Quellenkunde zur indischen Geschichte bis 1858

8. Quellen in in Sanskrit, Prākṛts und Pāli


von Alois Payer

mailto:payer@payer.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Quellenkunde zur indischen Geschichte bis 1858. -- 8. Quellen in in Sanskrit, Prākṛts und Pāli. -- Fassung vom 2008-04-22. -- http://www.payer.de/quellenkunde/quellen08.htm         

Erstmals publiziert: 2008-04-22

Überarbeitungen:

Anlass: Lehrveranstaltung FS 2008

©opyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Verfassers

Dieser Text ist Teil der Abteilung Sanskrit  von Tüpfli's Global Village Library


Falls Sie die diakritischen Zeichen nicht dargestellt bekommen, installieren Sie eine Schrift mit Diakritika wie z.B. Tahoma.


0. Übersicht



1. Einleitung


Grundsätzlich kann fast jedes Werk in den klassischen Sprachen Indiens, wenn man es kritisch und sorgsam liest, historisch relevante Aussagen enthalten. Angesichts der bekannten Schwierigkeiten bei der historischen Einordnung (Datierung, Lokalisierung) solcher Werke, schwindet ihre historische Verwertbarkeit oft auf Null.

Im Folgenden sollen nur exemplarisch genannt werden

Inschriften wurden schon http://www.payer.de/quellenkunde/quellen03.htm behandelt. 


2. Geschichtsschreibung


2.1. Geschichtsschreibung in Pāli


Siehe die kommentierte Übersetzung des Mahāvaṃsa:

Mahanama <6. Jhdt n. Chr.>: Mahāvaṃsa : die große Chronik Sri Lankas / übersetzt und erläutert von Alois Payer. -- 0. Einleitung -- URL: http://www.payer.de/mahavamsa/chronik00.htm ff.

Moriz Winternitz <1863 - 1937> gibt eine vorzügliche Darstellung dieser Literaturgattung:

"Aber nicht nur auf die Sammlung von Legenden und auf die Erklärung und Erläuterung der kanonischen Texte erstreckte sich die Tätigkeit der Mönche in den Klöstern von Ceylon, sondern frühzeitig begannen sie auch die Hauptereignisse in der Geschichte der buddhistischen Mönchsgemeinde chronikartig aufzuzeichnen. Schon der Bericht über die Konzilien im Cullavagga des Vinayapiṭaka verrät ja ein geschichtliches Interesse, ebenso die Darstellung der Sekten und Schulen im Kathāvatthu. Und der Kommentar zu dem letzteren2) ist geradezu von hervorragender Wichtigkeit für die Geschichte der Sektenspaltung in der ältesten Buddhistengemeinde. Aber auch jene schon öfter erwähnten singhalesischen Aṭṭhakathās, welche von Buddhaghosa eifrig studiert und auch von Dhammapāla benutzt worden waren, [S. 167] enthielten kirchengeschichtliche Abschnitte. Die letzteren bildeten vermutlich die Einleitung zu den Aṭṭhakathās, die sich mit dem Vinaya beschäftigten. Ihnen folgte und aus ihnen schöpfte Buddhaghosa, als er seiner Samantapāsādikā, dem Kommentar zum Vinayapiṭaka, eine historische Einleitung1) vorausschickte. Sie bildeten aber auch die Grundlage für die geschichtlichen und epischen Pālidichtungen von Ceylon. Denn nicht als eigentliche Geschichtswerke, sondern nur als »geschichtliche Dichtungen« können wir die Pālichroniken von Ceylon, Dīpavaṃsa und Mahāvaṃsa2), bezeichnen.

2) Kathāvatthuppakaraṇa-Aṭṭhakathā, herausgegeben von Minayeff im JPTS 1889.
1) Herausgegeben von Oldenberg in seiner Ausgabe des Vinayapiṭaka, Vol. III, 281 ff.
2) The Dīpavaṃsa, edited and translated by H. Oldenberg, London 1879. Der Mahāvaṃsa wurde zuerst herausgegeben und übersetzt von G. Turnour (Vol. I, containing the first 38 chapters) im Jahre 1837 und die Übersetzung wieder abgedruckt in: The Mahāvaṃsa, Part II, translated by L. C. Wijesimha, Colombo 1889. Die erste kritische Ausgabe verdanken wir Wilh. Geiger, London PTS 1908; von demselben ist jetzt auch eine englische Übersetzung des Mahāvaṃsa (London PTS 1912) erschienen. Vgl. H. Jacobi in GGA 1880, 851 ff.; W. Geiger, Dīpavaṃsa und Mahāvaṃsa und die geschichtliche Überlieferung in Ceylon, Leipzig 1905 und ZDMG 63, 1909, 540 ff. gegen R.O.Franke, Lit. Zentralblatt 1906, Sp. 1272 ff.; WZKM 21, 1907, 203 ff., 317 ff. Vgl. auch Oldenberg, Aus dem alten Indien, Berlin 1910, 69 ff.

Einen Unterschied zwischen Sage, Legende und Geschichte haben ja die Inder nie gemacht, und Geschichtschreibung war in Indien immer nur eine Art der epischen Dichtung. So galten auch den Buddhisten alle Legenden über die Buddhas der Vorzeit und die früheren Geburten des Gotama Buddha im Buddhavaṃsa3), im Cariyāpiṭaka und im Jātakabuch ebenso wie die ganze Buddhalegende als Geschichte. Nach dem Muster und Vorbild dieser Legendendichtung, und an sie anknüpfend, erzählten auch die Mönche von Ceylon in den geschichtlichen Abschnitten der [S. 168] Aṭṭhakathās die Geschichte von der Einführung des Buddhismus auf der Insel. Sie erfanden Legenden, welche die Buddhistengemeinde Ceylons nicht nur mit der Indiens, sondern mit Buddha selbst verknüpfen sollten — erbauliche Legenden, in denen erzählt wurde, wie der Erhabene die damals nur von Dämonen und Schlangengottheiten bewohnte Insel besuchte, indem er, von Göttern begleitet, hinüberflog, um das Licht seiner Lehre erstrahlen zu lassen und die zukünftige Größe der Kirche Ceylons vorzubereiten. An derartige fromme Legenden schlossen sich sagenhafte Berichte über die ersten Könige von Ceylon an und weiterhin halbgeschichtliche Nachrichten über Aśoka, Mahinda, die Konzilien und die Übertragung der heiligen Texte nach der Insel. Je mehr sich diese Aufzeichnungen der geschichtlichen Zeit näherten, desto mehr begannen dann wirklich geschichtliche Nachrichten zu überwiegen, ohne dass die Legenden je ganz zurückgetreten wären. Nur kamen zu den kirchlichen Überlieferungen auch volkstümliche, weltliche Erzählungen und Anekdoten hinzu1). So wurden die geschichtlichen Abschnitte der Aṭṭhakathās, die ja verloren gegangen sind, deren hier geschilderter Inhalt aber aus den erhaltenen Pālichroniken und Pālikommentaren zu erschließen ist, zu Sammelstätten sowohl für geistliche und weltliche Überlieferungen aller Art als auch für eigentlich geschichtliche Nachrichten.

3) Der Titel bedeutet »Geschichte der Buddhas«. Denn das Pāliwort vamsa (Sanskrit vaṃśa) bedeutet »Stammbaum, Geschlechtsfolge«, daher auch die »Chronik« oder die »Geschichte« eines Geschlechts, einer Dynastie, einer Reihenfolge von Lehrern u. dgl., daher dann überhaupt eine bis auf die ersten Anfänge zurückgehende »Geschichte« in Titeln wie Buddhavaṃsa, Dīpavaṃsa, Mahāvaṃsa, Thūpavamsa, Dāṭhāvaṃsa usw., ebenso in den Sanskrittiteln Harivaṃśa, Raghuvaṃśa usw.
1) Aus demselben Grunde, aus dem auch in die Jātakas und in die Kommentare überhaupt so viele weltliche Erzählungen Eingang fanden. S. oben S. 100.

Der erste, noch recht unvollkommene Versuch, die in den singhalesischen Aṭṭhakathās aufgespeicherten Überlieferungen zu einem Epos zu gestalten, liegt im Dīpavaṃsa, der »Geschichte der Insel«, vor. Der Verfasser, dessen Name nicht überliefert ist, der aber wahrscheinlich zwischen dem Anfang des 4. und dem ersten Drittel des 5. Jahrhunderts n. Chr. sein Werk geschrieben hat2), zeigt sich in der Handhabung von Sprache und Metrum noch sehr unbeholfen. Zahlreich sind die Verstöße gegen die Gesetze der Grammatik und des Versbaues. Man sieht, dass es für den Singhalesen noch eine ungewohnte Sache ist, Pāliverse zu schreiben. Er hält sich sklavisch an seine Vorlagen. Seine Verse schmiedet er nach Erinnerungen aus dem [S. 169] Tipiṭaka, insbesondere aus Buddhavaṃsa, Cariyāpiṭaka und Jātaka1). Seine Hauptquelle für den Stoff war aber der geschichtliche Abschnitt der im »großen Kloster« von Anurādhapura aufbewahrten Aṭṭhakathā2), neben der er allerdings auch noch eine oder zwei andere Aṭṭhakathās benützt haben dürfte. Daher kommt es wohl, dass nicht selten derselbe Gegenstand zweimal, ja dreimal in verschiedenen Versionen behandelt wird. So folgt nach einem kürzeren, mehr skizzenhaften Bericht über die drei Konzilien unmittelbar ein vollkommenerer, mehr abgerundeter Bericht. An Interpolationen ist in solchen Fällen nicht zu denken, sondern der Verfasser hat verschiedene Versionen vorgefunden und, da er sie für gleichwertig hielt, weiter überliefert. Ein Dichter hätte das natürlich nicht getan. Aber auch sonst ist die Komposition ebenso mangelhaft wie Sprache und Versmaß. Unvermittelt springt der Erzähler von einem Gegenstand zum andern über. Oft ist auch die Darstellung lückenhaft. Einzelne Episoden sind balladenartig ausgeführt, während andere fast nur angedeutet sind. Ja in einzelnen Fällen finden wir nur Memorialverse, in denen die Hauptpunkte einer Erzählung oder Beschreibung in Schlagwörtern aufgezählt werden. Offenbar gab es solche Verse in den Aṭṭhakathās, wo es den Rezitatoren überlassen blieb, allbekannte Szenen selbst auszuführen. Vielfach sind auch ganz nach der Weise des primitiven Epos3) Rede und Gegenrede unvermittelt aneinandergereiht. In manchen Fällen ergibt sich, wie das so oft in den alten Balladen der Fall ist, aus dem Zusammenhang, wer der Redende ist. Aber zuweilen müssen wir annehmen, dass der Rezitator durch verbindende Prosaerzählungen [S. 170] den Zusammenhang zwischen den Reden herstellte. Der Verfasser folgte wohl auch hierin nur seinen Vorlagen, die dazu bestimmt waren, von Mönchen bei größeren Versammlungen vorgetragen zu werden1).

2) Oldenberg, Dīpavaṃsa, Introd. p. 8 f.
1) Das hat Franke WZKM 21, 1907, 203 ff. sehr hübsch nachgewiesen, allerdings nur für die Form. Den Stoff konnte er nur zum geringsten Teil aus dem Tipiṭaka entnehmen, da ja dieses nichts über Ceylon erzählt. Vgl. Geiger ZDMG 63, 1909, 543.
2) Dieser Abschnitt der Aṭṭhakathā, der auch eine Quelle des Mahāvaṃsa war, wird im Kommentar zu dem letzteren als Sīhalaṭṭhakathā-Mahāvaṃsa, d. h. »die zum singhalesischen Kommentar gehörige große Geschichte (der Insel Ceylon)« zitiert und im Proömion des Mahāvaṃsa selbst als »der von den Alten verfasste (Mahāvaṃsa)« bezeichnet. Nach Geiger Dīp. und Mah. S. 71 war es ein selbständiges Chronikwerk, nach Oldenberg (Dīpavaṃsa, Introd., p. 4), mit dem ich übereinstimme, eine historische Einleitung zu einem theologischen Kommentar.
3) Vgl. oben Bd. I, 270.
1) An zwei Stellen, IV, 47 und XII, 30—33, finden wir auch die Mischung von Prosa und Versen, wie wir sie für die Aṭṭhakathā anzunehmen haben.

Während so der Dīpavaṃsa sich auch in der Form enge an seine Quellen anschloss und nur einen schwachen Versuch, ein Epos zu schreiben, darstellt, ist der Mahāvaṃsa — wahrscheinlich das Werk eines Dichters Mahānāma, der im letzten Viertel des 5. Jahrhunderts n. Chr. gelebt hat2) — bereits ein vollendetes Epos. Der Dichter wollte ein Kunstwerk, ein Kāvya, schaffen und bemerkt dies ausdrücklich in dem Proömion, das er seinem Werk vorausschickt. Das Geschichtswerk, das die Alten verfasst haben3), sagt er, sei an manchen Stellen zu weitläufig, an anderen wieder zu kurz gefasst und enthalte auch viele Wiederholungen. Diese Fehler habe er vermieden und sich bemüht, den überlieferten Stoff in leicht fasslicher Weise so darzustellen, dass er je an den geeigneten Orten die Gefühle der Freude beziehungsweise der Erschütterung auslöse. In der Tat werden im Mahāvaṃsa nicht nur Sprache und Metrum mit großer Gewandtheit gehandhabt — was wohl nicht nur in dem Talent des Dichters, sondern auch darin begründet ist, dass in die Zeit zwischen der Entstehung des Dīpavaṃsa und des Mahāvaṃsa die für die Pāliliteratur von Ceylon so bedeutsame literarische Tätigkeit des Buddhaghosa fällt —, sondern auch die Darstellung lässt nichts zu wünschen übrig. Da finden wir keine störenden Lücken, keine Wiederholungen. Wo der Dīpavaṃsa zu kurz ist, hat Mahānāma erweitert und ergänzt, in anderen Fällen wieder den Gegenstand knapper gefasst. Der Mahāvaṃsa ist, wie Geiger4) sagt, »ein Kunstwerk, geschaffen von einem Manne, der den Namen eines Dichters wohl verdient, und der den vielfach [S. 171] spröden Stoff nicht mit Genialität, aber mit Geschmack und Geschick bemeisterte«.

2) Das ergibt sich mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Mahāvaṃsaṭīkā. Geiger, Dīp. und Mah. 44 ff. Vgl. V. A. Smith im Ind Ant. 31, 1902, 192 ff.
3) Geiger nimmt jetzt (Mahāvaṃsa Transl. p. XI) an, dass damit der Dīpavaṃsa gemeint sei. Darnach wäre der Mahāvaṃsa nur eine Bearbeitung des Dīpavaṃsa.
4) Dīp. und Mah., S. 19.

Andererseits zeigen Dīpavaṃsa und Mahāvaṃsa in bezug auf den Stoff und dessen Anordnung eine weitgehende Übereinstimmung und haben sogar eine Anzahl von Versen gemeinsam. Beide Epen beginnen mit der Geschichte des Gotama Buddha, erzählen von seinen drei Besuchen auf der Insel Ceylon, die damals nur von Dämonen — Rākṣasas, Yakṣas, Piśācas und Schlangen — bewohnt war, und berichten, wie der Erhabene mit seinem »Buddhaauge« die ganze Welt überschaute und die schöne Insel erblickte, wie zwischen den Schlangenfürsten Großbauch und Kleinbauch ein schrecklicher Krieg ausbrach, der die Insel zu zerstören drohte, wie der Buddha in seiner unendlichen Güte Mitleid empfand, von Göttern begleitet nach Ceylon hinüberflog und das Licht seiner Lehre erstrahlen ließ, worauf sich Scharen von Schlangen- und anderen Dämonen zur reinen Lehre bekannten. Sodann wird der Stammbaum von Gotamas Vater Suddhodana bis auf einen mythischen König der Urzeit zurückverfolgt und die Geschichte des Buddhismus in Indien, insbesondere die der Konzilien, erzählt. Des längeren verweilen die beiden Epen bei Aśoka, dem großen Schirmherrn des Buddhismus. Mit dem Bericht über das dritte Konzil und die Sendung des Mahinda nach Ceylon wechselt der Schauplatz der Erzählung, der nunmehr ganz nach Ceylon verlegt wird. Aus der Verbindung einer indischen Prinzessin mit einem Löwen sind zwei Kinder hervorgegangen, Sīhabāhu und Sīvalī. Der Ehe zwischen dem Geschwisterpaar ist Vijaya entsprossen, mit dem die Geschichte der Könige von Ceylon beginnt. Dieser wilde Prinz wird aus seiner Heimat verbannt, begibt sich mit 700 Gefährten auf die See, landet nach mannigfachen Seeabenteuern auf Ceylon und wird dort König. Die Geschichte des Vijaya und seiner ersten Nachfolger wird im Dīpavaṃsa viel kürzer erzählt als im Mahāvaṃsa. Länger verweilen beide Werke bei dem König Devānaṃpiyatissa, der zur Zeit des Aśoka auf Ceylon herrschte, unter dem Mahinda (natürlich durch die Luft geflogen) nach Ceylon kam, dort die Religion des Buddha begründete und die ersten buddhistischen Kultstätten errichtete. Saṅghamittā, die Schwester des Mahinda, bringt einen Zweig des Bodhibaumes, dessen Verpflanzung nach Ceylon besonders ausführlich geschildert wird. [S. 172] Dann wird die Geschichte der Könige von Ceylon — unter ihnen etwas eingehender Vaṭṭagāmani, der das Tipiṭaka mit den Kommentaren aufzeichnen ließ — bis auf Mahāsena verfolgt, mit dessen Tod (302 n. Chr.) die Erzählung abbricht1).

1) Auch im Mahāvaṃsa, denn mit 37, 50 endet das Werk des Mahānāma. Alles Folgende ist eine viel spätere Fortsetzung, die von einem Dichter Dhammakitti, der unter der Regierung des Königs Parākramabāhu (1240—1275) lebte, geschrieben sein soll (M. de Z. Wickremasinghe im JRAS 1896, 200 ff. Vgl. Geiger, Dīp. und Mah. S. 19). Dass beide Epen gerade mit Mahāsenas Tod abbrechen, kann nur darin seinen Grund haben, dass der Mahāsena der Aṭṭhakathā, die Quelle der beiden Epen, nach der unter Mahāvaṃsa erfolgten Zerstörung des »großen Klosters« von Anurādhapura nicht mehr fortgesetzt wurde, trotzdem Mahāsena das Kloster wieder aufbauen ließ. (Vgl. Mahāvaṃsa 37; Dīp. 22, 66 ff.; Geiger, Dīp. und Mah., S. 71.)

Wenn sich aber auch die Darstellung des Mahāvaṃsa innerhalb desselben Rahmens bewegt wie die des Dīpavaṃsa, so hat doch Mahānāma in diesen Rahmen auch sehr viel neuen Stoff eingefügt. Er hat vor allem die Geschichte von König Gāmani dem Bösen (Duṭṭhagāmani), dem im Dīpavaṃsa nur 13 Verse gewidmet sind, in elf Gesängen (22—32) zu einem selbständigen Heldengedicht — Geiger nennt es das »Duṭṭhagāmani-Epos« — ausgestaltet. In einem ersten Teil schildert er die Kriegstaten dieses mächtigen Königs und macht ihn erst im zweiten Teil zu einem Glaubenshelden, der für die Ströme Bluts, die er vergossen, dadurch sühnt, dass er fromme Bauwerke errichtet, insbesondere den Mahathūpa, »den großen Stūpa«, von dessen Erbauung Wunder berichtet werden. Aber auch eine ganze Reihe von Märchen- und Novellenstoffen, von denen manche der Weltliteratur angehören, hat Mahānāma in seine Dichtung verarbeitet. Während im Dīpavaṃsa nur berichtet wird, dass Vijaya mit seinen Gefährten nach Ceylon verschlagen wurde, dort Städte gründete und ein Königreich errichtete, werden uns im Mahāvaṃsa (7, 9 ff.) die höchst märchenhaften Abenteuer von Vijaya und der Zauberin Kuveṇi erzählt, die lebhaft an die Erlebnisse des Odysseus bei Kirke erinnern. Sehr interessant ist die Sage von dem König Eḷāra (21,15 ff.):

Dieser gerechte Fürst hatte an seinem Bette eine Glocke befestigt, deren Strang ins Freie ging, damit jedermann, dem Unrecht geschehen, [S. 173] sie läuten könne1). Zuerst zerrt an dem Seile eine Kuh, deren Kalb vom Sohne des Königs überfahren wurde. Der König lässt seinen eigenen einzigen Sohn durch die Räder desselben Wagens zermalmen. Dann sucht ein Vogel beim König Hilfe, weil ihm eine Schlange das Junge getötet, und der König lässt die Schlange töten. Zum drittenmal läutet die Glocke, und eine alte Frau zieht am Strange. Sie hat Reis zum Trocknen ausgelegt, und ein zur Unzeit fallender Regen hat ihn verdorben. Der König sieht darin eine Strafe für eine Schuld, die er kurz vorher auf sich geladen. Er tut Buße durch Fasten, worauf Sakka den Regengott Pajjunna beauftragt, nur einmal in der Woche zu einer bestimmten Nachtzeit regnen zu lassen2).

1) »Als Kaiser Karl zu Zürich . . . wohnte, ließ er eine Säule mit einer Glocke daran errichten, damit sie jeder ziehen könne, der Handhabung des Rechtes fordere, so oft der Kaiser am Mittagmahl sitze«. Grimm, Deutsche Sagen II, Nr. 453. Hier, wie in der ähnlichen Sage von dem weisen Theodosius (Gesta Romanorum 105) ist es eine Schlange, die gegen eine Kröte ihr Recht sucht und findet. Vgl. Benfey, Pantschatantra I, 168 f.
2) Viele andere für die Sagengeschichte wichtige Erzählungen des Mahāvaṃsa, zum Teil mit interessanten Parallelen, hat Geiger, Dīp. und Mah., S. 23-28 nachgewiesen.

Es ist wohl anzunehmen, dass Mahānāma alle diese Stoffe, welche dem Dīpavaṃsa fehlen, den alten Aṭṭhakathās, vor allem dem Sīhalaṭṭhakathā - Mahāvaṃsa entnommen hat, der seine Hauptquelle war, wenn er auch daneben den Dīpavaṃsa gekannt und benutzt hat. Dass beide Epen auf den geschichtlichen Abschnitten der alten Aṭṭhakathās fußen, spricht aber auch sehr dafür, dass ihnen eine gewisse Zuverlässigkeit als Geschichtsquellen nicht abzusprechen sein wird. Von wirklicher Geschichtschreibung kann weder im Dīpavaṃsa noch im Mahāvaṃsa die Rede sein. Es genügt, darauf hinzuweisen3), dass keines der beiden Werke auch nur den Namen Alexanders des Großen nennt, dass sie von dem großen Aśoka nichts als Wunder über Wunder zu berichten wissen, und dass dieser mächtige Eroberer in ihrer Darstellung viel mehr ein geistlicher als ein weltlicher Held ist. Selbst Gāmani der Böse — der volkstümliche Beiname zeigt deutlich genug, dass er von Haus aus nichts weniger als ein frommes Tugendpüppchen war — wird im Mahāvaṃsa doch vor allem als Religionsheld verherrlicht. Beide Epen wollen in erster Linie der Erbauung dienen, und der Mahāvaṃsa will [S. 174] zugleich ein Kāvya sein. Dennoch tut man diesen Werken unrecht, wenn man ihre Verfasser, wie es manche Kritiker mit einer der Komik nicht ganz entbehrenden Entrüstung getan haben, als bewusste Fälscher und Lügner hinstellt. Das waren sie gewiss nicht. Was sie erzählen, ist das, was sie für wahre Geschichte hielten, was wir allerdings vielfach für Sage, Legende und Dichtung halten müssen. Da sie aber nicht absichtlich falsch berichtet haben, dürfen wir ihnen auch vieles glauben, was sie aus geschichtlicher und ihrer eigenen Lebenszeit nicht allzu ferner Periode berichten. Sie haben uns doch zuerst von Candragupta, dem Großvater des Aśoka, Nachrichten gegeben, die mit den Angaben der Griechen zwar nicht genau übereinstimmen, sich aber mit ihnen so weit in Einklang bringen lassen, dass mit ihrer Hilfe das Todesjahr des Buddha berechnet und damit das wichtigste Datum der indischen Literaturgeschichte gewonnen werden konnte. Und Sylvain Lévi1) hat durch eine Vergleichung der chinesischen Annalen mit unseren singhalesischen Chroniken gefunden, dass die letzteren vom 4. Jahrhundert v. Chr. angefangen als historische Quellen »solide, sinon impeccable« sind.

3) Vgl. Oldenberg, Aus dem alten Indien, 77 ff.
1) Journal des savants, 1905, p. 539. Für die Vertrauenswürdigkeit der Chroniken sind auch eingetreten Max Müller SBE, vol. 10 (I), pp. XIII-XXV; Rhys Davids, Buddhist India, p. 274 f.; H. C. Norman, JRAS 1908, 1 ff. Oldenberg hat sich in seinen Untersuchungen über die Geschichte des Kanons (s. oben S. 1, A. 1) vielfach auf die Angaben von Dīp. und Mah. berufen. Fleet (JRAS 1909, pp. 987 und 1015) meint, dass der Dīpavaṃsa auf lokalen Aufzeichnungen aus der Zeit des Aśoka fuße, und dass im Mahāvaṃsa 32 tatsächlich die letzten Worte Duṭṭhagāmanis erhalten sind. Ganz gering denken von der geschichtlichen Zuverlässigkeit der Chroniken V. A. Smith (Ind. Ant. 32, 1003, p. 365 f.) und R. O. Franke JPTS 1908, p. 1 (gegen Franke s. Geiger ZDMG 63, 1009, S. 550).

Vom Mahāvaṃsa gibt es auch eine sehr erweiterte Rezension — in 5791 Versen gegenüber den 2915 Versen unseres Textes—, die zwar als Kunstwerk ganz unbedeutend, aber literarhistorisch sehr lehrreich ist. Denn sie zeigt, wie man in Indien (die singhalesischen Schriftsteller folgten ja nur indischen Vorbildern) Epen durch Einfügung immer neuer Stoffe erweiterte2). Wichtiger ist die zwischen 1000 und 1250 n. Chr. verfaßte Mahāvaṃsa-Ṭīkā, [ S. 175] der Kommentar zu unserem Mahāvaṃsa, Dies ist nämlich nicht bloß ein exegetischer und dogmatischer Kommentar, sondern er enthält auch zahlreiche Sagen, Märchen und Legenden als Ergänzung zu dem Inhalt des Epos. Diese sind teils aus der mönchischen, teils aus der volkstümlichen Überlieferung geschöpft. Volkstümlich sind z. B. die besonders interessanten Sagen von Candragupta und Cāṇakya1), die der Kommentator, wie er selbst sagt, zum Teil der Aṭṭhakathā des »nördlichen Klosters« entnommen hat. Sonst hat auch er hauptsächlich aus der Aṭṭhakathā des »großen Klosters« geschöpft, daneben aber auch die Kommentare Sumaṅgalavilāsinī und Samantapāsādikā des Buddhaghosa und eine ganze Reihe von anderen Werken benutzt, unter denen eine mehrmals zitierte Sahassavatthaṭṭhakathā, »Kommentar der tausend Geschichten«, besonders bemerkenswert ist2).

2) Der erweiterte Mahāvaṃsa ist von F. Hardy (JPTS 1902—1903, p. 61 ff) in einer Kambodscha-Handschrift entdeckt und von Geiger, Dīp. und Mah. S. 28 ff., besprochen worden.
1) Über diese und andere Erzählungen s. Geiger, Dīp. und Mah. S. 37—44, wo auch auf Analogien namentlich In der Kyrossage hingewiesen ist.
2) Vgl. Geiger, Dīp. und Mah. S. 52 ff.

Auf den Aṭṭhakathās beruhen in letzter Linie auch alle späteren kirchengeschichtlichen Werke von Ceylon. Aus ihnen schöpfte Buddhaghosa in der schon erwähnten geschichtlichen Einleitung zu seiner Samantapāsādikā3). Diese, die Nidānakathā und der Mahāvaṃsa bildeten wieder die Grundlage für die Geschichtswerke — wenn man sie so nennen kann, da sie mehr Legende als Geschichte enthalten — Bodhivaṃsa, Dāṭhāvaṃsa und Thūpavaṃsa, die in späteren Jahrhunderten nach singhalesischen Vorlagen ins Pāli übertragen oder umgedichtet wurden. Der Mahābodhivaṃsa oder Bodhivaṃsa4), »die Geschichte des Bodhibaumes«, ist ein Prosawerk — nur am Ende der Kapitel und gegen Ende des ganzen Werkes finden wir Gathās —, das gegen Ende des 10. Jahrhunderts von einem Mönch Upatissa geschrieben wurde. Der Dāṭhāvaṃsa, »die Geschichte von Buddhas Zahn«5), ist ein Epos in fünf Gesängen, in sanskritisierendem Pāli [S. 176] (mit langen Kompositis) von dem Mönch Dhammakitti zu Anfang des 13. Jahrhunderts gedichtet. Gleichfalls ein Werk des 13. Jahrhunderts ist der Thūpavaṃsa1), »die Geschichte der Reliquienschreine«. Das Werk ist sowohl in singhalesischer als in der Pālisprache vorhanden. Als Verfasser nennt sich Vācissara. Alle diese Werke sind nach einer Schablone gemacht; sie beginnen mit der Geschichte des früheren Buddha Dīpaṅkara, dann des Gotama Buddha, der drei Konzilien usw., bis sie schließlich die Geschichte der von ihnen behandelten Kultstätten erzählen. Ähnliche Werke sind auch in Birma verfasst worden, so der Chakesadhātuvaṃsa2), »die Geschichte der sechs Haarreliquienschreine«. Selbst ein ganz modernes Werk, der im Jahre 1861 in Birma geschriebene Sāsanavaṃsa, »die Geschichte der Lehre«3), von dem Mönch Paññasāmi folgt ganz der alten Schablone. Doch ist es interessant aus diesem Werk zu ersehen, wie die Pāliliteratur noch bis in unsere Tage hinein sich fortsetzt. Sowohl der Sāsanavaṃsa als auch der ebenfalls ganz moderne, in Birma von einem gewissen Nandapañña verfaßte Gandhavaṃsa, »die Geschichte der Bücher«4), sind für die Geschichte der Pāliliteratur sehr wertvoll. Der Gandhavaṃsa gibt in fünf Kapiteln eine Beschreibung des Kanons nach den drei Piṭakas und neun Aṅgas, die Titel und manchmal die Namen der Verfasser der jüngeren Pāliwerke, eine Beschreibung [S. 177] der Geburtsorte der Schriftsteller, Nachrichten über die Anlässe, aus denen die Bücher geschrieben wurden, und schließlich einen Bericht über die schriftliche Aufzeichnung des Kanons."

3) Oben S. 167.
4) Edited by S. A. Strong, London PTS 1891. Vgl. Geiger, Dīp. und Mah., S. 84 ff.
5) Herausgegeben von Rhys Davids im Verein mit Coomara Svamy und R. Morris im JPTS 1884, p. 109 ff. Vgl. J. Gerson da Cunha, Memoir on the History of the Toothrelic of Ceylon, JBRAS XI, 1875, p. 115 ff. und Geiger, Dīp. und Mah., S. 88 ff. Der in der Fortsetzung des Mahāvaṃsa 37, 93 erwähnte Dāṭhādhātuvaṃsa ist wahrscheinlich (Geiger, S. 19) dasselbe Werk.
1) Zwei Ausgaben sind in Colombo erschienen. Vgl. Geiger, Dīp. und Mah., S. 92 ff.
2) Herausg. von Minayeff im JPTS 1885. Kirchengeschichtlichen Inhalts ist auch die Sīmāvivādavinicchayakathā, ed. by J. P. Minayeff, JPTS 1887, 17ff.
3) Edited by Mabel H. Bode, London PTS 1897. Dieses Werk war die Hauptquelle für M. H. Bode, The Pāli Literature of Burma, London 1909. Vgl. derselben Verfasserin »A Burmese Historian of Buddhism», London 1898 und Geiger, Dīp. und Mah., S. 98 Anm.
4) Herausg. von Minayeff, Recherches, pp. 235 ff. und noch einmal im JPTS 1886, pp. 54—80. Dazu ein Index von Mabel Bode, JPTS 1896, p. 53 ff. Nach M. H. Bode (Pāli Literature of Burma, p. X) ist es ein Werk des 17. Jahrhunderts. Das Werk nennt sich Cullagandhavaṃsa »Kleine Geschichte der Bücher«. Es dürfte daher auch ein Mahāgandhavaṃsa geben. Vgl. E. Hardy in ZDMG 51 1897, S. 111."

[Quelle: Winternitz, Moriz <1863 - 1937>: Geschichte der indischen Literatur. Stuttgart : Koehler. -- Band 2: Die buddhistische Literatur und die heiligen Texte der Jainas. - 1920. -- S. 166 - 177]


2.2. Geschichtsschreibung in Sanskrit und Prākṛts


Wie in anderen Gebieten, ist auch bezüglich der Geschichtsschreibung die Darstellung von Moriz Winternitz <1863 - 1937> unübertroffen:

"Geschichtschreibung1).

Zur höfischen Kunstdichtung gehört in Indien auch die Geschichtschreibung. Es ist oft behauptet worden, die Inder hätten überhaupt keine Geschichtschreibung und nicht den geringsten Sinn für Geschichte. Das ist nicht richtig. Einen Sinn für Geschichte beweisen schon die Lehrerlisten in verschiedenen vedischen Texten und die Genealogien im Mahābhārata und in den Purāṇas. Trotz allem Mythischen, das in ihnen ja weitaus überwiegt, enthalten die Purāṇas doch auch manche wertvolle geschichtliche Überlieferungen2).

1) Vgl. J. F. Fleet, Ind. Ant. 30. 1901, 1 ff.; E. Windisch, Geschichte der Sanskritphilologie I, S. 170 ff. (zu Lassen, Ind. Altertumskunde II, 1 ff.; 40 ff).
2) S. oben I, 169, 257, 266, 319 f., 442, 449; F. E. Pargiter in JRAS 1910, p. 1 ff.

Hiuen-Tsiang [Xuanzang, 玄奘] bezeugt, dass es zu seiner Zeit in jeder indischen Stadt Annalen gab. Noch heute haben Rajputs, Banias und Mewatis Annalen, die von Bhāṭas sorgfältig aufbewahrt [S. 81] werden1). Die Inder haben Stammbäume in einer Weise, die bei uns unbekannt ist. Irgendwie hervorragende Personen, Dorfvorsteher und selbst gewöhnliche Bauern können einen Stammbaum aufweisen, der die weitest verzweigten Verwandtschaften oft auf zwei oder drei Jahrhunderte zurück nachweist und bei Entscheidung von Erbrechtsfragen von Wichtigkeit ist. Jedes Kloster (maṭha) bewahrt die Reihenfolge seiner Lehrhäupter sorgfältig auf. Sinn für Geschichte beweisen auch die kirchengeschichtlichen Werke der Buddhisten und der Jainas, die in Chroniken und Biographien das Leben ihrer Heiligen und die Geschichte ihrer religiösen Gemeinden festgehalten und, soweit sie es imstande waren, geschichtlich überliefert haben2). Geschichtlicher Sinn verrät sich endlich auch in den zahlreichen Inschriften, die uns aus allen Jahrhunderten von der Zeit des Aśoka angefangen erhalten sind, und die jedenfalls zeigen, dass auch die Inder einen Sinn für den Zusammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft besaßen, und dass ihnen daran lag, die Geschichte ihrer Könige in Genealogien möglichst weit zurückzuführen und die Taten ihrer Herrscher für kommende Geschlechter auf Steinsäulen und Felsen, auf Tempeln und in Höhlen und auf Kupferplatten für künftige Zeiten festzuhalten.

1) C. V. Vaidya, The Mahabharata, Bombay 1905, 76 f. Im westlichen Indien gibt es auch noch die Hofsänger, welche die Praśasti-paṭṭas (die panegyrischen Annalen) im Familienkreise vorlesen. Vgl. Shankar Pandit, Gaüḍavaho, p. CLXIX note.
2) S. oben II, 167 ff., 331 f. Auch des Tibeters Tāranātha »Geschichte des Buddhismus« beruht auf indischen Quellen. Er selbst nennt ein von dem Pandit Kṣemendrabhadra aus Magadha in 2000 ślokas verfaßtes Werk, ferner ein Buddhapurāṇa von Indradatta und eine von dem Brahmanen Bhaṭaghaṭī verfasste alte Geschichte der Acāryas als Grundlage seines eigenen Werkes. (Tāranātha, Geschichte des Buddhismus . . . übersetzt von A. Schiefner, S. 281.) Historische Dokumente sind auch die Paṭṭāvalis, die Listen der Jaina-Patriarchen, s. oben II, 331 und auch Bhandarkar, Report 1883-1884, 14 f., 319ff.

Richtig ist es immerhin, dass es in Indien keinen Herodot, ebensowenig wie einen Livius oder Tacitus gegeben hat. Aber was den Indern fehlte, war nicht der Sinn für Geschichte, sondern der Sinn für Kritik und für geschichtliche Wahrheit. Und der Grund hiefür ist, dass die Geschichtschreiber in der Regel Hofdichter [S. 82] oder Geistliche waren, Für erstere war die Hauptsache, das Lob ihrer Fürsten zu besingen, ihre und ihrer Vorfahren Heldentaten aufzuzeichnen und wohl auch solche zu erfinden, wenn keine vorhanden waren. Den Geistlichen war es vor allem darum zu tun, den Ruhm ihrer Sekte oder Gemeinde zu verkünden und zu vermehren.

Immer war ja auch die indische Geschichtschreibung nur ein Zweig der Dichtkunst: Chroniken, in denen Mythos und Geschichte stark vermengt erscheinen, oder biographische und historische Epen und Romane oder auch nur Lobgedichte auf Könige mit geschichtlichem oder halbgeschichtlichem Inhalt. Der indische Geschichtschreiber verfolgt eben einen ganz anderen Zweck als der griechische oder römische. Er will nicht die Zusammenhänge ergründen, die geschichtlichen Tatsachen kritisch feststellen und psychologisch erklären, sondern er will als Dichter (kavi) unterhalten und belehren, vor allem moralisch belehren, indem er den Einfluss des sittlichen Verhaltens auf die Menschengeschicke durch Beispiele dartun will1). Als Geschichtsquellen sind daher alle indischen »Geschichtswerke« nur mit größter Vorsicht zu benutzen. Es gilt von ihnen meistens, was der Hofnarr eines tartarischen Chans sagte: dieser hatte sein Leben und seine Taten von seinem Hofhistoriographen beschreiben lassen und dem Werk den Titel »Tausend und eine Wahrheit« gegeben, worauf der Hofnarr meinte, ein richtigerer Titel wäre »Tausend und ein Märchen«. Tatsache ist auch, dass die Inder nicht Geschichte schreiben konnten, ohne vom Anfang anzufangen. Um auf die Geschichte der Dynastie ihrer Zeit zu kommen, beginnen die Purāṇaverfasser mit dem Ursprung der Welt, die buddhistischen Mönche mit dem ersten Buddha, der vor Billionen von Jahren gelebt haben soll, und die Verfasser neuerer geschichtlicher Epen mit den Helden des Mahābharata oder mit Göttern und Halbgöttern, von denen die irdischen Könige ihre Herkunft ableiten. Daher die Vermischung von Sage und Geschichte, die um so größer ist, in je ältere Zeit der Verfasser zurückgeht, und um so mehr abnimmt, je mehr er sich seiner eigenen Zeit nähert. Daher ist es sehr wohl möglich, dass ein Geschichtschreiber, der für die älteste Zeit nichts als [S. 83] Mythen und Märchen zu erzählen weiß, doch für seine eigene und die unmittelbar vorhergehende Zeit ganz zuverlässig sein kann.

1) Vgl. Stein, Rājataraṅginī Transl. I, p. 35 ff.

Auch die inschriftlich überlieferten Praśastis, d. h. »Lobgedichte«, sind nicht nur historische Dokumente, sondern oft auch mehr oder weniger vollendete Kunstdichtungen, gewöhnlich in kunstvollen Versmaßen, manchmal in künstlicher Prosa abgefasst. Es sind Gedichte, die auf Verlangen von Fürsten oder reichen Männern von berufsmäßigen Dichtern (auch solchen, die aus der Literatur bekannt sind) verfasst wurden. Sie enthalten Berichte über Widmungen von Tempeln und anderen religiösen oder weltlichen Denkmälern. Nach einem Segenspruch folgt gewöhnlich die Genealogie und lobende Beschreibung des Spenders und des regierenden Fürsten, wenn dieser nicht selbst der Spender ist, dann eine Beschreibung des Denkmals, seines Zweckes und der mit der Schenkung verbundenen Wohltaten, Privilegien u. dgl., und den Schluss bilden Wünsche bezüglich der Erhaltung des Denkmals, Beschwörungen gegen etwaige Störer oder Zerstörer, Bemerkungen über den Baumeister, der es gebaut, den Priester, der es geweiht, den Dichter und Schreiber der Inschrift und endlich — leider nicht immer — eine genaue Angabe des Datums. Neben Praśastis von 10 — 12 Versen gibt es lange Gedichte von hundert und mehr Versen1). Welche Bedeutung diese poetischen Inschriften für die Geschichte der höfischen Kunstdichtung haben, wurde schon oben gezeigt. Unter den Inschriften der Guptafürsten und den zahlreichen anderen Praśastis gibt es neben vielen minderwertigen Erzeugnissen manche Dichtungen, die — wenigstens nach indischem Maßstab gemessen — als hervorragende epische Dichtungen gelten müssen. So gibt es zwei lange Praśastis, die zwischen 700 und 800 n. Chr. von einem nicht unbedeutenden Dichter Rāma verfasst wurden. Dass er sich selbst »Dichterfürst« (kavīśvara) nennt und von sich sagt, dass er noch als junger Mann dieses Loblied gedichtet, und sich rühmt, dass in seinem Lotusmund die Göttin Sarasvatī wohnte, bevor er noch den Geschmack der Muttermilch vergessen hatte, will wenig besagen. Wichtiger ist, dass ein so vorzüglicher Kenner wie Bühler, der Herausgeber der Inschrift ihn für einen Dichter von viel Talent und Gelehrsamkeit erklärt. Er [S. 84] hat zum Beispiel in 14 Versen ein Stotra gedichtet, in dem jeder Vers zugleich auf Śiva und auf seine Gemahlin Gaurī angewendet werden kann. Seltene Wörter und Formen beweisen, dass er Grammatik und Lexikon eifrig studiert hat. Ein kunstvolles Gedicht enthält auch die Inschrift von Lalitasuradeva aus dem 9. Jahrhundert n. Chr.1)

1) Vgl. Bühler, WZKM 2, 1888, 86 ff.
2) Ep. Ind. 1, 97 ff.
1) Ind. Ant. 25, 1896, 177 ff. Eine große Sammlung poetischer Inschriften, größtenteils Landschenkungsurkunden, ist in der Prācinalekhamālā, Km. 34, 1892; 64, 1897; 80, 1908, veröffentlicht.

Eines der ältesten historischen Epen ist das Prākrit-Kāvya Gaüḍavaha2) von Vākpatirāja, dem Hofdichter des Königs Yaśovarman von Kanauj. Es ist wahrscheinlich nach dem Tode des Königs um 750 n. Chr. geschrieben. Das Werk ist allerdings mehr ein panegyrisches als ein historisches Gedicht. Denn es enthält nur ganz dürftige Nachrichten über die Kriegstaten des Helden, um so mehr Landschaftsschilderungen, Beschreibungen von Jahreszeiten, königlichen Unterhaltungen u. dgl., durchflochten mit zahlreichen mythischen Erzählungen. Origineller als die Sanskritdichter ist Vākpatirāja insofern, als er auch Szenen aus dem Dorfleben schildert, die sonst nicht vorkommen. Von Wortspielen und Doppelsinnigkeiten hält er sich fern, hingegen sind lange Komposita nicht selten. Der uns erhaltene Text ist aber wahrscheinlich nur ein Auszug aus dem ursprünglichen Werk, aus dem gerade die eigentlich historischen Begebenheiten weggelassen wurden, um nur die »Perlen« der Dichtung, die poetischen Schilderungen usw., zu erhalten3).

2) Ed. by Shankar P. Pandit, BSS Nr. 34, 1887. Vgl. Bühler, WZKM 1, 1887, 324 ff.; 2, 1888, 328 ff. Der Kommentar des Haripāla ist fast nur eine Übertragung des Prākrit ins Sanskrit.
3) Das ist die wahrscheinlichere Annahme von Jacobi, GGA 1888, 61 ff. Shankar Pandit glaubt, dass der uns erhaltene Text nur ein Torso sei, der bloß die Einleitung zu dem eigentlichen Werk gebildet habe.

Ein Epos, dessen Inhalt eigentlich ein Märchenstoff ist, das aber doch auf geschichtliche Namen und Ereignisse Bezug nimmt und daher auch in gewissem Sinn als Geschichtswerk erwähnt werden kann, ist das Navasāhasāṅkacarita4) von Padmagupta [S. 85] oder Parimala. Das Gedicht behandelt in 18 Gesängen das Märchen von der Gewinnung der Schlangentochter Śaśiprabhā, ist aber von dem Dichter zur Verherrlichung seines Schirmherrn, des Königs Sindhurāja Navasāhasāṅka, verfaßt. Die indischen Hofdichter haben nämlich oft die Neigung, »historische Begebenheiten der jüngsten Vergangenheit aus rein poetischen Gründen in Mythen zu verwandeln«1). So steckt auch hier in der Märchenerzählung ein geschichtlicher Kern. Das Gedicht dürfte um 1005 geschrieben sein2).

4) Herausgegeben von V. S. Islāmpurkar, BSS Nr. 53, 1895. Vgl. G. Bühler und Th. Zachariae, Über das Navasāhasāṅkacharita des Padmagupta oder Parimala, in SWA 1888. Das Werk wird von Ruyyaka zitiert.
1) Bühler und Zachariae a. a. O., S. 48 f. Solche mythologisierende Darstellungen finden wir sogar in Inschriften.
2) Vgl. Bühler, Ep. Ind. 1, 222 ff., 232; Duff 100; Peterson, Subh. 51 ff.

Wie indische Dichter es lieben, auch historische Ereignisse in ein mythisches Gewand zu kleiden, zeigt auch das Vikramāṅkadevacarita des Bilhaṇa, wo die Geschichte der Cālukyafürsten mit einem Mythos vom Ursprung dieses Königsgeschlechts beginnt, wo der Gott Śiva immer auftritt, wenn der König in einen Zwiespalt mit der Moral gerät, wo die Braut des Königs eine Elfe (Vidyādharī) ist, und dergleichen mehr. Das Werk erzählt die Geschichte der Fürsten aus dem Cālukyageschlecht von Kalyāṇa Someśvara I, Someśvara II und insbesondere des Vikramāditya VI, der 1076—1127 regierte. Bilhaṇa ist es aber vor allem darum zu tun, seine Kunst als Dichter zu zeigen, alle Regeln der Poetik zu befolgen und seinen Helden in überschwenglicher Weise zu verherrlichen. Obgleich die von ihm erzählten Tatsachen selbst historisch sind, wie die vielen Inschriften der Cālukyas beweisen, kommt doch ein schiefes Bild heraus, weil er stets übertreibt. So versichert er uns bei jedem Feldzug der Cālukyas gegen die Colas, dass die letzteren völlig vernichtet worden sind, obgleich wir bald darauf hören, dass neue Bewegungen des Erbfeindes einen weiteren Feldzug nötig machen. Auch wird der Zeitraum zwischen den einzelnen Ereignissen nie genau angegeben, sondern der Dichter sagt immer nur: »Nach einiger Zeit«, »nach vielen Tagen« u. dgl. Hinter dem Dichter tritt der Historiker weit zurück. Bilhaṇa sagt uns zum Beispiel, dass [S. 86] bei der Geburt seines Königs Blumen vom Himmel fielen, Indras Trommel erschallte und die Götter im Himmel sich freuten, — aber das Datum seiner Geburt verrät er uns nicht.

3) Herausgegeben von G. Bühler, BSS Nr. 14,1875. Die deutsche Übersetzung von A. Haack (Ratibor 1897 gedruckt, aber, wie es scheint, nicht im Buchhandel) kenne ich nicht.

Als epischer Dichter verweilt er mit Vorliebe bei Schilderungen. So widmet er der Hochzeit des Vikrama mit Candralekhā gleich drei Gesänge und beschreibt die Reize der Braut eingehend. Bei der Schilderung der Gattenselbstwahl hat er sich Kālidāsas Raghuvaṃśa zum Muster genommen. Eine der schönsten und ergreifendsten Stellen in dem Gedicht ist die Erzählung von dem Tode des Āhavamalla, des Vaters des Vikrama, im IV. Gesang 1).

1) Eine poetische Übersetzung dieser Stelle ins Englische ist Ind. Ant. 5, 1876, 824 ff. gegeben.

Im XVIII. Gesang gibt der Dichter eine Selbstbiographie. Hier schildert er seine Heimat, besonders sein Heimatsdorf Khonamukha, so naturwahr, dass Bühler2), der den Ort besucht hat, seine Bewunderung darüber ausdrückt, wie genau die Beschreibung ist. Das Dorf schmiegt sich so eng an die Hügel des Himālaya an, dass es nicht besser beschrieben werden könnte, als mit den Worten des Dichters, der es als »einen koketten Schmuck auf dem Busen des Himālaya« bezeichnet. Von seinem Vater Jyeṣṭhakalaśa berichtet er, dass er einen Kommentar zum Mahābhāṣya schrieb. Auch seine beiden Brüder waren Gelehrte und Dichter. Von sich selbst rühmt er, dass er Veda und Vedāṅga, Grammatik und Poetik mit eifrigem Bemühen studiert habe, und dass der Ruhm seiner Dichtkunst sich über die Welt verbreitete. »Da gibt es«, sagt er nicht allzu bescheiden, »kein Dorf, keine Provinz, keine Residenzstadt, keinen Wald und keinen Hain, keine der Sarasvatī geweihte Stätte, wo nicht der Weise und der Tor, alt und jung, Mann und Weib, alle insgesamt mit Freudenschauern seine Dichtung rezitieren« (XVIII, 89). Er machte große Reisen, wie es junge Dichter und Gelehrte in Indien zu tun pflegen, zu verschiedenen Höfen und Wallfahrtsplätzen. Er besuchte die heilige Stadt Mathurā, Kanauj, Allahabad und Benares. Längere Zeit verweilte er bei einem Fürsten Karṇa von Ḍāhala, wo er den Dichter Gaṅgādhara im literarischen Wettkampf besiegte und ein Gedicht auf Rāma verfasste. Nach vielen Wanderungen erreichte er Kalyāṇa, wo ihm der König Vikramāditya den Titel Vidyāpati (» Herr der Wissenschaft«) verlieh und ihn mit einem blauen Sonnenschirm und einem Elefanten beschenkte.

2) Report 5 f.

Turmhoch über allen anderen ähnlichen Erzeugnissen der indischen Literatur sowohl als Geschichtswerk wie auch als Dichtung steht die Rājataraṅginī3), »der Strom der Könige", [S. 87] d. h. die Geschichte der Könige von Kaschmir, des Dichters Kalhaṇa1). Kalhaṇa war der Sohn des Ministers Caṇpaka, der am Hofe des Königs Harṣa (1089—1101) eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Er dürfte am Anfang des 12. Jahrhunderts geboren sein und vollendete sein Werk im Jahre 1148. Als Brahmane von Geburt genoss er eine gründliche literarische Bildung. Er ist sehr belesen, besonders im Mahābhārata, hat aber auch Baṇas Harṣacarita und Bilhaṇas Vikramāṅkadevacarita und Werke wie Varāhamihiras Bṛhatsamhitā studiert. Seine literarischen Neigungen bekundet er bei jeder Gelegenheit. Der Religion nach war er ein Śivaverehrer. Mit Vorliebe rühmt er von Königen deren fromme śivaitische Gesinnung, und wenn er von einem Herrscher sagt, dass er ein »Śivaverehrer« war, so gebraucht er den Ausdruck oft so, wie wenn der Engländer einen anständigen Menschen als »Christen« bezeichnet. Doch hatte er auch große Sympathien für den Buddhismus. Er preist Aśoka und andere Könige wegen ihrer Stiftungen von Klöstern und Stūpas, zeigt eine gute Kenntnis buddhistischer Lehren und spricht mit Ehrfurcht von Jinas und Bodhisattvas. Das hindert ihn aber nicht, von der »Mönchsplage« zu reden, der König Candradeva ein Ende machte (I, 184). Er war ein hochgebildeter, unabhängig denkender Mann. Obgleich in der Hofluft aufgewachsen, war er doch kein Höfling und kein Hofdichter. Er hat ein kritisches, unabhängiges Urteil über Charaktere. Manch scharfes Wort fällt gegen die Brahmanen, [S. 88] wie gegen die Beamten. Streng in seinen Grundsätzen, findet er oft scharfe Worte des Tadels. Mit großer Verachtung spricht er besonders von den Ḍāmaras, einer Art Landedelleute oder »Junker«, die er nicht anders als »Rāuber« (dasyu) nennt.

3) Die erste kritische Ausgabe verdanken wir M. A. Stein (Bombay 1892), von dem wir auch eine vollständige englische Übersetzung mit wertvollen Beigaben (Einleitung, Anmerkungen. Appendices) besitzen, welche die Bedeutung des Werkes für die Geschichte, Geographie und Ethnographie Kaschmirs ins rechte Licht gerückt haben (Westminster 1900, 2 Vols.). Vgl. Winternitz, WZKM 16, 1902, 405ff.; Oldenberg, Aus dem alten Indien, Berlin 1910, 81 ff.; Marie von Bunsen in »Nord und Süd« 1915, 327 ff. Über Kalhaṇas Bedeutung als Historiker s. Bühler, Report 52 ff., LXVI ff., wo auch die älteren Arbeiten von H. H. Wilson, A. Cunningham, Ch. Lassen und A. Troyer gewürdigt sind, und Shankar Pandit, Gaüḍavaho, Introd. p. CLXI ff. Auszüge mit Übersetzungen aus dem 1. Buch gibt E. Hultzsch, Ind. Ant. 18, 1889, 65 ff., 97 ff. und Beiträge zur Textkritik derselbe, Ind. Ant. 40(1911, 97ff.; 42, 1913, 301 ff. und ZDMG 69, 1915, 129 ff. Durch Steins Ausgabe sind alle anderen, auch die von Durgāprasāda (BSS Nr. 45, 51, 54), überholt.
1) Wir kennen Kalhaṇa nur als, Verfasser der Rājataraṅginī, es wird ihm aber auch ein Kāvya Jayasiṃhābhyudaya zugeschrieben; s. Peterson, OC VI Leiden 1883, III, 2, 361.

Dass es Sache des Dichters sei, Geschichte zu schreiben, sagt Kalhaṇa ausdrücklich zu Beginn seines Werkes (I, 4):

»Wer anders als der Dichter, der dem Schöpfer gleich
Die lieblichsten Gestalten hervorzuzaubern weiß,
Vermag vergang'ne Zeit als Gegenwart zu zeigen?«

Doch fügt er hinzu (I, 7):

»Der Dichter nur ist lobenswert,
Des Wort wie das des Richters sich
Von Hass und Liebe ferne hält,
Wenn er Vergangenes erzählt.«

In der Tat macht Kalhaṇas Darstellung, wenn er auch vielleicht nicht immer ganz unparteiisch ist, stets den Eindruck, dass er sich bemüht, nicht nur die längst vergangenen, sondern auch die von ihm oder seinen nächsten Angehörigen miterlebten Zeiten sine ira et studio zu schildern, und sein Urteil ist zumeist von einer hohen sittlichen Weltanschauung eingegeben. Er ist nicht nur Dichter, sondern auch Philosoph und Sittenprediger. Überaus häufig flicht er in seine Erzählung Sittensprüche ein. Ja, ihm ist das Lehren des Dharma, der Moral, geradezu der eigentliche Zweck der Geschichtschreibung. Dass die guten und bösen Taten (karman) früherer Existenzen die Ursache von Misserfolgen in diesem Leben sind, gilt ihm, wie jedem Inder, als unumstößliche Tatsache. Auch darin steht er ganz auf dem Boden indischer Weltanschauung, dass er fest an Zauberei und Behexung glaubt. Wenn er von Königen erzählt, die durch Zauberei oder durch den Fluch eines Brahmanen zugrunde gegangen sind, so tut er dies mit demselben Glauben, wie wenn er erzählen würde, dass sie durch das Schwert oder durch Gift umgekommen sind. Inder ist er auch darin, dass seine Chronologie für die ältere Zeit oft ganz unmöglich ist. Er macht sich nichts daraus, den König Raṇāditya 300 Jahre regieren zu lassen. Und wenn man die Zeit des Aśoka nach Kalhaṇa berechnen würde, müsste man ihn um 1260 v. Chr. ansetzen1). Und mit [S. 89] echt indischer Gläubigkeit erzählt er auch alle Mythen und Legenden, die er für die ältere Zeit in seinen Quellen und in der Volksüberlieferung fand, so alle die wunderbaren Schlangensagen, die mit der ältesten Geschichte Kaschmirs in Verbindung stehen.

1) Vgl. Stein, Rājatararigini Transl. I, p. 63f.; Fleet, Ind. Ant. 30, 11 f., 14. Bezeichnend für das, was manche Pandits in Indien heute noch unter »Geschichte« verstehen, ist ein "History of Kashmir« betitelter Aufsatz des Pandit Anand Koul im JASB 6, 1910, 195 ff., wo auf Grund des Nīlamatapurāṇa und der Rājataraṅginī die »Geschichte von Kaschmir« unter 47 Herrschern dargestellt wird mit so »genauen« Daten wie: Gonanda I 3120-3103 v. Chr., Dāmodara I 3103—3090 v. Chr. usw. bis herunter zu Bhagvant 1459- 1445 v. Chr.!

Andererseits aber hat er seine literarischen Quellen nicht ganz ohne Kritik benützt. Und er hat sich nicht damit begnügt, frühere Werke über Kaschmir zu studieren, sondern er hat auch Inschriften, genealogische Tafeln und Memoiren berühmter Persönlichkeiten benutzt, Münzen und Baudenkmäler untersucht und sich für Volkssagen, Legenden und Sprichwörter interessiert. Kurz, er war ein richtiger Altertumsforscher. Dass Kalhaṇa für seine eigene und die seiner eigenen kurz vorhergehende Zeit ein verlässlicher Führer ist, wird allgemein zugestanden.

Der Dichter Kalhaṇa ist ein Meister der Darstellung. Von anderen indischen Kunstdichtern unterscheidet er sich vorteilhaft dadurch, dass er nicht bloß Schablonen und Typen, sondern fest umrissene, dem Leben entnommene Charakterbilder zu zeichnen weiß.

Wie lebendig stehen solche Persönlichkeiten vor uns, wie die grausame und lasterhafte, aber kluge und energische Königin Diddā (VI, 176 ff.), oder der gutmütige Schwächling Ananta (VII, 142 ff.)! Mit viel Humor und bitterem Sarkasmus schildert er Leute aus dem niedrigen Volk, die ohne besondere Verdienste aus niedrigen Lebensstellungen zu hohen Ämtern und Würden gelangen. Eine solche Figur ist zum Beispiel der Kāyastha Bhadreśvara, der zuerst Marktgärtner, Fleischer und Holzhändler gewesen war, sich dann an die Beamten heran machte und sich sein Brot verdiente, indem er ihnen Taschen und Tintenfässer trug, bis ihn Tuṅga, der erste Minister der Königin Diddā, zu seinem Gehilfen machte und er dann später selbst erster Minister wurde (VII, 38 ff., 106).

Auch in manchen Episoden, Schilderungen, Bildern und Gleichnissen zeigt sich Kalhaṇa als hervorragender Dichter. Man lese zum Beispiel die Darstellung des tragischen Endes des Königs Yudhiṣṭhira I am Ende des I. Buches. »Wie Geier auf ein Aas«, so stürzen sich die Feinde auf das Reich des schwächlichen Königs. Er muss sein Land verlassen, während die Feinde seine Frauen und seine Schätze fortschleppen, »wie den Baum, der vom Bergesgipfel herabgestürzt ist, die [S. 90] Felsblöcke auch der Zweige und Früchte berauben« (I, 368). Oder man lese die Schilderung einer Hungersnot, die durch einen Schneefall veranlasst wurde, »der dem grimmen Lachen des Todesgottes glich« (II, 19), oder die Geschichte von der wunderbaren und grausigen Wiederbelebung des Sandhimati durch die Hexen (II, 82 ff.).

Ganz besonders aber sind es die lebenswahren Schilderungen des VII. und VIII. Buches, die uns Kalhaṇa als wahren Dichter zeigen. Ergreifend ist die Erzählung Von dem tragischen Tode der Sūryamatī (VII, 472 ff). Diese bedeutende Frau war die Gemahlin des Königs Ananta. Sie hatte den schwachen König und die Zügel der Regierung ganz in ihrer Gewalt und veranlasste ihn sogar, zugunsten ihres Sohnes Kalaśa auf den Thron zu verzichten. Das hatte aber böse Folgen und führte zu Streit und Kampf zwischen Vater und Sohn. Nur manchmal gelang es der klugen Sūryamatī, auf eine Zeitlang Frieden zu stiften. Aber nach kurzer Versöhnung trat Kalaśa wieder in offener Feindschaft gegen seinen Vater auf, dessen Stellung nun ganz unhaltbar wurde. Eines Tages kommt es zu einer heftigen Szene zwischen Ananta und seiner Gemahlin; er macht ihr bittere Vorwürfe und bezweifelt sogar, dass Kalaśa sein legitimer Sohn sei. Die beleidigte, überaus leidenschaftliche Frau überhäuft ihn mit Schmähungen. Da zieht sich der tiefgekränkte König in Verzweiflung zurück und begeht Selbstmord. Sūryamatī aber beschließt nun, ihm als Satī in den Tod zu folgen. Nachdem sie einen feierlichen Fluch über jene ausgesprochen, die sie verleumdet und die Zwistigkeiten herbeigeführt hatten, und nachdem sie sich durch einen Eid von dem Verdacht der Untreue gereinigt, stürzt sie sich lächelnden Angesichts in die Flammen des Scheiterhaufens, und (VII, 479) ­

»Der lodernden Feuerflamme Schein umkränzte den Himmel,
Als hätten die Götter zu ihrem Empfang ihn mit Mennig bemalt.«

Geradezu Meisterstücke der Charakterzeichnung sind die Porträts, die Kalhaṇa von den Königen Harṣa (VII, 869 ff.) und Sussala (VIII. 482 ff.) entwirft. Als eine Art Rāmāyaṇa oder Mahābhārata bezeichnet der Dichter selbst die Geschichte vom König Harṣa, wie er sie im VII. Buch erzählt. Imponierend ist schon das Äußere dieses Fürsten. Wie ein zufriedener Löwe pflegt er um sich zu schauen, sein langer Vollbart hängt ihm wirr herab, seine Schultern sind wie die eines Stieres, seine Brust ist breit, seine Stimme tief wie der Donner. Selbst die Götter hätten vor ihm ihre Geistesgegenwart verloren. Aber sein Charakter ist voll von Widersprüchen. Er war ein Muster von Gerechtigkeit Hingen doch an seinem Palasttor in allen vier Weltrichtungen große Glocken, die jeder läuten konnte, der ein Anliegen hatte1). Er war überaus freigebig, beschenkte seine Diener reichlich, und die Bettler wurden durch seine Gaben instand gesetzt, selbst andere zu unterstützen. Er und seine fromme Gemahlin stiften Klöster und Tempel. Scharen [S. 91] von Dichtern und Gelehrten wurden an seinen Hof gezogen, unter anderem der Dichter Bilhaṇa. Harṣa selbst war hochbegabt, ein Sprachenkenner, Sänger und Dichter. VII, 942:

»Noch heute rollen Tränen von den Augenwimpern
Selbst seiner Feinde, wenn ein Lied von ihm man singt.«

 1) VII, 879. Vgl. oben II, 172f.

Derselbe Harṣa war aber auch grausam und tyrannisch. Im Laufe der Zeit entwickelte er sich unter dem Einfluss böser Ratgeber immer mehr in dieser Richtung. Eine ganze Reihe von Verwandten fiel seinen Mordanschlagen zum Opfer. Eine Art Cäsarenwahnsinn entwickelt sich in ihm. Er unterdrückt die Untertanen, wie wenn dies sein Beruf wäre. VII. 1204:

»Der Niedrige schlägt den Mann, der grad in der Näh',
Um eines kleinen Fehlers willen zu Boden,
Nicht aber den Feind in der Ferne, wenn er auch vieles
Verbrochen, — so beißt der wütende Hund den Stein,
Der ihn getroffen, nicht den, der den Stein geschleudert.«

Er plünderte die Tempelschätze und stellte sogar einen eigenen Beamten als »Oberaufseher der Tempelzerstörung« an. Nachdem er aber alle seine Verwandten beseitigt hatte, fiel er selbst den Ränken fremder Leute zum Opfer. Seine Truppen verlassen ihn, der König irrt herum, muss bei seinen Ministern Zuflucht suchen, aber keiner lässt ihn in sein Haus. In der Hütte eines Bettlers wird er schließlich verraten, von Soldaten umgeben und ermordet. Kein anderer, sagt der Dichter (VII, 1713 f.), hat je so große Macht besessen und ein so schmähliches Ende gefunden. Aber später, nachdem er das Ende des Sussala geschildert, sagt er mit grimmem Humor (VIII, 1331), dass er durch die Schilderung von mancherlei Schurken in der Geschichte des Harṣa schon so abgehärtet sei wie ein Lastträger, dass er aber dennoch nicht die Namen aller der Schufte zu nennen vermöge, die sich bei der Ermordung Sussalas hervorgetan.

Ungemein wertvoll ist die Rājataraṅginī auch als kulturgeschichtliche Quelle. Die lebenswahren und wenigstens in den beiden letzten Büchern dem Leben selbst entnommenen Schilderungen Kalhaṇas gewähren uns einen Einblick in indische Kulturverhältnisse des 11. und 12. Jahrhunderts wie wenige Werke der indischen Literatur. Insbesondere für die religiösen Verhältnisse, für das Sektenwesen, für den kaschmirischen Volksglauben, den Schlangenkult, die Witwenverbrennung usw. ist das Werk eine ungemein reichhaltige Quelle. Viel erfahren wir auch aus ihm über Recht, Verwaltung, Beamtenwesen u. dgl.1)

1) Vgl. Jolly in Gurupūjākaumudī,>S.84ff.; Winternitz, WZKM 16, 1902, 411 ff. und »Die Frau in den indischen Religionen« (Archiv für Frauenkunde III, 1917. Sonderabdruck. Leipzig 1920), S. 66ff.

[S. 92] Das große Werk des Kalhaṇa wurde im 15. und 16. Jahrhundert von Chronisten fortgesetzt. Jonarāja schrieb eine Rājataraṅginī, welche die Geschichte der kaschmirischen Fürsten bis auf die Regierung des Sultān Zainu-l-'ābidīn fortsetzte. Der Verfasser starb vor Vollendung des Werkes 1459. Sein Schüler Śrīvara schrieb die Jaina-Rājataraṅginī, welche die Zeit von 1459 bis 1486 behandelt. Śrīvara hat den Kalhaṇa sklavisch nachgeahmt. Beide Werke stehen in jeder Beziehung tief unter ihrem Vorbild. Noch tiefer steht die Rājāvalipatākā, die von Prājyabhaṭṭa begonnen und von seinem Schüler Śuka einige Jahre nach der Annexion Kaschmirs durch Kaiser Akbar (1586) vollendet wurde1).

1) Diese Chroniken sind herausgegeben zusammen mit der Editio princeps von Kalhaṇas Rājataraṅginī, Calcutta 1835. Vgl. Bühler, Report 61; Stein, Rājataraṅginī Transl., Vol. II, p. 373 f.

Andere geschichtliche oder halbgeschichtliche Werke brauchen nur kurz erwähnt zu werden. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts beschrieb Jalhaṇa in dem Gedicht Somapālavilāsa das Leben des Königs Somapāla von Rājapurī bei Kaschmir, der von dem kaschmirischen König Sussala bekriegt wurde2).

2) Rājatar. VIII, 621 ff. Jalhaṇa wird von Maṅkha als Mitglied der Sabha seines Bruders Alaṃkāra (s. oben S. 78) erwähnt. Vgl. Krishnamacharya p. 44.

Dem Ende des 12. Jahrhunderts gehört das historische Gedicht Pṛthvīrājavijaya an, das die Siege des Cāhumāna-Königs Pṛthvīrāja von Ajmir und Ḍilhī beschreibt, der 1193 gefallen ist. Es dürfte zwischen 1178 und 1200 geschrieben sein, war aber noch im 14. und 15. Jahrhundert beliebt3).

3) Vgl. Bühler, Report 62 ff.; J. Morison, WZKM 7, 1893, 188 ff.; Har Bilas Sarda, JRAS 1913, 259ff. Es gibt nur ein MS. des Werkes, in dem der Name des Dichters nicht erhalten ist. Jonarāja schrieb noch im 15. Jahrhundert einen Kommentar zu dem Werk.

Der gelehrte Jainamönch Hemacandra betätigte sich zugleich als Dichter, »Historiker« und Grammatiker in zwei Sprachen in dem einen Epos Kumārapālacarita, auch Dvyāśrayakāvya genannt, weil es zum Teil in Sanskrit und zum Teil in Prākrit geschrieben ist. An das Sanskritgedicht von 20 Gesängen schließt sich das Prākritgedicht in acht Gesängen. Die ersten sieben Gesänge sollen zugleich zur Illustration der ersten sieben [S. 93] Abschnitte von Hemacandras Sanskritgrammatik dienen, während der achte Gesang in einem ähnlichen Verhältnis zur Prākritgrammatik des Verfassers steht. Den Inhalt des Werkes bildet die Geschichte der Caulukyas von Aṇhilvāḍ und insbesondere des Kumārapāla. In den dem letzteren gewidmeten Gesängen XVI bis XX wird dieser Herrscher vor allem als frommer Jaina verherrlicht: er verbietet blutige Opfer und den Handel mit Fleisch, errichtet Jainaheiligtümer u. dgl. Die beiden letzten Gesänge enthalten moralische und religiöse Betrachtungen. Aus dem Schluss des Werkes ist ersichtlich, dass Kumārapāla noch am Leben war und auf der Höhe seines Ruhmes stand, als das Gedicht verfasst wurde. Es kann daher nicht vor 1163 geschrieben sein1).

1) Das Prākṛta Dvyāśraya Kāvya ist herausgegeben in BSS Nr. 60, 1900. Auszüge aus dem Sanskritgedicht gibt J. Burgess, Ind. Ant. 4, 1875, 71 ff., 110 ff., 232 ff., 265 ff. Vgl. Bühler, Hemachandra, S. 18 f., 43.

Auf die Geschichte der Vāghelādynastie von Gujarat bezieht sich die Kīrtikaumudī2), eine Lebensbeschreibung des Vastupāla, des Ministers der Vāghelāfürsten Lavaṇaprasāda und Vīradhavala, von Someśvaradeva, der zwischen 1179 und 1262 in Gujarat lebte. Der Dichter, der sich als Hauptpriester der Könige von Gujarat bezeichnet, ist auch der Verfasser von mehreren Inschriften, die 1241 und 1255 datiert sind. Eine dieser Inschriften enthält Verse aus der Kīrtikaumudī. Obgleich das Werk nur ein Panegyrikum auf einen freigebigen Minister ist, der literarische Interessen hat, ist es doch nicht ohne dichterischen Wert und trägt auch zu unserer Kenntnis der Geschichte der Caulukyas bei3). Manches Streiflicht fällt auf das Leben der vornehmen Inder im 13. Jahrhundert. Someśvaradeva ist auch der Verfasser des romantischen Epos Surathotsava4) in 15 Gesängen. Das Gedicht behandelt zwar einen Märchenstoff, hat aber vielleicht einen historischen, Hintergrund. Denn im letzten Gesang gibt der Dichter seine Familiengeschichte, [S. 94] wie das in historischen Epen und Romanen üblich ist, und schließt mit Versen zum Lobe des Vastupāla.

2) Herausgegeben von A. V. Kathavate, BSS Nr. 25, 1883, Die deutsche Übersetzung von A. Haack, Kīrttikaumudī, der Mondschein des Ruhmes (Druck und Verlag von R. Müntzberg, Ratibor 1892), ist im Buchhandel nicht aufzutreiben.
3) Vgl. Bühler, Ind. Ant. 6, 1877, 186 ff.; Ep. Ind. 1, 20 ff.
4) Herausgegeben in Km. 73, 1902.
 

Auf denselben Minister Vastupāla, der ein frommer Jaina war, bezieht sich das etwas jüngere, aber auch aus dem 13. Jahrhundert stammende Sukṛtasaṃkīrtana von Arisiṃha. Dieses »Lob der guten Taten« ist ein Epos in elf Gesängen, ein ziemlich mittelmäßiges, aber für die Geschichte von Gujarat nicht unwichtiges Gedicht1).

1) Vgl. G. Bühler, Das Sukṛtasaṃkīrtana des Arisiṃha, SWA 1889.

Die historischen Epen sind nicht immer Herrschern oder Ministern gewidmet. So ist das Jagaḍūcarita des Sarvānanda die Lebensbeschreibung eines einfachen Kaufmanns, der für seine Heimatstadt in Gujarat viel getan hat, indem er die Mauern der Stadt neu bauen ließ und während einer schrecklichen Hungersnot in den Jahren 1256—1258 viel zur Linderung der Not tat. Obwohl sich das Werk, das aus sieben Gesängen besteht, ein »großes Epos« (mahākāvya) nennt, zeigt es doch dieselben Mängel in bezug auf Sprache, Poetik und Metrik wie andere Sanskritgedichte von Jainamönchen der späteren Jahrhunderte. Der Verfasser dürfte 80—100 Jahre nach den geschilderten Ereignissen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gelebt haben. Der reiche Kaufmann Jagaḍū ist zunächst ein Muster von einem Jainalaien und wird als solcher verherrlicht. In die Geschichte dieses Kaufmanns werden genau so, wie wenn es sich um einen König oder einen Heiligen handeln würde, Wundererzählungen und Legenden hineinverflochten. Dass aber auch ein historischer Kern in dem Werke steckt, hat Bühler gezeigt2).

2) Indian Studies I, The Jagaḍūcharita of Sarvānanda, a historical romance from Gujarat, SWA 1892.

Aus dem 15. Jahrhundert stammt das historische Gedicht Hammīrakāvya des Jaina Nayacandra, in welchem die Heldentaten des Hammīra erzählt werden, der sich im Kampfe gegen die Mohammedaner hervorgetan hat. Das Gedicht atmet einen starken Hass gegen die Mohammedaner, indem es das tragische Ende des Hammīra schildert. Bevor er den Heldentod stirbt, verbrennen sich seine Frauen und Töchter3).

3) Vgl. N. J. Kirtane, Ind. Ant. 8, 1879, 55ff.

[S. 95] Ein panegyrisches Gedicht auf den König Bhāvasiṃha, einen Zeitgenossen des Kaisers Akbar, ist der Bhāvavilāsa1) von Nyāyavācaspati Rudra.

 1) Herausgegeben in Km., Part II, 1886, 111-128.

Zu den »historischen« Gedichten gehören endlich auch Biographien, wie das im 16. Jahrhundert geschriebene Rasikamaraṇa, ein Epos in 18 Gesängen von Raghunātha, in welchem das Leben und Wirken des Vaiṣṇavalehrers Durvāsas besungen wird2).

2) Vgl. Aufrecht, Bodl. Cat. I, 148ff.

Die Zahl der uns erhaltenen historischen Epen ist verhältnismäßig gering. Dass uns nicht mehr solche Werke erhalten sind, hat seinen Grund wohl nicht darin, dass es deren nicht mehr gegeben hat, sondern darin, dass das Interesse für die alten Mythen und Heldensagen immer ein größeres war als das für irdische Herrscher, und dass daher diese Werke — insbesondere wenn eine Dynastie erloschen war — nicht mehr abgeschrieben wurden.

Zur Verherrlichung der Taten eines Herrschers eignete sich wohl das Epos am besten. Doch wurden gewiss auch manche Chroniken in Prosa geschrieben3). Ein modernes Prosawerk dieser Art ist das Kṣitīsavaṃśāvalicarita4), in welchem die Geschichte der Vorfahren des Königs Kṛṣṇacandra von Navadvīpa in Bengalen, deren Kämpfe mit den Mohammedanern und die Geschicke einzelner Herrscher, aber auch allerlei Hofgeschichten, Anekdoten und selbst märchenhafte Wundergeschichten erzählt werden. Die wahrscheinlich in der Mitte des 18. Jahrhunderts verfasste Chronik reicht bis zum Jahre 1728, dem Regierungsantritt des Kṛṣṇacandra, bricht aber so abrupt ab, dass sie schwerlich vollständig ist. Das Werk ist in einfacher Prosa geschrieben, die nur durch einige sehr lange Komposita zur Kunstprosa gestempelt werden soll.

3) Über den historischen Roman Harṣacarita s. unten in dem Kapitel «Kunstromane«.
4) A Chronicle of the Family of Rāja Kṛishṇachandra of Navadvīpa, Bengal. Ed. and translated by W. Pertsch, Berlin 1852."

[Quelle: Winternitz, Moriz <1863 - 1937>: Geschichte der indischen Literatur. Stuttgart : Koehler. -- Band 3: Die Kunstdichtung, die wissenschaftliche Literatur, neuindische Literatur. - 1920. -- S. 80 - 95.]

Zu nennen sind hier auch die Vaṃśāvalī's = Chroniken fürstlicher Familien (Königschroniken) in Sanskrit bzw. Regionalsprachen. Als Beispiel diene die nepalesische, in Sanskrit abgefasste Gopālarājavaṃśāvalī aus dem 14. Jhdt.:

The Gopālarājavaṃśāvalī : a facs. ed. prep. by the Nepal Research Centre in collab. with the National Archives, Kathmandu. With an introd., a transcr., Nepali and English transl., a gloss. and ind. / [edited and translated by] Dhanavajra Vajrācārya and Kamal P. Malla. -- Wiesbaden : Steiner, 1985. -- XXVI, 238 S. ; 26 cm. -- (Nepal Research Centre publications ; 9). -- ISBN 3-515-04349-7


3. Historische Romane


Hier ist vor allem Bāṇa's Harṣacarita zu nennen:

"Der Verfasser zweier berühmter Romane ist Bāṇa (Bāṇabhaṭṭa), der erste Dichter, von dessen Zeit und Leben wir Sicheres wissen. Er lebte nämlich am Hofe des Königs Harṣavardhana von Thānesar (606—648 n. Chr.) und schrieb als dessen Hofdichter und Panegyriker sein Hauptwerk, das Harṣacarita (»Leben und Taten des Harṣa«)2). Es ist dies ein historischer Roman in Prosa mit nur wenigen, hier und da eingestreuten Versen3). In den einleitenden Versen, die eine Art Vorwort darstellen, preist er seine Vorgänger, als höchsten von allen Vyāsa, den Dichter des Mahābhārata, dann die Prosadichter Subandhu und Haricandra, den Liederdichter Sātavāhana (Hāla), den Epiker Pravarasena, die Dramatiker Bhāsa und Kālidāsa und den Erzähler Guṇāḍhya, den Verfasser der Bṛhatkathā. Dann spricht er sich über die Dichtkunst im allgemeinen aus. Er verlangt von einer Dichtung »einen neuen Gegenstand, eine feine Ausdrucksweise, ungewöhnliche Wortspiele, eine klar ausgesprochene Stimmung und eine gehobene Sprache«. Diese Forderungen erfüllt er tatsächlich in seinem Werk. In seinem [S. 363] Stil wetteifert er mit Subandhu1), den er in bezug auf Wortspiele und Künsteleien kaum erreicht, jedoch an wahrer dichterischer Begabung weit überragt. Seine Wortspiele sind oft in der Tat geistreich, seine Bilder und Vergleiche sind nicht gemacht, sondern wirklich dichterisch geschaut. Glücklich ist auch die Mischung von Dichtung und Wahrheit sowohl in der Erzählung2) als auch in der Schilderung, wobei sich nicht unschwer unterscheiden lässt, was Dichtung und was Wahrheit ist. Wahr sind vor allem die zahlreichen Schilderungen von dem Leben am Hofe, von den Sitten und Gebräuchen und den religiösen Verhältnissen der Zeit. Namentlich für die letzteren ist das Harṣacarita von unschätzbarem Wert. Bāṇa stammt aus einer brahmanischen Familie, in der die religiösen Zeremonien streng gehandhabt wurden. Er ist daher wohl bewandert in allen religiösen Bräuchen und versäumt niemals, die religiösen Zeremonien zu schildern, die bei der Geburt eines Kindes, bei der Heirat, bei Todesfällen, bei der Abreise und bei der Rückkehr in die Heimat, beim Auszug in den Krieg und bei allen möglichen anderen Anlässen stattzufinden pflegten. Geschenke an die Brahmanen werden bei jeder Gelegenheit erwähnt. Im Kultus überwiegen aber bei weitem die Opfer und Zeremonien für Śiva, Durgā und die Mütter. Von śivaitischen Mönchen und Asketen ist oft die Rede. Astrologie und Zauberei, günstige und ungünstige Vorzeichen sowie Abwehrmittel gegen letztere spielen eine nicht geringe Rolle. Aber auch zahlreiche andere Kulte und Sekten werden erwähnt. Harṣas Vater war ein Sonnenverehrer. Harṣa selbst erscheint im VIII. Kapitel als ein besonderer Freund der Buddhisten und geradezu als ein Anhänger des Buddhismus. Interessant ist aber die Aufzählung von Anhängern verschiedener [S. 364] Sekten und Heiligen, von denen es in einer hier beschriebenen Waldeinsiedelei wimmelt1). Der Dichter spricht mit gleicher Achtung von allen religiösen Sekten. Doch ist er weltlich gesinnt genug, um nicht auch gelegentlich über die Geistlichen der verschiedenen Sekten boshafte Äußerungen einfließen zu lassen, so z. B. in der hübschen Aufzählung von Wesen, die in dieser Welt schwer zu finden sind2):

»Ein Fürst ohne Stolz, ein Brahmane, der nicht gewinnsüchtig, ein Heiliger (Muni), der nicht jähzornig, ein Affe, der nicht übermütig, ein Dichter, der nicht neidisch, ein Kaufmann, der nicht diebisch, ein zärtlicher Ehemann, der nicht eifersüchtig, ein Frommer, der nicht arm, ein Reicher, der nicht ein Schurke, ein Geizhals, der nicht ein Dorn im Auge, ein Jäger, der nicht grausam, ein Pārāśaryamönch, der ein frommer Brahmane, ein Bedienter, der zufrieden, ein Spieler, der dankbar, ein Wanderasket3), der nicht essgierig ist, ein Sklave, der freundlich spricht, ein Minister, der die Wahrheit redet, und ein Königssohn, der nicht ungezogen ist.«

2) Herausgegeben mit Kommentar des Śaṅkara von A. A. Führer, Bombay 1909 (BSS). Ins Englische übersetzt von E. B. Cowell und F.W.Thomas, London 1897. Vgl. Bhāu Dāji in JBRAS X, 1871, 38 ff.; Führer in OC VI Leiden III, 2, 199 ff.; R.W. Frazer, Literary History of India, p. 255 ff.
3) In den Kapitelunterschriften wird das Werk als mahākāvya bezeichnet, aber in den einleitenden Versen (20 f.) nennt es Bāṇa selbst eine ākhyāyikā. So auch die Lehrbücher der Poetik. Vgl. Lacôte in Mélanges Lévi 268 f.
1) Siehe oben S. 358 A. 3.
2) Als Geschichtswerk hat zwar das Harṣacarita nur beschränkte Bedeutung. Es ist bezeichnend, dass Bāṇa uns sagt, sein Held sei geboren »im Monat Jyaiṣṭha am zwölften Tage der dunklen Monatshälfte, während die Plejaden im Aufstieg waren, unmittelbar nach der Dämmerung, als die junge Nacht aufzusteigen begann«, aber das Jahr seiner Geburt nicht angibt. Vgl. Fleet, Ind. Ant, 30, 1901, 12 f. Aber es werden doch manche Angaben des Hiuen-Tsiang und der Inschriften durch wertvolle Nachrichten Bāṇas ergänzt und berichtigt; s. Bühler, Vikramāṅkadevacharita, Introd. p. 4f.; Ep. Ind. 1,67 ff.; 4, 208 ff.; und Rapson, JRAS 1898, 448 ff.
1) Ed. Führer p. 316, Englische Übersetzung p. 236.

In den ersten zwei Kapiteln gibt Bāṇa eine Autobiographie, die äußerst wertvolle Angaben über sein Leben enthält.

Der Dichter beginnt damit, dass er ganz nach Art der Purāṇas eine legendenhafte Geschichte vom Ursprung seiner Familie, der Vātsyāyanas, erzählt4). Dann aber berichtet er ganz historisch über seine Geburt, seine Erziehung, seine Jugendgeschichte und schließlich seine Berufung an den Hof des Königs Harṣa. Er war der Sohn des Brahmanen Citrabhānu und der Brahmanin Rājadevī. Noch als kleiner Knabe verlor er seine Mutter und, als er 14 Jahre alt war, auch seinen Vater, der ihm eine zweite Mutter gewesen war, und den er innig geliebt hatte. Er gab sich zuerst dem Schmerze über den Verlust hin geriet aber bald in schlechte Gesellschaft und verübte manche schlimme Streiche, durch die er in Verruf kam. Es war in der Tat eine merkwürdige Bohème, in der sich der junge Bāṇa nach seiner eigenen Schilderung herumtrieb: Da waren Dichter, darunter auch solche, die in Volkssprachen dichteten, und Musiker aller Art, Bettelmönche der verschiedensten Sekten und allerlei Nonnen, ein Schlangenbeschwörer, ein junger Arzt, ein Vorleser, ein Goldschmied, ein Schreiber, zwei Sänger, ein Maler, ein Schauspieler, eine Tänzerin, eine Kammerzofe, [S. 365] Zauberer und Gaukler usw. Seine Eltern hatten ihm ein hübsches Vermögen hinterlassen, aber die Abenteuerlust trieb ihn in die Fremde, und er machte große Reisen, um fremde Länder zu sehen. Nachdem er so seine Jugend ziemlich zügellos verbracht hatte, lernte er nach und nach das Hofleben und die Gesellschaft kluger und weiser Männer kennen und kehrte zu jener Geisteszucht zurück, die in der Familie der Vātsyāyanas immer üblich gewesen war. Und als er nach Jahren in seine Heimat zurückkehrte, wurde er von den Familiengenossen »wie ein Festtag« begrüßt. Nachdem er längere Zeit in der Heimat bei seinen Verwandten gelebt, kam eines Tages ein Bote von seinem Freunde Kṛṣṇa, des Königs Bruder, der ihn aufforderte, an den Hof des Königs zu kommen, denn es sei nicht recht, dass er sein Leben fern vom Hofe, »wie ein Baum ohne Frucht fern von den Sonnenstrahlen«, verbringe. Nach einiger Überlegung entschließt er sich, dem Rufe zu folget. Er verlässt die Heimat und begibt sich an den Hof des Königs Harṣa, dessen Gunst und Vertrauen er bald in höchstem Grade gewinnt. Nachdem er einige Zeit am Hofe geweilt hatte1), kehrte er zum Besuche seiner Verwandten in die Heimat zurück. Er wird freundlichst begrüßt und geehrt. Ein Vorleser ist gerade dabei, aus dem Vāyupurāṇa vorzulesen. Bei dieser Gelegenheit vergleicht ein Sänger in zwei Versen die in dem Purāṇa besungenen Taten mit denen des Harṣa, was einen Vetter des Dichters veranlasst, diesen zu bitten, die Geschichte des Harṣa zu erzählen. Nach einigem bescheidenen Sträuben folgt Bāṇa dieser Aufforderung.
So interessant auch manchmal die Erzählung selbst ist, so nehmen doch die Beschreibungen von Personen, die Schilderungen von Örtlichkeiten und Situationen sowie Naturschilderungen einen großen Raum ein, wobei es an kühnen Bildern und Vergleichen ebensowenig fehlt wie an Wortspielen. Nur wenige Proben von Bāṇas Stil können hier gegeben werden2).
Die panegyrische Beschreibung des Harṣa, wie ihn Bāṇa zum erstenmal sieht, nimmt nicht weniger als zehn Druckseiten ein3), die [S. 366] alle einen Satz bilden. »Er sah den Harṣa« (alles folgende ist durch Partizipia ausgedrückt),

»... der bei den Vorträgen von Gedichten Nektar ausspie, ohne ihn getrunken zu haben« (d. h. Poesie von sich gab, die er nicht von anderen empfangen, sondern aus sich selbst heraus geschöpft hatte), . . . der durch seinen Körper mit den rötlichen, schößlingzarten Füßen [mit den Fußsprossen des Aruṇa1)], mit den sich schön bewegenden trägen Schenkeln [mit den langsamen Schenkeln des Buddha], mit dem Vorderarm, der hart war wie die Donnerkeilwaffe [mit dem harten Vorderarm des Donnerkeilträgers, d. i. des Indra], mit der Stierschulter [mit der Schulter des Gottes Dharma2)], mit der glänzenden runden Unterlippe [mit der Unterlippe des Sonnengottes], mit dem freundlichen Blick [mit dem Gnadenblick des Avalokita], mit dem Mondgesicht [mit dem Gesicht des Mondgottes], mit dem schwarzen Haar [mit dem Haar des Kṛṣṇa] die Verkörperungen aller Götter gleichsam in einem zeigte, ... der mit seiner Nase, die wie eine Blütenknospe aus dem aufgeblühten Lotus, seinem Angesicht, hervortrat, fortwährend den Duft seines Atems einsog ...« usw.

2) Ed. Führer p. 249, Englische Übersetzung p. 171 f.
3) Dieser fehlt in Führers Ausgabe
4) Ob wir es hier mit einer wirklichen, in der Familie überlieferten Legende zu tun haben oder mit einer reinen Erfindung des Dichters in Nachahmung der Purāṇalegenden, muss dahingestellt bleiben. Ich halte das letztere für wahrscheinlicher.
1) Damit beginnt das dritte Kapitel und der Übergang zum Leben des Harṣa. Diese Einleitung entspricht den gewöhnlichen Einleitungen der Purāṇas, die ja in der Regel damit beginnen, dass ein Ṛṣi im Kreise von neugierigen Genossen erscheint und auf mehr oder minder langes Bitten die Geschichte erzählt. In origineller Weise hat Bāṇa diese Art von stereotypen Purāṇa-Einleitungen zu einem Stück Autobiographie entwickelt.
2) Ein genaues Bild von dem Stil dieser Kunstprosa zu geben, ist allerdings unmöglich, da die gedrängte Sanskritkonstruktion (Partizipien, Komposita, absolute Lokative ebenso unnachahmbar ist wie die zahllosen Wortspiele und die Alliterationen.
3) Ed. Führer pp. 110-120, Englische Übersetzung pp. 56—64.
1) Aruṇa ist der ohne Füße geborene Wagenlenker das Sonnengottes. [In den eckigen Klammern ist die zweite Bedeutung der doppelsinnigen Komposita gegeben.]
2) So nach dem Kommentar; vṛṣan kann aber auch Beiname von Agni, Viṣṇu oder Śiva sein.

Von Prabhākaravardhana, dem Vater des Harṣa, wird gerühmt, das er so kampflustig war, dass schon der Anblick seines eigenen Spiegelbildes in der Schneide des Schwertes, das er in der Hand hielt, eine Qual für ihn war. »Ihm war Feindschaft ein Geschenk, ein Kampf eine Gunstbezeigung, der Beginn der Schlacht ein großes Fest, der Feind der Anblick eines Schatzes, eine feindliche Überzahl ein Glücksfall, eine Herausforderung zum Kampf eine Wunscherfüllung, ein plötzlicher Überfall eine Schicksalsgunst, das Fallen von Schwertstreichen ein Schauer von Reichtümern.«2)

3) Ed. Führer p. 175 (Engl. Übersetzung p. 101 f.).

Wie Harṣa als Kind heranwächst, wird schön geschildert. »Sein lotusgleicher Mund wurde geschmückt mit Zähnchen, die gleichsam infolge des Begießens mit dem Nas aus den Krügen der Brüste seiner Mutter wie Knospen fröhlichen Lachens hervorwuchsen.«4)

4) Ed. Führer p. 191 (Engl. Übersetzung p. 116).

In ergreifender Weise werden im V. Kapitel die Szenen am Sterbelager des Königs Prabhākaravardhana geschildert. Unter den Ärzten des Königs ist ein besonders kluger junger Arzt von nur 18 Jahren, der den König innig liebt und, da er sieht, dass des Königs Zustand hoffnungslos ist, sich selbst verbrennt. Während Harṣa darüber noch ganz verzweifelt ist, kommt eine Zofe der Königin und meldet ihm, dass seine Mutter im Begriffe stehe, sich den Feuertod zu geben. Harṣa eilt ins Frauengemach. Dort tönen ihm die Klagen der Königinnen entgegen, die entschlossen sind, mit dem Gatten zu sterben, und die [S. 367] eben von den Bäumen des Gartens und den Vögeln in den Käfigen und von den Dienerinnen rührenden Abschied nehmen. Wie er eintritt, erblickt er die Mutter, zum Sterben bereit. In der Hand »hielt sie ein Bild des Gatten so fest, wie sie; ihren Sinn auf den Tod gerichtet hatte«. »Von ihrer Amme und ihrer Gattentreue wurde sie geschmückt; von einer Ohnmacht und einer alten Frau, die ihr beide wohlvertraut waren, wurde sie festgehalten; von einer Freundin und der Qual, im Unglück mit ihr vereint, wurde; sie umarmt; sie war umgeben von ihrer Dienerschaft und ihrem Schmerz, die alle ihre Glieder umfassten; Höflinge aus vornehmer Familie und mächtige Seufzer waren an ihrer Seite; greise Kämmerer und schwere Leiden standen hinter ihr.« Harṣa fällt der Königin zu Füßen und fleht sie an, ihn nicht zu verlassen und von ihrem Entschluss abzustehen. Sie aber antwortet, dass sie als Tochter, Gattin und Mutter von Helden nicht anders handeln, dass sie nicht als Witwe leben könne. Nicht der Tod, das Leben sei für sie das größere Übel. Harṣa kann ihre Gründe nur für richtig anerkennen, so schmerzlich es ihm auch ist. Yaśovatī verbrennt sich am Ufer des Flusses Sarasvatī, und kurz darauf stirbt der König. Die Leichenverbrennung und die Totenzeremonien finden statt. Diener und Minister des Verstorbenen töten sich zum Teil, zum Teil werden sie Asketen oder Mönche verschiedener Sekten.

Ein Meister ist Bāṇa in der Beschreibung von Persönlichkeiten. So wird die martialische Erscheinung des alten Feldherrn Siṃhanāda (im VI. Kapitel) mit großer Anschaulichkeit und vielen kunstvollen Wortspielen geschildert. Prächtig ist auch die Beschreibung des Befehlshabers der Elefantentruppen, »dessen Nasenrücken (nāsavaṃśa) so lang war wie der Stammbaum seines Königs (nijanṛpavaṃśa).«

Mit einer Schilderung der blutrot untersinkenden Sonne und des aufsteigenden Mondes — der Sonnenuntergang deutet die blutigen Kriege und den Fall von Harṣas Feinden, der weiße Mond den glänzenden Ruhm des Harṣa an — endet das VIII. Kapitel und für uns das ganze Werk. Es ist nicht wahrscheinlich, das dies das wirkliche Ende des Werkes ist, auch nicht, dass der Dichter das Werk unvollendet ließ. Wir werden vielmehr anzunehmen haben, dass uns der Schluss verloren gegangen ist."

[Quelle: Winternitz, Moriz <1863 - 1937>: Geschichte der indischen Literatur. Stuttgart : Koehler. -- Band 3: Die Kunstdichtung, die wissenschaftliche Literatur, neuindische Literatur. - 1920. -- S. 362 - 367.]


Zu: 9. Quellen in Regionalsprachen