Internationale Kommunikationskulturen

12. Kulturelle Faktoren: Zeit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit

1. Vom Umgang mit der Zeit


von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Internationale Kommunikationskulturen. -- 12. Kulturelle Faktoren: Zeit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit. -- 1. Vom Umgang mit der Zeit. -- Fassung vom 2008-04-27. -- URL: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur121.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2001-06-26

Überarbeitungen: 2008-04-27

Anlass: Lehrveranstaltung, HBI Stuttgart, 2000/2001

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht



1. Einleitung



Abb.: "Einszweidrei, im Sauseschritt
Läuft die Zeit; wir laufen mit."
[Busch, Wilhelm <1832 - 1908>: Julchen. -- 1877]

In diesem Teil gehe ich auf einige Aspekte des Umgangs mit Zeit ein, von denen ich glaube, dass ihr Verständnis für Kommunikation  wichtig ist. Bei der grundlegenden Bedeutung des Umgangs mit Zeit für das ganze menschliche Leben, kann ich selbstverständlich nicht beanspruchen, auch nur die wichtigsten Aspekte angemessen darzustellen.


2. Psychologische Zeitbegriffe


"Im Grunde hat es eine merkwürdige Bewandtnis mit diesem Sicheinleben an fremdem Orte, dieser -- sei es auch -- mühseligen Anpassung und Umgewöhnung, welcher man sich beinahe um ihrer selbst willen und in der bestimmten Absicht unterzieht, sie, kaum dass sie vollendet ist, oder doch bald danach, wieder aufzugeben und zum vorigen Zustande zurückzukehren. Man schaltet dergleichen als Unterbrechung und Zwischenspiel in den Hauptzusammenhang des Lebens ein, und zwar zum Zweck der »Erholung«, das heißt: der erneuernden, umwälzenden Übung des Organismus, welcher Gefahr lief und schon im Begriffe war, im ungegliederten Einerlei der Lebensführung sich zu verwöhnen, zu erschlaffen und abzustumpfen. Worauf beruht dann aber diese Erschlaffung und Abstumpfung bei zu langer nicht aufgehobener Regel? Es ist nicht so sehr körperlich-geistige Ermüdung und Abnutzung durch die Anforderungen des Lebens, worauf sie beruht (denn für diese wäre ja einfache Ruhe das wiederherstellende Heilmittel); es ist vielmehr etwas Seelisches, es ist das Erlebnis der Zeit, -- welches bei ununterbrochenem Gleichmaß abhanden zu kommen droht und mit dem Lebensgefühle selbst so nahe verwandt und verbunden ist, dass das eine nicht geschwächt werden kann, ohne dass auch das andere eine kümmerliche Beeinträchtigung erführe. Über das Wesen der Langenweile sind vielfach irrige Vorstellungen verbreitet. Man glaubt im ganzen, dass Interessantheit und Neuheit des Gehaltes die Zeit »vertreibe«, das heißt: verkürze, während Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme. Das ist nicht unbedingt zutreffend. Leere und Monotonie mögen zwar den Augenblick und die Stunde dehnen und »langweilig« machen, aber die großen und größten Zeitmassen verkürzen und verflüchtigen sie sogar bis zur Nichtigkeit. Umgekehrt ist ein reicher und interessanter Gehalt wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkürzen und zu beschwingen, ins Große gerechnet jedoch verleiht er dem Zeitgange Breite, Gewicht und Solidität, so dass ereignisreiche Jahre viel langsamer vergehen als jene armen, leeren, leichten, die der Wind vor sich her bläst, und die verfliegen. Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzwelligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein. Gewöhnung ist ein Einschlafen oder doch ein Mattwerden des Zeitsinnes, und wenn die Jugendjahre langsam erlebt werden, das spätere Leben aber immer hurtiger abläuft und hineilt, so muss auch das auf Gewöhnung beruhen. Wir wissen wohl, dass die Einschaltung von Um- und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen, eine Verjüngung, Verstärkung, Verlangsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen. Dies ist der Zweck des Orts- und Luftwechsels, der Badereise, die Erholsamkeit der Abwechslung und der Episode. Die ersten Tage an einem neuen Aufenthalt haben jugendlichen, das heißt starken und breiten Gang, -- es sind etwa sechs bis acht. Dann, in dem Maße, wie man »sich einlebt«, macht sich allmähliche Verkürzung bemerkbar: wer am Leben hängt oder, besser gesagt, sich ans Leben hängen möchte, mag mit Grauen gewahren, wie die Tage wieder leicht zu werden und zu huschen beginnen; und die letzte Woche, etwa von vieren, hat unheimliche Rapidität und Flüchtigkeit. Freilich wirkt die Erfrischung des Zeitsinnes dann über die Einschaltung hinaus, macht sich, wenn man zur Regel zurückgekehrt ist, aufs neue geltend: die ersten Tage zu Hause werden ebenfalls, nach der Abwechslung, wieder neu, breit und jugendlich erlebt, aber nur einige wenige: denn in die Regel lebt man sich rascher wieder ein als in ihre Aufhebung, und wenn der Zeitsinn durch Alter schon müde ist oder - ein Zeichen von ursprünglicher Lebensschwäche - nie stark entwickelt war, so schläft er sehr rasch wieder ein, und schon nach vierundzwanzig Stunden ist es, als sei man nie weg gewesen und als sei die Reise der Traum einer Nacht."

[Mann, Thomas <1875 - 1955>: Der Zauberberg : Roman. -- Berlin : Fischer, ©1924. -- Viertes Kapitel, Exkurs über den Zeitsinn]

Die Frage nach der Zeit oder gemäß Thomas Mann nach dem Zeitsinn ist ein häufiger Aspekt in der Literatur. Zeit wird unter unterschiedlichen Aspekten in eigentlich allen Bereichen des Lebens und der entsprechenden Wissenschaften behandelt:

In der Psychologie unterscheidet man u.a. zwischen objektiver und subjektiver Zeit:

[vgl.: Cerutti, Herbert: Warum König Hassan nicht nach England ging. - In: NZZ. - Internat. Ausg. - 2003-04-01. - B2]

Arnold Hinze zählt  in seiner Dissertation Psychologie der Zeit  u.a. die  Begriffe auf, die in der psychologischen Literatur für subjektive Zeit genutzt werden, wobei die Begriffe sich teilweise überschneiden oder für dasselbe Phänomen benutzt werden können.

"Im wesentlichen kann man wohl vier Hauptqualitäten des Zeiterlebens unterscheiden:

  1. Das Vergehen der Zeit kann mir langsam oder schnell vorkommen. Unterschieden werden muss dabei zwischen der Retrospektion (die Zeit verging schnell oder langsam) und dem Zeitempfinden in der Gegenwärtigkeit (die Zeit zieht sich oder sie flieht). Das Zeitempfinden bezieht sich dabei auf die jeweilige individuelle Bezugsnorm, das heißt, ich empfinde das Vergehen der Zeit als schnell oder langsam im Vergleich mit meinen bisherigen Erfahrungen.
  2. Das In-der-Zeit-Sein und das Zeit-Haben (zu viel, zu wenig, genau richtig) können angenehm oder unangenehm erlebt werden. Diese Qualität des Zeiterlebens hat verschiedene Aspekte. Das In-der-Zeit-Sein kann leicht oder schwer erlebt werden, als bedrohlich oder als chancenreich, als ausgefüllt oder als leer. Das Zeit-Haben kann als knapp oder als reich erlebt werden.
  3. Die Zeit kann mir bewusst sein oder nicht bewusst sein.
  4. Mein eigenes inneres Zeittempo kann mit dem Tempo der Welt-Zeit übereinstimmen, kann langsamer sein als die Welt-Zeit (zum Beispiel in der endogenen Depression) oder schneller sein als die Welt-Zeit (zum Beispiel in der Manie oder in Angst- und Erregungszuständen). Das Zeitempfinden bezieht sich hierbei auf die soziale Bezugsnorm."

[Hinz, Arnold <1961 - >: Psychologie der Zeit : Umgang mit Zeit, Zeiterleben und Wohlbefinden. -- Münster [u.a.] : Waxmann, ©2000. -- (Internationale Hochschulschriften ; 329). -- Zugleich: Berlin, Freie Universität, Dissertation, 1999. -- ISBN 3893258701. -- S. 10. -- Dort Quellennachweise. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}] 


3. Zeitbewusstsein


"Auch in sehr abgelegenen Gegenden des afrikanischen Hinterlandes besitzen viele junge Leute nun Armbanduhren, auch Menschen, die weder zu einer bestimmten Zeit am Arbeitsplatz sein müssen noch einen Bus oder Zug verfehlen dürfen.
Eine Uhr zu besitzen ist Statussymbol. Einer meiner Boys hätte sich weniger geschwollen ausgedrückt: «Ça fait riche», hätte er gesagt.

Mehr als einmal, wenn ich irgendwo am Rand eines Dorfplatzes saß, mir die Menschen betrachtete oder Esel zählte und Kamele, die mit ihren Lasten dem Markt zustrebten, kam einer auf mich zu, weil er entdeckt hatte, dass ich eine Armbanduhr trug. Er stand vor mich hin, gab mir zu verstehen, dass auch er Besitzer eines solchen Apparates sei, dann verdrehte er ein wenig den Kopf und verglich die Zeigerstellung seiner Uhr mit derjenigen meiner Uhr. Und wenn die übereinstimmten, zog er befriedigt von dannen."

[Gardi, René <1909 - >: Weisheiten und Narrheiten : allerlei aus meinen Afrika-Tagebüchern. -- Bern : Benteli, ©1975. -- ISBN 3-7165-0053-4. -- S. 62f.]

Das Zeitbewusstsein oder die Zeitorientierung ist nicht nur sehr unterschiedlich in verschiedenen Gruppen in einer Nation, sondern  in den verschiedenen Kulturen weltweit. Das Zeitbewusstsein hängt ebenfalls vom Zeitraum ab, in dem ein Mensch lebt. Beobachtungen bzw. geschichtliche Forschungen zeigen, dass das Zeitbewusstsein in Entwicklungsländern dem gleicht, das im noch nicht industrialisierten Europa vorherrschte. Damals gab es bei uns Aussagen über die Zeitverschwendung der Armen, sowie manche heute behaupten, dass mangelndes Zeitbewusstsein also mangelndes oder falsches Nutzen der Zeit Grund für die Unterentwicklung sei. Zitat eines italienischstämmigen Bolivianers über die indigene bolivianische Bevölkerung: "Sie tanzen nur und arbeiten nicht."

Bei seiner Untersuchung über die Unterschiede im Umgang mit der Zeit in Europa stellte P. Collett (Der Europäer als solcher ... ist unterschiedlich. 1994. Zitiert nach Hinz] fest, dass es in Europa sogenannte "zeitvergessene" Länder, nämlich die südlichen europäischen Staaten, und die "zeitbewussten" Länder gibt wie z.B. Deutschland, die Schweiz und die nordischen Staaten. In den zeitbewussten Ländern ist die Zeit ein Rohstoff "Zeit ist Geld", den man nützen muss. Auch als Pensionär hat man einen Terminkalender, der bei jeder Abmachung zuerst befragt werden muss; Feste und Gespräche dürfen mit Hinweis auf den nächsten Termin jederzeit unterbrochen werden, denn es wäre unhöflich, jemanden warten zu lassen. Und im Zeitalter der Handys gibt es keine unantastbaren Zeiten mehr, man vergleiche den Kampf gegen Handygespräche während einer Vorlesung.

In den zeitvergessenen Ländern hingegen ist im allgemeinen die Beziehung  zu Mitmenschen wichtiger: wegen eines Termins z.B. ein Fest früher zu verlassen, wäre eine Kränkung. Die Zeiten für Familienfeste und sonstige Feiern sind unantastbar und gehen einer geschäftlichen oder dienstlichen Aufgabe vor. In Bolivien kann es einem passieren, dass man einen Partner für eine dienstliche Besprechung erwartet, dieser aber zu einer kurzfristig angesagten Trauerfeier gegangen ist, ohne seine Termine abzusagen.  

Um das Verhältnis der Menschen zur Zeit zu ermitteln, hat Levine (Eine Landkarte der Zeit. 2000) das Schritttempo in großen und kleinen Orten an mehreren Orten der Welt beobachten lassen und festgestellt, dass abgesehen von Japan die Länder mit dem größten Schritttempo in Westeuropa liegen - also in den zeitbewussten Ländern. Die langsamste Gehgeschwindigkeit wurde in Brasilien festgestellt. Zum kleinen Teil wird das dem tropischen Klima zugeschrieben, denn bei großer Hitze läuft man eher langsamer. Wenn man dann allerdings mit thailändischen Bekannten beim Einkaufen in der kühleren Jahreszeit in Deutschland ebenso langsam vorankommt wie in Thailand, sucht man dann doch eher den Grund in einer zeitvergessenen Kultur.

Die zeitbewussten und die zeitvergessenen Länder entsprechen in etwa der Einteilung des Anthropologen E. T. Hall in monochrone und polychrone Länder bzw. den Kulturen mit horizontaler und vertikaler Zeitperspektive.

 "Festzuhalten ist, dass es große interkulturelle Unterschiede hinsichtlich des Naturbezugs der Zeitangaben, hinsichtlich des Zukunftsbezugs, hinsichtlich der Einstellung zu Terminen und zur Pünktlichkeit und hinsichtlich des sozialen Tempos gibt. Die interkulturellen Unterschiede des Zeitbewusstseins beruhen letztlich auf ökonomischen Unterschieden. Während für die westliche Gesellschaft das Nebeneinander von Zeitnot und materiellem Reichtum typisch ist, herrschen in der »dritten« Welt Zeitreichtum und materielle Armut mit Hunger und Infektionserkrankungen. Der in der westlichen Gesellschaft herrschende Zeitstress fuhrt zu erheblichen psychischen Belastungen mit pathologischen Auswirkungen (Bluthochdruck, Herz etc.). Interkulturelle Studien über das Lebenstempo »zeigen, dass die Zahl der Menschen, die an Herzerkrankungen sterben, um so höher liegt, je 'schneller' ein Land ist« (Collett 1994b; Friedman & Rosenman, 1975). Von daher ist es sicher kein Zufall, dass in jüngster Zeit Modelle der Langsamkeit in der westlichen Welt als attraktiv erscheinen." 

[Hinz, Arnold <1961 - >: Psychologie der Zeit : Umgang mit Zeit, Zeiterleben und Wohlbefinden. -- Münster [u.a.] : Waxmann, ©2000. -- (Internationale Hochschulschriften ; 329). -- Zugleich: Berlin, Freie Universität, Dissertation, 1999. -- ISBN 3893258701. -- S. 72. -- Dort Quellennachweise. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}] 


4. Gegenwart -- Vergangenheit -- Zukunft


"Nous ne nous tenons jamais au temps présent. Nous rappelons le passé; nous anticipons l'avenir comme trop lent à venir, comme pour hâter son cours, ou nous rappelons le passé pour l'arrêter comme trop prompt, si imprudents que nous errons dans des temps qui ne sont point nbtres, et ne pensons point au seul qui nous appartient, et si vains que nous songeons à ceux qui ne sont rien, et échappons sans réflexion le seul qui subsiste. C'est que le présent d'ordinaire nous blesse. Nous le cachons à notre vue parce qu'il nous afflige, et s'il nous est agréable nous regettons de le voir échapper. Nous tâchons de le soutenir par l'avenir, et pensons à disposer les choses qui ne sont pas en notre puissance pour un temps où nous n'avons aucune assurance d'arriver.

Que chacun examine ses pensées. Il les trouvera toutes occupées au passé ou à l'avenir. Nous ne pensons presque point au présent, et si nous y pensons ce n'est que pour en prendre la lumière pour disposer de l'avenir. Le présent n'est jamais notre fin.

Le passé et le présent sont nos moyens; le seul avenir est notre fin. Ainsi nous ne vivons jamais, mais nous espérons de vivre, et, nous disposant toujours à être heureux, il est inévitable que nous ne le soyons jamais.

"Niemals halten wir uns an die Gegenwart. Wir nehmen die Zukunft vorweg, als käme sie zu langsam, als wollten wir ihren Gang beschleunigen; oder wir erinnern uns der Vergangenheit, um sie aufzuhalten, da sie zu rasch entschwindet: Torheit, in den Zeiten umherzuirren, die nicht unsere sind, und die einzige zu vergessen, die uns gehört, und Eitelkeit, denen nachzusinnen, die nichts sind, und die einzige zu verlieren, die besteht, nämlich weil es die Gegenwart ist, die uns gewöhnlich verletzt. Wir verbergen sie vor uns, weil sie uns bekümmert; und wenn sie uns freundlich ist, bedauern wir, sie entschwinden zu sehen. Wir versuchen, sie für die Zukunft zu erhalten, und sind gesonnen, über Dinge, die nicht in unserer Macht sind, an einem Zeitpunkt zu verfügen, von dem wir keine Gewähr haben, dass wir ihn erleben.

Wer seine Gedanken prüft, wird sie alle mit der Vergangenheit und der Zukunft beschäftigt finden. Kaum denken wir je an die Gegenwart, und denken wir an sie, so nur, um hier das Licht anzuzünden, über das wir in der Zukunft verfügen wollen. Niemals ist die Gegenwart Ziel, Vergangenheit und Gegenwart sind Mittel, die Zukunft allein ist unser Ziel. So leben wir nie, sondern hoffen zu leben, und so ist es unvermeidlich, dass wir in der Bereitschaft, glücklich zu sein, es niemals sind."

[Pascal, Blaise <1623 - 1662>: Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets. -- Erstmals veröffentlicht 1670. -- Nr. 172 (Neue Zählung: 47). --  Übersetzung von Ewald Wasmuth: Pascal, Blaise: Über die Religion und über einige andere Gegenstände. -- Heidelberg : Schneider, 1963. -- Nr. 172]

Unabhängig von den "wirklichen" Bedingungsverhältnissen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, kann der individuell und kulturell bedingte Aufmersamkeitskegel mehr gerichtet sein

Man muss sich aber hüten, Kulturen auf einen dieser Aspekte zu stereotypisieren. Für die so zukunftsgerichteten US-Amerikaner spielen z.B. Traditionen eine sehr große Rolle (z.B. die Unabhängigkeitserklärung, der Zweite Weltkrieg usw.). Andrerseits sind konservativ "rückwärts" gerichtete Menschen durchaus offen für die Verheißungen  eines zukünftigen Paradieses und dergl.

Wichtig ist aber die Dauer der Zeitperspektive von persönlicher Vergangenheit und Zukunft:


Abb.: Christliche Zukunftsperspektive: Gerhardt, Paul <1607 - 1676>: "Ich bin ein Gast auf Erden". -- 1666/67. -- Evangelisches Gesangbuch, 1994


5. "Pathologische" Einstellungen zur Zeit


"Nach Auffassung von Riemann (1961) planen eher »zwanghafte Persönlichkeiten« die Zukunft auf lange Sicht im voraus, weil sie Angst vor allen Unwägbarkeiten, vor der Wandlung und letztlich vor der Vergänglichkeit haben. Änderungen jedweder Art erinnern an die Vergänglichkeit und müssen deshalb soweit wie möglich vermieden werden. Durch Macht, Wissen, Übung und gute Planung will die »zwanghafte« Persönlichkeit erreichen, »dass nichts Ungewolltes und Unvorhergesehenes passiert« (Riemann, 1961). Die Zwangsneurose kann als Versuch verstanden werden, sich gegenüber der offenen Zukunft abzusichern. »Beängstigende Gefühle, wie Aggression oder sexuelle Impulse, werden im Zwang gebannt« (Binder & Binder, 1991). Rituale dienen dazu, in der Zukunft drohende Gefahren zu vermeiden. Neben dem großen Interesse an der Zeitplanung fällt bei »zwanghaften« Persönlichkeiten eine Neigung zum Perfektionismus auf (Riemann, 1961). Aufgaben können erst dann beendet werden, wenn sie den besonderen Ansprüchen genügen. Zudem ist die Haltung zur Pünktlichkeit ein besonderer Aspekt des »zwanghaften« Umgangs mit der Zeit. Sowohl Fenichel (1974) als auch Rhode-Dachser (1987) führen aus, dass Zwangsneurotiker mit der Zeit geizig oder großzügig oder beides nacheinander sind und dass sie auf die Minute genau pünktlich und dann wieder vollkommen unzuverlässig sind. Mit massiver Unpünktlichkeit kann sich der »Zwangsneurotiker« die Illusion verschaffen, dass die Zeit keine Macht über ihm hat. Die Beziehung zwischen Pünktlichkeit und Persönlichkeit sieht Strotzka (1986) etwas anders: Seiner Auffassung nach sind narzistische oder aggressive Personen eher unpünktlich, ängstliche oder zwanghafte Personen hingegen eher überpünktlich."

"Letztlich kann man sowohl im Zeitbezug der »zwanghaften« als auch der »hysterischen« Persönlichkeit einen Widerstand gegen das Vergehen in der Zeit (Proust, 1954) sehen. Die »zwanghafte« Persönlichkeit wehrt sich gegen das Vergehen in der Zeit, indem sie die »Wahrheiten« der Vergangenheit in die Zukunft hinüberretten will. Die »hysterische« Persönlichkeit wehrt sich gegen das Vergehen in der Zeit durch den Versuch, allen Festlegungen aus dem Weg zu gehen, so dass alles immer so offen bleibt wie in der Vergangenheit. Beide unterliegen einer Illusion der Dauer: die »zwanghafte« Persönlichkeit glaubt an die Dauer ihrer Dogmen, die »hysterische« Persönlichkeit hingegen an die Dauer ihrer Möglichkeiten. Bei beiden Persönlichkeitstypen kommt es zu Einschränkungen beim Wohlbefinden, da sowohl die Abwehr des Neuen bei der »zwanghaften« Persönlichkeit als auch das ständige Offenhalten bei der »hysterischen« Persönlichkeit sehr anstrengend sind. Bei »zwanghaften« Persönlichkeiten führt die Angst vor den Möglichkeiten in der Zukunft zu einer Einschränkung der Kreativität und der Fähigkeit zur Hingabe und zur Freude, bei »hysterischen« Persönlichkeiten führt die Angst vor einer endgültigen Festlegung und die damit verbundene Suche nach immer neuen Reizen und Zielen auf lange Sicht zu beruflichen und privaten Misserfolgen."

[Hinz, Arnold <1961 - >: Psychologie der Zeit : Umgang mit Zeit, Zeiterleben und Wohlbefinden. -- Münster [u.a.] : Waxmann, ©2000. -- (Internationale Hochschulschriften ; 329). -- Zugleich: Berlin, Freie Universität, Dissertation, 1999. -- ISBN 3893258701. -- S. 99 - 101. -- Dort Quellennachweise. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}] 


6. Der ständige Wandel als Kennzeichen der Bourgeoisie


Im Kommunistischen Manifest hat Karl Marx die fortwährende Umwälzung der Produktion vor über 150 Jahren als Kennzeichen unseres Zeitalters klar gesehen:

"Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung, die die Reaktion so sehr am Mittelalter bewundert, in der trägsten Bärenhäuterei ihre passende Ergänzung fand. Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.

Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.

Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen."

[Marx, Karl <1818 - 1883 ; Engels, Friedrich <1820 - 1895>: Manifest der kommunistischen Partei. -- Erstdruck: London 1848 (anonym). -- Der Text folgt der letzten von Friedrich Engels  besorgten Ausgabe von 1890. -- In Marx, Engels: Ausgewählte Werke. -- Berlin : Directmedia, 1998 -- 1 CD-ROM. -- ( Digitale Bibliothek ; Band 11). -- ISBN 3932544153. -- S. 2617. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 


7. Leben im Augenblick versus Leben für die Zukunft


"Der Berliner hat keine Zeit. Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit. Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Verabredung und etwas zu spät -- und hat sehr viel zu tun.
In dieser Stadt wird nicht gearbeitet --, hier wird geschuftet. (Auch das Vergnügen ist hier eine Arbeit, zu der man sich vorher in die Hände spuckt, und von dem man etwas haben will.) Der Berliner ist nicht fleißig, er ist immer aufgezogen. Er hat leider ganz vergessen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind. Er würde auch noch im Himmel - vorausgesetzt, dass der
Berliner in den Himmel kommt - um viere 'was vorhaben'."
[Tucholsky, Kurt < >: Berlin! Berlin! -- Berliner Tageblatt. -- Nr. 332 (1919-07-21). -- In: Werke, Briefe Materialien. -- Berlin : Directmedia, ©1999. -- 1 CD-ROM. -- ISBN 3932544196. -- S. 1393. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}]


Abb.: (©ArtToday)

Gespräch zwischen einem Deutschen und einem "Eingeborenen":

"«He, du da, warum arbeitest du nicht?»
«Aber warum sollte ich denn arbeiten?»
«Damit du Geld verdienst!»
«Und wozu soll ich Geld verdienen?»
«Um dir ein Sparkonto anzulegen!»
«Ja, aber wozu brauche ich denn das Sparkonto?»
«Zum Teufel, dafür, dass du im Alter nicht zu arbeiten brauchst!»
«Na, das tue ich jetzt, wo ich jung bin, doch auch schon nicht!»

"Wenn man genau hinhört, geht die Pointe, das heimliche Gelächter in dieser Geschichte zu Lasten des Touristen. Und irgendwo in der Tiefe pocht sein Neid -- unser Neid. Der alljährliche große Ferienstrom in südliche Gefilde hat ja nicht nur mit der Sonne zu tun, sondern ebenso mit einer Lebensform der Entspanntheit, die wir dort vermuten. Wenigstens auf Zeit möchten wir unsere Angespanntheit auf die Zukunft hin, also die Zeit überhaupt vergessen und bloß den Augenblick genießen. Aber wie soll uns das wirklich gelingen, wenn wir es eben nur auf Zeit, nach dem Terminkalender tun? Daher wohl die Hektik des typischen Urlaubs; möglichst viel soll in die knappe Zeit hineingepackt werden. Wir könnten etwas versäumen, sei es, bildungshungrig, ein Gemäuer mit dem Stern im Reiseführer, sei es, erlebnishungrig, das Abenteuer, die Begegnung mit Traummann oder Traumfrau. Eben damit bleibt freilich die Enttäuschung vorprogrammiert; unser Zeit-Sinn blockiert die Chance zum wirklich anderen Leben. Das -- so vermuten wir -- führen die 'Eingeborenen' heimlich, hinter unserem Rücken, oder wenn wir wieder fort sind."

[Krockow, Christian Graf von <1927 - >: Wie uns die Stunde schlägt : Mensch und Gesellschaft im Wandel der Zeitorganisation. -- In: Im Netz der Zeit : menschliches Zeiterleben interdisziplinär  / hrsg. von Rudolf Wendorff. -- Stuttgart : Hirzel, ©1989. -- (Edition Universitas). -- ISBN 3804710573. -- S. 82. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}]

Wie schon unter dem Punkt Zeitbewusstsein angedeutet, vertreten einige Wissenschaftler die Meinung, dass die kurzfristige Zeitperspektive also das zeitvergessene Verhalten eine der Ursachen von wirtschaftlicher Unterentwicklung sei. Man also schon in der Schule mit Erziehungsprogrammen zum zeitbewussten Umgang anfangen sollte. Man erwartet, dass man durch eine Veränderung des Zeitgefühls Probleme wie Jugendkriminalität oder unerwünschte Teenagerschwangerschaften in den Griff bekommen könnte. Gegen diese letzte Annahme spricht aber die praktische Erfahrung, die z.B. in Nordrhein-Westfalen mit Jugendkriminalität gemacht wird, obwohl in den Lehrplänen für die Grundschule eine Unterrichtseinheit vorgesehen ist, in der die Schüler lernen sollen objektives Zeitbewusstsein und Zeitempfinden zu entwickeln. Gemäß unserer horizontalen Zeitauffassung liegt die Betonung auf einer Zeitleiste, mit der der lineare Verlauf der Zeit veranschaulicht werden soll.

Überzeugender ist die These, dass die Zeitvergessenheit eher eine Folge der Unterentwicklung bzw. der herrschenden Armut ist, denn wenn man keinerlei berufliche Chancen für die Zukunft hat und nur um das tägliche Überleben kämpfen muss, muss man sich auf die Gegenwart konzentrieren und träumt vielleicht oder sammelt Kraft aus einer längst vergangenen Zeit. So versucht zur Zeit Bolivien an die vorkolonialen Zeiten anzuknüpfen, wodurch die Bolivianer erst einmal von der wirtschaftlichen Misere der Jetzt-Zeit abgelenkt werden.

Diskutiert wird, ob eine starke Zukunftsorientierung nicht eher ein Luxus ist, den man sich in wohlhabenden Industrieländern leisten kann, aber auch in den wohlhabenden Oberschichten und in der in vielen Fällen eher erst entstehenden Mittelschicht der Entwicklungsländer. Letzteres kann man daran erkennen, dass diese Schichten sehr viel Wert auf die schulische Erziehung und die Berufsausbildung ihrer Kinder legen, während in armen Bevölkerungsschichten die Kinder eher wenig oder teilweise keinen Schulunterricht haben, da die Eltern darauf angewiesen sind, dass ihre Kinder zum Lebenserhalt beitragen.

Hinz beruft sich in seiner Dissertation auf Segalman:
"Segalman (1965) weist darauf hin, dass die »Realität« bei verschieden sozialen Klassen unterschiedlich gesehen wird Für die Mittelklasse ist beispielsweise eine Straße etwas, worüber man mit seinem eigen Auto fahrt, für die untere Klasse hingegen ist sie eine Fluchtmöglichkeit aus einer überfüllten und trostlosen Behausung. Sex ist für die Mittelklasse eine verbindende Kraft innerhalb der Ehe und ein Faktor der Familienplanung, für die untere Klasse hingegen gehört Sex zu den seltenen Vergnügungen, für die man nicht sofort bezahlen muss. Geld ist für die Mittelklasse etwas, was man spart und nach sorgfältiger Planung vorsichtig gebraucht, für die untere Klasse hingegen etwas, was man sofort benutzen muss, bevor es verschwindet. Dem entsprechend ist für die Mittelklasse Zukunft etwas, worauf man sich freut und was man planen kann, für die untere Klasse hingegen gibt es sie nicht, da man von einem Moment auf den anderen lebt (Segalman, 1965). Der fehlende Zukunftsbezug in unterschiedlichen Bereichen des Lebens (Umgang mit Geld, Sex, Bildung, Delinquenz) ist nicht Folge einer fehlenden »Erziehung zur Bildung einer Zukunftsperspektive«, da die jeweilige sozioökonomische Situation die Ausbildung einer weiten Zukunftsperspektive nicht nahelegt. So macht es in einer Ghettokultur wenig Sinn, Geld oder Besitz anzuhäufen oder zu sparen, da einem beides schnell wieder gestohlen werden kann. Zudem ist in den meisten Ländern der dritten Welt die Lebenserwartung so gering, dass eine weite Zukunftsplanung wenig sinnvoll erscheint. Wenn der Einfluss der sozioökonomischen Situation auf den Umgang mit der Zeit ignoriert wird, macht sich die Psychologie des Voluntarismus verdächtig und wird zu einer Ideologie der Herrschenden. Zudem sollte die Psychologie nicht unkritisch die in der westlichen Welt zur zweiten Natur gewordenen Zeitnutzungsmaximen und die kapitalistische Zukunftsgläubigkeit übernehmen. Schließlich wäre zu fragen, ob der westliche Zukunftsbezug nicht eher als Armut denn als »Luxus« (Plattner, 1993) anzusehen ist."

[Hinz, Arnold <1961 - >: Psychologie der Zeit : Umgang mit Zeit, Zeiterleben und Wohlbefinden. -- Münster [u.a.] : Waxmann, ©2000. -- (Internationale Hochschulschriften ; 329). -- Zugleich: Berlin, Freie Universität, Dissertation, 1999. -- ISBN 3893258701. -- S. 69f. -- Dort Quellennachweise. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}] 

Dass Zukunftsorientierung als Luxus angesehen wird, findet man auch in Deutschland. So sind die Pädagogen der Fröbelschule in Wattenscheid überzeugt, dass man den Jugendlichen keine Hoffnung auf die Zukunft machen soll. Das sei nicht berechtigt, denn die Jugendlichen in dieser Förderschule hätten als Perspektive sowieso nur Arbeitslosigkeit und Hartz IV. Man bereitet also die Kinder direkt auf den Status eines Hartz-Empfängers vor. Folgerichtig wird fast nicht darauf geachtet, dass die Jugendlichen zum Unterricht erscheinen. Für eine Fernsehsendung über die Schule wurden Jugendliche und die im allgemeinen arbeitslosen Eltern zu dieser Anschauung befragt: beide Seiten erwarten eigentlich von der Schule, dass die Jugendlichen auf eine bessere Zukunft vorbereitet werden. [vgl.: Müller, Eva: Die Hartz-VI-Schule : wie Kinder auf Arbeitslosigkeit vorbereitet werden. WDR-Fernsehen, Monitor Nr. 567 am 23.8.2007. Bericht im Internet: www.wdr.de/tv/monitor/beitrag.phtml?bid=908 ]


8. Faulheit und Fleiß



Abb.: Jinei zaikin -- "Das Leben ist Arbeit", Wahlspruch von Kintarô Hattori (1860 - 1934), Gründer von SEIKO [Webpräsenz: http://www.seiko.com/. -- Zugriff am 2001-05-20]

Die folgenden Zitate mögen genügen, um kritisch zu machen gegenüber den jeweils eigenen Vorstellungen und Bewertungen von "Faulheit" und "Fleiß".

  • Arbeit adelt -- wir bleiben bürgerlich
  • Arbeit macht Spaß -- und Spaß wird nicht gemacht
  • Arbeit ist aller Laster Anfang
  • Morgenstund mit Gold im Mund, ist mitunter ungesund
  • Es gibt viel zu tun, lassen wir es bleiben.

Deutsche "Antisprichwörter"

"Dass der Kommunist in dir den Menschen, den Bruder erblickt, das ist nur die sonntägliche Seite des Kommunismus. Nach der werktägigen nimmt er dich keineswegs als Menschen schlechthin, sondern als menschlichen Arbeiter oder arbeitenden Menschen. Das liberale Prinzip steckt in der ersteren Anschauung, in die zweite verbirgt sich die Illiberalität. 

Wärest du ein »Faulenzer«, so würde er zwar den Menschen in dir nicht verkennen, aber als einen »faulen Menschen« ihn von der Faulheit zu reinigen und dich zu dem Glauben zu bekehren streben, dass das Arbeiten des Menschen »Bestimmung und Beruf« sei.

Darum zeigt er ein doppeltes Gesicht: mit dem einen hat er darauf acht, dass der geistige Mensch befriedigt werde, mit dem andern schaut er sich nach Mitteln für den materiellen oder leiblichen um. Er gibt dem Menschen eine zwiefache Anstellung, ein Amt des materiellen Erwerbs und eines des geistigen.

Das Bürgertum hatte geistige und materielle Güter frei hingestellt und jedem anheim gegeben, danach zu langen, wenn ihn gelüste. Der Kommunismus verschafft sie wirklich jedem, dringt sie ihm auf und zwingt ihn, sie zu erwerben. Er macht Ernst damit, dass wir, weil nur geistige und materielle Güter uns zu Menschen machen, diese Güter ohne Widerrede erwerben müssen, um Mensch zu sein. Das Bürgertum machte den Erwerb frei, der Kommunismus zwingt zum Erwerb, und erkennt nur den Erwerbenden an, den Gewerbetreibenden. Es ist nicht genug, dass das Gewerbe frei ist, sondern du musst es ergreifen. So bleibt der Kritik nur übrig zu beweisen, der Erwerb dieser Güter mache uns noch keineswegs zu Menschen."

[Stirner, Max <1806 - 1856>: Der Einzige und sein Eigentum. -- Leipzig, 1855 [in Wirklichkeit 1844]. -- In: Philosophie von Platon bis Nietzsche. -- Berlin : Directmedia, 1998. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; Bd. 2). -- ISBN 3932544110. -- S. 47426f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}]

Das Gegengift

Preis sei dem Geber! jede seiner Gaben
Ist huld- und weisheitvoll. Er teilte sie,
Er wog sie ab zur langen Dauer und
Vollkommenheit der Schöpfung.
Seine Erde
Gab er nicht Engeln; Menschen gab er sie.
Der Menschen Bester ist, wer selten strauchelt,
Ihr Edelster, wer bald vom Fall aufsteht.

Tief keimete das Laster in der neu
Geschaffnen Erde; wild schoss es empor,
Gift seine Blüte, seine Früchte Tod.

Da schuf er ihm ein mächtig Gegengift,
Für Torheit ein Verwahrungsmittel, Arbeit.
Sie macht er uns zum heiligsten Gesetz,
Den Fleiß zur Pflicht.
Arbeitsamkeit verriegelt
Die Tür dem Laster, das dem Müßigen
Zur Seite schleicht und hinter ihm das Unglück.

Willst du dem Feinde fluchen, wünsch ihm Muße;
Auf Muße folgt viel Böses und des Kummers
Gar viel.
Arbeitsam wirkt die Seele froh;
Langweil'ger Müßiggang beschäftigt sie
Zur Reue, zum Verderben. Torheit leitet
Den Müßigen; Mutwill und Vorwitz führen
Ins Dunkel ihn, wo Gott nicht ist.
Arbeitet,
Ihr Weisen in dem Volk, befördert euer
Und vieler Glück.
Wo wohnt Beruhigung? 
Wo Segen der liebreichen Gottheit? Wo
Genus der Tage? Wo das edelste
Vergnügen? Nur in Arbeit! - - -"

[Herder, Johann Gottfried <1744 - 1803>: Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. -- Riga : Hartknoch, 1793-1797. -- In: Philosophie von Platon bis Nietzsche. -- Berlin : Directmedia, 1998. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; Bd. 2). -- ISBN 3932544110. -- S. 30649f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}]

Steht in einem Arbeitszeugnis: "der Mitarbeiter war im Großen und Ganzen fleißig" entspräche das der schulischen Note "mangelhaft", denn in Wirklichkeit war er wohl eher faul. Fleiß wird in unserem Kulturkreis, wie oben aus dem Herder-Zitat zu ersehen,  als eine wichtige Tugend angesehen und das gilt auch für die Freizeit. Man schaue sich nur an, was z.B. in Dörfern an eigentlich arbeitsfreien Tagen geleistet wird. Ein Blick auf die gepflegten Gärten genügt.

Vor allem in der Generation, die nach dem 2. Weltkrieg die Wirtschaft wiederaufgebaut hat, war die Tugend Fleiß verbunden mit der Tugend Sparsamkeit sehr wichtig. Ein Beispiel aus meiner Praktikantenzeit 1971: eine Mitpraktikantin und ich mussten mit Hilfe einer Rechenmaschine Zahlen addieren. Zum Überprüfen rissen wir einfach das entsprechende Papier von der Rolle, um unsere Zahlenkolonnen nebeneinander zu lesen. Welche schlimme Tat: nun konnte man die verbrauchte Papierrolle nicht noch einmal aufrollen, um sie wieder zu benutzen. Aus Sparsamkeitsgründen wurde die Rolle dreimal von Hand aufgerollt. Da die Zahlenkolonnen  schmal waren, konnte man jede Seite ja zweimal benutzen. Noch absurder schien mir die Methode des Farbbandausnützens: man tippte jeden Buchstaben doppelt. Die Kollegenschaft war so geprägt von den Mangel-Zeiten nach dem Krieg, dass ihr die Idee, dass ihre Arbeitszeit  teurer ist als das Papier, gar nicht gekommen ist. Als elektrische Schreibmaschinen mit Korrekturband angeschafft werden konnten, gab es bei den älteren Kolleginnen Widerstand mit der Begründung, man könne sie als faul ansehen, da ja ein Korrekturband die Arbeit sehr viel bequemer macht. Der Lernprozess, dem die Kollegenschaft unter einem neuen Direktor unterworfen wurde, dass die Zeit zu beachten ist, war für einige sehr tüchtige und gewissenhafte Mitarbeiter sehr hart.

In der älteren Managementliteratur findet man aus guten Gründen u. a. den Rat, einem faulen oder besser gesagt bequemen  Mitarbeiter bei der Arbeit zuzusehen: er will schneller fertig werden und hat vielleicht deshalb die Arbeitsschritte rationalisiert.


 

8.1. Dauerüberlastung als Statussymbol



Abb.: (©ArtToday)

"Man versuche, fünf ehrenwerte Persönlichkeiten zu einer Konferenz zusammenzubringen. Gelingt das ohne größere Schwierigkeiten, so hat man die falschen ausgesucht. Bei den richtigen ist es fast unmöglich. Schafft man es doch einmal, so geht es keinesfalls ohne Störungen ab. Der eine kann erst am Nachmittag kommen, der zweite muss dann schon wieder weg. «Das Entwicklungspalaver in Nairobi . . !:» Tiefes Seufzen. «Sie verstehen?» Man versteht. Der dritte wird von Zeit zu Zeit herausgerufen: «Herr Brokdorf, Telefon!»

Wie seltsam, wie wenig »natürlich« das alles ist, erkennt man am Vergleich. Als [Otto von] Bismarck [1815 - 1898] noch die Geschichte Preußens und Deutschlands, um nicht zu sagen Europas lenkte, verschwand er oft für Wochen, manchmal für Monate auf pommersche Güter, um dann mit Berlin gelegentlich Briefe und Boten zu wechseln. Anderen großen Staatsmännern des 19. Jahrhunderts, wie [Charles de] Talleyrand [1754 - 1838], oder [Klemens Wenzel Fürst von] Metternich [1773 - 1859], wäre es einfach als kulturlos, als barbarisch erschienen, keine Zeit zu haben. Napoleon freilich war schon ein anderer Fall. Aber mit seiner Arbeitswut, seiner Gehetztheit, seinem Vier-Stunden-Schlaf bewies er nur seine zweifelhafte, revolutionäre Abkunft, die ihn schließlich zu Fall brachte - oder, was aufs gleiche hinausläuft: dass er der allzu frühe Sendbote eines neuen Zeitalters war.

Muße stellte einst das Kennzeichen der wahren, der aristokratischen Oberschicht dar. Deshalb konnte der amerikanische Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen noch 1899 eine Analyse der Oberschicht unter dem Titel Theorie der Muße-Klasse liefern. 

[Veblen, Thorstein <1857-1929>: The theory of the leisure class; an economic study in the evolution of institutions. -- New York, London :  Macmillan, 1899. -- 400 S.]

Und er konnte über den «demonstrativen Verbrauch der Muße wettern, über die Vergeudung als Statussymbol, dieses teure, immer neue und immer gleiche Spiel der Jagden und der Feste, mit Pferden und Frauen . . . Heute würde die Beschreibung allenfalls noch zum Jet-Set der Playboys und -girls passen: reich zwar, aber längst nicht mehr einflussreich."

[Krockow, Christian Graf von <1927 - >: Wie uns die Stunde schlägt : Mensch und Gesellschaft im Wandel der Zeitorganisation. -- In: Im Netz der Zeit : menschliches Zeiterleben interdisziplinär  / hrsg. von Rudolf Wendorff. -- Stuttgart : Hirzel, ©1989. -- (Edition Universitas). -- ISBN 3804710573. -- S. 81f.. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}]

Im obigen Zitat bezieht Krockow sich insbesondere auf wichtige Persönlichkeiten. Inzwischen ist "Keine-Zeit-Haben" ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen der arbeitenden Bevölkerung und zum Teil schon der Schulkinder, die neben der Schule feste Sport-, Musik- u. ä. stunden haben. In den großen Unternehmen gehört es zum Status, dass man so viel Arbeit hat (und so wichtig ist), dass man über die tariflich festgesetzte Arbeitszeit hinaus im Betrieb sein muss.

In den USA werden lange Arbeitszeiten inzwischen zu einem Bestandteil der Unternehmenskultur. In einem Handbuch für Neueingestellte, das eine Liste der Normen des Unternehmens und der Folgen für die Karriere bei Erfüllung dieser Normen enthält, ist zu lesen: "Die Zeit, die Sie am Arbeitsplatz verbringen, spricht für ihr Engagement. Arbeiten Sie länger." Oder: "Wenn Sie länger arbeiten, zeigt das Ihren Einsatz."

 [Zitiert nach: Hochschild, Arlie Russell: Keine Zeit : Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet. - 2. Aufl. - Wiesbaden : Verl. für Sozialwissenschaften, 2006. - XXXVIII, 305 S. - (Geschlecht & Gesellschaft ; 29) - Einheitssacht.: The time bind <dt.>. - ISBN 3-531-14468-5]

Hochschilds Untersuchung zeigt, dass die meisten Beschäftigten diese Dauerbelastung durch die übermäßigen Zeiten am Arbeitsplatz gern auf sich nehmen, weil ihnen die Zeit im Unternehmen angenehmer ist als die Arbeitszeit in der Familie (Haushalt!) und dass sie für die Arbeit im Unternehmen von der Umwelt mehr geschätzt werden als für die selbstverständliche Arbeit zu Hause. [a. a. O. S. 212].


8.2. Demonstrativer Müßiggang



Abb.: Demonstrativer Müßiggang: Hand eines vornehmen Südvietnamesen, vor 1920

Im oben erwähnten soziologischen Klassiker

Veblen, Thorstein <1857-1929>: The theory of the leisure class; an economic study in the evolution of institutions. -- New York, London :  Macmillan, 1899. -- 400 S.

widmet der Autor das ganze Kapitel 3 dem demonstrativen Müßiggang in vielen Kulturen und Gesellschaften. Folgende Beobachtungen gelten auch noch für manche Kulturen der Gegenwart:

"Doch ist es die besitzende Oberklasse, mit der wir uns vor allem beschäftigen wollen. Auch hier fehlt der Anreiz zu Fleiß und Sparsamkeit keineswegs, doch wird seine Wirkung durch die sekundären Forderungen des Wettbewerbs so stark eingeschränkt, dass praktisch jedes Streben nach Sparsamkeit lahmgelegt und der Anreiz zum Fleiß dadurch wirkungslos wird. Die wichtigste und am weitesten verbreitete unter diesen sekundären Forderungen besteht im Verbot der produktiven Arbeit. Dieses Verbot gilt in besonders hohem Maß für die barbarische Kulturepoche. Im räuberischen Stadium der Kultur wird die Arbeit im Bewusstsein der Menschen mit Schwäche und Unterwerfung unter einen Herrn und Meister in Zusammenhang gebracht. Sie wird so zu einem Merkmal der Minderwertigkeit und gilt daher als eines wirklichen Mannes unwürdig, denn sie wird als erniedrigend empfunden. Diese Tradition ist niemals ausgestorben, sondern hat im Gegenteil mit dem Fortschritt
der sozialen Differenzierung und dank uralten und niemals in Frage gestellten Geboten die Macht eines Axioms angenommen.

Um Ansehen zu erwerben und zu erhalten, genügt es nicht, Reichtum oder Macht zu besitzen. Beide müssen sie auch in Erscheinung treten, denn Hochachtung wird erst ihrem Erscheinen gezollt. Das Zurschaustellen von Reichtum dient jedoch nicht allein dazu, anderen die eigene Wichtigkeit vor Augen zu führen und sie in ihnen lebendig zu erhalten, sondern auch dazu, das persönliche Selbstbewusstsein zu stärken und zu erhalten. Mit Ausnahme der niedrigsten Kulturstufen beruhte die Selbstachtung des normalen Menschen seit jeher auf einer »würdigen Umgebung« und auf der Befreiung von »niedrigen« Diensten. Ist er gezwungen, in seiner Lebensführung oder in der Ausübung seiner Tätigkeit »unter seine Verhältnisse« herabzusteigen, so empfindet er dies als einen Angriff auf seine Menschenwürde, und zwar ganz unabhängig von der Zustimmung oder Missbilligung seiner Mitmenschen.

Die uralte theoretische Unterscheidung zwischen dem »Gemeinen« und dem »Ehrenvollen« in der Lebensführung eines Menschen hat selbst heute noch viel von ihrer einstigen Macht bewahrt; dies trifft so sehr zu, dass es wohl wenige Angehörige der oberen Klasse gibt, die nicht von einem instinktiven Widerwillen gegenüber den vulgären Formen der Arbeit besessen sind. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass vor allem jenen Beschäftigungen eine gleichsam formelle Unsauberkeit anhaftet, die wir für gewöhnlich mit Dienstleistungen in Zusammenhang bringen. Feine Leute glauben fest daran, dass gewisse niedrige Arbeiten, die im allgemeinen vom Dienstpersonal verlangt werden, auch geistig anstecken müssen. Ein plebejisches Milieu, missliche (das heißt billige) Behausungen und eine im landläufigen Sinne produktive Arbeit werden ohne Zögern verurteilt und gemieden, weil sie mit dem Leben auf einer befriedigenden geistigen Ebene -- mit dem »höheren Denken« -- unvereinbar sind. Seit den Zeiten der griechischen Philosophen haben nachdenkliche Menschen von jeher ein gewisses Maß an Muße und an Freiheit von jener den unmittelbaren Bedürfnissen des Lebens dienenden Plackerei für die Vorbedingung eines würdigen und schönen, ja sogar eines untadeligen Lebens gehalten. In den Augen aller zivilisierten Menschen ist ein Leben der Muße an sich und in seinen Folgen schön und adelt denjenigen, der es lebt."

"Man wird bereits bemerkt haben, dass der Begriff der Muße, wie er hier gebraucht wird, nicht einfach Trägheit oder Ruhe bedeutet; gemeint ist damit vielmehr die nicht produktive Verwendung der Zeit. Dies geschieht aus zwei Gründen:

  1. auf Grund der Auffassung, dass produktive Arbeit unwürdig sei, und
  2. um zu beweisen, dass man reich genug ist, um ein untätiges Leben zu führen."

[Veblen, Thorstein <1857 - 1929>: Theorie der feinen Leute : eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. -- Frankfurt a. M. : Fischer, 1986. -- (Fischer Wissenschaft ; 7362). -- ISBN 3596273625. -- Originaltitel: The theory of the leisure class (1899). -- S. 51 - 53, 58. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


Abb.: Für die einen heiliger Eifer, für die anderen faules Schmarotzertum: indische Heilige, vor 1920


9. Pünktlichkeit und Leben nach der Zeit


Der Uhrenzieher
"Um aus der Reihe dieser Schwächen nur eine allerkleinste, freilich eine sehr charakteristische, herauszugreifen -- er war ein »Uhrenzieher«, und zwar einer der eifrigsten und bedrücklichsten, die mir in meinem Leben vorgekommen sind. Nun wird dieser oder jener sagen: »Uhrenzieher! Warum nicht? Uhrenzieher, das sind einfach pünktliche Leute.« Gewiss. Aber Pünktlichkeit ist durchaus nicht das, was den eigentlichen Uhrenzieher ausmacht. Pünktlichkeit ist unbestritten eine Tugend, und wer pünktlich ist und nur pünktlich, ohne jeden weiteren Beigeschmack, den will ich loben, wiewohl offen gestanden mir persönlich die ganze Sache nicht viel bedeutet. Ich denke, dem Glücklichen schlägt keine Stunde, und er soll die glückliche Stunde nicht abkürzen, auch nicht auf die Gefahr hin, dabei einmal unpünktlich zu sein. Aber wenn er es zu müssen glaubt, gut. Ich habe nichts dagegen. Er wird sich dann aber aus der Schar der Glücklichen wegstehlen, ohne nach der Uhr gesehen zu haben, oder doch nur ganz still, ganz leise, ganz heimlich und diskret. Anders der eigentliche Uhrenzieher, der Uhrenzieher von Fach. Er zieht seine Uhr mit Ostentation, er zieht sie auch da noch, wo ein an der Wand befindlicher Chronometer die Stunde ganz genau zeigt, er zieht sie, weil er sie ziehen will, weil er eine mehr oder weniger unliebenswürdige Person ist, die einer ganzen Versammlung zu zeigen beabsichtigt: »Euer Gebaren hier ist gar nichts; ich habe Wichtigeres zu tun, und ich verschwinde.«"

[Fontane, Theodor <1819 - 1898>: Von Zwanzig bis Dreißig : Autobiographisches. -- Entstanden 1894 - 1896. -- Erstdruck: Berlin, 1908. -- In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- ( Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 36261f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}]

"Die meisten Touristen aus dem Westen sind von den Frustrationen in Afrika gut abgeschirmt. Sie werden vom Flughafen zu einem Hilton oder Intercontinental Hotel, dann zu einem Tierpark, danach zu einer Besichtigung des Stadtmarkts von Nairobi und schließlich zum Flughafen befördert, um nach London oder Frankfurt zurückzufliegen. Aber wer länger dort bleibt, stellt fest, dass all die Dinge, die man im Westen zur Pünktlichkeit, Effizienz und rationalen Denkweise gelernt hat, mit Afrika nicht viel zu tun haben. Afrika lässt sich nur durch sich selbst erklären. Es ist eine andere Welt, in der der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten selten eine Gerade und in der Geduld mehr als nur eine Tugend ist; sie ist überlebensnotwendig. Afrika hat alle üblen Eigenschaften europäischer Bürokratien übernommen. Hinzu kommen Unwissenheit und Gleichgültigkeit. So ist ein System entstanden, das so ungerichtet und lethargisch ist wie eine ruderlose Dhau in rauer See. Offen gesagt, Afrika funktioniert nicht besonders gut.

In Westafrika haben die Ausländer ein Wort geprägt, um ihre verlorenen Schlachten im Alltag zu beschreiben -- WAWA, ein Kürzel für West Africa Wins Again (Westafrika hat wieder gewonnen). Es erinnert einen daran, dass man sich mit dem System und nicht entgegengesetzt bewegen muss, um Stress zu vermeiden. Wenn das Telefon nicht funktioniert, das Hotel kein Essen mehr hat, die Klimaanlage ächzt und kaputt geht, der Funktionär drei Stunden zu spät zu einem Termin erscheint, das Flugzeug nicht am vorgesehenen Tag und noch viel weniger zur vorgesehenen Stunde ankommt, dann zuckt man nur mit den Schultern und sagt sich: »Ich bin gewawat worden.« Diese Krankheit ist nur selten tödlich.

Die Afrikaner sind verwundert, wenn jemand aus dem Westen sich über all die Unannehmlichkeiten aufregt. Sie betrachten solche Zeichen der Ungeduld als typische Eigenschaft der Europäer und Amerikaner. Die Afrikaner leben nicht nach der Uhr und bewahren die Fassung, wenn die Dinge unter der warmen Tropensonne nur langsam oder gar nicht in Bewegung geraten. Sie stehen drei oder vier Stunden lang friedlich in einer Schlange, um die Wasserrechnung zu bezahlen. Sie füllen gehorsam die Stadien, um ihre Führer einen Nachmittag lang über politische Philosophien schwadronieren zu hören, die ihnen unverständlich bleiben. Sie stellen sich den ganzen Tag lang im Krankenhaus an, um einen Arzt zu konsultieren. Wenn der Arzt an diesem Tag niemanden mehr empfängt, gehen sie ohne ein Wort des Protests nach Hause und kehren zum nächsten Termin zurück. Wozu die Eile? Zeit ist das einzige, was im Leben im Überfluss vorhanden ist.


Abb.: Lage von Nairobi (©MS Encarta)

Am stärksten hat mich in Afrika die Untätigkeit (nicht Faulheit) beeindruckt: Ich erinnere mich an Tausende von Kenianern, die auf den Grünflächen Nairobis ausgestreckt vor sich hindösen; an Menschenmassen, die auf städtischen Plätzen herumsitzen; an häuserblocklange Schlangen vor Behörden; an Hunderte von Leuten, die ruhig in einem Notaufnahmeraum auf einen Arzt warten -- darunter manche mit Knochenbrüchen und eiternden Wunden. Manchmal kehrte ich nach dem Mittagessen in mein Büro in Nairobi zurück und fand dort ein Dutzend Leute vor, die bei meiner ugandischen Sekretärin saßen. Sie starrten die Wände an, keiner redete und ihre Hände lagen im Schoß. Es gab keinen anderen Ort, wo sie hätten hingehen können, und sie hatten nichts anderes zu tun. Es gab wenig Arbeit. Selbst für diejenigen, die arbeiten, sind die wirtschaftlichen Anreize in Afrika oft so gering -- ein tansanischer Farmer erhielt von seiner Regierung 20 Pfennig für ein Pfund Kaffeebohnen, das man in einem deutschen Supermarkt für zehn Mark kauft --, dass das Nichtstun eine erträgliche Alternative zur Arbeit darstellt. Unter solchen Umständen lebt man sein Leben nicht nach der Uhrzeit.

Hinter dem Steuer eines Autos sind die Afrikaner seltsamerweise wie gewandelt. Auf einmal zählt Geschwindigkeit. Mit blutleeren Knöcheln und angespannt wie Rennfahrer, rasen sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Hänge herunter und in Kurven hinein. Die Autos sind so vollgepackt wie Tokios Untergrundbahn. Geschwindigkeitsbegrenzungen werden von den Fahrern ignoriert und die Polizei setzt sie nicht durch. Es gibt keinen TÜV und Sicherheitsgurte sind praktisch unbekannt. Daraus resultiert ein Gemetzel auf den Straßen, das meistens blutiger als die alten Stammeskriege verläuft."

[Lamb, David: Kulturschock. -- In: Afrikanissimo : ein heiter-sinnliches Lesebuch / Ilija Trojanow (Hg.) ... -- Wuppertal : Hammer, ©1991. -- ISBN 3-87294-468-1. -- S. 7 - 9]


Abb.: Rathausuhr, Wolfach, Baden, vor 1894


Abb.: Fabrikuhr der Bayer AG, Leverkusen, um 1910 (Foto: Werkarchiv)

Pünktlichkeit setzt voraus, dass man Zugang zur gemessenen Zeit hat. Rathausuhren wurden in großen Städten zwar schon im Mittelalter üblich, aber reichten nicht für die Bedürfnisse der Fabriken. In den Fabriken mussten die teuren Maschinen möglichst rund um die Uhr bedient werden, also mussten die Bediener pünktlich zu ihrer Schicht kommen. Außerdem können keine kooperativen Arbeitsprozesse durchgeführt werden, wenn die Mitarbeiter nicht gleichzeitig arbeiten. Es mussten also Fabrikuhren in den Produktionsstätten angebracht werden. Auch das Überwachen der Pünktlichkeit wurde durch Stempeluhren eingeführt. Solche Stempeluhren wurden 1885 von Bundy in den USA hergestellt und verbreiteten sich nach 1900 in Deutschland.

[vgl.: Leben und arbeiten im Industriezeitalter : eine Ausstellung zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns seit 1850 / Germanisches Nationalmuseum. -- Stuttgart : Theiss, ©1985. -- (Kataloge des Germanischen Nationalmuseums). -- ISBN 3-8062-0443-8. -- S. 295]


Abb.: "Wenn die 8. Stunde geläutet wird, ruht am Arbeitsplatz alles". -- La voix du peuple. -- 1906-05-01

Mit den Fabrikuhren, den Stempel- oder Stechuhren und den Stoppuhren sind drei verschiedene Ziele verbunden:  die Fabrikuhr konnte die Willkür des Arbeitgebers, die Arbeit beliebig zu verlängern, unterbinden, half also den Arbeitern im Kampf um eine Verkürzung der Arbeitszeit. Die Stempel- oder Stechuhr zeigt auf der einen Seite dem Arbeitgeber, dass der Arbeiter die geforderte Zeit erbracht hat, und für den Arbeitern ist es ein Nachweis bei Auseinandersetzungen um die Abrechnung. Die Stoppuhr hingegen kann eingesetzt werden, um zu überprüfen, ob die Arbeiter in ihrer Arbeitszeit etwas leisten bzw. um zu prüfen, wie schnell der einzelne seine Arbeit erledigt.

"Die Fabrikuhr auf dem Werksgelände war nicht etwa nur eine Maßnahme der Fabrikeigentümer, sondern auch eine Forderung der Arbeiter im Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit. Eine auf dem Werksgelände aufgestellte und gut sichtbare Uhr, beendete die Willkür, die Arbeitszeit von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang festzusetzen." [...]

"Die Motivation der Anwender bestimmt den Charakter des Kontrollinstruments. In Unternehmerhand verschärfen Fabrikordnung und Kontrolluhren den Gegensatz zwischen drinnen und draußen. Bleibt der Arbeiter vor den Fabriktoren sich selbst überlassen, mag er subjektiv Freiheit erleben und sei es auch nur die Freiheit von Arbeit durch Freizeit oder Arbeitslosigkeit. Jedoch erlebt er dagegen hinter geschlossenen Werkspforten Disziplin, Kontrolle und Unterwerfung unter das Fabrikregime.

Stellt man sich die Anwendung dieser Kontrollinstanzen auf dem Hintergrund wachsender Arbeitslosigkeit der 20er Jahre vor, erkennt man die Wirksamkeit dieser Kontroll- und Herrschaftsinstrumente. Es bleibt den Arbeitern kaum eine andere Wahl, als sich analysieren, messen und kontrollieren zu lassen. Am Fabriktor endet die Demokratie.

Nachdem man Werkzeug mechanisiert und Maschinen automatisiert hat, geht man jetzt daran Maschinen zum Maß des Menschen zu machen und untersucht ihn mit Fragen folgender Art: Wie zuverlässig funktioniert er, wie schnell und wie störungsfrei arbeitet er? ...

Beruhte die Bemessung der Arbeitsleistung durch Meister und Vorgesetzten vorher auf subjektiven Einschätzungen, so genügt die Subjektivität nicht mehr und wird mit dem Messinstrument der Stoppuhr objektiviert. Aber selbst mit diesem Instrument ließen sich nicht für jede ,Kalkulation` zufriedenstellende Messungen vornehmen, da hier erstens die ganze Aufmerksamkeit eines Kontrolleurs für einen Beschäftigten Voraussetzung war und zweitens der Stoppvorgang kaum noch mit anderen Beobachtungen zur Arbeitsqualität gleichzeitig durchführbar ist. Dieser Mangel ließ neue Apparate zur Leistungsbemessung entstehen. Folgendermaßen funktionierte eine Arbeiterkontrolluhr von 1912, die das Messobjekt, der Arbeiter, selbst zu betätigen hatte: Mit der Uhr am Arbeitsplatz erhält der Arbeiter zwei Karten, eine Zeitkarte, in der er alle seine Arbeiten in zeitlicher Reihenfolge locht, Arbeitszeit einstempelt und Auftragsnummer einträgt - womit er die Unterlage für seine Lohnliste selbst erstellt - und eine Auftragskarte, auf der die betreffende Teilarbeit angehakt und mit der Zeitkarte gelocht wird. Auf diese Weise wird es dem Betrieb möglich kalkulierte Zeiten zu überprüfen.

Die Zeitkontrolle, die hier nach dem Prinzip der Stechuhr oder Stempeluhr vorgenommen wird, erforderte aber selbst Zeit, die dem Arbeiter während seiner Tätigkeit verlorenging. Die Realisierung einer automatischen Arbeitskontrolle war daher selber nur eine Frage der Zeit.


Abb.: Betriebspsychograph, 1912

Eine lückenlose Kontrolle über die zu bedienenden Maschinen gewährleistete ein Apparat, der mit einer biegsamen Welle am Arbeitsgerät befestigt war und wie ein Fahrtenschreiber funktionierte. Das Modell wurde als Betriebspsychograph bezeichnet."

[Rationalisierung 1984 / Staatliche Kunsthalle Berlin ... -- Berlin : Staatliche Kunsthalle, ©1983. -- S.74f.]


9.1. Pünktlichkeit und Arbeitsdisziplin



Abb.: Lage von Niamey (©MS-Encarta)

"In Niamey [Hauptstadt von Niger] beginnt in den Büros der Ministerien die Arbeit um halb acht Uhr. Ich gehe um acht Uhr hin, aber der Beamte, mit dem ich verabredet bin, ist noch nicht da. Das ist sehr ärgerlich, und ich frage eine Bürodame um Auskunft. Wir hätten doch ein Rendezvous für acht Uhr abgemacht.

Sie klappt gelassen ihr Modejournal zu, legt ihre Arme breit über die Riesenschreibmaschine, in der um acht Uhr noch kein Blatt eingespannt ist, und erklärt schlicht: «Il n'est pas encore arrivé!» Er ist einfach noch nicht da, du siehst es ja, wozu die dumme Fragerei. Da gibt es doch keinen Grund, sich aufzuregen! Er ist noch nicht da, aber er wird kommen. C'est tout!"

[Gardi, René <1909 - >: Weisheiten und Narrheiten : allerlei aus meinen Afrika-Tagebüchern. -- Bern : Benteli, ©1975. -- ISBN 3-7165-0053-4. -- S. 58f.]


Abb.: "Lasst uns pünktlich sein! Um unser Leben besser zu machen, wollen wir alle Zeit sparen." -- Kampagne zur Verbesserung des täglichen Lebens. -- Shinseikaten tsûshin [Zeitung]. -- Japan. -- 1957-06-10

"Und da ich grade von den preußischen  Verwaltungsbeamten erzähle, kann ich nicht umhin, ihrer Ehrlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Pünktlichkeit das wohlverdiente Lob zu spenden. Doch muss ich die Bitte hinzufügen, sie möchten sich 
bei der Ausübung ihrer Pflichten nicht allzusehr gebärden, als befänden sie sich auf einer Sauhetze."

Jules Haret

[Zitiert in: Tucholsky, Kurt < >: Die Schupo. -- Die Weltbühne. -- 26 (1922-06-29). -- In: Werke, Briefe Materialien. -- Berlin : Directmedia, ©1999. -- 1 CD-ROM. -- ISBN 3932544196. -- S. 234. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}]

"In den Städten ... tritt die Frau immer mehr ins öffentliche Leben, ist gezwungen Bureaustunden inne zu halten und ebenso genau auf die Zeit zu achten wie der Mann."

Süddeutsche Uhrmacher-Zeitung, 1902

Auch bei Pünktlichkeit und Arbeitsdisziplin hilft zum Verständnis anderer Einstellungen ein Blick auf die Geschichte der in unserer Kultur herrschenden Einstellung:

Noch bis gegen 1850 bestimmten bei uns das Tageslicht und das örtliche Glockenläuten die Einteilung des Tages. Bei den Bauern bestimmten die Bedürfnisse der Tiere die Tageseinteilung, aber auch die Zeiten, an denen man sich ausruhen konnte. Das ist bei selbstständigen Landwirten mit Viehwirtschaft auch heute noch so: sonntägliche Familientreffen müssen vor der abendlichen Fütterungszeit abgeschlossen sein. Man brauchte keine Uhr, das Gefühl bzw. das Glockenläuten ließ einen zur richtigen Zeit in den Stall gehen. Übrigens gibt es fast jedes mal Konflikte bei der Umstellung der Uhrzeiten von Sommer auf Winterzeit und umgekehrt: Tiere sehen nicht ein, dass sie plötzlich früher oder später gemolken oder gefüttert werden.

Da die Mehrheit der Menschen damals in der Landwirtschaft tätig waren, Heimarbeiter waren oder als Handwerker in kleinen Werkstätten arbeiteten, bestimmte das Hell- und Dunkelwerden den Tag: im Sommer arbeitete man mehr, im Winter gab es dann auch Zeiten der Muße. Viel wichtiger waren die Aufgaben, die durchgeführt werden mussten: stand z.B. die Kartoffelernte an, musste so lange gearbeitet werden, bis die Dunkelheit es nicht mehr erlaubte. Oder wenn Regen drohte und das Heu eingebracht werden musste, gab es keinen Feierabend. Letzteres  gilt selbstverständlich auch für heutige Landwirte. Im Gegensatz zu den Bauern früherer Jahrhunderte haben heutige Landwirte aber nicht mehr die von der Witterung und Dunkelheit vorgegebene Mußezeit im Winter: sie müssen sich um die Maschinen kümmern und ihre Abende der Bürokratie widmen.

Bei Heimarbeitern und Handwerkern kam es sehr viel mehr auf die eigene Organisation der Arbeit an: eine Aufgabe musste bis zu einem bestimmten Termin erledigt werden. So gibt es Berichte, dass in der Heimindustrie die Webstühle am Anfang eines Arbeitszyklus relativ weniger bedient wurden, dann aber vor dem Abgabetermin Tag und Nacht gearbeitet wurde.

Entscheidend ist dabei, dass es keine Trennung zwischen Arbeit und übrigem Leben gibt: es gibt keine deutlichen räumlichen und zeitlichen Grenzen. (Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch heute für manche Selbständige, solange nur die Familie mitarbeitet und es keine festen Angestellten gibt.)

Zusätzlich gab es in früheren Jahrhunderten sehr viele kirchliche Fest- und Feiertage, an denen nicht gearbeitet werden durfte.

Durch die Industrialisierung entstand dann die Notwendigkeit der Zeitmessung, wie oben schon beschrieben. Durch die Fabrikarbeit wurden Wohnung und Arbeitsplatz räumlich getrennt, der Fabrikarbeiter musste sich der Disziplin der Fabrikarbeit und dann auch des Fließbandes unterziehen. Er musste lernen mit der Zeit umzugehen insbesondere auf die Verschwendung der Zeit zu achten.

"Das Interesse der Fabrikanten musste sich darauf richten, die kostspieligen Maschinen möglichst rentabel und damit ununterbrochen zu betreiben. Die Teilarbeit an den Maschinen, die den Arbeitstakt vorgaben, verlangte von Arbeitern und Arbeiterinnen Pünktlichkeit und Präzision.

Von nun an diktierte die Uhr die tagein, tagaus gleichförmigen Arbeitsabläufe. Sie war allgegenwärtig: in den Arbeitsräumen, am Fabriktor. Die Fabrikglocke, später die Sirene, verkündete drinnen und draußen die Produktionszeiten. Überwacht wurden Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der Arbeitenden zunächst von Meistern oder Vorarbeitern, später durch »Arbeitskontrollapparate«.


Abb.: Inserat für Stechuhren, Berlin, um 1920

"6 Uhr morgens ist die Zeit,
Wenn der Kruppsche Esel schreit.
Dann rennt jeder was er kann,
Mit und ohne Henkelmann,
Denn genau in 5 Minuten
Wird der Esel wieder tuten.

Nur der dicke Rentner Feuchter
Eilt nicht! Seines Weges keucht er,
Plötzlich -- da ein Stoß, ein Schwupp!
Fliegt sein Hut zum selben Krupp!
Nun rennt auch er, wie besessen!

So sieht's aus früh 6 in Essen."

[Verse auf Bildpostkarte um 1900. -- Zitiert in: Zeitbilder : ein kleiner Museumsführer / Deutsches Uhrenmuseum. [Hrsg. von Jakob Messerli ... Photogr.: Georg Grieshaber]. -- Furtwangen : Dt. Uhrenmuseum, ©2000. -- ISBN 3-922673-08-2. -- S. 77]

Neue Arbeitsgewohnheiten und Zeitdisziplin mussten gegen heftigen Widerstand der Industriearbeiter durchgesetzt werden: Unpünktlichkeit, mangelnder Arbeitswille, Abwesenheit und häufiger Stellenwechsel waren weit verbreitet. Frühe Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Fabrikbesitzern drehten sich weniger um Lohn als um Arbeitszeitregelungen.
Doch Arbeitsteilung und -überwachung, Geldbußen, Glocken- und Uhrzeichen, Geldanreize, Predigten und Erziehungsmaßnahmen, Reduzierung oder Abschaffung von Jahrmärkten und Volksbelustigungen erzwangen bald die Gewöhnung an den industriellen Arbeitsrhythmus. Die Arbeiter, die die Fabrikuhren zerstörten, weil sie sich nicht deren Zeitmaß unterwerfen wollten, haben sich später eigene Uhren gekauft, für Arbeitszeitverkürzungen gestreikt und über Überstunden verhandelt.

Nicht nur die Arbeit, auch Erholung und Vergnügungen wurden in immer größerem Ausmaß in Zeit organisiert: neben der Arbeit entstand die Freizeit. »Arbeit« und »Leben« wurden streng voneinander getrennt.

Außerhalb der Industrie bot sich eine weitere Institution an, um an sparsamen Umgang mit der Zeit zu gewöhnen: die Schule. In nahezu allen Schulordnungen seit dem 18. Jahrhundert finden sich Ermahnungen zur Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit. 
Am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich der Rhythmus der sechstägigen Arbeitswoche weitgehend durchgesetzt. Das tägliche Stellen des Weckers, der bald zum Allgemeinbesitz jedes Arbeiters gehörte, der Griff nach der Taschenuhr während des Weges zum Arbeitsplatz, der vergewissernde Blick auf die öffentlichen Normaluhren wurden selbstverständlich.
So wie in der Fabrikation die Einführung der Maschinen einen gleichmäßigen Arbeitsablauf ermöglichte, so bedeutete der Einsatz von Dampfkraft zum Antrieb von Schiffen und Lokomotiven eine bisher unvorstellbare Geschwindigkeit des Verkehrswesens. Das beschleunigte Tempo der Eisenbahnreise bedurfte eines genaueren Zeitrasters als die frühere Postkutschenfahrt. Um den wachsenden Verkehr besser koordinieren zu können, wurden die bis dahin üblichen Ortszeiten vereinheitlicht. Ende des 19. Jahrhunderts führten die meisten Staaten die Weltzonenzeit ein. Ein »Zeitnetz« wurde über die Welt gezogen: man teilte sie in 24 Zeitzonen von jeweils 15 Längengraden Ausdehnung."

[[Brink, Cornelia]: Rund um die Uhr : Zeitpläne und Fabriksdisziplin. -- In: Furtwanger Uhrenbote. -- 2 [ohne Jahresangabe]]

"Auch in großen Teilen des Handwerks, nicht nur im Baugewerbe richtete sich seit jeher -- und teilweise auch noch im 19. Jahrhundert -- die Arbeitszeit nach der Länge des Tages und wechselte also mit der Jahreszeit. Doch wirkten Herkommen und Handwerksordnungen auf zeitliche Festlegungen hin, mit großen Unterschieden zwischen Regionen, Orten und Branchen. Wenn die Handwerksordnungen etwa in Nürnberg im 18. Jahrhundert von Arbeitszeiten zwischen 12 und 15 Stunden sprachen, ist zu bedenken, dass lange, nicht genau bemessene Pausen und Unterbrechungen aller Art, zusammengenommen 2 bis 3 Stunden täglich, zahlreiche Feiertage und die nie unumstrittene, aber weit verbreitete Sitte des Blauen Montags (nach freiem Sonntag) die Arbeitszeit sehr reduzierten, so dass es realistisch ist, für den Fall gleichmäßiger Beschäftigungslage, im jährlichen Durchschnitt wöchentlich 5 Tage mit je 10 bis 12 Stunden, also eine Wochenarbeitszeit von 50 bis 60 Stunden anzunehmen. Aber saisonale Auftragsschwankungen, die häufigen Wanderungen der Gesellen und anders bedingte Unterbrechungen schränkten die reale Jahresarbeitszeit weiter ein. Umgekehrt konnte kurzfristig harte und ausdauernde Arbeit angesagt sein, wenn die Verhältnisse es geboten.

Zwar dürfte die von Sombart wiedergegebene und seitdem oft wiederholte Schätzung aus dem frühen 18. Jahrhundert, das Arbeitsjahr habe damals nur 180 »wirkliche Arbeitstage« umfasst, etwas zu niedrig sein. Aber die Natur- und Wetterabhängigkeit zahlreicher Arbeiten, ihre Kopplung an natürliche Rhythmen, vor allem auch die geringe Koordination des damaligen Arbeits- und Wirtschaftslebens mit der Folge zahlreicher Unterbrechungen und Wartephasen -- wie im Realsozialismus des 20.Jahrhunderts --, das Brauchtum mit seinen zahlreichen Feiertagen (50 bis 100 pro Jahr mit vielen lokalen Unterschieden), wohl auch die aufgrund schlechter Ernährung geringere Leistungsfähigkeit vieler Zeitgenossen -- solche und andere Faktoren außerhalb der Kontrolle der einzelnen Menschen trugen mehr dazu bei als arbeitsskeptische Einstellungen, »irrationale« Mentalitäten oder bewusste Einzelentscheidungen, dass die Arbeitszeit des 17. und 18. Jahrhunderts kürzer und vor allem unregelmäßiger war als die des späteren 19. Jahrhunderts. Aber sicherlich entsprach dieses irreguläre Arbeitsverhalten zugleich der stärker auf angemessene Nahrung statt auf Erwerb und Ersparnis gerichteten handwerklichen Arbeitsmoral wie auch dem mit zukunftsgerichteter Lebensplanung wenig befassten Selbstverständnis in den unteren Schichten, in denen es gegenwartsorientiert ums Überleben ging. Im übrigen schwankten und variierten die Arbeitszeiten so, dass alle Durchschnittsangaben problematisch sind. Insbesondere im verlegten Heimgewerbe und in den Manufakturen kam es auch schon im 18. Jahrhundert zu ungemein langen, ungemessenen und gemessenen Arbeitszeiten.

Mit Blick auf die ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts lassen sich, ohne ins Detail zu gehen, drei wesentliche Veränderungen feststellen:

  1. Die Arbeitszeit löste sich aus ihren natürlichen Begrenzungen. Tag und Nacht hörten auf, den Rhythmus der Arbeit zu steuern, Bedürfnisse der Menschen wurden immer häufiger hintangestellt, die dynamische Logik des zunehmend kapitalistisch eingebundenen Betriebs setzte sich durch: vor allem in dem aus sonstigen Lebenszusammenhängen tendenziell ausgegrenzten zentralisierten Gewerbe, aber auch im verlagsmäßig betriebenen Heimgewerbe. Allerdings war dies, wie immer, ein ganz allmählicher Prozess.
  2. Die Arbeitszeit wurde länger, vor allem in den Manufakturen, Fabriken und Bergwerken. Dies geschah in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, teilweise auch erst in den 50er und 60er Jahren. Zögernd folgte das Handwerk. Dahinter lag, dass die aus sonstigen Lebenszusammenhängen sich allmählich lösenden Arbeitsbereiche zunehmend ihren eigenen Gesetzen folgten und immer weniger durch Sitte und Herkunft gesteuert wurden. Die immer häufiger verwendeten Maschinen drängten -- unter Bedingungen der Konkurrenz und der systemtypischen Rentabilitätsansprüche -- auf kontinuierliche, möglichst langzeitige Auslastung. Die extensive Ausnutzung der Arbeitskräfte entsprach damals den kapitalistisch-unternehmerischen Zielsetzungen klarer als später, da man mit schnellem Wechsel und nur vorübergehender Verfügbarkeit der Belegschaftsmitglieder rechnen musste. Im Grunde waren lange Arbeitszeiten ja auch nichts Neues, wenngleich sie herkömmlicherweise vielfach durchbrochen gewesen waren und in sprunghaftem Wechsel mit Phasen geringerer Arbeitsbelastung gestanden hatten. Und die Not nahm in den 30er und 40er Jahren zu, in den 50er Jahren wich sie noch nicht. Sie erzwang die Bereitschaft, bis zur Erschöpfung zu arbeiten.
  3. Vor allem im zentralisierten Gewerbe zeigte sich die Tendenz zur schärferen Abgrenzung und inneren Homogenisierung der Arbeitszeit. Dies ist weitgehend bekannt, und die vorangehenden Abschnitte haben viele Beispiele gebracht: 

    Die Disziplinierung erstreckte sich auch und besonders auf das Verhältnis der Arbeiter zur Zeit, deren Einteilung immer stärker zur Sache der Meister, der Maschinen, der Fabrikordnung und der Unternehmensleitung wurde, oft gegen den Widerstand der sich nur allmählich anpassenden Arbeiter. Letztlich setzten sich damit die Bedürfnisse der zunehmend arbeitsteiligen und deshalb koordinierungsbedürftigen Betriebe, die Effizienz- und Rentabilitätsbedürfnisse der kapitalistischen Unternehmen durch.

Doch sind sofort einige wichtige Einschränkungen anzufügen. Die Arbeiter hielten gegen diese Disziplinierungstendenzen lange Zeit zäh an traditionalen Verhaltensweisen fest. Unpünktlichkeit war weit verbreitet, »Schlendrian« und Schludrigkeit auch. Viele nahmen sich weiterhin, verstohlen oder ganz offen, das Recht zu eigenmächtigen Arbeitsunterbrechungen, zu kleinen Pausen oder zum »blauen Montag«, der auch in der Industrie nicht verschwand. Zeitkontrollen wurden oftmals unterlaufen. Man kochte, strickte und trank Kaffee während der Arbeitszeit. Manchmal wurden auch alkoholische Getränke verteilt, natürlich in eigener Regie und gegen die Vorschriften. Das Kaffeeholen und die Toilettengänge erwiesen sich als schwer kontrollierbar. 1850 stellte man bei Krupp einen Aufseher an den Abort, »um die Leute herunterzutreiben, die sich zu lange dort aufhielten«. Vorzeitig begannen die Arbeiter, das Schichtende vorzubereiten. Es ist bezeichnend, dass bisweilen das Schlafen während der Arbeitszeit ausdrücklich verboten werden musste und sich die Fabrikordnung einer Maschinenbauanstalt 1846 u. a. gegen 

»unnötiges Hin- und Herlaufen, Spielereien und Neckereien, Raufen, Zank und Schlägereien, Zerbrechen von Fensterscheiben und Verunreinigung des Etablissements« wandte.

Überhaupt verweisen die immer neu formulierten und zunehmend detaillierten Vorschriften auf eine ihnen widersprechende Realität. Ebenso lassen sich die verbreiteten Klagen der Unternehmer deuten: über die Eigenwilligkeit und den Absentismus der schwer ersetzbaren Fachleute im Maschinenbau, über die »Faulheit« der »Herren Künstler« im Telegraphenbau, denen »das Arbeiten nach der Glocke [. . . ] gegen den Künstlerstolz« gehe, über das notorische Trinken am Arbeitsplatz.' Noch 1876 klagte Krupp:

»Der Werth der Zeit ist bisher noch nie verstanden worden, und der Werth des Fleißes. Die Arbeiter kommen nicht regelmäßig an die Arbeit und legen dieselbe nieder vor der Zeit, um sich zu waschen, Pfeife anzuzünden und unter ähnlichen Vorwänden. Ich habe es oft vorgerechnet, wieviel verloren geht, wenn jeder Arbeiter 5 Minuten weniger schafft. Die Meister [.. .] laufen wie die großen Herren in der Werkstatt und um dieselbe herum und schwatzen und politisieren und glauben sich dazu berechtigt«.

Sicherlich konnten sich hochqualifizierte, gesuchte Arbeiter im Maschinenbau effektiver gegen die Fabrikdisziplin zur Wehr setzen und etwa den Montag eigenmächtig blaumachen als die leicht ersetzbaren angelernten Hilfskräfte in den Mechanischen Spinnereien. Wie weit die Arbeiter ihren Zeitrhythmus durchsetzen und ihre Nischen verteidigen konnten, war auch immer eine Frage der Macht und des Kräfteverhältnisses zwischen ihnen und der Unternehmensleitung, das u.a. mit dem Grad ihrer Ersetzbarkeit und der Nachfragesituation schwankte. Letztlich saß der Unternehmer am längeren Hebel. Die Zeitautonomie, die Spielräume der Arbeiter waren auch in der frühen Fabrik begrenzt und nahmen überdies ab. Man sollte sie nicht übertreiben -- gewissermaßen im Gegenzug gegen die frühere Überbetonung der damaligen Fabrikdisziplin. Dennoch gilt, dass zwischen dem Text der Fabrik-, Arbeits- und Hausordnungen einerseits und den wirklichen Arbeitsverhältnissen andererseits in jenen Jahrzehnten eine besonders tiefe Kluft bestand. Unterhalb der Schwelle des offenen, kollektiven Protests fand in den Unternehmen ein alltäglicher Kleinkrieg zwischen Arbeitern und Aufsichtsführenden statt, dessen Ergebnis jeweils neu darüber entschied, wie tief diese Kluft war.

Im übrigen kam es oft nicht einmal zu diesem Kleinkrieg. Denn -- wie vorn am Beispiel der Hüttenindustrie gezeigt -- die Arbeitsorganisation war oft noch so wenig rigide, so unsystematisch und durchlöchert, dass Arbeiter ihren Zeitrhythmus praktizieren konnten, ohne ihn erst hart erkämpfen zu müssen. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und argumentieren, dass diese auffälligen Lücken in der damaligen Fabrikordnung und die begrenzte Nicht-Anpassung der Arbeiter an sie, dass die fortlebenden Reste zeitlicher Selbstbestimmung der Arbeiter und die häufigen, an ihren Bedürfnissen orientierten Unterbrechungen der Fabrikzeit letztlich funktional waren, denn nur so konnte die im Grunde unerträglich lange Arbeitszeit jener Jahrzehnte überhaupt einigermaßen ertragen werden. Die Länge der Arbeitszeit setzte die Extensivität der Arbeiter-Ausnutzung voraus und antwortete auf sie zugleich. Die außerordentliche Länge der Arbeitszeit und ihre häufige Unterbrechung durch eigenmächtige Pausen, hohe Fluktuation und Absentismus bedingten sich gegenseitig.

Genauso kann man die damals vor allem bei weiblichen, aber oft auch bei männlichen Arbeitern vorherrschende Praxis interpretieren, nur einen kürzeren oder längeren Lebensabschnitt in der Fabrik zu verbringen, davor und vor allem danach wie auch in längeren Jahren der Unterbrechung sich mit anderen, meist weniger einbringenden Arbeiten durchzuschlagen: als Handwerker oder Tagelöhner, als Heimarbeiter oder Magd, in der Landwirtschaft, im Transportwesen usw. Nur weil sie weniger diszipliniert angewandt wurden, als es die Fabrikordnungen vorschrieben, und nur weil sie weder das ganze Jahr noch das ganze Leben hindurch praktiziert wurden, waren die in den Quellen überlieferten langen Arbeitszeiten der frühen Industrialisierung möglich."

[Kocka, Jürgen <1941 - >: Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen : Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert. . -- Bonn : Dietz, ©1990. -- (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ; Bd. 2). -- ISBN 3801201538. -- S. 481 - 484. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}]

Blickt man auf ärmere Entwicklungsländer findet man Parallelen für die für uns genannten Probleme in Fragen der Einstellung zu Pünktlichkeit und Arbeitsdisziplin: in den meisten Entwicklungsländern lebt ein Großteil der Menschen von der Landwirtschaft, ein weiterer Teil von kleinen Handwerksbetrieben, Heimarbeit oder Gelegenheitsarbeiten. Die Menschen in der Landwirtschaft sind abhängig von der Tageszeit und der Jahreszeit: Pünktlichkeit nach der Uhr ist nicht verlangt. Auch von Gelegenheitsarbeitern erwartet man keine große Pünktlichkeit: sie warten und werden zur Arbeit geholt, wenn es welche gibt. So warteten in La Paz (Bolivien) an bestimmten Straßenecken Gelegenheitsarbeiter auf einen Job, manchmal warteten sie tagelang. Handwerker standen ebenfalls an bestimmten Straßenecken mit einem Schild, das auf ihr Handwerk hinwies. Beauftragte man z.B. einen solchen wartenden Klempner mit einer kleinen Reparatur, erfuhr man, dass er die Zeit für die Reparatur so lange ausdehnte, wie das möglich war. Das war von seiner Warte aus durchaus verständlich, für einen Deutschen mit einer ganz anderen Einstellung zu Arbeitsdisziplin aber zum Verzweifeln.

Die oben genannten Klagen der Unternehmer z.B. Krupp über die Unpünktlichkeit und Abwesendheit  von Arbeitnehmern kann man z.B. in Bolivien häufig hören. Wenn aber viele Arbeitende gezwungen sind, zwei Jobs zu haben, um finanziell ihre Familien unterstützen zu können, geht man an der ersten Arbeitsstelle früher und kommt bei der nächsten zu spät. Außerdem ist man erschöpft und teilweise mangelernährt, so dass man nicht so produktiv sein kann wie ein Arbeitender in einem westlichen Industrieland. Außerdem haben familiäre Anforderungen Vorrang vor der Arbeit in einem Unternehmen oder in einem staatlichen Amt. Manche deutsche Unternehmen, die Arbeiten in Entwicklungsländer verlegen mit der Begründung, dass die dortigen Arbeitsstunden sehr viel billiger sind, haben dieses Outsourcing schon bereut, denn man kann nicht die Arbeitsproduktivität eines deutschen Arbeiters verlangen.


9.2. Pünktlichkeit -- eine Form der Höflichkeit?


"L'exactitude est la politesse des rois" "Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige."

d.h. ein höflicher Vorgesetzter lässt seine Untergebenen nicht warten.

Ludwig XVIII <1755 - 1824; König von Frankreich 1814 - 1824>

Was als höflich zu gelten hat, ist sehr stark kulturbedingt. Während man bei uns das verspätete Kommen zu einem Termin als unhöflich oder als arrogant - wenn der Zuspätkommende einen bewusst warten lässt, um seine Wichtigkeit zu betonen - auffasst, wird in manchen anderen Kulturen Pünktlichkeit nicht als Tugend aufgefasst. Verabredet man sich z.B. in Thailand zu einem festen Termin, kann das bedeuten, dass man sich Minuten, Stunden oder Tage nach dem ausgemachten Zeitpunkt trifft. Es kann aber auch geschehen, dass das Treffen überhaupt nicht stattfindet, da ein höflicher Thailänder nicht Nein sagen wird, das wäre zu schroff. Ein Ausländer hat oft Schwierigkeiten die Feinheit der Thaisprache zu verstehen, in der man durchaus ein Ja sagen kann, das aber als Nein zu deuten ist. In der Übersetzung geht diese Feinheit verloren. Sicher ist bei einer Absprache nur, dass man nicht zu früh kommt. Eine thailändische Nonne mit Englischkenntnissen gab als Auskunft, wann etwas geschehen sollte , immer an "About tomorrow", was das Verhältnis zu Pünktlichkeit sehr schön ausdrückte.

Das unterschiedliche Verständnis von Zeit und Pünktlichkeit kann zu ernsten Kommunikationsproblemen führen. Als zeitbewusster Tourist in einem zeitvergessenen Land findet man sich mit dem anderen Zeitverhalten eher ab, arbeitet man aber in der anderen Kultur wird man schnell erfahren, dass viele Konflikte und Schwierigkeiten gerade durch diese andere Auffassung entstehen. Wir bezeichnen das Zuspätkommen gern als unzuverlässig, es hat aber in anderen Kulturen nichts damit zu tun, ob ich mich auf jemanden verlassen kann. Ich habe bei mir selbst beobachtet, dass ich in der ersten Zeit meiner Tätigkeit in Bolivien die Unpünktlichkeit bei dienstlichen Verabredungen als Kultur gegeben gelassen hingenommen habe, je länger mein Aufenthalt dauerte, desto nervender empfand ich die Sache und ich griff zum Telefon, als ein Referent zu seinem Vortrag zwei Stunden zu spät kam. Mein Anruf stieß bei dem Referenten selbstverständlich auf völliges Unverständnis.

In einem Seminar, das interkulturelle Konflikte in einem internationalen Institut in Bogor (Indonesien) abbauen sollte, wurden die internationalen Angestellten nach dem gefragt, was sie am einheimischen Personal am meisten stört. An erster Stelle der Antworten kam die mangelnde Pünktlichkeit. Bei den einheimischen Angestellten stand an entsprechender Stelle die mangelnde Religiosität der Ausländer.

Dass man in einem sehr zeitbewussten Land wie Deutschland pünktlich sein muss, erfahren Ausländer aus entsprechenden zeitvergessenen Kulturen  oft bitter. So hat z.B. eine kasachische Dozentin mit hervorragenden Deutschkenntnissen in ihrer ersten Woche in Deutschland grundsätzlich den Bus verpasst, weil sie sich gar nicht vorstellen konnte, dass der Buss vom Dorf in die Stadt tatsächlich nach Fahrplan fährt. Auch bei Verabredungen mit Professoren gab es Probleme, lautete das Terminangebot z.B. von 11 bis 12 Uhr, erschien sie kurz vor 12 und war beleidigt, dass der Professor um 12 Uhr gehen musste.

Dass z.B. Südamerikaner unpünktlich sind, ist eine Stereotype, mit der man im allgemeinen gut arbeiten kann. Allerdings muss man sich wie bei allen Stereotypen bewusst sein, dass sie auf den einzelnen Menschen nicht zutreffen müssen. So kann es z.B. sein, dass man im Privatleben nach der herkömmlichen Zeitauffassung lebt, aber in geschäftlichen Beziehungen pünktlich ist. Es kann auch sein, dass man Ausländern aus nördlichen Ländern gegenüber pünktlich ist, weil man diesen entgegen kommen will. Oder dass man im Ausland gelebt hat und eine gewisse Pünktlichkeit als sehr praktisch erfahren hat. Sehr hilfreich war es, dass einige  z.B. in Bolivien bei Terminabsprachen mit Deutschen die Zeitangabe mit "deutsche Zeit" eingeleitet haben. 

"In einem Bericht aus Mexiko heißt es:

«Diejenige Haltung, die dem Indio den Ruf der Faulheit und Haltlosigkeit eingetragen hat, ist einzig seine Unpünktlichkeit, sein Mangel an Zeitsinn, oder wie immer man es nennen mag. Er lebt nach seinem eigenen Rhythmus, auf seiner eigenen Zeitebene. Die Vergangenheit ist wirklich, sie ist gewesen, wir alle haben sie gestern gesehen. Auch das Heute ist wirklich, ist heiß oder kalt, wir haben gegessen oder nicht gegessen, jedes Menschen Körper oder Magen kann das ohne Zaudern entscheiden. Aber das Morgen ist hypothetisch, es existiert nicht, ist völlig unwirklich, und Dinge, die unwirklich sind, haben keine bestimmten Dimensionen und keine bestimmte Zeitdauer. 'Ich komme morgen', sagt ein Indio und kommt vier Monate später -- oder vielleicht auch fünf. Dennoch hat er nicht gelogen, hat weder betrogen noch versucht zu betrügen. Er hat nichts anderes getan, als dass er seine Gedanken auf das Unwirkliche richtete. Und wie in aller Welt könnte man etwas definieren, was nicht existiert?»

Pünktlichkeit, sagt man -- sagen wir--, ist eine Form von Höflichkeit. Es gehört sich nicht, den anderen, mit dem man sich verabredet hat, warten zu lassen. In Mexiko ist es genau umgekehrt und keineswegs nur bei den Indios. Wenn man zum Beispiel für acht Uhr abends zum Essen eingeladen ist und man erscheint auch pünktlich, würde man die Gastgeber in peinliche Verlegenheit stürzen.

Was lässt sich überhaupt tun, wenn die Leute kein Zeitbewusstsein haben, wenn sie nur im Augenblick, in der Gegenwart leben und nicht an die Zukunft denken? Wie soll man zum Beispiel die Bevölkerungsexplosion, die Kinderflut stoppen, in der die sogenannten Entwicklungsländer ertrinken? (Mexiko besaß 1960 34 Millionen Einwohner; inzwischen ist man bei 80 Millionen angekommen, trotz einer Millionenauswanderung in die USA.) Unser eigener Sinn für Verantwortlichkeit ist ohne die Zeitorganisation kaum vorstellbar; Geburtenkontrolle zum Beispiel setzt eben diesen Zeit-Sinn voraus."

[Krockow, Christian Graf von <1927 - >: Wie uns die Stunde schlägt : Mensch und Gesellschaft im Wandel der Zeitorganisation. -- In: Im Netz der Zeit : menschliches Zeiterleben interdisziplinär  / hrsg. von Rudolf Wendorff. -- Stuttgart : Hirzel, ©1989. -- (Edition Universitas). -- ISBN 3804710573. -- S. 81f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}]


9.3. Vom Wecken



Abb.: Der "geliebte" Wecker (©ArtToday)

Auch hierzu ein Blick auf die Geschichte:

"Solange der Arbeitsbeginn in Städten und Dörfern weitgehend einheitlich festgelegt war, etwa eine Stunde nach dem »Morgenläuten«, mussten nur Mitglieder bestimmter Berufsgruppen -- Fuhrleute, Bäcker oder Glöckner -- persönlich früher geweckt werden. Dies konnte durch Zimmeruhren mit Weckeinrichtung geschehen, häufiger jedoch verdiente sich damit der Nachtwächter ein Zubrot. Manche Nachtwächter hatten ein umfangreiches tägliches Weckprogramm zu absolvieren, sie weckten Arbeiter, die lange Wegezeiten hatten, städtische Bedienstete, die besondere Aufgaben wahrnehmen mussten, oder die Hilfskräfte für den Waschtag der Bürgerfamilien. Lange Zeit hindurch blieb Aufstehen vor dem allgemeinen Wecken auf Sonderfälle beschränkt. Selbst heute noch ist bei Institutionen mit gemeinsamer Weckzeit die Uhr am Bett entbehrlich, dies gilt für Internate wie für Gefängnisse und weltweit fürs Militär.

Unter dem Einfluss der fortschreitenden Industrialisierung änderten sich die Verhältnisse. Unterschiedlicher Arbeitsbeginn in Verbindung mit unterschiedlich langen Wegezeiten, anfangs zu Fuß, später zunehmend mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad, führten dazu, dass es keine allgemein üblichen Zeiten für Wecken und Aufstehen mehr geben konnte. In ähnlicher Weise wirkten sich sozial abgestufte Arbeitszeiten aus, Arbeiter begannen früher, Angestellte und Beamte später mit der Arbeit. Jetzt musste jeder Haushalt sein Zeitbudget selbst planen und organisieren. 

Solange alle unter einem Dach lebten, auf den Bauernhöfen, beim klassischen Handwerks- oder Handelsbetrieb, vergleichbar damit sind auch manche frühindustrielle Unternehmen mit kasernierter Belegschaft, genügte eine zentrale Hausuhr mit Weckeinrichtung. Mit technischem Geschick ließen sich sogar abgestufte Weckzeiten verwirklichen, der Bauer konnte noch weiterschlafen, während das Gesinde aufzustehen hatte. So arbeitete der Schwarzwälder Gesindewecker, die zentrale Uhr hing in einem Raum, die lärmende Weckerglocke in einem anderen. Derartige Verfahren müssen gebräuchlich gewesen sein, denn auch Zedler schrieb 1747 davon, «vermittels eines Drats [Drahts] eine Communication» zu den Räumen herzustellen, in denen die Schlafstätten sind. 


Abb.: Schwarzwälder Gesindewecker: durch einen Schnurzug (rot) wird der Weckimpuls von der Uhr auf eine Glasglocke in der Gesindestube übertragen, um 1860 (Deutsches Uhrenmuseum Furtwangen)

[Quelle der Abb.: Die Uhr : ein museumspädagogisch orientiertes Unterrichtsmodell für die Grundschule und die Sekundarstufe I / Hrsg. R. Mühe ... -- Furtwangen : Deutsches Uhrenmuseum, [1994]. -- S. 19]

Doch das Problem verschärfte sich, wenn Wohnung und Arbeitsstätte räumlich auseinanderlagen, wenn weder Fabrikglocke noch andere Signalgeber alle Arbeitskräfte erreichen konnten. Jetzt war eigentlich die Versorgung eines jeden Haushalts mit der Weckeruhr unumgänglich geworden, konnte aber wegen der Lohn-Preis-Relationen in Deutschland erst um 1900 allgemein realisiert werden. Man findet nur wenige Hinweise, wie in den Jahrzehnten zuvor die arbeitende Bevölkerung pünktliches Wecken organisiert hat. Immerhin, es gab in größeren Orten eigene »Weckdienste«. In England hießen die beauftragten Personen »knockers up«, als Nachfolger der Nachtwächter. Es gab als mechanische Hilfe den gewichtsgetriebenen Schwarzwälder Schottenwecker, der um 1880/90 nur die Hälfte einer federgetriebenen Weckeruhr mit Amerikanerwerk gekostet hat, doch vor allem gab es wohl vielfältige Formen von Kooperation und Nachbarschaftshilfe in Mietshäusern und Arbeitersiedlungen.

 Der Zeitraum von 1890 bis 1914 war gekennzeichnet durch rasch sinkende Uhrenpreise und allmählich steigende Realeinkommen. So wie es üblich wurde, dass jeder (männliche) Erwachsene eine Taschenuhr besaß, rückte auch für viele Arbeiterhaushalte eine zweite Wohnraumuhr in den Bereich des ökonomisch Möglichen. An die Stelle der Schwarzwälder Wanduhr mit Weckeinrichtung trat allmählich der Federzug-Regulator als Wohnstubenuhr und der Babywecker als transportable Schlafzimmer- und zugleich Küchenuhr. Die Arbeitsorganisation des Industriesystems forderte Pünktlichkeit, und allmählich trug dieses System durch verbilligte Produkte und steigende Löhne selbst dazu bei, dass Weckeruhren von allen gekauft werden konnten. 

In höherem Maße als andere Uhrentypen ist der Wecker Produkt der modernen Gesellschaft und zugleich wesentliche Voraussetzung für den geregelten Ablauf ihrer Funktionen. Vereinfachend gesagt: Fabrik, Verkehrswesen und Großstadt haben zusammengewirkt, dass der Wecker von einem nützlichen zu einem lebensnotwendigen Gut wurde. Die arbeitsteilige Organisation des Fabrikbetriebs erzwang in der Fertigung den gleichzeitigen Arbeitsbeginn. Während im Handwerksbetrieb ein »Nacharbeiten« möglich ist, können in der Fabrik wenige Zuspätkommende den geplanten Arbeitsablauf gefährden, »versäumte Zeit« bekommt ökonomisch einen höheren Stellenwert. Entsprechend hart fallen auch die Sanktionen aus, Strafgelder oder hohe Lohnabzüge, selbst in unserer Sozialordnung ist häufiges Zuspätkommen ein Kündigungsgrund. Ähnliches gilt auch für die Schule. Wer nicht rechtzeitig kommt, stört den Unterricht und kann nicht mehr den Lektionen folgen, außerdem widerspricht solch ein Verhalten übergeordneten Erziehungszielen. Auch hier sind die Disziplinierungsmittel allgemein bekannt: Strafarbeiten, Nachsitzen oder abgestufte Formen der Prügelstrafe. Die sozialen Veränderungen waren den Menschen des beginnenden »Weckerzeitalters« voll bewusst, das belegt ein Zitat aus dem Allgemeinen Journal für Uhrmacherkunst vom Jahre 1880: «Es gibt wohl nur wenige Artikel, deren Konsum seit einer Reihe von Jahren so außerordentlich zugenommen hat, wie der Artikel Weckuhren. Der Grund hierfür ergibt sich sehr einfach daraus, dass der Arbeiter- und der Beamtenstand infolge des großartigen Aufschwunges, den Industrie-, Eisenbahn- und Postverkehr usw. erfahren haben, gezwungen sind, mit größter Pünktlichkeit aufzustehen, und es ist gerade für diese Leute eine gute Weckuhr eins der unentbehrlichsten Haushaltsgegenstände geworden.»"

[Mühe, Richard ; Kahlert, Helmut ; Techen, Beatrice: Wecker. -- Furtwangen  : Deutsches Uhrenmuseum, ©1991. -- ISBN 3-7667-1000-1. -- S. 15 - 19]


10. Arbeitszeit und Freizeit



Abb.: Arbeiterforderung: 8 Stunden Arbeit -- 8. Stunden Freizeit -- 8 Stunden Schlaf. -- Asiette au beurre. -- Spezialnummer zum 1. Mai. -- Paris, um 1900

Die strikte Trennung von Arbeitszeit und Freizeit ist auch in Mitteleuropa jüngeren Datums. Dies zeigt dass Zeitorganisationskulturen vor allem auch ökonomisch bedingt sind:

"Die Folgen der Arbeitszeitverkürzungen entsprachen einerseits den gewerkschaftspolitischen Erwartungen mindestens zum Teil. Ohne dies an dieser Stelle genauer auszuführen, lässt sich ein Teil der immensen Organisationserfolge der Gewerkschaften seit Mitte der 1890er Jahre auf die Ermöglichung der für die Organisierung erforderlichen freien Zeit zurückführen. Die Arbeitszeitverkürzungen wirkten sich jedoch noch sehr viel grundsätzlicher aus. Im Tagesrhythmus der arbeitenden Menschen trat neben die Schlaf- und die Arbeitszeit nun eine sich mehrende freie Zeit, und die Bedeutung der Arbeitszeit im Lebenszyklus trat wenigstens etwas zurück. Dass Freizeit und Arbeitszeit auseinandertraten, ließ sich schon Jahrzehnte zuvor beobachten; nunmehr erfasste diese Entwicklung auch die Arbeiterinnen. Der Werktag, die Arbeitswoche, das Arbeitsjahr und die Lebenszeit gewannen nun wenigstens bereits in Ansätzen eine neue Qualität. Auch im Bewusstsein der Arbeiter löste sich die Arbeitszeit, bedingt auch durch die zunehmende Bedeutung der Mehrschichtarbeit, vom Tag- und Nachtrhythmus, sie gewann damit an Besonderheit und Gestaltbarkeit. Darin lag die neue Zeiterfahrung der Industriearbeit. Auch für Arbeiter bestimmte die Uhr zunehmend das Leben. Der neue Zeitrhythmus schuf Freizeit, damit Freiheit, disziplinierte aber auch, zwang dazu, die eigene Zeitlichkeit der Arbeit und den ökonomischen Zusammenhang einer zu erbringenden Arbeitsleistung mit einer dafür aufzuwendenden, zu begrenzenden Arbeitszeit zu akzeptieren.

Pünktlichkeit in der Arbeit und deren Kontrolle, eine schärfere Abgrenzung von Pausenzeiten, die Erwartung des Feierabends als einer Ausruhzeit, die Lösung des Tagesrhythmus vom auf dem Lande noch so prägenden Hell-Dunkel-Rhythmus, die Planung und Durchführung solcher Arbeitstätigkeiten, die nicht mit dem Haupterwerb zusammenhingen, die Ermöglichung und Bewältigung von Familienzeit und gestalteter Erholungs- und Bildungszeit, dies waren nur einige Dimensionen der neuen Freizeit. Zu den technischen Voraussetzungen dieser neuen Zeiterfahrung gehörte die praktische Umsetzung der Elektrizität, zu ihren Begleiterscheinungen gehörte die Bereitschaft, nützliche und unnütz verbrachte Zeiten zu unterscheiden, Geschwindigkeit zu nutzen, Distanz zu überwinden. Eine wichtige Dimension der neuen Zeiterfahrung lag nicht zuletzt in der Öffnung und Entgrenzung der Erfahrungsräume. Man kann sich dies leicht vorstellen, wenn man bedenkt, welche Wege zum Arbeitsplatz einst ausschließlich zu Fuß bewältigt werden mussten, welche Erleichterung seit den 1890er Jahren zunächst das Fahrrad, bald die Straßenbahn brachte. Verwandtenreisen, Festtagsbesuche und Wochenendausflüge wurden nach der Jahrhundertwende auch unter Arbeitern üblich.

In der Tat verschwand damit auch ein Teil der Behäbigkeit der alten Welt. Die Rationalisierung der Zeitstrukturen ließ einerseits weniger Raum auch für individuell geprägtes (Arbeits-) Verhalten, aber sie schuf, andererseits, eine ganz neue Art von individuell gestaltbarer Zeit. Unpünktlichkeit, die früher leichter hingenommen werden mochte, gar das Fernbleiben von der Arbeit zur Bestellung des eigenen Ackers, auch das einfache Wegbleiben von der Arbeit, wie es in den Handwerken von alters her am „Blauen Montag" üblich war, all dies wurde im »durchorganisierten«, dem Leitfaden des ökonomischen Kalküls folgenden Großbetrieb nicht mehr akzeptiert. Wer sich widersetzte, wurde bestraft und verlor letzten Endes seine Arbeit.


Abb.: "Arbeiter-Chronometer", um 1890
Inschrift am Rand: "Wir wollen 8 Stunden zur Arbeit, 8 Stunden, um uns auszubilden, 8 Stunden, um auszuruhn"

[Quelle der Abb.: Türk, Klaus: Bilder der Arbeit : eine ikonographische Anthologie. -- Wiesbaden : Westdeutscher Verlag, ©2000. -- ISBN 3531133586. -- S. 210. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}]

Mit dem Zeitzwang der Industriearbeit, mehr noch vielleicht mit der Erfahrung, dass neben der Arbeitszeit freie Zeit, gestaltbare Zeit, möglich wurde, rückte die Uhrzeit »unerbittlich« in den Vordergrund der Tagesplanung. Es trägt eine eigenartige Symbolqualität, wenn langjährige Betriebstreue anlässlich eines Jubiläums nun mit dem Geschenk einer silbernen Taschenuhr belohnt wurde. Wohl kaum ein Arbeiterhaushalt, in dem eine Standuhr oder mindestens eine Küchenuhr gefehlt hätte, kaum ein Arbeiter auch, der keine Taschenuhr gehabt hätte -- Uhrketten gehörten, das zeigen zahlreiche Fotografien, zum Feiertagsanzug, die Uhr war ein Statussymbol."

[Ritter,  Gerhard A.  <1929 - > ; Tenfeld, Klaus <1944 - >: Arbeiter im Deutschen Kaierreich 1871 - 1914. -- Bonn : Dietz, ©1992. -- (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts). -- ISBN 3801201686. -- S. 370f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}]

Die Gewerkschaften waren lange Zeit erfolgreich im Kampf um die Verringerung der Arbeitszeit: nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte man von der 48-Stunden-Woche (Slogan "Samstags gehört Papa mir") über die 40-Stunden-Woche bis zumindest in einigen Branchen zur 35-Stunden-Woche. Inzwischen erleben wir die umgekehrte Entwicklung, was man daran sieht, dass es in den meisten Tarifverhandlungen der letzten Jahre immer auch um eine Erhöhung der Arbeitszeit geht. (Beamte in Baden-Württemberg müssen inzwischen wieder 42 Stunden in der Woche arbeiten.) Diese Stundenangaben sind die offizielle Seite der Arbeitszeit. Es setzt sich daneben aber zur Zeit das durch, was im Jargon "amerikanische Arbeitszeit" genannt wird.

Der Vorteil dieser amerikanischen Arbeitszeit ist die Abschaffung fester Zeiten, je nach Aufgabe noch nicht einmal die Festlegung von Kernzeiten und oft die Abschaffung von Zeiterfassungsgeräten. Man arbeitet so lange, bis die Aufgabe erledigt ist und wenn das in der tariflich ausgemachten Arbeitszeit nicht möglich ist, bleibt man eben länger. Abgesehen von Schichtarbeitern, die ja in einem bestimmten Rhythmus wechseln müssen, sind in den großen Unternehmen bei uns inzwischen 10 bis 12 Arbeitsstunden am Tag allmählich immer üblicher. Gibt es noch ein Zeiterfassungsgerät, gibt es in manchen Unternehmen Mitarbeiter, die ihre Karten nach zehn Stunden ziehen und weiterarbeiten, was im Normalfall nach deutschen Gesetzen nicht zulässig ist. Man nimmt - und zwar nicht nur in der obersten Managerschicht - Arbeit mit nach Hause und ist fast jederzeit erreichbar. Früher nahm man es übel, wenn ein Kollege sonntags dienstlich angerufen hat, inzwischen entschuldigt man sich, wenn man eine Mail nicht gleich am Sonntag beantwortet hat.

Dieser Trend kommt aus den USA und kann so zusammengefasst werden: die Arbeitszeit ist das Wesentliche im Leben. Im oberen und mittleren Management rechnet man mit einer Arbeitszeit von 60 bis 80 Stunden in der Woche bei bezahlten 40 Stunden. Arbeiter am Fließband kommen auf 50 bis 60 Stunden oder arbeiten eine zweite Schicht.

Gründe für das längere Arbeiten sind:

In ihrer Untersuchung Keine Zeit beschreibt Hochschild diese amerikanische Arbeitszeit, die relativ wenig Zeit übriglässt für die Familie bzw. für Freizeit. Am anstrengendsten ist danach die Familienzeit (Kinderbetreuung, Haushalt, Pflege von älteren Familienangehörigen), so dass vor allem Männer dieser Arbeit durch längere Arbeitszeiten in ihrer Firma entfliehen. Damit eine Familie noch etwas gemeinsame Freizeit hat, führen Familien in den USA innerhalb der Familienzeit eine sogenannte "quality time" ein. Man geht davon aus, dass eine terminlich festgelegte Stunde am Tag, in der man für die Kinder da ist, viele Stunden des Zusammenseins ersetzt.

Bei Hochschilds Beschreibung, wie die langen Arbeitszeiten durchgehalten werden, erinnert man sich daran, wie im Zeitalter der frühen Industrialisierung die langen Arbeitszeiten überstanden wurden: z.B. durch Schwätzen oder heimliche Ruhepausen. Hochschild berichtet von einer Managerin, die ihre Arbeit so effizient organisierte, dass sie die üblichen 80 Stunden nicht benötigte und früher nach Hause gehen konnte. Das wurde aber als mangelnder Einsatz für die Firma angesehen.

[vgl.: Hochschild, Arlie Russell: Keine Zeit : Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet. - 2. Aufl. - Wiesbaden : Verl. für Sozialwissenschaften, 2006. - XXXVIII, 305 S. - (Geschlecht & Gesellschaft ; 29). - Einheitssacht.: The time bind <dt.> - ISBN 3-531-14468-5]


11. Zum Beispiel: Zeit und Arbeitslosigkeit in Marienthal


In ihrer grundlegenden Studie über die Wirkungen der Arbeitslosigkeit in Marienthal, Niederösterreich

Jahoda, Marie <1907 - 2001> ; Lazarsfeld, Paul F. <1901 - 1976> ; Zeisel, Hans <1918 - >: Die Arbeitslosen von Marienthal : ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. -- Leipzig : Hirzel, 1933

beschreiben die Autoren eindrucksvoll die Wirkungen der langandauernden Arbeitslosigkeit auf das Zeitempfinden der Menschen. Dies könnte auch ein Schlüssel sein zum Verständnis von mancherlei "Zeitlosigkeit" in armen Ländern mit einer hohen dauernden Unterbeschäftigung.


Abb.: Lage von Marienthal, heute Teil von Grammatneusiedl (©Geodata)


Abb.: Renovierte Arbeitersiedlung Marienthal

(Bildquelle: http://www.bau-noe.at/inhalte/dorfneupreis4.htm. -- Zugriff am 2001-05-05)

"Wer weiß, mit welcher Zähigkeit die Arbeiterschaft seit den Anfängen ihrer Organisation um die Verlängerung der Freizeit kämpft, der könnte meinen, dass in allem Elend der Arbeitslosigkeit die unbegrenzte freie Zeit für den Menschen doch ein Gewinn sei. Aber bei näherem Zusehen erweist sich diese Freizeit als tragisches Geschenk. Losgelöst von ihrer Arbeit und ohne Kontakt mit der Außenwelt, haben die Arbeiter die materiellen und moralischen Möglichkeiten eingebüßt, die Zeit zu verwenden. Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere. Wenn sie Rückschau halten über einen Abschnitt dieser freien Zeit, dann will ihnen nichts einfallen, was der Mühe wert wäre, erzählt zu werden.


Abb.: Braun, Eduard: Ohne Arbeit, 1928

[Quelle der Abb.: Türk, Klaus: Bilder der Arbeit : eine ikonographische Anthologie. -- Wiesbaden : Westdeutscher Verlag, ©2000. -- ISBN 3531133586. -- S. 262. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}]

Viele Stunden stehen die Männer auf der Straße herum, einzeln oder in kleinen Gruppen; sie lehnen an der Hauswand, am Brückengeländer. Wenn ein Wagen durch den Ort fährt, drehen sie den Kopf ein wenig; mancher raucht eine Pfeife. Langsame Gespräche werden geführt, für die man unbegrenzt Zeit hat. Nichts mehr muss schnell geschehen, die Menschen haben verlernt, sich zu beeilen. ...

Doppelt verläuft die Zeit in Marienthal, anders den Frauen und anders den Männern. Für die letzteren hat die Stundeneinteilung längst ihren Sinn verloren. Aufstehen -- Mittagessen -- Schlafengehen sind die Orientierungspunkte im Tag, die übriggeblieben sind. Zwischendurch vergeht die Zeit, ohne dass man recht weiß, was geschehen ist. Die Zeitverwendungsbogen zeigen das drastisch. ...

Es ist immer dasselbe: nur an wenige »Ereignisse« erinnert sich der Marienthaler Arbeitslose, wenn er den Bogen ausfüllt. Denn was zwischen den drei Orientierungspunkten Aufstehen -- Essen -- Schlafengehen liegt, die Pausen, das Nichtstun ist selbst für den Beobachter, sicher für den Arbeitslosen schwer beschreibbar. Er weiß nur: Einstweilen wird es Mittag. Und wenn er versucht, dieses »einstweilen« zu beschreiben, dann entstehen die seltsamen Verzeichnungen in dem Zeitbogen: dass Beschäftigungen, die nicht mehr als fünf Minuten gedauert haben, eine ganze Stunde füllen sollen. Diese Art, die Zeitbogen auszufüllen, beruht keineswegs auf einer geringeren intellektuellen Begabung der Bevölkerung; die viel schwierigere Aufgabe der Führung von Haushaltbüchern wurde gut gelöst. Der Arbeitslose ist einfach nicht mehr imstande, über alles, was er im Laufe des Tages getan hat, Rechenschaft zu geben. Nennen und aufzählen lassen sich außer den Orientierungspunkten nur die wenigen noch sinnerfüllten Handlungen am Tag: Buben waschen, Hasen füttern usw. Alles was sonst geschieht, steht mit der eigenen Existenz nicht mehr in sinnvollem Zusammenhang. Zwischen den wenigen wirklichen Beschäftigungen, dort, wo im Bogen steht: »Einstweilen wird es Mittag« -- liegt das Nichtstun, der völlige Mangel einer sinnvollen Zeitausfüllung. Alles, was geschieht, geschieht gleichsam unabsichtlich. Irgendeine geringfügige Kleinigkeit bestimmt die Beschäftigung in der nächsten halben Stunde. Sie ist so geringfügig, dass sie kaum ins Bewusstsein tritt, und soll sie nachher berichtet werden, ist sie längst dem Gedächtnis entschwunden. Man hört draußen auf der Straße ein belangloses Geräusch, man tritt hinaus, und schon einen Augenblick später ist das Geräusch vergessen. Aber man steht nun draußen, bis irgendeine andere geringfügige Sinneswahrnehmung wieder ein Stück weiterführt. ...

Dass den Arbeitern die Sinnlosigkeit dieser Zeitverwendung bewusst ist, zeigen folgende Bemerkungen, die sich als Zusätze in dem Bogen finden.

»Was soll ein Arbeitsloser denn mit seiner Zeit machen?« Oder ein Hinweis auf früher: »Ich hab früher weniger Zeit für mich gehabt, aber mehr für mich getan.« Oder: »Für uns Arbeitslose gibt es ja keine Möglichkeit mehr, sich zu beschäftigen.«

Besonders gut verstehen wir dieses »Ich habe früher mehr für mich getan«, wenn wir noch einmal den Freizeitbogen jenes Wiener Arbeiters zum Vergleich heranziehen. Das Gefühl, freie Zeit nur in beschränktem Ausmaß zur Verfügung zu haben, treibt zu ihrer überlegten Verwendung; das Gefühl aber, unbegrenzt Zeit zu haben, macht jede Zeiteinteilung überflüssig. Was man vor dem Essen unternehmen möchte, kann ja ebensogut nachher geschehen, oder am Abend; und plötzlich ist der Tag um, ohne dass es geschehen wäre. ...

Man sieht: nicht einmal die wenigen Termine, die es noch gibt, werden genau eingehalten. Denn Pünktlichkeit hat jeden Sinn verloren, wenn nichts auf der Welt mehr unbedingt geschehen muss.

Sieht man den Frauen bei ihrer Arbeit zu, dann scheint es kaum begreiflich, dass sie fast all das früher nur nebenbei, nach 8-stündiger Fabrikarbeit geleistet haben. Wohl ist die Wirtschaftsführung durch die Beschränkung der Mittel heute ungleich schwieriger und zeitraubender als früher, aber trotzdem war die rein physische Anstrengung ehemals ungleich größer. Das wissen und erzählen die Frauen auch; in fast allen Frauenbiographien wird berichtet, dass man früher bis in die späte Nacht hinein nach der Fabrikarbeit hat wirtschaften müssen. Aber fast in allen Frauenbiographien kommt dann doch der Satz: »Wenn wir nur wieder in die Arbeit könnten.« Als rein materieller Wunsch wäre das nicht weiter erstaunlich, aber die Frauen fügen immer wieder hinzu: auch wenn wir vom Geld absehen."


12. Lebenszeit



"So ist nun mal die Zeit allhie,
Erst trägt sie dich,
-- Dann trägst du sie; Und wann's vorüber, 
weißt du nie."


Abb.: Busch, Wilhelm <1832 - 1908>: Die Zeit. -- In: Hernach. -- 1908

Traditionell wird das Leben in Stadien eingeteilt. Die Einteilung unterscheidet sich in verschiedenen Kulturen meist geringfügig. Auch wurde das Leben meist als Auf- und Abstieg gesehen. Ist das mit dem Leitbild ewiger Jugend anders geworden?


Abb.: Leiber, F.: Das Stufenalter der Frau. -- Bilderbogen. -- Frankfurt a. M. : May, um 1900

"Mit fünfzig 'Stillstand' wie man sagt,
Ein Enkel sie jetzt glücklich macht."

"Mit achtzig Jahren schwach sie ist,
Sich auf den treuen Enkel stützt."


Abb.: Leiber, F.: Das Stufenalter des Mannes. -- Bilderbogen. -- Frankfurt a. M. : May, um 1900

Wichtig für die Einstellung des Menschen zu seiner gegenwärtigen Lebenszeit, ist der größere Rahmen, in dem er dieses Leben sieht:

Die Überzeugungen bezüglich dieser Fragen bestimmen mit die Einstellung zu Tod und Endlichkeit sowie die Geduld mit sich selbst und mit anderen:

So denken Buddhisten und Hindus nämlich in geologischen und paläontologischen Zeiträumen mit vielen Wiedergeburten. Darum hat man mit sich selber und mit anderen viel Geduld. Dieses Leben ist nicht das einzige, auf das allein es ankommt, die achtzig oder hundert Jahre des Lebens sind nicht die einzige Zeit, in der endgültig zwischen Heil und Unheil entschieden werden muss. Wie anders gläubige Christen, für die es nur dieses eine Leben als Chance gibt  Für einen Buddhisten ist es dagegen super, wenn man ihm sagen kann: nach weiteren 2500 Jahren in anderen Wiedergeburten schaffst du die Erlösung.

So ist die weltweite rapide Verlängerung der irdischen Lebenszeit nicht unbedingt auch ein Gewinn an als wirklich geglaubter Lebenszeit: verliert der Mensch den Glauben an ewiges Leben, Wiedergeburt in einer besseren Welt und dergleichen, dann ist der Gewinn an irdischer Lebenszeit nichts gegenüber der Lebenszeit, die er verliert. Für das vormals christliche Europa zeigt das anschaulich folgende Graphik:

Abb:. Übergang von einem Lebenslauf in zwei Teilen (unsicheres irdisches Leben + ewiges Leben) im früheren christlichen Europa zu einem einphasigen Lebenslauf  (verlängertes, sicheres irdisches Leben) im heutigen Europa

"Verglichen werden schematisch fünf Lebensläufe "früher" mit fünf Lebensläufen "heute". Seinerzeit bestand das Leben aus zwei Teilen: einem mehr oder weniger kurzen auf Erden und einem unendlichen im Jenseits. Zur Sicherung des ewigen Seelenheils in der Herrlichkeit Gottes lernte man damals ab jungen Jahren die Kunst des guten Sterbens.

Mittlerweile haben sich die früher breit gestreuten Sterbealter stark fokussiert und sich im Durchschnitt verdoppelt oder verdreifacht. Gleichzeitig büßten die (wahrscheinlich) meisten von uns jedoch den Glauben an Auferstehung und ein ewiges Leben ein. Das Leben insgesamt ist somit unendlich kürzer geworden."

[Vorlage der Abb.: erstmals: Imhof, Arthur E. <1939 - >:  Die verlorenen Welten : Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren, und weshalb wir uns heute so schwer damit tun. -- München : Beck, ©1984.  -- ISBN 340630270X. -- S. 276, später an verschiedenen Orten, im WWW: URL: http://www.fu-berlin.de/aeimhof/fes66.htm. -- Zugriff am 1999-10-08]


Abb.: Um acht Uhr kommt die Medizin,
Wonach es auch etwas besser schien."


Abb.: "Punkt zwölf erschien der Knochenmann
Und hält das Perpendikel an."

[ Busch, Wilhelm <1832 - 1908>: Bilder zur Jobsiade. -- 1872]


13. Zeitmanagement


"Festzuhalten bleibt jedoch:
  • Das persönliche Zeitkapital liegt je nach Lebensalter um einen Wert von nur einigen zehntausend Stunden'.
  • Selbst bei einer Arbeitszeit von 10 Stunden täglich verfügt man in seinem Arbeitsleben insgesamt über weniger als 90.000 Std. (40 Jahre à 220 Tage à 10 Stunden = 88.000 Stunden)!
  • Fasst man Arbeits- und Freizeitkapital als verfügbares Gesamtkapital zusammen und geht man von einer höheren Lebenserwartung aus. so verfügt man insgesamt über höchstens 200.000 Std.!

Bedenken Sie:

Heute beginnt der erste Tag vom Rest Ihres Lebens!

Leben Sie zeitbewusst, und nehmen Sie sich die Zeit für die Dinge, die Ihnen wichtig sind!"

[Seiwert, Lothar J.: Mehr Zeit für das Wesentliche : besseres Zeitmanagement mit der SEIWERT-Methode. -- 7. Aufl. -- Landsberg a. L. : mgv, 2001. -- (Business Training ; 81252). -- ISBN 3478812526. -- S. 23f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}]

Lothar J. Seiwert [Webpräsenz: http://www.seiwert.de/. -- Zugriff am 2001-06-02] ist „Deutschlands tonangebender Zeitmanagement-Experte“ (FOCUS 1/2000). Von seinen Büchern wurden über eine halbe Million Exemplare verkauft, sie wurden in über 20 Sprachen übersetzt, u.a. ins Japanische, Chinesische und Koreanische. 

Gemessen an Buchmarkt, Seminarangeboten usw. scheint Zeitmanagement-Ratgeberei zu boomen.

Seiwert definiert

"Zeitmanagement ist die konsequente und zielorientierte Anwendung bewährter Arbeitstechniken in der täglichen Praxis, um sich selbst und die eigenen Lebensbereiche so zu führen und zu organisieren (= «zu managen»), dass die zur Verfügung stehende Zeit sinnvoll und optimal genutzt wird." [a. a. O., S.14]

Manche der Ratschläge der Zeitmanagement-Literatur, die im allgemeinen den Arbeits- und Freizeitbereich einschließen, erscheinen trivial, sind aber dennoch -- wie die Praxis zeigt -- keineswegs Allgemeingut. Wenn allerdings geraten wird, dass man die Tageszeitung abbestellen soll und stattdessen nur die Übersicht in einer Wochenzeitung lesen soll, dass man das "Zeit raubende" Haustier abschaffen soll und auf das Schwätzchen mit der Nachbarin verzichten soll, um Zeit zu sparen, sollte man nach dem Zweck der Zeitersparnis fragen und vor allem, ob ein solches Zeitmanagement nicht vielleicht eine Einschränkung der Lebensqualität ist. Ein spannender Film im Fernsehen und eine schnurrende Katze auf dem Schoß empfinde ich nicht als Zeitvergeudung sondern als Erholung und Lebensqualität.

Zeitmanagement für den Arbeitsbereich empfiehlt sich sicher. So ist es gewiss sinnvoll, für Sitzungen gelegentlich Kosten-Nutzen-Analysen zu machen, d.h. sich einmal klar zu machen, was eine solche Sitzungsstunde kostet. Es ist wirklich Schwachsinn, dass zehn hoch bezahlte Personen -- sagen wir mit Lohngesamtkosten von je 50 Euro/Stunde, Kosten der Sitzungsstunde 500 Euro-- eine Stunde lang über die Vergabe von 500 Euro oder weniger diskutieren.

Der Grund für Frust und Zeitverschwendung bei vielen Sitzungen liegt darin, dass sie

werden.

Wirtschaftsinformatiker setzen sich u. a. mit dem Sitzungsproblem auseinander, denn je mehr Gruppenarbeit als eine ideale Arbeitsform angesehen wird, um so mehr hat man es auch mit Sitzungen zu tun. Man will erreichen, dass die Zusammenarbeit effektiver gestaltet werden kann, damit mehr Zeit für produktive Arbeit übrigbleibt, die Durchlaufzeiten beschleunigt werden und vor allem auch Entscheidungsvorgänge schneller werden. Durch den Einsatz der Informationstechnologie (CSCW= Computer Supported Cooperative Work) verspricht man sich eine erhebliche Verbesserung in der Zeitnutzung. Diese computerunterstützte Gruppenarbeit nutzt verschiedene Werkzeuge, je nachdem ob die Arbeit am gleichen Ort zu gleicher Zeit oder an verschiedenen Orten zu gleicher Zeit oder zu verschiedenen Zeiten stattfindet. Für Sitzungen gibt es sogenannte Electronic Meeting Systeme, die Sitzungsaktivitäten unterstützen, indem z. B. das Sammeln von Informationen und Ideen elektronisch erfolgt. Der Vorteil dieser Methode ist das gleichzeitige Arbeiten, dass jeder mit seiner Meinung gelesen wird und dass man anonym bleiben kann - ein Untergebener sich vielleicht eher traut seine Meinung zu äußern oder auch der Chef sich traut, mal unausgegorene Gedanken einzubringen, ohne dass er sich blamiert. Ohne einen kompetenten Sitzungsleiter funktionieren aber diese Systeme nicht. Er muss in der Vorbereitung dafür sorgen, dass der Computer den Gesprächspartnern die notwendigen Materialien wie Zeichnungen, Statistiken u. ä. zur Fügung stellt.

Zum Abschluss ein Zitat ohne Kommentierung:

"Auf dem Spiegel stand nun folgende Rechnung:
Schlaf 441.504.000  Sekunden
Arbeit 441.504.000 "
Nahrung 110.376.000  "
Mutter 55.188.000 "
Wellensittich 13.797.000 "
Einkauf usw. 55.188.000 "
Freunde, Singen usw. 165.564.000 "
Geheimnis 27.594.000 "
Fenster 13.797.000 "
Zusammen 1.324.512.000 "

»Diese Summe«, sagte der graue Herr und tippte mit dem Stift mehrmals so hart gegen den Spiegel, dass es wie Revolverschüsse klang, »diese Summe ist also die Zeit, die Sie bis jetzt verloren haben. Was sagen Sie dazu, Herr Fusi?«"

"An Hauswänden und Anschlagsäulen klebten Plakate, an denen man alle möglichen Bilder des Glücks sah. Darunter stand in leuchtenden Lettern:

ZEIT-SPARERN GEHT ES IMMER BESSER!

Oder:  ZEIT-SPARERN GEHÖRT DIE ZUKUNFT!

Oder: MACH MEHR AUS DEINEM LEBEN -- SPARE ZEIT!

Aber die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Zwar waren die Zeit-Sparer besser gekleidet als die Leute, die in der Nähe des alten Amphitheaters wohnten. Sie verdienten mehr Geld und konnten auch mehr ausgeben. Aber sie hatten missmutige, müde oder verbitterte Gesichter und unfreundliche Augen. Bei ihnen war die Redensart »Geh doch zu Momo!« natürlich unbekannt. Sie hatten niemand, der ihnen so zuhören konnte, dass sie davon gescheit, versöhnlich oder gar froh geworden wären. ... Selbst ihre freien Stunden mussten, wie sie meinten, ausgenutzt werden und in aller Eile so viel Vergnügen und Entspannung liefern, wie nur möglich war."

[Ende, Michael <1929 - 1995>: Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte : ein Märchenroman. -- Schulausgabe mit Materialien. -- Stuttgart : Thienemann, ©1993. -- ISBN 3522168577. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch bei amazon.de bestellen}]


Zu: 12.2. Günstige und ungünstige Zeiten, Astrologie, Biorhythmik