreibt und bewertet einen Vorschlag zur Neuordnung der Bürokratie so:
Eine gute Idee mit gravierenden Umsetzungsproblemen 

Ein geschicktes Ablenkungsmanöver der Verwaltung? 

Für die Umsetzung des Verwaltungsmodells New Public Management stehen eine lange Liste von Instrumenten zur Verfügung, von der Leistungsverrechnung und dem Betriebsvergleich zu Ausschreibungen, Vouchers sowie Globalbudgets oder Bewertungen von Leistung und Kundenorientierung. Diese Instrumente kranken aber an schwachen Sanktions- und fehlerhaften Anreizmechanismen. 

In der Schweiz übernimmt die Verwaltung die Aufgabe, die durch direktdemokratische Entscheide oder das Parlament vorgegebenen Aufträge durchzuführen. Auf der einen Seite stehen die Bürger beziehungsweise deren parlamentarische Vertreter als Auftraggeber, auf der anderen Seite stehen die Bürger als Leistungsempfänger. Dazwischen ist die Verwaltung als Institution, welche für die Leistungserbringung zu sorgen hat. Diese kann entweder durch die Verwaltung selbst oder durch private Organisationen erfolgen. 

Reflex gegen die Bürokratisierung 

In einer Welt vollständiger Information und Kontrolle ergäben sich dabei keinerlei Probleme. Davon kann aber nicht ausgegangen werden. Die zu erbringenden Leistungen sind in der Regel nur sehr vage definiert, und die Verwaltung verfügt über einen nicht unbeträchtlichen Spielraum bei der Umsetzung der Vorgaben in effektive Leistungen. Wenn davon ausgegangen wird, dass die Verwaltungsmitglieder diesen Spielraum in erster Linie zu ihren Gunsten und erst in zweiter Linie im Sinne der auftraggebenden Bürger oder Parlamente ausschöpfen, entsprechen die erbrachten Leistungen nicht zwingend den tatsächlich gewünschten. Genau dies scheint heute das Problem zu sein. 

New Public Management ist ein Verwaltungsmodell, das, wenn man verschiedenen Autoren Glauben schenken will, verspricht, die Mängel der Bürokratie mindestens teilweise zu beheben. Neben der Abstützung auf ökonomische Rationalität wird als zentrales Grundelement die Steuerung der Verwaltung über die Wirkung, also die Leistungserbringung, und nicht wie bis anhin über den Input gesehen; daher auch der im deutschsprachigen Raum verwendete Begriff «wirkungsorientierte Verwaltungsführung». Unter «Abstützung auf ökonomische Rationalität» wird die Einführung von Wettbewerb in die Verwaltung, mit der Begründung, Marktbeziehungen seien hierarchischen Beziehungen generell überlegen und Wettbewerb reduziere Kosten und erhöhe die Qualität. Es wird in der Folge darum gehen, folgende zwei Fragen genauer unter die Lupe zu nehmen: Inwieweit sind die verfügbaren Instrumente tatsächlich marktwirtschaftlich, und unter welchen Bedingungen sind sie in der Lage, die Anreize so zu setzen, dass die Leistungen, welche die Verwaltung erbringt, stärker den Bedürfnissen der Bürger entsprechen und effizienter erbracht werden als bisher. 

Interne Leistungsverrechnung 

Leistungen, die ein Verwaltungsteil für einen anderen Teil der Verwaltung erbringt, sollen verrechnet werden. Die Kosten einer Leistungserbringung sollen also dort belastet werden, wo sie tatsächlich anfallen. Dadurch verspricht man sich ein erhöhtes Kostenbewusstsein. Zwei Fragen treten in den Vordergrund. Erstens stellt sich das Problem der Kostenmessung. Zu welchem Preis soll eine Verwaltungsleistung dem Besteller verrechnet werden? Handelt es sich um eine Leistung, die auch auf dem Markt angeboten wird, bietet sich der Marktpreis als natürliche Bemessungsgrundlage an. Gibt es aber einen solchen Marktpreis, könnte die Leistung auch vom privaten Markt gekauft werden, und es stellt sich die Frage, warum diese Leistung überhaupt verwaltungsintern angeboten wird. Fehlt die Möglichkeit der Marktbewertung, muss auf suboptimale Größen abgestellt werden. Zweitens stellt sich die Frage, inwiefern durch interne Leistungsverrechnungen Anreize verändert werden. Sicher ist, dass ohne interne Verrechnungen zuviel an internen Leistungen nachgefragt wird, da sie für den Nachfrager ja kostenlos sind. Eine Verhaltensänderung kann jedoch nur erfolgen, wenn die nachfragende Stelle auch die Verantwortung für die entstehenden Kosten trägt. Ohne Verknüpfung mit einem Globalbudget oder ähnlichen Steuerungsinstrumenten, welche der Verwaltungsstelle tatsächlich Kostenverantwortung überträgt, sind von einer internen Leistungsverrechnung keine Verhaltensänderungen zu erwarten. 

Vergleiche von Verwaltungsstellen 

Betriebsvergleiche wollen Verwaltungsstellen, die gleiche oder sehr ähnliche Leistungen erbringen, miteinander vergleichen. Relativ einfach ist dies bei Leistungen, welche durch Gemeinden und Kantone erbracht werden, da man davon ausgehen kann, dass sich die Leistungen von Gemeinde zu Gemeinde beziehungsweise von Kanton zu Kanton nicht wesentlich unterscheiden. Etwas problematischer wird dies auf Bundesebene. 

Auch hier stellt sich wiederum die Frage nach den Anreizwirkungen. Nehmen wir an, es wird ermittelt, dass ein Kanton pro Einwohner deutlich mehr ausgibt für dieselbe Leistung als ein anderer Kanton. Die Information allein vermag das Verhalten der Verwaltung nicht zu ändern. Nun könnte dem Verwaltungsteil vorgegeben werden, dass die Leistungserbringung in Zukunft nicht mehr kosten dürfe als in einer Vergleichskörperschaft (Benchmarking). Erstens müsste eine solche Vorgabe mit Sanktionen im Falle einer Nichteinhaltung verknüpft sein. Um Ungerechtigkeiten zu verhindern, müssen hierbei die Gründe für allfällige Abweichungen möglichst eindeutig eruierbar sein. Zweitens entspricht dieses Instrument wieder der klassischen Inputsteuerung, und es stellt sich das alte Problem, dass die Verwaltung auf Kostenvorgaben mit einer Ausschöpfung des Ermessensspielraumes zu ihren Gunsten reagiert. Drittens ist zu sagen, dass durch Benchmarking Effizienz nicht gegeben sein muss. Wer sagt denn, dass die Leistungserbringung der Vergleichskörperschaft nicht auch ineffizient ist, so dass man letztlich nur unterschiedlich faule Äpfel miteinander vergleicht. 

Ausschreibungen zur Marktsimulation 

Nachdem die zu erbringende Leistung definiert worden ist, soll die Erbringung selbst öffentlich ausgeschrieben werden. Verschiedene Verwaltungsteile und private Betriebe können Offerten unterbreiten, aus denen dann diejenige Offerte mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis ausgewählt wird. Dadurch können Verwaltungsteile gezwungen werden, unter Marktkonditionen zu arbeiten. Auch hier bedarf es eines Sanktionsmechanismus. Ein Verwaltungsteil, der nicht genügend Aufträge erhält, muss mit Folgen zu rechnen haben, sonst wirkt der Wettbewerbsdruck nicht. Im Gegensatz zu einem privaten Anbieter unterliegen Verwaltungen keiner direkten Konkursdrohung. Eine solche Möglichkeit der Liquidation eines erfolglosen Verwaltungsteiles müsste geschaffen werden, um durch Ausschreibungen die gewünschten Verhaltensänderungen herbeizuführen. 

Wahlmöglichkeiten über Vouchers 

Anstatt eine gegebene Leistungserbringung einem bestimmten Verwaltungsteil zuzuordnen, werden bei der Idee der Vouchers den Bürgern Gutscheine ausgegeben, die sie gegen die Leistung eintauschen können. Einzelne Verwaltungsteile können dann die Leistung selbständig anbieten, und die Bürger wählen aus, bei welchem Verwaltungsteil sie die Leistung nachfragen wollen. Damit verspricht man sich einen Konkurrenzdruck innerhalb der Verwaltung. Auch hier wieder stellt sich die Frage nach den Konsequenzen. Hat nämlich das Nichterhalten von Aufträgen keine Folgen für den betroffenen Verwaltungsteil, so ist eher mit einer unerwünschten Reaktion zu rechnen, da das Anbieten von Leistung zu Kosten führt. Zudem ist es bei vielen staatlichen Leistungen fraglich, inwieweit das mehrfache staatliche Angebot ökonomisch sinnvoll ist. Wird eine Leistung, welche sich der Bürger durch einen Voucher erwerben kann, auch vom Markt angeboten, stellt sich die Frage, warum die Verwaltung überhaupt als Leistungsanbieter auftreten soll. 

Globalbudgets als Rahmen 

Bei der Globalbudgetierung wird der Verwaltung neben den zu erbringenden Leistungen ein Budget definiert. Globalbudgetierung stellt demnach ein rein planwirtschaftliches Instrument dar. Aufgabe der Verwaltung ist neben der Leistungserbringung die Einhaltung des Budgets. Anstelle bisheriger sehr detaillierter Budgets soll hier nur der große Rahmen vorgegeben werden, wobei es dem Verwaltungsteil selbst überlassen ist, wie die gegebenen Mittel aufgeteilt werden sollen. Der Informationsvorteil, den ein einzelner Verwaltungsteil bezüglich der optimalen Leistungserbringung hat, kann damit zur Effizienzsteigerung ausgeschöpft werden. Auch hier stellt sich das Anreizproblem. Ohne dass die Nichteinhaltung des Budgets zu Konsequenzen führt, ist keine Verhaltensänderung zu erwarten. 

Daneben ist das Problem der Budgetausschöpfung zu beachten. Jede Verwaltungsstelle wird daran interessiert sein, das Budget vollständig auszuschöpfen. Darauf kann reagiert werden, indem das Budget für die nächste Periode entsprechend angepasst wird. Bei Leistungen, welche nur von der Verwaltung angeboten werden können, also auf dem Markt nicht zu erhalten sind, kann dies zu einer Verminderung des Anreizes, neue Verfahren herauszufinden und zu erproben, führen. Um diesen Anreiz aufrechtzuerhalten, müssten dem Verwaltungsteil die resultierenden Gewinne zumindest teilweise überlassen werden. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Festlegung der Budgets unter unvollständiger Information erfolgt. Es wird niemals möglich sein, das «richtige» Budget zu bestimmen. 

Wettbewerb mit privaten Produkten 

Es soll der Verwaltung zugestanden werden, ihre Kapazitäten zur Herstellung und Vertreibung privater Güter zu verwenden. Wenn also zur Erbringung eines öffentlichen Gutes ein Verwaltungsteil geschaffen wird, dessen Struktur auch die Produktion privater Güter ermöglichen würde, so soll dies auch geschehen dürfen. Die Verwaltung tritt dann als Wettbewerber auf dem privaten Markt auf. Dies ist natürlich nur sinnvoll, wenn die Verwaltung private Güter zumindest nicht teurer anbieten kann als die Privatwirtschaft. Gerade wenn man die Kritiken an der Verwaltung anschaut, ist es doch mehr als fraglich, ob die Verwaltung dazu in der Lage ist. Vielmehr ist zu befürchten, dass die Herstellung privater Güter quersubventioniert wird und ein allfälliger Kostenvorteil gegenüber privaten Anbietern tatsächlich nur durch höhere Kosten bei der Erstellung der Kernleistung erreicht wird. 

Orientierung am Kunden 

Nach dem NPM sollen die Verwaltungsleistungen vermehrt den Bedürfnissen der Bürger angepasst werden. Die Literatur spricht deshalb nicht mehr von Bürgern, sondern von Kunden. Mit einem Wechsel der Bezeichnung ist nun allerdings nichts gewonnen. Eine verstärkte Kundennähe soll aber durch Kundenbefragungen hergestellt werden. Dadurch soll eruiert werden, ob das angebotene Gut als solches wie auch die Leistungserbringung den Bedürfnissen entspricht. Auch dieses Instrument muss mit einem Sanktionsmechanismus verknüpft werden, sonst sind keine Verhaltensänderungen zu erwarten. Schlechte Beurteilungen durch die Kunden müssen Folgen haben. Problematisch wird dies bei Leistungen, die obligatorisch sind. Weiterhin gilt es zu beachten, dass die Befragten an sich keinen Anreiz haben, ihre wirkliche Meinung kundzutun. Resultate von Befragungen sind deshalb mit Vorsicht zu genießen. 

Leistungsmessung ohne Sanktionsdrohung 

Leistungsmessung kann verschiedene Dimensionen enthalten. Einerseits geht es um die Messung der Effektivität (wurde das gesteckte Ziel erreicht?), andererseits der Effizienz (erfolgt die Leistungserbringung zu geringstmöglichen Kosten?). Für eine private Firma als Ganzes ist die Leistungsmessung relativ einfach. Kann die Firma im Markt bestehen, so ist die Leistung angemessen, sonst nicht. Auch der Sanktionsmechanismus ist durch die Konkursdrohung klar gegeben. Leistungsmessung einer Verwaltung ist auch relativ klar zu definieren, wenn der betroffene Verwaltungsteil in Konkurrenz zu privaten Anbietern steht. Nur ist hier wiederum unklar, unter welcher Legitimation die Verwaltung diese Leistungen dann überhaupt erbringt. Fehlt der Druck des Wettbewerbs, wird die Leistungsmessung schwieriger. Natürlich soll damit nicht gesagt werden, dass Leistungsmessung keinen Sinn hat. Sie sind als flankierende Maßnahmen zu Betriebsvergleichen sogar notwendig. Aber ein Wettbewerbsinstrument stellen sie nicht dar. 

Frage nach dem Sinn 

Die Darstellung der verschiedenen Instrumente macht klar, dass die Einführung von Marktelementen in die Verwaltung zwar eine schlagende Idee darstellt, deren Umsetzung aber mit beträchtlichen Problemen verbunden ist. Dort, wo marktwirtschaftlicher Wettbewerb wirklich greifen würde, stellt sich in aller Regel die Frage nach dem Sinn staatlicher Leistungserbringung per se. Wettbewerbsdruck durch den Markt spielt am besten dort, wo die Verwaltung gar nicht als Leistungserbringer auftreten müsste. NPM wäre dann nicht nur eine Reform der Verwaltung, sondern eine Neudefinition der staatlichen Aufgaben, verbunden mit einer kräftigen Redimensionierung der Verwaltung. 

Informationsvorsprung der Verwaltung 

Den Sanktionsmechanismen kommt eine tragende Rolle zu. Ohne klar definierte Konsequenzen sind keine Verhaltensänderungen zu erwarten. Auf der einen Seite haben Verlagerungen von Entscheiden auf die operative Ebene, wie dies durch das Globalbudget erreicht werden soll, zur Folge, dass die Leistungserbringung auf Grund des Informationsvorsprungs effizienter erfolgen könnte, auf der anderen Seite hat dieser Informationsvorsprung zur Folge, dass es für Außenstehende schwierig ist, ungenügende Leistungen zu begründen. Ist dies aber nicht möglich, so werden Sanktionen möglicherweise ungerecht, oder aber sie verlieren ihre Anreizwirkung. 

Letztlich kommt man zum Schluss, dass hinter den Ideen des NPM nicht allzuviel Neues steckt. Interessanterweise kommt die Idee des NPM aus der Verwaltung selbst, und es stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dass die Verwaltung einen Reformvorschlag unterbreitet, der ihr selbst letztlich nur schadet. Die Verwaltungen sind in den letzten Jahren gehörig unter Druck gekommen. Die Gefahr besteht, dass die Staatsaufgaben neu überdacht und definiert werden. Würde dies seriös durchgeführt, müssten die Verwaltungen gehörig abspecken. Insbesondere müssten alle Leistungen, welche über den Markt angeboten werden, abgegeben werden. NPM versucht nun hier, zu retten, was zu retten ist. NPM kann damit als Versuch der Verwaltung gesehen werden, von den wirklich relevanten Fragen abzulenken."

[Egli, Dominik: Eine gute Idee mit gravierenden Umsetzungsproblemen : ein geschicktes Ablenkungsmanöver der Verwaltung?. -- In: Neue Zürcher Zeitung. -- ©1997-11-11. -- S. 72]


Zu Kapitel 8, Teil 2: Beispiele zu Bürokratie