Internationale Kommunikationskulturen

13. Kulturelle Faktoren: "Aberglauben" und Religion

3. Zum Beispiel: Religion in den USA


von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Internationale Kommunikationskulturen. -- 13. Kulturelle Faktoren: "Aberglauben" und Religion. -- 3. Zum Beispiel: Religion in den USA. -- Fassung vom 2002-03-15. -- URL: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur133.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2002-03-15

Überarbeitungen:

Anlass: Lehrveranstaltung, HBI Stuttgart, 2000/2001

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht


 


1. Einleitung



Abb.: In God we trust. -- 50-Dollar-Note, USA (©ArtToday)

Wenn man die Statistiken in Kapitel 13, Teil 2 über Einstellungen zur Religion und religiöse Einstellungen anschaut, sieht man sehr schnell, dass die USA zu den religiösesten Staaten der Welt gehört, weit religiöser als z.B. Deutschland. Dies obwohl -- oder besser: weil -- in den USA Kirche und Staat wirklich getrennt sind und es keine Staatskirchen wie in Europa gibt.

Religion ist in den USA ein wichtiger Faktor in der Ermöglichung von Kommunikation, insbesondere dadurch, dass religiöse Institutionen und Gruppierungen viele Möglichkeiten der Begegnung, des gemeinsamen Handelns usw. bieten. Religionszugehörigkeit ermöglicht auch die Bildung von Seilschaften, die in Beruf, Politik usw. nützlich sind. So ist es durchaus nicht unüblich, dass man z.B. mit dem beruflichen Aufstieg auch die Kirche oder Synagoge wechselt, um mit entscheidenden Berufskollegen auf dieser Schiene Kontakt zu haben.

Religion ermöglicht in den USA auch oft Kommunikation zwischen den verschiedenen Religionen und Denominationen -- so ist z.B. die private Graduate Theological Union in Berkeley, California [Webpräsenz: http://www.gtu.edu/. -- Zugriff am 2001-07-28] eine gemeinschaftliche theologische Ausbildungsstätte für Geistliche und Laien von

Etwas, was in Deutschland undenkbar wäre!

Religion ist in den USA aber nicht nur kommunikationsfördernd, sie kann auch sehr kommunikationshemmend sein. Der Riss zwischen religiös Liberalen und Konservativen ist groß. Fundamentalismus und Evangelikalismus führt einerseits zu Absonderung, andrerseits zu aggressiven Missionierungsversuchen sowie zu Gewalt gegen das, was man als gottlos ansieht (z.B. Abtreibungskliniken). Auch in der faktischen Zensur, die in den USA in vielen Public Libraries und Schulen geübt wird, spielen religiös Motivierte oft eine unrühmliche Rolle.

Religion ist in den USA wie fast alles ein äußerst widersprüchliches Phänomen, z.B.


2. USA = One Nation under God



Abb.: One Nation under God: Pledge of Allegiance. -- Briefmarke Desegregating Public Schools, 1999 (©ArtToday)

"I Pledge Allegiance to the flag of the United States of America and to the Republic for which it stands, one Nation under God, indivisible, with liberty and justice for all." "Ich gelobe Treue zur Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und der Republik, für die die Fahne steht, eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle."

The Pledge of Allegiance to the United States of America

Fahneneid der USA

Abb.: Pledge of Allegiance (©ArtToday)

"One Nation under God" wurde 1954 durch Gesetz des Congress dem Fahneneid hinzugefügt. The Pledge of Allegiance to the USA wird in Schulen täglich zu Schulbeginn gelobt, am Pledge of Allegiance Flag Day USA, dem 14 Juni wird um 19:00 Eastern Time in den ganzen USA eine Pause eingelegt und The Pledge gesprochen.

Abb.: National Prayer Breakfast: Reverend Billy Graham stands next to President Bill Clinton during a National prayer breakfast. (©Corbis)

"Robert Bellah [1927 - ] schrieb, die wichtigsten Elemente des amerikanischen Legitimationsmythos seien eine civil religion und eine äußerst utilitaristische säkulare Ideologie. 
  • Die civil religion besteht aus jüdisch-christlichen Symbolen und Wertvorstellungen, die der Nation eine göttliche Ordnung vermitteln und ihr ein Ursprungsbewusstsein und ein Ziel vor Augen führen. 
  • Die utilitaristische Ideologie stammt aus der politischen Aufklärungsphilosophie und verleiht der Nation einen Maßstab für angemessene Regierungsverfahren ebenso wie fundamentale Leitwerte, also etwa Leben, Freiheit oder das Streben nach Glück. 

Diese beiden kulturellen Traditionen haben in der Vergangenheit immer wieder zur Rechtfertigung großangelegter nationaler Kreuzzüge gedient. Hin und wieder sind sie in ihrer Gesamtheit gebraucht worden, um politische Exzesse zu dämpfen, indem staatliche Programme im Licht transzendenter Werte geprüft wurden. Aber zeitweise wechselten sie sich auch einzeln in der politischen Vorherrschaft ab.

Die civil religion ist noch heute eine deutlich sichtbare Dimension der amerikanischen Kultur. In Wahlkampfkampagnen überschlagen sich die verschiedenen Präsidentschaftskandidaten beinahe in ihren Bemühungen, ihre Loyalität gegenüber dem einen oder anderen Zweig jüdisch-christlicher Tradition zu demonstrieren. Heute wie in der Vergangenheit sind die Ansprachen zum Amtsantritt eines Präsidenten eine rituelle Verbeugung vor Gott; bei allen großen politischen Ereignissen wird in Gebeten die Gegenwart und der Segen Gottes herabgerufen; allen in der Verfassung verankerten Beschränkungen zum Trotz werden religiöse und politische Symbole an wichtigen Feiertagen immer noch stark vermengt. 

Die civil religion Amerikas porträtiert das amerikanische Volk, oft im Vergleich mit den Völkern anderer Staaten, als gottesfürchtige Kämpfer für Religionsfreiheit und oft auch als ein Volk, das von Gott zu einem besonderen Zweck berufen worden ist.

Trotz allem ist die civil religion Amerikas zutiefst gespalten. Wie die übrigen Religionen spricht auch sie keine einheitliche Sprache und vereint auch nicht die Mehrheit der Amerikaner um gemeinsame Ideale. Vielmehr ist eine babylonische Sprachverwirrung entstanden. Aus verschiedenen Traditionen heraus werden unterschiedliche Vorstellungen dessen angeboten, was Amerika sein kann und sein sollte. Die civil religion der Konservativen hat mit derjenigen der Liberalen offenkundig wenig gemein.

Seitens der Konservativen beruht die Legitimität Amerikas offenbar stark auf einem klaren »Ursprungsmythos«, der die Staatsgründung mit göttlichen Zielen in Verbindung bringt. Diese Geschichtsinterpretation schreibt der amerikanischen Staatsform eine dauerhafte Legitimität zu, da ihre Gründerväter zutiefst von jüdisch-christlichen Wertvorstellungen geprägt waren. Auch wenn ihre persönlichen Überzeugungen gelegentlich von diesem Standard abwichen, kannten doch Menschen wie Washington [1732 - 1799, 1. Präsident der USA 1789 - 1797], Franklin [1706 - 1790], Witherspoon [1723-1794] und Adams [1735 - 1826, 2. Präsident  der USA 1797 - 1801] das menschliche Herz aus einer biblischen Perspektive und wussten daher, welche Staatsform am besten funktionieren würde. In seinem Buch A Christian Manifesto [1981] schrieb Francis Schaeffer folgendes über die Gründerväter:

»Diese Männer wussten wirklich, was sie taten. Sie vertrauten auf das höchste Wesen, den Schöpfer, die absolute Wirklichkeit. Sie wussten, dass ohne diese Grundlage die gesamte Unabhängigkeitserklärung und alles, was folgen sollte, reiner Unsinn wäre. Sie waren großartige Menschen, die genau verstanden, worum es ging.«

Wie viele andere Evangelikale setzte auch Schaeffer sich aktiv für die Politik der Neuen Rechten ein. Aus dieser Sicht heraus hatte er klare Vorstellungen von den Übeln, welche die amerikanische Kultur bedrohten. Sie waren seiner Auffassung nach jedoch ein Nebenprodukt der Tatsache, dass die Nation von der jüdisch-christlichen Vision abgewichen sei und diese durch eine materialistisch-humanistische Weltanschauung ersetzt habe. Er war sicher, dass in den Grundprinzipien des amerikanischen Staates kein Fehler lag. Die Dauerhaftigkeit der amerikanischen Legitimität hing also in seinen Augen von der zumindest prinzipiellen Konformität des Landes mit den biblischen Idealen ab.

Der Gedanke, dass der amerikanische Staat auf biblischen Prinzipien ruhe, stellt eine etwas gemäßigte Variante der im neunzehnten Jahrhundert häufig, und von einigen Evangelikalen immer noch vertretenen Anschauung über die Beziehung Amerikas zu Gott dar. Damals wurde das Land in millennialistischer Weise beschrieben; Ernest Lee Tuveson nannte es treffend eine »Nation der Erlösung«. Die amerikanische Nation wurde nicht nur als von Gott berufen betrachtet, sondern sie existierte als ein »auserwähltes Volk«, das dazu geschaffen worden war, Gottes Werk auf Erden zu erfüllen. Als sie an Stärke und Größe zunahm und die Bauernhöfe und Städte zu blühen begannen, konnten viele Autoren kaum ihre Überzeugung verbergen, dass das Reich Gottes tatsächlich gekommen sei, und zwar als Amerika. 

Melvilles [1819 - 1891]  vielgelesener Roman White jacket [1855] aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts beschrieb Amerika als »das Israel unserer Zeit« und die Nation als einen »politischen Messias«, ausgeschickt, um »die Arche der Freiheiten der Welt zu beherbergen«. 

Whitmans [1819 - 1892] episches Gedicht Passage to India [1871], dass die Schönheit der Natur und die menschlichen Errungenschaften des amerikanischen Kontinents beschwört, zeigt einen noch engeren Zusammenhang zwischen den Wundern der Nation und dem göttlichen Plan auf der Reise nach Indien

»Ach, Seele, siehst du nicht Gottes Plan von Anfang an?
Die Erde soll umspannt sein, dicht vernetzt,
Die Rassen seien Nachbarn, ehelich verbunden,
Die Ozeane überquert, das Ferne nah gebracht,
Die Länder zusammengeschmiedet.«

Die neuen Wirklichkeiten der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als jedes Jahrzehnt entweder von Kriegen oder von Wirtschaftskrisen heimgesucht wurde, dämpfte einen Großteil der einstigen Begeisterung religiöser und weltlicher Schriftsteller über die tausendjährige Zukunft Amerikas. Als das Land sich jedoch militärisch und wirtschaftlich an der Weltspitze wiederfand, wurde der traditionelle Eifer teilweise wieder laut. Beliebt war der Slogan »Eine Nation unter Gott«, der eine Vielzahl von Bedeutungen hatte, konnte doch die Nation hier sowohl als vereinigt wie auch als die »einzige«, »beste«, »führende« oder »besondere« unter Gott verstanden werden. 

In seinem Buch One Nation Under God behauptete Norman Vincent Peale  [1898 - 1993] , Amerika habe bei seiner Entstehung einen einzigartigen Ruf von Gott empfangen, der in dem besonderen Eifer und in der geistigen Qualität seines Volkes immer noch zum Ausdruck komme. In seinem gleichnamigen Buch gelangte der evangelikale Autor Rus Walton [gest. 1999] zu dem Schluss, die amerikanische Verfassung sei »von Gott inspiriert«.

In den späten sechziger und in den siebziger Jahren führte das militärische Eingreifen Amerikas in Vietnam dazu, dass man die Ziele Amerikas in Frage stellte. Advokaten des American Way of Life wurden im Zuge dessen offenbar immer konkreter in ihrem Bestreben, in der amerikanischen Geschichte eine göttliche Legitimation zu entdecken. Edward Elson [1906 - ] sagte, man könne Amerika nur als eine »spirituelle Bewegung« verstehen, deren Ausgangspunkt Gott sei und deren Entwicklung vom heiligen Geist gelenkt werde.

Auch der christliche Geschäftsmann George Otis meinte: 

»Gottes Hand war bei der Gründung dieses Landes im Spiel, und Christus selbst ist in allen Bereichen Amerikas wiederzuentdecken.« 

Ähnlich überzeugt behauptete Dale Evans Rogers, dass Amerika »in Gottes Gedanken entstand, ehe es Wirklichkeit wurde.« Das Land sei immer noch »Teil Seines Plans für die Menschheit.«

Indem sie eine enge historische Verbindung Amerikas zu Gott herstellen, bestätigen Evangelikale und Fundamentalisten die Bedeutung der von ihnen selbst nach wie vor vertretenen religiösen Werte. Ihre Version der amerikanischen Geschichte weist auf eine Zeit hin, in der diese Werte zweifellos sehr ernst genommen wurden. Direkt oder indirekt fordern die Evangelikalen und Fundamentalisten die Wiederherstellung dieses Zustands und damit die Schaffung einer amerikanischen Lebensart, mit der sie sich identifizieren können.

Die evangelikale Lehre unterscheidet jedoch deutlich zwischen persönlichen Überzeugungen und der religiösen Geschichte des Staates, so dass militanter religiöser Nationalismus jeglicher Art eine Ausnahmeerscheinung bleiben muss. Persönliche Erlösung, geistiges Wachstum, Bibelkenntnis und die Belange der Kirchengemeinden stehen im Vordergrund und nicht die göttliche Vorsehung in der amerikanischen Geschichte. 


Abb.: Jerry Falwell [Bildquelel. http://www.onlinechristian.net/ministries/jfm.html. -- Zugriff am 2001-06-06]

Selbst Jerry Falwell [1933 - ] [Webpräsenz: http://www.falwell.com/. -- Zugriff am 2001-06-06] spielt in seinen Büchern und Predigten nur selten auf Amerikas kollektive Gottesbeziehung an. Soweit man also die konservative civil religion mit den Evangelikalen und Fundamentalisten assoziieren kann, ist sie offenbar eher eine vorausgesetzte Haltung als ein konkreter Kultgegenstand.

Zwar wird Amerika in der konservativen civil religion stark mit dem biblischen Glauben identifiziert, doch die Sprecher dieser Tradition haben oft vermieden, beides gleichzusetzen. Man trennt klar zwischen dem göttlichen Auftrag und dessen irdischer Manifestation. Diese Unterscheidung wurde häufig mit Bezug auf die klassische theologische Demarkationslinie zwischen dem Reich Gottes und dem Reich der Menschen verdeutlicht. Das Reich Gottes ist ein transzendentes Ideal und ruft eine ausgesuchte Nation, ein auserwähltes Volk vor Gericht. Dieses Reich Gottes wird oft als eine Beschreibung des Himmels verstanden oder als ein Königreich, das erst nach dem Ende der Zeit auf der Erde errichtet wird. Es darf also keinesfalls mit irgendeinem existierenden Land verwechselt werden, auch nicht mit Amerika. 

Senator Mark Hatfield [1922 - ] legt Wert darauf, dass der evangelikale Christ, der sich für eine politische Karriere entscheidet, darauf achten müsse, »Gott mehr zu gehorchen als den Menschen« und sich davor hüten solle, das biblische Ideal leichtfertig mit politischen Entscheidungen gleichzusetzen. Verwechsle man den biblischen Glauben mit Nationalstolz, so könne eine ketzerische civil religion entstehen, welche die politische Ordnung »in einen Schrein stellt« und »nicht mehr über Reue, Erlösung und Gottes Gerechtigkeitsmaßstab spricht.« 

Auch Jerry Falwell bestätigt rundweg: »Amerika ist nicht das Reich Gottes.« 

Andere konservative Sprecher warnen sogar vor einer allzu kritiklosen Hinnahme der Auffassung, Amerika gründe einzig auf christlichen Prinzipien. In ihrer Abhandlung über die amerikanische politische Religion weisen die evangelikalen Autoren Robert Linder und Richard Pierard [1934 - ] darauf hin, dass diese Auffassung »nicht nur das erschüttert, was viele Gläubige meinen, sondern auch die Unfehlbarkeit und Unveränderlichkeit der göttlichen Wahrheit selbst in Frage stellt.« 

Im allgemeinen sieht die konservative civil religion jedoch eine Vorrangstellung für Amerika in der göttlichen Ordnung vor. Falwell fährt fort: 

»Die Vereinigten Staaten sind keine unfehlbare Nation, doch ganz bestimmt sind sie die größte und einflussreichste Nation der Welt. Wir haben genügend Menschen und Mittel um - - zu Lebzeiten dieser Generation - - die ganze Welt zu evangelisieren.«

Tim LaHaye [Webpräsenz: http://www.timlahaye.com/. -- Zugriff am 2001-06-06] , Leiter der American Coalition for Traditional Values [Webpräsenz: http://www.traditionalvalues.org/. -- Zugriff am 2001-06-06], formuliert denselben Gedanken in umgekehrter Weise:

Ohne Amerika »hätte unsere Welt den Kampf um den Geist verloren und wäre zweifellos ein totalitärer humanistischer Weltstaat.«

Der Gedanke der Evangelisierung der Welt durch Amerika taucht häufig in der konservativen civil religion auf. Demnach will Gott, dass das Land seine bevorzugte Stellung dazu nutzt, allen Völkern das Christentum zu predigen. Manche evangelikale Eschatologie sieht dies als die letzte Aufgabe, die vollbracht werden muss, um das »Zweite Kommen« Christi auf die Erde herbeizuführen. Der Wohlstand und die Macht des Landes werden als eine Gabe Gottes zur Ausführung dieser bedeutenden Aufgabe und gleichzeitig als einen Beweis des göttlichen »Wohlwollens« für diejenigen gedeutet, die sich dieser Aufgabe bereitwillig stellen. Diese Anschauung ist besonders bei konservativen christlichen Gruppierungen mit starken missionarischen Bestrebungen verbreitet. 


Abb.: Bill Bright mit Gattin [Bildquelle. http://www.billbright.com/free.htm. -- Zugriff am 2001-06-06]

Bill Bright [1921 - ] beispielsweise, Gründer der Organisation Campus Crusade for Christ [Webpräsenz: http://www.ccci.org/. -- Zugriff am 2001-06-06], schreibt: 

»Gott hat diesem Land unbegrenzte Ressourcen, Arbeitskräfte und finanzielle Mittel gegeben. [Er]... hat Amerika dazu berufen zu helfen, der übrigen Welt den Segen Seiner Liebe und Vergebung zu vermitteln.«

Trotz der formalen Trennung zwischen dem Reich Gottes und dem der Menschen, weist die konservative Doktrin der »beiden Reiche« der existierenden Staatsform eine beträchtliche Portion göttlicher Autorität zu. zwar kann keine menschliche Regierung dem göttlichen Ideal jemals völlig entsprechen, dennoch wurde sie von Gott als Werkzeug zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung eingesetzt. Deshalb darf man sie weder in Frage stellen, noch sich ihr offen widersetzen, außer in den seltenen Fällen, in denen sie das christliche Recht auf freie Religionsausübung verletzt. 

Kenneth Kantzer, ehemaliger Herausgeber von Christianity Today [Webpräsenz: http://www.christianitytoday.com/. -- Zugriff am 2001-06-06], erklärt dies wie folgt: 

»Wir müssen... die dem Staat von Gott aufgetragenen Pflichten unbedingt anerkennen... Aus dem Missbrauch dieser Pflichten können Gefahren erwachsen, doch schmälert das nicht ihren göttlichen Ursprung, deshalb verdienen sie unsere Unterstützung.« 

Im Fall Amerikas hat diese Argumentation gewöhnlich eine konservative Prägung, konnten doch die Evangelikalen auf ihre eigene Religionsfreiheit unter einer demokratischen Regierung hinweisen, vor allem im internationalen Vergleich.

Neben diesem Staatsverständnis beinhaltet die civil religion normalerweise auch Rechtfertigungen des US-amerikanischen Wirtschaftssystems. Hier erfährt der Kapitalismus eine außerordentlich starke Legitimation, indem gewisse Parallelen zwischen seinen Wirtschaftsprinzipien und biblischen Lehren gezogen werden. 

Der Wirtschaftswissenschaftler Georg Gilder [1939 - ], selbst bekennender Evangelikaler, sagte:

»Das fundamentale praktische Prinzip des Christentums lautet 'Gib, und dir wird gegeben.' Ohne Privateigentum kann man nichts geben, weil einem nichts gehört... Der Sozialismus ist prinzipiell christentumsfeindlich, der Kapitalismus hingegen ist seinem Wesen nach die am stärksten mit der religiösen Wahrheit übereinstimmende Lebensform.«

An anderer Stelle weist er mit eindeutiger Absicht auf die Lehren des Apostels Paulus über die Liebe hin: »Die tiefsten Wahrheiten des Kapitalismus sind Glaube, Hoffnung und Liebe.«

Jerry Falwell war ebenfalls ein ausgesprochener Apologet des US-amerikanischen Kapitalismus: 

»Ich glaube an den Kapitalismus, an die freie Marktwirtschaft und an das Privateigentum... Die Menschen sollen das Recht haben, Eigentum zu besitzen, hart zu arbeiten, etwas zu erreichen, zu verdienen und zu gewinnen.« 

Für Falwell ist das nicht nur seine persönliche Meinung, sondern eine göttlich sanktionierte Auffassung: 

»Gott liebt Freiheit, Privateigentum, Wettbewerb, Fleiß, Arbeit und Erwerb. All das wird im Wort Gottes vermittelt, im Alten wie auch im Neuen Testament.«

Auch Personen, deren Beweggründe weniger offensichtlich sind wie die Falwells, bekräftigen die Existenz einer gewissen Affinität der christlichen Lehre mit dem amerikanischen Kapitalismus. 

Der Fernsehprediger Pat Robertson [Webpräsenz: http://www.patrobertson.com/. -- Zugriff am 2001-06-06] beruft sich direkt auf Gilder und kommt zu folgender Erkenntnis: 

Das »System der freien Marktwirtschaft kommt dem gottgegebenen Bedürfnis der Menschheit nach Freiheit am nächsten.«

Auch der christliche Autor Ronald H. Nash wehrt sich gegen die gefährlichen sozialistischen Tendenzen, die er in der Befreiungstheologie vermutet. Seiner Meinung nach ist der Kapitalismus zu bevorzugen, weil es unmöglich »geistige Freiheit« ohne »wirtschaftliche Freiheit« geben könne.

Auf der anderen Seite beziehen sich nur wenige Vertreter der liberalen Version der amerikanischen civil religion auf die religiösen Anschauungen der Gründerväter oder sind der Überzeugung, Amerika sei Gottes auserwählte Nation. Nur selten werden der Wohlstand und die Macht des Landes als Gottes Gaben zur Evangelisation der Welt gedeutet. Eine religiöse Apologie des Kapitalismus ist so gut wie tabu. Zwar gibt es eine liberale Version der civil religion in Amerika, aber sie beruht auf völlig anderen religiösen Wertvorstellungen und stellt die Nation in einem ganz anderen Licht dar als ihr konservatives Pendant.

Die liberale Interpretation Amerikas konzentriert sich weniger auf die Nation als solche und mehr auf die Menschheit im allgemeinen. Demnach trägt Amerika eine globale Teilverantwortung, allerdings nicht, weil das Land von Gott auserkoren wurde, sondern weil es über große Ressourcen verfügt, weil es für viele der gegenwärtigen Weltprobleme verantwortlich zeichnen muss und einfach deshalb, weil es zur Weltgemeinschaft gehört und folglich die Pflicht hat, seinen Teil zur Bewältigung der Schwierigkeiten in der Welt beizutragen. Statt der jüdisch-christlichen Tradition eine zentrale Stellung einzuräumen, bezieht die liberale civil religion grundlegende Menschenrechte und allgemeine menschliche Probleme mit ein. Themen wie nukleare Abrüstung, Menschenrechte, Welthunger, Frieden und Gerechtigkeit spielen eine wichtige Rolle, doch nicht, weil eine heilige Mission in diesem Zusammenhang erfüllt werden muss, sondern schlicht weil es hier um Leben oder Tod geht - - womöglich für uns alle. Dennoch spielt der Glaube in diesen Diskussionen oft eine wichtige Rolle, indem er die liberale civil religion von rein weltlichen oder humanistischen Denkkonzepten unterscheidet. Er dient als motivierendes Element, gibt Kraft im Kampf gegen oft scheinbar unüberwindbare Probleme. Häufig werden die biblischen Propheten, die sich einst für Frieden und Gerechtigkeit einsetzten, als Mut- und Hoffnungsquelle beansprucht. Das Zusammenspiel dieser verschiedenen Themen klingt in vielen Erklärungen an, mit denen die gemäßigten Denominationen ihren Standpunkt bezüglich der Rolle Amerikas in der heutigen Welt deutlich machen."

[Wuthnow, Robert: Der Wandel der religiösen Landschaft in den USA seit dem zweiten Weltkrieg. -- Würzburg : Ergon, ©1996. -- (Religion in der Gesellschaft ; Bd. 2). -- ISBN 3932004051. -- S. 281 - 288 (dort Quellennachweise). -- Originaltitel: The restructuring of American religion (1988). -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


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