Religionskritisches von Michail A. Bakunin

Gott und der Staat (1871)

von

Michail A. Bakunin


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Bakunin, Michail A.  <1814 - 1876>: Gott und der Staat.  -- 1871. -- Fassung vom 2005-01-06. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/bakunin01.htm   

Erstmals publiziert: 2005-01-06

Überarbeitungen:

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Unvollendetes Manuskript von 1871.

Erstmals veröffentlicht:

Bakunin, Michail A. (Michail Aleksandrovic) <1814 - 1876>: Dieu et l'Etat / Par Michel Bakounine ; ([Précédé d'un] Avertissement [par] Carlo Cafiro [et] Elisée Reclus). -- Genève : Imprimerie Jurassienne, 1882.

Erste deutsche Übersetzung erschien 1884 in Philadelphia, USA


Hier wiedergegeben nach der Übersetzung:

Bakunin, Michail A. (Michail Aleksandrovic) <1814 - 1876>: Gott und der Staat / Michael Bakunin. Nach d. Ms. von 1871 neu übers. u. eingel. von Max Nettlau. -- Leipzig : C. L. Hirschfeld, 1919. -- 84 S. ; 8°.  -- (Hauptwerke des Sozialismus und der Sozialpolitik ; N. F. H. 2). -- Originaltitel: Dieu et l'état

Die Übersetzung von Max Nettlau (1865 - 1944) wurde mehrfach an verschiedenen Orten nachgedruckt.



Abb.: Das Ehepaar Bakunin. -- Um 1861 [Bildquelle: http://www.antjeschrupp.de/internationale.htm. -- Zugriff am 2005-01-05]

"Michail Alexandrowitsch Bakunin (russisch Михаил Александрович Бакунин, wiss. Transliteration Michail Alexandrovič Bakunin; * 30. Mai 1814 in Prjamuchino; † 1. Juli 1876 in Bern) war einer der berühmtesten russischen Anarchisten und Sozialrevolutionäre, als solcher auch über die russischen Grenzen hinaus aktiv.
 
Lebenslauf

Bakunins Familie gehörte zum unteren Landadel. Mit 15 Jahren wurde Michail Bakunin auf die Artillerieschule nach St. Petersburg geschickt und begann eine Offizierslaufbahn. Auf seine militärische Karriere verzichtete Bakunin jedoch und studierte ab 1838 in Moskau Philosophie. Insbesondere die deutschen Philosophen Fichte, Hegel und Schelling beeindruckten ihn. Im Sommer 1840 ging Bakunin nach Berlin, um dort weiter zu studieren. In Berlin wurde er mit den Ideen Ludwig Feuerbachs und der "Junghegelianer" bekannt und schloss sich ihnen an. Er wurde Materialist und entwickelte revolutionäre Ideen.

Kurze Zeit später zog Bakunin nach Dresden, wo er 1842 unter dem Pseudonym "Jules Elysad" den Aufsatz "Die Reaktion in Deutschland" veröffentlichte.

Anfang 1843 kam er nach Zürich, ein Jahr später zog er nach Paris.

In Paris traf er Karl Marx und Pierre Joseph Proudhon, den Begründer des Syndikalismus. Aus Paris wurde Bakunin 1847 ausgewiesen, weil er sich für die Befreiung Polens einsetzte. Polen war zu der Zeit seit dem Wiener Kongress in eine russische, österreichische und preußische Provinz aufgeteilt. In fast regelmäßigen Abständen kam es in diesen Provinzen im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu verschiedenen Aufständen gegen die jeweilige Fremdherrschaft.

Bakunin kehrte jedoch bereits im Februar 1848 nach Ausbruch der Februarrevolution, die zum Sturz des Bürgerkönigs Louis Philippe von Orléans und zur Ausrufung der zweiten französischen Republik führte, über Brüssel nach Paris zurück. Im Verlauf der sich an diese Revolution anschließenden Märzrevolution in weiteren Staaten Zentraleuropas war Bakunin an verschiedenen revolutionären Aktivitäten und Aufständen in unterschiedlichen Regionen beteiligt, teilweise auch in entscheidender Position.

1849 nahm er als einziger Russe am "Panslawistischen Kongress" in Prag teil, in dessen Gefolge es zum Aufstand der Böhmen gegen die österreichische Fremdherrschaft kam. Sein "Appell an die Slawen" erschien. In dieser Schrift betonte Bakunin, dass die so genannte nationale Frage untrennbar mit der sozialen Frage verbunden sei.

Im Mai 1849 beteiligte er sich gemeinsam mit Richard Wagner und anderen Revolutionären im Zuge der späten Märzrevolution an führender Stelle am Aufstand in Dresden zur Durchsetzung einer sächsischen Republik, dem sogenannten Dresdner Maiaufstand. Nach dessen Niederschlagung konnte er zunächst entkommen, wurde aber wenig später in Chemnitz verhaftet und zunächst in Deutschland, nach seiner Auslieferung an Österreich auch dort zum Tode zu verurteilt. 1851 wurde Bakunin zu lebenslänglicher Kerkerhaft begnadigt und nach Russland ausgeliefert. Zunächst saß er in der Peter-und-Paul Festung ein. 1857 wurde er nach Tomsk, später nach Irkutsk in Sibirien deportiert. In Sibirien lernte er seine Frau Antonia kennen.

Mitte 1861 konnte Bakunin über den Amur fliehen (Er schrieb an seine Freunde: L'Amour (Amur und Liebe) m'a sauvé). Es gelang Bakunin, nach Nikolajewsk und von dort über Japan weiter nach New York und schließlich nach London zu kommen.

Bakunin blieb auch über seine weitere Lebenszeit ein unruhiger Charakter im Dienst der sozialen Revolution und des Anarchismus: Er ging von London nach Italien, als er von der Revolutionsbereitschaft der Italiener (vgl. Risorgimento) hörte. Dort gründete er 1864 die erste "Fraternité Internationale" (übersetzt: "Internationale Brüderlichkeit"). In Neapel verfasste Bakunin den "Revolutionären Katechismus", eine Zusammenfassung seiner sozialistischen und sozialrevolutionären Ideen. 1867 ging er wieder nach Genf, wo er die "Internationale Arbeiter Allianz" bzw. auch die so genannte internationale "Liga für Friede und Freiheit" gründete, die später der Internationalen Arbeiterassoziation ("Erste Internationale") beitrat. Bakunin selbst wurde jedoch 1872 nach einer Auseinandersetzung mit Marx wegen seiner anarchistischen Ansichten ausgeschlossen. Er ging darauf in den Jura, beteiligte sich an der Jura-Föderation und gründete die "Antiautoritäre Internationale".

Bakunin ließ sich kurz vor seinem Tod im Tessin nieder. Zu dieser Zeit war er von einer schweren Krankheit gezeichnet und resigniert, da sich seine Erwartung der nahen Revolution nicht erfüllte.

Bakunin ist im Berner Bremgartenfriedhof begraben. Auf seinem Grab steht: "Erinnert euch an den, der sein ganzes Leben eures verbessern wollte."

Wirken und Ideen

Die Hauptbedeutung von Bakunin liegt wohl in folgenden Punkten:

  1. Bakunin gilt als Begründer des kollektivistischen Anarchismus, im Gegensatz zu individualistischen Konzepten wie etwa William Godwin oder Max Stirner und dem Mutualismus von Pierre-Joseph Proudhon.
  2. Mit Bakunin wurde der Anarchismus zu einer international organisierten, sozialrevolutionären Bewegung
  3. Bakunin war Repräsentant des antiautoritären Sozialismus

Bakunin trat für die Abschaffung der Ehe, des Erbrechts, des Rechts auf Privateigentum und als Atheist gegen die Religion ein. In seinen Schriften setzte er sich wiederholt mit dem Nationalismus und der sozialen Frage auseinander."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Michail_Bakunin. -- Zugriff am 2005-01-05]


Gott und der Staat

Wer hat recht, die Idealisten oder die Materialisten? Wenn die Frage einmal so gestellt wird, wird ein Zaudern unmöglich. Ohne jeden Zweifel haben die Idealisten unrecht und nur die Materialisten haben recht. Jawohl, die Tatsachen gehen den Ideen voran, jawohl, das Ideal ist, wie Proudhon1 sagte, nur eine Blume, deren Wurzel die materiellen Existenzbedingungen bilden. Jawohl, die ganze geistige und moralische, politische und soziale Geschichte der Menschheit ist ein Reflex ihrer wirtschaftlichen Geschichte.

Alle Zweige moderner, gewissenhafter und ernster Wissenschaft wirken zusammen, diese große, diese grundlegende und entscheidende Wahrheit zu verkünden: Jawohl, die soziale Welt, die menschliche Welt im eigentlichen Sinne, die Menschheit mit einem Wort ist nichts anderes als die für uns und unseren Planeten wenigstens — letzte und oberste Entwicklung, der höchste Ausdruck der Animalität2. Da aber jede Entwicklung notwendig eine Verneinung einschließt, nämlich die Verneinung ihrer Grundlage oder ihres Ausgangspunktes, ist die Menschheit zugleich und vor allem die bewusste und fortschreitende Verneinung der tierischen Natur in den Menschen, und gerade diese ebenso vernünftige wie natürliche Verneinung, die nur vernünftig ist, weil sie natürlich ist, geschichtlich und logisch wie die Entwicklungen und Produkte aller Naturgesetze, gerade diese Verneinung bildet und schafft das Ideal, die Welt der geistigen und moralischen Überzeugungen, die Ideen.

Ja, unsere ersten Vorfahren, unsere Adams und Evas waren, wenn nicht Gorillas, doch sehr nahe Verwandte des Gorilla, Omnivore3, intelligente und wilde Tiere, die in unendlich höherem Grade als alle anderen Tierarten die zwei wertvollen Fähigkeiten besaßen: die Fähigkeit zu denken und die Fähigkeit, das Bedürfnis, sich zu empören.

Diese beiden Fähigkeiten und ihr fortschreitendes Zusammenwirken im Lauf der Geschichte bilden den bewegenden Faktor, die verneinende Kraft in der positiven Entwicklung der menschlichen Animalität2 und schaffen folglich alles, was das Menschliche in den Menschen ausmacht.

Die Bibel, ein sehr interessantes und manchmal sehr tiefes Buch, wenn man sie als eine der ältesten erhaltenen Äußerungen menschlicher Weisheit und Phantasie betrachtet, drückt diese Wahrheit sehr naiv in ihrem Mythos von der Erbsünde aus. Jehovah, von allen Göttern, die die Menschen je angebetet, gewiss der eifersüchtigste, eitelste, roheste, ungerechteste, blutgierigste, despotischste und menschlicher Würde und Freiheit feindlichste, schuf Adam und Eva aus man weiß nicht was für einer Laune heraus, ohne Zweifel um seine Langeweile zu vertreiben, die bei seiner ewigen egoistischen Einsamkeit schrecklich sein muss, oder um sich neue Sklaven zu schaffen; dann stellte er ihnen edelmütig die ganze Erde mit all ihren Früchten und Tieren zur Verfügung, wobei er diesem vollständigen Genuss nur eine einzige Grenze setzte. Er verbot ihnen ausdrücklich, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Er wollte also, dass der Mensch, allen Bewusstseins von sich selbst beraubt, ewig ein Tier bleibe, dem ewigen Gott, seinem Schöpfer und Herrn Untertan. Aber da kam Satan, der ewige Rebell, der erste Freidenker und Weltenbefreier. Er bewirkt, dass der Mensch sich seiner tierischen Unwissenheit und Unterwürfigkeit schämt; er befreit ihn und drückt seiner Stirn das Siegel der Freiheit und Menschlichkeit auf, indem er ihn antreibt, ungehorsam zu sein und die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen.4


Abb.: Adam und Eva im Paradies / von Philipp Schumacher

[Bildquelle: Pichler, Wilhelm <1862 - 1938>: Katholisches Religionsbuch : [biblische Geschichte] / von Wilhelm Pichler, mit Bildern von Philipp Schumacher. -- 2. Aufl.  -- St. Andrä-Wördern bei Wien : Mediatrix-Verl., 1990. -- 215 S. : Ill. ; 22 cm. -- ISBN: 3-85406-046-7. -- S.12]

Man weiß, was folgte. Der Herrgott, dessen Voraussicht, eine seiner göttlichen Eigenschaften, ihm hätte sagen müssen, dass dies so kommen würde, geriet in schreckliche und lächerliche Wut: Er verfluchte Satan und die von ihm selbst geschaffenen Menschen und die Welt, sich gewissermaßen selbst in seiner eigenen Schöpfung schlagend, wie dies Kinder im Zorn zu tun pflegen, und sich nicht begnügend, unsere Vorfahren in der Gegenwart zu treffen, verfluchte er sie in allen künftigen Generationen, die an dem Verbrechen ihrer Vorfahren doch unschuldig sind. Unsere katholischen und protestantischen Theologen finden das sehr tief und sehr gerecht, gerade weil es ungeheuer unbillig und unsinnig ist!


Abb.: Gott vertreibt die ersten Menschen aus dem Paradies / von Philipp Schumacher

[Bildquelle: Pichler, Wilhelm <1862 - 1938>: Katholisches Religionsbuch : [biblische Geschichte] / von Wilhelm Pichler, mit Bildern von Philipp Schumacher. -- 2. Aufl.  -- St. Andrä-Wördern bei Wien : Mediatrix-Verl., 1990. -- 215 S. : Ill. ; 22 cm. -- ISBN: 3-85406-046-7. -- S.17]

Dann erinnerte er sich, dass er nicht nur ein Gott der Rache und des Zorns, sondern auch ein Gott der Liebe sei, und nachdem er einige Milliarden armer menschlicher Wesen während ihres Lebens gequält und sie zu ewiger Höllenqual verdammt hatte, erbarmte er sich der übrigen, und um sie zu retten, um seine ewige und göttliche Liebe mit seinem ewigen und göttlichen, immer opfer- und blutgierigen Zorn zu versöhnen, schickte er als Sühnopfer seinen einzigen Sohn auf die Erde, damit er von den Menschen getötet würde. Dies nennt man das Geheimnis der Erlösung, welches die Grundlage aller christlichen Religionen bildet.


Abb.: Jesu Sühnopfer am Kreuz / von Philipp Schumacher

[Bildquelle: Pichler, Wilhelm <1862 - 1938>: Katholisches Religionsbuch : [biblische Geschichte] / von Wilhelm Pichler, mit Bildern von Philipp Schumacher. -- 2. Aufl.  -- St. Andrä-Wördern bei Wien : Mediatrix-Verl., 1990. -- 215 S. : Ill. ; 22 cm. -- ISBN: 3-85406-046-7. -- S.109]

Und wenn wenigstens noch der göttliche Retter die Welt der Menschen gerettet hätte! Mitnichten; in dem von Christus versprochenen Paradies wird es, wie man durch ausdrückliche Ankündigung weiß, nur sehr wenige Auserwählte geben5. Die übrigen, die ungeheure Mehrheit der gegenwärtigen und künftigen Generationen, werden ewig in der Hölle braten. Inzwischen liefert der stets gerechte, stets gute Gott zu unserem Trost die Erde den Regierungen der Napoleon III.6 und Wilhelm I.7, der Ferdinand von Österreich8 und der Alexander von Russland9 aus.

Das sind die unsinnigen Geschichten und ungeheuerlichen Lehren, die man mitten im neunzehnten Jahrhundert in allen Volksschulen Europas auf den ausdrücklichen Befehl der Regierungen erzählt und lehrt. Das nennt man die Völker zivilisieren! Liegt es nicht auf der Hand, dass all diese Regierungen die systematischen Vergifter, die eigennützigen Verdummer der Volksmassen sind?

Ich ließ mich von meinem Gegenstand abziehen durch den Zorn, der mich stets packt, wenn ich an die elenden und verbrecherischen Mittel denke, durch die man die Völker in ewiger Knechtschaft hält, ohne Zweifel um sie besser scheren zu können. Was sind die Verbrechen aller Troppmann10 der Welt gegenüber diesem Verbrechen beleidigter Menschheit, das täglich am hellen Tag, auf der ganzen Fläche der zivilisierten Erde von denen begangen wird, die sich Schützer und Väter der Völker zu nennen wagen? — Ich kehre zum Mythos von der Erbsünde zurück.

Gott gab Satan recht und erkannte an, dass der Teufel Adam und Eva nicht betrogen hatte, als er ihnen Erkenntnis und Freiheit versprach als Belohnung des Ungehorsams, zu dem er sie verleitet hatte; denn sobald sie von der verbotenen Frucht gegessen hatten, sagte Gott zu sich (siehe die Bibel): "Sieh' da, der Mensch ist wie einer von Uns geworden, er kennt das Gute und das Böse; hindern wir ihn also, die Frucht des ewigen Lebens zu essen, damit er nicht unsterblich werde wie Wir."11

Lassen wir jetzt die fabelhafte Seite dieses Mythos beiseite und betrachten wir seinen wirklichen Sinn. Dieser ist sehr klar. Der Mensch hat sich befreit, er hat sich von der tierischen Natur getrennt und sich als Mensch gebildet; er begann seine Geschichte und seine eigentlich menschliche Entwicklung mit einem Akt des Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Empörung und dem Denken.

Drei Elemente oder drei Grundprinzipien bilden die wesentlichen Bedingungen aller gemeinschaftlichen und persönlichen menschlichen Entwicklung in der Geschichte:

  1. die menschliche Animalität2;
  2. das Denken;
  3. die Empörung.

Dem ersten entspricht die soziale und private Wirtschaft, dem zweiten die Wissenschaft, dem dritten die Freiheit.12

Die Idealisten aller Schulen, die Aristokraten und Bourgeois, Theologen und Metaphysiker, Politiker und Moralisten, Geistlichen, Philosophen oder Dichter — nicht zu vergessen die liberalen Ökonomisten, diese zügellosen Anbeter des Ideals —, all diese sind sehr verletzt, wenn man ihnen sagt, dass der Mensch, mit all seiner glänzenden Intelligenz, seinen erhabenen Ideen und grenzenlosen Bestrebungen, wie alles auf der Welt, nichts als Materie, nichts als ein Produkt dieser widrigen Materie ist.

Wir könnten ihnen erwidern, dass die Materie13, von welcher die Materialisten sprechen, — eine spontane, ewig bewegliche, tätige, produktive Materie, chemisch und organisch bestimmt und in Erscheinung tretend entsprechend den ihr eigenen mechanischen, physischen, tierischen und intelligenten Eigenschaften oder Kräften — nichts mit der niedrigen Materie der Idealisten gemein hat. Letztere, ein Produkt ihrer falschen Abstraktion, ist tatsächlich ein dummes, unbelebtes, unbewegliches, zu allem unfähiges Ding, ein toter Rückstand, eine hässliche Einbildung, jener schönen Einbildung gegenübergestellt, die sie Gott, das höchste Wesen nennen, demgegenüber die Materie, die Materie der Idealisten, von ihnen selbst all dessen beraubt, was ihre wirkliche Natur ausmacht, notwendig das höchste Nichts darstellt. Sie nahmen der Materie die Intelligenz, das Leben, alle bestimmenden Eigenschaften, tätigen Beziehungen oder Kräfte, selbst die Bewegung, ohne welche die Materie nicht einmal Gewicht hätte, und ließen ihr nur die Undurchdringlichkeit und die unbedingte Bewegungslosigkeit im Raum; sie legten all diese Kräfte, Eigenschaften und natürlichen Äußerungen dem von ihrer abstrahierenden Phantasie geschaffenen eingebildeten Wesen bei; dann nannten sie. mit Vertauschen der Rollen, dieses Produkt ihrer Einbildung, dieses Phantom, diesen Gott, der das Nichts ist, "das höchste Wesen", und erklärten mit notwendiger Konsequenz, dass das wirkliche Wesen, die Materie, die Welt das Nichts sei. Und dann sagen sie uns mit ernster Miene, dass diese Materie unfähig sei, etwas hervorzubringen, ja nicht einmal fähig, sich von selbst in Bewegung zu setzen, und dass sie folglich von ihrem Gott erschaffen sein müsse. In dem Anhang am Ende dieses Buches deckte ich die wahrhaft empörenden Unsinnigkeiten auf, zu denen man unvermeidlich geführt wird durch die Einbildung eines Gottes, sei es eines persönlichen, der Welten schafft und organisiert, sei es selbst eines unpersönlichen, der als eine Art im ganzen Weltall verbreitete göttliche Seele angesehen wird, die das ewige Prinzip des Weltalls bilden würde, sei es einer unendlichen und göttlichen Idee, die immer anwesend und tätig ist und sich stets in der Gesamtheit der materiellen und endlichen Wesen äußert. Ich will mich hier auf die Hervorhebung eines einzigen Punktes beschränken.

Die allmähliche Entwicklung der materiellen Welt ist vollkommen fassbar, ebenso wie die des organischen, tierischen Lebens und die der im Lauf der Geschichte fortschreitenden individuellen und sozialen Intelligenz des Menschen auf dieser Welt. Sie ist eine ganz natürliche Bewegung vom Einfachen zum Zusammengesetzten, von unten nach oben oder von dem Niedrigeren zu dem Höheren, eine all unseren täglichen Erfahrungen und daher auch unserer natürlichen Logik, den Gesetzen unseres Geistes entsprechende Bewegung, dieser nur aufgrund dieser selben Erfahrungen entstehenden und sich entwickelnden Logik, die sozusagen nur deren Wiedergabe oder bewusste Zusammenfassung im Gehirn ist.

Das System der Idealisten bietet uns das gerade Gegenteil. Es stürzt alle menschlichen Erfahrungen und den allgemeinen gesunden Menschenverstand absolut um, der doch die wesentliche Bedingung alles Verständnisses unter den Menschen ist, der von der so einfachen und einstimmig anerkannten Wahrheit, dass zwei mal zwei vier ist, sich bis zu den erhabensten und kompliziertesten wissenschaftlichen Betrachtungen erhebt, ohne je etwas durch Erfahrung oder Betrachtung der Dinge nicht streng Bestätigtes zuzugeben, und so die einzige ernstliche Grundlage menschlicher Kenntnisse bildet.


Abb.: "statt klug und verständig ... ": Demonstration von Creationisten an der University of Washington (Washington State)

Statt dem natürlichen Weg von unten nach oben zu folgen, vom Niedrigen zum Höheren, vom relativ Einfachen zum Zusammengesetzten, statt klug und verständig die tatsächliche fortschreitende Bewegung von der anorganisch genannten Welt zur organischen, Pflanzen-, dann Tierwelt, dann speziell menschlichen Welt zu begleiten und die Bewegung der chemischen Materie oder des chemischen Wesens zur lebenden Materie oder dem lebenden Wesen und vom lebenden zum denkenden Wesen, statt dessen schlagen die idealistischen Denker, von dem von der Theologie ererbten göttlichen Phantom besessen, verblendet und angetrieben, den ganz entgegengesetzten Weg ein. Sie gehen von oben nach unten, vom Höheren zum Niedrigeren, vom Zusammengesetzten zum Einfachen. Sie beginnen mit Gott, sei es als Person, sei es als göttliche Substanz oder Idee, und ihr erster Schritt ist ein schrecklicher Fall von den erhabenen Höhen des ewigen Ideals in den Schlamm der materiellen Welt, von der absoluten Vollkommenheit zur absoluten Unvollkommenheit, von dem Gedanken vom Wesen, oder vielmehr vom höchsten Wesen, zum Nichts. Wann, wie und warum das göttliche, ewige, unendliche Wesen, das absolut Vollkommene, wahrscheinlich von sich selbst gelangweilt, sich zu diesem verzweifelten Salto mortale entschloss, das hat kein Idealist, Theologe, Metaphysiker oder Dichter je selbst zu verstehen gewusst, noch es den Ungläubigen erklären können. Alle vergangenen und gegenwärtigen Religionen und alle übersinnlichen philosophischen Systeme drehen sich um dieses einzige und frevelhafte Geheimnis.14 Heilige Männer, erleuchtete Gesetzgeber, Propheten und Erlöser suchten darin das Leben und fanden darin nur Folter und Tod. Es verzehrte sie, wie die antike Sphinx15, weil sie es nicht zu erklären wussten. Große Philosophen, von Heraklit und Plato bis Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Fichte, Schelling und Hegel, ohne der indischen Philosophen zu gedenken, schrieben Haufen von Büchern und schufen ebenso scharfsinnige wie erhabene Systeme, in denen sie nebenbei viele schöne und große Dinge sagten und unsterbliche Wahrheiten entdeckten, die aber dieses Geheimnis, den Hauptgegenstand ihrer übersinnlichen Forschungen, ebenso unergründet ließen, wie es vor ihnen gewesen war. Da aber die gigantischen Anstrengungen der bewunderungswürdigsten Genies, welche die Welt kennt, die seit wenigstens dreißig Jahrhunderten immer von neuem diese Sisyphusarbeit unternahmen, nur dazu führten, dieses Geheimnis noch unverständlicher zu machen, können wir da hoffen, dass es uns heute durch die handwerksmäßige Spekulation irgendeines pedantischen Schülers einer künstlich aufgewärmten Metaphysik enthüllt werde, und das zu einer Zeit, in der alle lebendigen und ernsten Geister sich von dieser zweifelhaften Wissenschaft abgewendet haben, die das Ergebnis eines geschichtlich gewiss erklärlichen Vergleichs zwischen der Unvernunft des Glaubens und der gesunden wissenschaftlichen Vernunft ist?

Es ist augenscheinlich, dass dieses schreckliche Geheimnis unerklärbar ist, das heißt, dass es unsinnig ist, weil das Unsinnige allein sich nicht erklären lässt. Es ist augenscheinlich, dass, wer dasselbe zu seinem Glück, zu seinem Leben braucht, auf seine Vernunft verzichten und, wenn er kann, zum naiven, blinden, dummen Glauben zurückkehrend, mit Tertullian16 und allen aufrichtigen Gläubigen die Worte wiederholen muss, welche die wahre Quintessenz der Theologie enthalten: Credo quia absurdum16 (Ich glaube, weil es absurd ist). Dann hört jede Erörterung auf und es bleibt nur die triumphierende Dummheit des Glaubens. Aber eine andere Frage erhebt sich dann sofort: Wie kann in einem intelligenten und unterrichteten Menschen das Bedürfnis entstehen, an dieses Geheimnis zu glauben?


Abb.: "Glaube, Liebe, Hoffnung". -- Postkarte

Nichts ist natürlicher, als dass der Glaube an Gott, den Schöpfer, Organisator, Richter, Herren, Verflucher, Retter und Wohltäter der Welt sich im Volk erhalten hat, und zwar vor allem bei der Landbevölkerung viel mehr als beim städtischen Proletariat. Das Volk ist leider noch sehr unwissend und wird in seiner Unwissenheit erhalten durch die systematischen Anstrengungen aller Regierungen, welche diese Unwissenheit sehr begründeterweise für eine der wichtigsten Bedingungen ihrer eigenen Macht halten. Von der täglichen Arbeit erdrückt, der Muße, des geistigen Verkehrs, der Lektüre, kurz aller Mittel und der meisten Antriebe beraubt, welche das menschliche Denken entwickeln, nimmt das Volk meist ohne Kritik und in Bausch und Bogen die religiösen Traditionen an, die es von der frühesten Kindheit an in allen Lebensverhältnissen umgeben und die von einer Menge offizieller Vergifter aller Art, Priestern und Laien, künstlich in ihm am Leben erhalten werden, wodurch sie sich in ihm in eine Art geistiger und moralischer Gewohnheit verwandeln, die nur zu oft viel mächtiger ist, als sein natürlicher gesunder Menschenverstand.


Abb.: "Priester und Laien": Werbung für den katholischen Kolpingverein [Bildquelle: http://www.poppelsdorf.de/Kolping-Startseite.htm. -- Zugriff am 2005-01-05]

Noch eine andere Ursache erklärt und rechtfertigt in gewissem Grade den unsinnigen Glauben des Volkes. Dies ist die elende Lage, zu der es durch die bestehende Gesellschaftsordnung in den zivilisiertesten Ländern Europas unabänderlich verurteilt ist. In geistiger und moralischer wie in materieller Hinsicht auf ein Minimum menschlicher Existenz eingeschränkt, in seine Lebensweise eingesperrt wie ein Gefangener in den Kerker, ohne Ausblick, ohne Ausweg, sogar ohne Zukunft, wenn man den Ökonomisten glauben will, müsste das Volk die merkwürdig enge Seele und den niedrigen Instinkt der Bourgeois haben, wenn es nicht das Bedürfnis empfinden würde, aus diesen Verhältnissen herauszukommen; dazu gibt es aber nur drei Mittel, zwei phantastische und ein wirkliches. Die beiden ersteren sind das Wirtshaus und die Kirche, körperliche oder geistige Ausschweifung; das dritte ist die soziale Revolution. Ich schließe daraus, dass letztere allein, viel mehr wenigstens als alle theoretische Propaganda der Freidenker, imstande sein wird, den religiösen Glauben und die Ausschweifungsgewohnheiten im Volk bis zu ihren letzten Spuren zu zerstören, einen Glauben und Gewohnheiten, die viel enger miteinander verknüpft sind, als man gemeinhin glaubt; durch Ersatz der gleichzeitig trügerischen und niedrigen Genüsse dieser körperlichen und geistigen Zügellosigkeit durch die ebenso feinen wie wirklichen Genüsse der in jedem und in allen sich vollständig entwickelnden Menschlichkeit wird die soziale Revolution allein die Macht haben, gleichzeitig alle Wirtshäuser und alle Kirchen zu schließen.

Bis dahin wird die Masse des Volkes glauben und wird dabei, wenn auch nicht die Vernunft, so doch wenigstens das Recht, dies zu tun, auf seiner Seite haben.

Es gibt eine Menschenklasse, die, wenn sie auch nicht selbst glaubt, sich doch wenigstens gläubig stellen muss. Das sind alle Folterer, Unterdrücker und Ausbeuter der Menschheit. Geistliche, Monarchen, Staatsmänner, Krieger, öffentliche und private Finanziers, Beamte aller Art, Polizisten, Gendarmen, Kerkermeister und Henker, Monopolisten, Kapitalisten, Steuereintreiber, Unternehmer und Hausbesitzer, Advokaten, Ökonomisten, Politiker aller Farben, bis zum letzten Philister, alle wiederholen einstimmig die Worte Voltaires:

Wenn es keinen Gott gäbe, müsste man einen erfinden.
Denn, ihr versteht, das Volk braucht eine Religion. Diese ist das Sicherheitsventil.17


Abb.: "Denn, ihr versteht, das Volk braucht eine Religion. Diese ist das Sicherheitsventil.": Wahlplakat der CDU zu den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen am 13.6.1946 [Bildquelle: http://www.dhm.de/lemo/html/Nachkriegsjahre/PolitischerNeubeginn/cduBody.html. -- Zugriff am 2005-01-05]

Es gibt endlich eine ziemlich zahlreiche Klasse ehrlicher, aber schwacher Seelen, die zu intelligent sind, um die christlichen Dogmen ernst zu nehmen und sie im einzelnen verwerfen, aber nicht die nötige Kraft und Entschlossenheit haben, sie als Ganzes zu verwerfen. Sie geben alle speziellen Unsinnigkeiten der Religion der Kritik preis, sie weisen alle Wunder zurück, aber sie klammern sich verzweifelt an den Hauptunsinn, der die Quelle aller anderen ist, an das Wunder, das alle anderen Wunder erklärt und rechtfertigt, an das Dasein Gottes.


Abb.: "aber sie klammern sich verzweifelt an den Hauptunsinn": Buchtitel

Ihr Gott ist nicht das starke und mächtige Wesen, der brutal positive Gott der Theologie. Er ist ein nebelhaftes, durchsichtiges, trügerisches Wesen, so trügerisch, dass, wenn man ihn zu packen glaubt, er sich in das Nichts verwandelt; er ist eine Spiegelung, ein Irrlicht, das weder wärmt noch erhellt. Und doch halten sie an ihm fest und glauben, dass mit seinem Verschwinden alles mit ihm verschwinden würde. Das sind unentschlossene, krankhafte Seelen, die sich in der heutigen Kultur nicht zurechtfinden, die weder der Gegenwart noch der Zukunft angehören, blasse Phantome, die ewig zwischen Himmel und Erde hängen und die sich in derselben Stellung zwischen der Bourgeois-Politik und dem Sozialismus des Proletariats befinden. Sie fühlen sich nicht stark genug, einen Gedanken bis zu Ende zu denken, zu wollen und sich zu entschließen, und sie verlieren ihre Zeit und Mühe damit, immer das Unversöhnliche versöhnen zu wollen. Im öffentlichen Leben nennt man sie Bourgeois-Sozialisten.


Abb.: Kirchenfunktionär, IM (?) und Salonsozialist: Dr. Manfred Stolpe (geb. 1936), Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (SPD)

Eine Diskussion ist weder mit ihnen noch gegen sie möglich. Sie sind zu krank.

Es gibt aber eine kleine Zahl ausgezeichneter Männer, von denen niemand ohne Achtung zu sprechen wagt und deren kräftige Gesundheit, Geistesstärke und guten Glauben niemand zu bezweifeln sich träumen lässt. Es genügt, Mazzini18, Michelet19, Quinet20, John Stuart Mill21  zu nennen. Sie alle sind edle und starke Seelen, große Herzen, große Geister, große Schriftsteller, besonders was Mazzini18, den heldenhaften und revolutionären Wiedererwecker einer großen Nation, betrifft; sie alle sind Vertreter des Idealismus und Verächter, leidenschaftliche Gegner des Materialismus, folglich auch des Sozialismus, in der Philosophie wie in der Politik.
Gegen sie also muss diese Frage erörtert werden.

Stellen wir zunächst fest, dass keiner der erwähnten ausgezeichneten Männer und kein anderer halbwegs bedeutender idealistischer Denker unserer Zeit sich mit der logischen Seite dieser Frage im engeren Sinn beschäftigt hat. Keiner versuchte, philosophisch die Möglichkeit des göttlichen Salto mortale von den ewigen und reinen Regionen des Geistes in den Schlamm der materiellen Welt zu lösen. Fürchteten sie, an diesen unlösbaren Widerspruch heranzugehen, verzweifelten sie an seiner Lösung, nachdem dieselbe den größten Genies der Geschichte fehlgeschlagen, oder betrachteten sie ihn schon als hinreichend gelöst? Das ist ihr Geheimnis. Tatsache ist, dass sie die theoretische Darlegung der Existenz eines Gottes beiseite ließen und nur ihre praktischen Gründe und Folgerungen entwickelten. Sie alle sprachen davon wie von einer allgemein angenommenen Tatsache, die als solche keinem Zweifel mehr unterliegen kann, und beschränkten sich, anstelle jeden Beweises, das Alter und die Allgemeinheit des Glaubens an Gott festzustellen.

Diese eindrucksvolle Einstimmigkeit gilt in den Augen vieler ausgezeichneten Männer und Autoren so, um nur die berühmtesten zu nennen, nach der beredt ausgedrückten Meinung Joseph de Maistres22 und der des großen italienischen Patrioten Giuseppe Mazzini18 mehr als alle Nachweise der Wissenschaft. Wenn die Logik einer kleinen Zahl konsequenter und sogar sehr großer, aber alleinstehender Denker zu einem gegenteiligen Ergebnis führt, so sagen sie, dies sei um so schlimmer für diese Denker und ihre Logik, denn die allgemeine Zustimmung zu einer Idee, ihre allgemeine Annahme von alters her wurden immer als siegreichster Beweis für ihre Wahrheit betrachtet. Das Gefühl der ganzen Welt, eine überall und immer auftretende und sich behauptende Überzeugung könnten nicht fehlgehen. Sie müssten ihre Wurzel in einer im Wesen des Menschen selbst liegenden Notwendigkeit haben. Und da festgestellt wurde, dass alle Völker der Vergangenheit und Gegenwart an das Dasein Gottes glaubten und noch glauben, ist klar, dass die, die so unglücklich sind, daran zu zweifeln, trotz aller Logik, die sie zu diesem Zweifel brachte, abnormale Ausnahmen, Monstrositäten sind.

Das Alter und die Allgemeinheit eines Glaubens soll also, gegen alle Wissenschaft und Logik, ein hinreichender und un-widerleglicher Beweis für seine Richtigkeit sein. Warum dies?

Bis zum Jahrhundert von Kopernikus und Galilei glaubte alle Welt, die Sonne drehe sich um die Erde. Hat sich nicht alle Welt geirrt? Was ist älter und allgemeiner als die Sklaverei? Die Menschenfresserei vielleicht. Seit Beginn der geschichtlichen Gesellschaft bis heute gab es immer und überall Ausbeutung der erzwungenen Arbeit der Massen, von Sklaven, Leibeigenen oder Lohnarbeitern durch eine herrschende Minderheit, Unterdrückung der Völker durch Kirche und Staat. Muss man daraus schließen, dass diese Ausbeutung und Unterdrückung der menschlichen Gesellschaft absolut verbundene Notwendigkeiten sind? Diese Beispiele zeigen, dass das Beweismittel der Verteidiger des Herrgotts nichts beweist.

Nichts ist tatsächlich so allgemein und so alt wie das Unrechte und Unsinnige; Wahrheit und Gerechtigkeit dagegen sind in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften am wenigsten allgemein verbreitet und am jüngsten. Dies erklärt auch die ständige historische Erscheinung unerhörter Verfolgungen, deren Gegenstand ihre ersten Verkünder seitens der offiziellen, patentierten und interessierten Vertreter der "allgemeinen" und "alten" Glaubensdogmen stets waren und noch sind, oft auch seitens derselben Volksmassen, die, nachdem sie die ersten Verkünder gehörig gemartert, stets deren Ideen schließlich annehmen und zum Sieg führen.

Uns Materialisten und revolutionäre Sozialisten erstaunt und erschreckt diese geschichtliche Erscheinung in keiner Weise. Gestützt auf unser Gewissen, auf unsere Liebe zur Wahrheit um jeden Preis, auf die Leidenschaft für die Logik, die an sich allein eine große Macht bildet und außerhalb welcher es kein Denken gibt; gestützt auf unsere Leidenschaft für die Gerechtigkeit und unseren unerschütterlichen Glauben an den Sieg der Menschlichkeit über alle theoretischen und praktischen Bestialitäten; gestützt endlich auf das gegenseitige Vertrauen und die Hilfe, die die kleine Zahl unserer Gleichgesinnten einander geben, nehmen wir alle Folgen dieser geschichtlichen Erscheinung auf uns, da wir in ihr die Äußerung eines sozialen Gesetzes sehen, das ebenso natürlich, notwendig und unabänderlich ist wie alle anderen die Welt lenkenden Gesetze.

Dieses Gesetz ist eine logische, unvermeidliche Folge des tierischen Ursprungs der menschlichen Gesellschaft; es ist aber- angesichts aller wissenschaftlichen, physiologischen, psychologischen und historischen Beweise, die sich in unserer Zeit angehäuft haben, und angesichts seiner so glänzenden Darlegung durch die Taten der Deutschen als Eroberer Frankreichs- wirklich nicht möglich, an diesem Ursprung zu zweifeln. Wenn man aber diesen tierischen Ursprung des Menschen annimmt, erklärt sich alles. Die Geschichte erscheint uns dann als die revolutionäre Verneinung der Vergangenheit, bald langsam, stumpfsinnig und verschlagen, bald leidenschaftlich und mächtig. Sie besteht in der fortschreitenden Verneinung der ursprünglichen tierischen Natur des Menschen durch die Entwicklung seiner Menschlichkeit. Der Mensch, ein wildes Tier, ein Verwandter des Gorilla, ging von der tiefen Nacht des tierischen Instinkts aus, um zum Licht des Geistes zu gelangen, was all seine vergangenen Verirrungen ganz natürlich erklärt und uns zum Teil über seine gegenwärtigen Irrtümer tröstet. Von der tierischen Sklaverei ausgehend, durchschritt er die göttliche Sklaverei, einen Zwischenzustand zwischen seiner Tierheit und Menschlichkeit, und heute schreitet er zur Eroberung und Verwirklichung seiner menschlichen Freiheit. Daraus folgt, dass das Alter eines Glaubens, einer Idee, weit entfernt, etwas zu deren Gunsten zu beweisen, sie uns im Gegenteil verdächtig erscheinen lassen muss. Denn hinter uns liegt unsere Tierheit, vor uns unsere Menschlichkeit, und das menschliche Licht, das einzige, das uns erwärmen und erleuchten kann, das einzige, das uns befreien, uns würdig, frei, glücklich machen und die Brüderlichkeit unter uns verwirklichen kann — dieses Licht leuchtet nie am Anfang, sondern, je nach der Zeit, in der man lebt, stets am Ende der Geschichte. Schauen wir also nie rückwärts, schauen wir immer vorwärts, denn vor uns ist unsere Sonne und unser Heil, und wenn es erlaubt, ja sogar nützlich und notwendig ist, zurückzuschauen, um unsere Vergangenheit zu studieren, dann geschieht dies nur, um festzustellen, was wir gewesen sind und was wir nicht mehr sein dürfen, was wir glauben und dachten und was wir nicht mehr glauben und denken dürfen, was wir getan und was wir niemals wieder tun dürfen.

Soweit über das Alter. Was die Allgemeinheit eines Irrtums betrifft, so beweist dieselbe nur eines: die Ähnlichkeit, wenn nicht die völlige Gleichheit der menschlichen Natur in allen Zeiten und allen Zonen. Und da feststeht, dass alle Völker zu allen Zeiten ihrer Geschichte an Gott glaubten und noch glauben, müssen wir daraus einfach schließen, dass die aus uns selbst hervorgegangene Gottesidee ein in der Entwicklung der Menschheit geschichtlich notwendiger Irrtum ist, und uns fragen, warum und wie sie entstand und warum die ungeheure Mehrheit der Menschheit sie noch heute als wahr annimmt.

Solange wir uns nicht erklären können, wie die Idee einer übernatürlichen oder göttlichen Welt in der geschichtlichen Entwicklung des menschlichen Bewusstseins entstand und notwendigerweise entstehen musste, so lange mögen wir wohl wissenschaftlich von der Sinnlosigkeit dieser Idee überzeugt sein, wir werden sie aber in der Meinung der Mehrheit nie zerstören können. Denn wir wären nie imstande, sie in denselben Tiefen des menschlichen Wesens zu zerstören, in denen sie entstand, und, zu einem unfruchtbaren, aussichts- und endlosen Kampf verurteilt, müssten wir uns immer begnügen, sie nur an der Oberfläche zu bekämpfen, in ihren zahllosen Äußerungen, deren kaum vom gesunden Menschenverstand erkannte Sinnlosigkeit sofort in neuer und nicht weniger sinnloser Form wieder entstehen würde. Solange die Wurzel aller die Welt marternden Sinnlosigkeiten, der Glaube an Gott, unberührt bleibt, wird sie stets neue Früchte zeitigen. So beginnt in unseren Tagen, in gewissen Kreisen der höchsten Gesellschaft, der Spiritismus sich auf den Ruinen des Christentums festzusetzen.

Nicht nur im Interesse der Massen, auch im Interesse der Gesundheit unseres eigenen Geistes müssen wir uns bemühen, das geschichtliche Werden der Gottesidee, die Reihe der Ursachen, welche diese Idee im Bewusstsein der Menschen erzeugten und entwickelten, zu begreifen. Wenn wir uns auch Atheisten nennen und für solche halten, solange wir diese Ursachen nicht verstanden haben, werden wir uns stets mehr oder weniger von dem Lärm dieses allgemeinen Gewissens beherrschen lassen, dessen Geheimnis wir nicht herausgefunden haben, und bei der natürlichen Schwäche selbst des Stärksten gegenüber dem allmächtigen Einfluss des sozialen Milieus, das ihn umgibt, riskieren wir stets früher oder später, auf die eine oder andere Art in den Abgrund der religiösen Sinnlosigkeit zurückzufallen. Beispiele solcher schmachvoller Bekehrungen sind in der heutigen Gesellschaft häufig.

Ich führte den Hauptgrund der noch heute von dem religiösen Glauben auf die Massen ausgeübten Macht an. Diese mystischen Neigungen bezeichnen bei den Massen nicht so sehr eine Verirrung des Geistes als tiefe innere Unzufriedenheit. Sie sind der instinktive und leidenschaftliche Aufschrei des menschlichen Wesens gegen die Enge, die Flachheit, die Schmerzen und die Schande eines erbärmlichen Lebens. Gegen diese Krankheit, sagte ich, gibt es nur ein einziges Mittel: die soziale Revolution.


Abb.: Megatrend Spiritualität [Quelle: http://www.dialog.at/d200310/megatrend.html. -- Zugriff am 2005-01-05]

Im Anhang suchte ich die Ursachen der Entstehung der geschichtlichen Entwicklung der religiösen Hirngespinste im Menschenbewusstsein auseinanderzusetzen. Hier will ich die Frage der Existenz eines Gottes oder des göttlichen Ursprungs der Welt und des Menschen nur vom Standpunkt ihrer moralischen und sozialen Nützlichkeit behandeln und über die theoretische Ursache dieses Glaubens nur wenige Worte sagen, um meine Gedanken besser klarzumachen.

Alle Religionen mit ihren Göttern, Halbgöttern, Propheten, Erlösern und Heiligen wurden von der leichtgläubigen Phantasie von Menschen geschaffen, die noch nicht zur vollen Entwicklung und zum Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten gelangt waren; der Himmel der Religion ist also nichts als eine Lichtspiegelung, in der der Mensch, von Unwissenheit und Glauben überspannt, sein eigenes Bild wiedersieht, aber vergrößert und verkehrt, d.h. vergöttlicht. Die Geschichte der Religionen, die des Ursprungs, der Größe und des Verfalls der Götter, wie sie im menschlichen Glauben aufeinander folgten, ist also nichts als die Entwicklung der Intelligenz und des kollektiven Bewusstseins der Menschen. Je nachdem sie auf ihrem geschichtlichen Vormarsch in sich selbst oder in der äußeren Natur eine Kraft, eine Fähigkeit oder selbst einen großen Fehler fanden, übertrugen sie dieselben durch einen Akt ihrer religiösen Phantasie auf ihre Götter, übertrieben, ins Maßlose ausgedehnt, wie Kinder es zu tun pflegen. Dank dieser Bescheidenheit und frommen Großmütigkeit der gläubigen und leichtgläubigen Menschen bereicherte sich der Himmel durch das, was der Erde geraubt wurde, und konsequenterweise wurden die Menschheit, die Erde desto elender, je reicher der Himmel wurde. Sobald einmal die Gottheit eingesetzt war, wurde sie natürlich als Grund, Ursache, Schiedsrichter und absoluter Verfüger über alle Dinge proklamiert: Die Welt war nichts mehr, die Gottheit alles, und der Mensch, ihr wahrer Schöpfer, der sie ohne sein Wissen aus dem Nichts herausgezogen, beugte sein Knie vor ihr, betete sie an und erklärte sich als ihr Geschöpf und ihr Sklave.

Das Christentum ist gerade die Religion par excellence. weil es in seiner Ganzheit die Natur, das eigentliche Wesen jedes religiösen Systems ausdrückt und äußert, nämlich die Verarmung, die Versklavung und die Vernichtung der Menschheit zum Vorteil der Gottheit.


Abb.: Gott verkündet am Berge Sinai die 10 Befehle

[Bildquelle: Pichler, Wilhelm <1862 - 1938>: Katholisches Religionsbuch : [biblische Geschichte] / von Wilhelm Pichler, mit Bildern von Philipp Schumacher. -- 2. Aufl.  -- St. Andrä-Wördern bei Wien : Mediatrix-Verl., 1990. -- 215 S. : Ill. ; 22 cm. -- ISBN: 3-85406-046-7. -- S.41]

Da Gott alles ist, sind die wirkliche Welt und der Mensch nichts. Da Gott die Wahrheit, die Gerechtigkeit, das Gute, das Schöne, die Macht und das Leben ist, ist der Mensch die Lüge, das Schlechte, das Übel, die Hässlichkeit, die Ohnmacht und der Tod. Da Gott der Herr ist, ist der Mensch der Sklave. Der Mensch ist unfähig, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und das ewige Leben selbst zu finden, und kann sie nur durch göttliche Offenbarung erlangen. Wer aber Offenbarung sagt, sagt auch Offenbarer, Erlöser, Propheten, Priester und Gesetzgeber, die Gott selbst erleuchtete, und sobald diese einmal als Vertreter der Gottheit auf der Erde anerkannt sind, als die heiligen Lehrer der Menschheit, die Gott selbst auserwählte, um die Menschheit auf den Weg des Heils zu leiten, müssen sie notwendigerweise absolute Macht ausüben. Alle Menschen schulden ihnen unbegrenzten und demütigen Gehorsam; denn gegenüber der göttlichen Vernunft gibt es keine menschliche Vernunft, und vor der Gerechtigkeit Gottes bleibt keine irdische Gerechtigkeit bestehen. Als Sklaven Gottes müssen die Menschen auch Sklaven der Kirche und des Staates sein, insoweit als der Staat von der Kirche geheiligt ist. Dies begriff von allen bestehenden und vergangenen Religionen das Christentum am besten, nicht ausgenommen selbst die alten orientalischen Religionen, welche übrigens nur bestimmte und bevorrechtete Völker umfassten, während das Christentum den Anspruch hat, die ganze Menschheit zu umfassen, und von allen christlichen Sekten hat der römische Katholizismus allein dies mit strenger Konsequenz verkündet und verwirklicht. Deshalb ist das Christentum die absolute Religion, die letzte Religion, und die römischapostolische Kirche die einzig konsequente, rechtmäßige und göttliche.

Ob es also den Metaphysikern und religiösen Idealisten, Philosophen, Politikern oder Dichtern gefällt oder nicht: Die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Verneinung der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Menschen in Theorie und Praxis.

Wenn wir also nicht die Versklavung und Herabwürdigung der Menschen wollen wie die Jesuiten, die protestantischen Momiers23, Pietisten24 oder Methodisten25, dann können und dürfen wir dem Gott der Theologie und dem Gott der Metaphysik nicht das geringste Zugeständnis machen. Denn wer in diesem geheimnisvollen Alphabet A sagt, sagt schließlich unvermeidlich auch Z, und wer Gott anbeten will, muss, ohne sich kindische Illusionen zu machen, tapfer auf seine Freiheit und Menschlichkeit verzichten.

Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: Folglich existiert Gott nicht.

Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen.

Muss man daran erinnern, wie sehr und wie die Religionen die Völker verdummen und verderben? Sie töten in ihnen die Vernunft, dieses Hauptwerkzeug der menschlichen Befreiung, und führen sie zum Schwachsinn, der wesentlichen Voraussetzung ihrer Sklaverei. Sie entehren die menschliche Arbeit und machen sie zum Zeichen und zur Quelle der Knechtschaft.26 Sie töten Begriff und Gefühl der menschlichen Gerechtigkeit und lassen die Waagschale immer sich auf die Seite der triumphierenden Schurken, der bevorrechteten Auserwählten der göttlichen Gnade, neigen. Sie töten menschlichen Stolz und Würde und schützen nur die Kriechenden und Demütigen. Sie ersticken im Herz der Völker jedes Gefühl menschlicher Brüderlichkeit und erfüllen es mit göttlichen Grausamkeit. Alle Religionen sind grausam, alle sind auf Blut gegründet; denn alle ruhen hauptsächlich auf der Idee des Opfers, das heißt auf der beständigen Opferung der Menschheit zugunsten der unersättlichen Rache der Gottheit. In diesem blutigen Geheimnis ist der Mensch immer das Opfer, und der Priester, auch ein Mensch, aber ein durch die Gnade bevorrechteter, ist der göttliche Henker. Dies erklärt uns, warum die Priester aller Religionen, die Besten, die Menschlichsten, die Sanftesten, bei nahe immer auf dem Grund ihres Herzens — und wenn nicht im Herzen, in ihrer Einbildung, ihrem Geist (und man kennt den furchtbaren Einfluss beider auf das Herz der Menschen, — warum, sage ich, in den Gefühlen jedes Priesters etwas Grausames und Blutdürstiges liegt.

All das wissen unsere ausgezeichneten Idealisten der Gegenwart besser als irgend jemand. Sie sind gelehrte Leute, die ihre Geschichte kennen, und da sie gleichzeitig lebende Menschen sind, große Seelen, von aufrichtiger und tiefer Liebe zur Menschheit durchdrungen, so verfluchten und brandmarkten sie all diese Untaten, all diese Verbrechen der Religion mit unerreichter Beredsamkeit. Mit Entrüstung weisen sie jede Gemeinschaftlichkeit mit dem Gott der positiven Religionen und seinen vergangenen und gegenwärtigen irdischen Vertretern zurück.

Der Gott, den sie anbeten oder anzubeten glauben, unterscheidet sich von den wirklichen Göttern der Geschichte gerade dadurch, dass er durchaus kein positiver und auf irgendeine Weise theologisch oder selbst metaphysisch bestimmter Gott ist. Er ist weder das höchste Wesen Robespierres27 und Jean-Jacques Rousseaus28, noch der pantheistische Gott Spinozas29, noch selbst der gleichzeitig immanente und transzendente und sehr zweideutige Gott Hegels30. Sie hüten sich, ihm irgendeine positive Bestimmung zu geben, da sie sehr gut fühlen, dass eine solche Bestimmung ihn der zersetzenden Tätigkeit der Kritik preisgeben würde. Sie werden nie sagen, ob es ein persönlicher oder unpersönlicher Gott ist, ob er die Welt erschaffen hat oder nicht; sie sprechen nicht einmal von seiner göttlichen Vorsehung. All das könnte ihn bloßstellen. Sie werden sich begnügen zu sagen: "Gott" und nichts weiter. Aber was ist dann ihr Gott? Nicht einmal eine Idee, sondern ein bloßer Hauch.

Er ist der Gattungsname für alles, das ihnen groß, gut, schön, edel, menschlich erscheint. Aber warum sagen sie dann nicht: "Mensch"? Ach, weil König Wilhelm von Preußen7 und Napoleon III.6 und alle ihresgleichen auch Menschen sind, und dies setzt sie in große Verlegenheit. Die wirkliche Menschheit bildet eine Verbindung des Erhabensten und Schönsten und des Erbärmlichsten und Ungeheuerlichsten, das es gibt. Wie kommen sie aus dieser Verlegenheit heraus? Sie nennen das eine göttlich, das andere tierisch, und stellen sich die Göttlichkeit und die Animalität als zwei Pole vor, zwischen die sie die Menschheit stellen. Sie wollen oder können nicht begreifen, dass diese drei Ausdrücke nur einen einzigen bilden und dass man sie zerstört, wenn man sie trennt.

Sie sind in der Logik nicht stark, und man möchte glauben, dass sie sie verachten. Das unterscheidet sie von den pantheistischen31 und deistischen32 Metaphysikern und drückt ihren Ideen den Charakter eines praktischen Idealismus auf, der sein Trachten viel weniger aus der strengen Entwicklung eines Gedankens schöpft als aus den geschichtlichen, kollektiven und individuellen Erfahrungen, beinahe sagte ich Bewegungen des Lebens. Dies gibt ihrer Propaganda einen Schein von Reichtum und Lebenskraft, aber nur einen Schein; denn das Leben selbst wird unfruchtbar, wenn es von einem logischen Widerspruch gelähmt wird.

Dieser Widerspruch ist folgender: Sie wollen Gott und sie wollen die Menschheit. Sie versteifen sich darauf, zwei Begriffe zusammenzubringen, die, einmal getrennt, sich nur wieder treffen können, um sich gegenseitig zu zerstören. Sie sagen in einem Atemzug: "Gott und die Freiheit des Menschen", "Gott und die Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das Wohl der Menschen", — ohne sich um die unvermeidliche Logik zu kümmern, nach welcher, wenn Gott existiert, dies alles zum Nichtvorhandensein verurteilt ist. Denn wenn Gott existiert, ist er notwendigerweise der ewige, höchste, absolute Herr, und wenn ein solcher Herr da ist, ist der Mensch Sklave; wenn er aber Sklave ist, sind für ihn weder Gerechtigkeit, noch Gleichheit, Brüderlichkeit, Wohlfahrt möglich. Mögen diese Idealisten sich immer gegen den gesunden Menschenverstand und alle geschichtliche Erfahrung, ihren Gott von der zartesten Liebe für die menschliche Freiheit beseelt vorstellen: Ein Herr, was er immer tun und wie freiheitlich er sich zeigen mag, bleibt nichtsdestoweniger ein Herr, und seine Existenz schließt notwendigerweise die Sklaverei von allem, das unter ihm ist, ein. Wenn also Gott existierte, gäbe es für ihn nur ein einziges Mittel, der menschlichen Freiheit zu dienen: aufhören zu existieren.

Als eifersüchtiger Anhänger der menschlichen Freiheit, die ich als die unbedingte Grundbedingung von allem, das wir in der Menschheit verehren und achten, ansehe, drehe ich Voltaires17 Satz um und sage:

Wenn Gott wirklich existierte, müsste man ihn beseitigen.

Die strenge Logik, die mir diese Worte diktiert, ist zu klar, als dass ich diesen Gedankengang weiter entwickeln müsste. Und es scheint mir unmöglich, dass dies den erwähnten ausgezeichneten Männern, deren Namen so berühmt und so mit Recht geachtet sind, nicht selbst aufgefallen ist und dass sie den Widerspruch nicht bemerkten, der darin liegt, dass sie gleichzeitig von Gott und von der menschlichen Freiheit sprachen. Zur Nichtbeachtung des Widerspruchs muss sie der Gedanke veranlasst haben, dass diese Inkonsequenz oder diese Hintansetzung der Logik in der Praxis zum Besten der Menschheit notwendig ist.

Vielleicht verstehen sie auch die Freiheit, von der sie als von einer von ihnen sehr geachteten, ihnen sehr lieben Sache sprechen, in ganz anderem Sinn, als wir Materialisten und revolutionäre Sozialisten sie auffassen. Sie sprechen tatsächlich nie von ihr, ohne sofort ein anderes Wort hinzuzufügen, das Wort Autorität, ein Wort und eine Sache, die wir aus vollem Herzen verabscheuen.

Was ist die Autorität? Ist es die unvermeidliche Macht der Naturgesetze, die sich in der Verkettung und notwendigen Aufeinanderfolge der Erscheinungen der physischen und sozialen Welt äußern? Gegen diese Gesetze ist tatsächlich die Empörung nicht nur verboten, sondern auch unmöglich. Wir mögen sie verkennen oder sie noch nicht kennen, aber wir können ihnen nicht ungehorsam sein, weil sie die Grundlage und Grundbedingung unseres Daseins sind; sie umgeben und durchdringen uns, regeln all unsere Bewegungen, Gedanken, Handlungen, so dass, selbst wenn wir ihnen ungehorsam zu sein glauben, wir nur ihre Allmacht beweisen.

Ja, wir sind unbedingt die Sklaven dieser Gesetze. Aber es liegt nichts Erniedrigendes in dieser Sklaverei oder vielmehr, es ist gar keine Sklaverei. Denn Sklaverei setzt einen äußeren Herrn, einen Gesetzgeber voraus, der sich außerhalb desjenigen befindet, dem er gebietet; diese Gesetze liegen aber nicht außer uns, sie sind uns eigen, bilden unser Wesen, unser ganzes körperliches, geistiges und moralisches Wesen; wir leben, atmen, handeln, denken und wollen nur durch sie. Außerhalb ihrer sind wir nichts, existieren wir nicht. Woher käme uns also die Macht und der Wille, uns gegen sie zu empören?

Den Naturgesetzen gegenüber ist für den Menschen nur eine Freiheit möglich: sie zu erkennen und sie immer mehr seinem Ziel der kollektiven und individuellen Befreiung oder Humanisierung entsprechend anzuwenden. Sind diese Gesetze einmal erkannt, üben sie eine von der Masse der Menschen nie erörterte Autorität aus. Man muss zum Beispiel ein Narr oder ein Theologe oder wenigstens ein Metaphysiker, Jurist oder Bourgeois-Ökonom sein, um sich gegen das Gesetz, dass zwei x zwei gleich vier ist, zu empören. Man muss Glauben besitzen, um sich einzubilden, dass man im Feuer nicht verbrennt und im Wasser nicht ertrinkt, außer man nimmt zu irgend etwas Zuflucht, das auch wieder auf einem anderen Naturgesetz beruht. Aber diese Empörungen oder vielmehr diese Versuche oder tollen Einbildungen einer unmöglichen Empörung bilden nur eine seltene Ausnahme; denn im allgemeinen kann man sagen, dass die Masse der Menschen im täglichen Leben beinahe unbedingt vom gesunden Menschenverstand, das heißt von der Summe der allgemein anerkannten Naturgesetze, geleitet wird.

Das große Unglück ist, dass eine große Menge von der Wissenschaft schon erkannter Naturgesetze den Volksmassen unbekannt bleibt dank der Sorgfalt der bevormundenden Regierungen, die bekanntlich nur zum Besten der Völker da sind. Ein anderer Nachteil ist der, dass der größte Teil der auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bezüglichen Naturgesetze, die ebenso notwendig, unveränderlich, unvermeidlich sind wie die die physische Welt regierenden Gesetze, noch nicht von der Wissenschaft hinreichend festgestellt und erkannt ist.

Sobald sie einmal von der Wissenschaft erkannt und aus der Wissenschaft durch ein großes System der Volkserziehung und des Volksunterrichts in das Bewusstsein aller übergegangen sein werden, wird die Frage der Freiheit vollständig gelöst sein.

Die verbissensten Verfechter der Autorität müssen zugeben, dass dann politische Organisation, Leitung und Gesetzgebung nicht mehr nötig sein werden, drei Dinge, die, mögen sie dem Willen des Herrschers oder den Abstimmungen eines vom allgemeinen Stimmrecht gewählten Parlaments entspringen und mögen sie selbst dem System der Naturgesetze entsprechen, stets auf gleiche Weise der Freiheit der Massen verhängnisvoll und feindlich sind, weil sie ihnen ein System äußerlicher und daher despotischer Gesetze aufzwingen.

Die Freiheit des Menschen besteht einzig darin, dass er den Naturgesetzen gehorcht, weil er sie selbst als solche erkannt hat und nicht, weil sie ihm von außen her von irgend einem fremden Willen, sei er göttlich oder menschlich, kollektiv oder individuell, auferlegt sind.

Man nehme eine wissenschaftliche Körperschaft, die aus den erleuchtetsten Vertretern der Wissenschaft besteht; man nehme an, sie sei mit der Gesetzgebung, mit der Organisation der Gesellschaft beauftragt, sei von der lautersten Wahrheitsliebe erfüllt und erlasse nur Gesetze, die unbedingt den neuesten Entdeckungen der Wissenschaft entsprechen. Nun, ich behaupte, dass diese Gesetzgebung und diese Organisation Ungeheuerlichkeiten sein werden, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil die menschliche Wissenschaft immer notwendigerweise unvollkommen ist und man, wenn man das schon Entdeckte mit dem noch nicht Entdeckten vergleicht, von ihr sagen kann, dass sie noch immer in der Wiege liegt. Wenn man also das praktische Leben der Gesellschaft und des einzelnen zwingen würde, sich streng und ausschließlich den letzten Ergebnissen der Wissenschaft anzupassen, würde man Gesellschaft und Individuen zu den Qualen eines Prokrustesbettes verurteilen, das sie bald auseinanderreißen und erdrücken würde, da das Leben immer unendlich weiter ist als die Wissenschaft.

Der zweite Grund ist der: Eine Gesellschaft, die den von einer wissenschaftlichen Körperschaft gegebenen Gesetzen nicht deshalb gehorchen würde, weil sie selbst den vernünftigen Charakter dieser Gesetze begriff, in welchem Fall die Existenz der Körperschaft unnötig würde, sondern weil die Gesetzgebung dieser Körperschaft im Namen einer Wissenschaft auferlegt wird, die man verehren würde, ohne sie zu begreifen, — eine solche Gesellschaft wäre nicht eine Gesellschaft von Menschen, sondern von stummen Tieren. Sie wäre eine zweite Auflage der armen Republik Paraguay, die sich so lange von der Gesellschaft Jesu33 regieren ließ. Eine solche Gesellschaft würde bald auf die tiefste Stufe des Blödsinns herabsinken.

Ein dritter Grund noch macht eine solche Regierung unmöglich. Eine mit solcher sozusagen absoluten Herrschaftsgewalt bekleidete wissenschaftliche Körperschaft würde, auch wenn sie aus den erleuchtetsten Männern bestände, unfehlbar und bald selbst moralisch und geistig verdorben werden. Dies ist schon heute bei den wenigen ihnen überlassenen Vorrechten die Geschichte aller Akademien. Das größte wissenschaftliche Genie sinkt unvermeidlich und schläft ein, sobald es Akademiker, offizieller, patentierter Gelehrter wird. Es verliert seine Selbstbestimmung, seine revolutionäre Kühnheit und die unbequeme und wilde Tatkraft, die für das Wesen der größten Genies charakteristisch sind, die stets berufen sind, hinfällige Welten zu zerstören und die Grundlagen neuer Welten zu legen. Zweifellos gewinnt es an Höflichkeit, nützlicher und praktischer Weisheit, was es an Denkkraft verliert. Es wird, mit einem Wort, verdorben.

Vorrechte, jede bevorrechtete Stellung haben die Eigentümlichkeit, Geist und Herz der Menschen zu töten. Der politisch oder wirtschaftlich Bevorzugte ist geistig und moralisch minderwertig. Dieses soziale Gesetz kennt keine Ausnahme und passt auf ganze Nationen wie auf Klassen, auf Körperschaften und auf Individuen. Es ist das Gesetz der Gleichheit, der höchsten Bedingung der Freiheit und Menschlichkeit. Der Hauptzweck dieses Buches ist, dasselbe zu entwickeln und seine Wahrheit in allen Äußerungen menschlichen Lebens zu zeigen.

Eine wissenschaftliche Körperschaft, welcher die Regierung der Gesellschaft anvertraut wäre, würde sich bald gar nicht mehr mit der Wissenschaft, sondern mit ganz anderen Dingen beschäftigen; sie würde, wie alle bestehenden Mächte, sich damit befassen, sich ewige Dauer zu verschaffen, indem sie die ihr anvertraute Gesellschaft immer dümmer und folglich ihrer Regierung und Leitung immer bedürftiger machen würde.

Was aber von wissenschaftlichen Akademien gilt, gilt in gleicher Weise von allen konstituierenden und gesetzgebenden Versammlungen, selbst den aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangenen. Letzteres mag zwar ihre Zusammensetzung erneuern, was aber nicht hindert, dass sich in wenigen Jahren eine Körperschaft von Politikern bildet, die tatsächlich, nicht rechtlich bevorrechtet sind und durch ihre ausschließliche Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten eines Landes eine Art politischer Aristokratie oder Oligarchie bilden. Ein Beispiel dafür sind die Vereinigten Staaten und die Schweiz.

Also keine Gesetzgebung von außen her und keine Autorität; beide sind voneinander unzertrennlich und führen zur Knechtung der Gesellschaft und zur Verdummung der Gesetzgeber selbst.

Folgt heraus, dass ich jede Autorität verwerfe? Dieser Gedanke liegt mir fern. Wenn es sich um Stiefel handelt, wende ich mich an die Autorität des Schusters; handelt es sich um ein Haus, einen Kanal oder eine Eisenbahn, so befrage ich die Autorität des Architekten oder des Ingenieurs. Für irgendeine Spezialwissenschaft wende ich mich an diesen oder jenen Gelehrten. Aber weder der Schuster, noch der Architekt oder der Gelehrte dürfen mir ihre Autorität aufzwingen. Ich höre sie frei und mit aller ihrer Intelligenz, ihrem Charakter, ihrem Wissen gebührenden Achtung an, behalte mir aber mein unbestreitbares Recht der Kritik und der Nachprüfung vor. Ich begnüge mich nicht, eine einzige Spezialautorität zu befragen, ich befrage mehrere, vergleiche ihre Meinungen und wähle die, die mir die richtigste zu sein scheint. Aber ich erkenne keine unfehlbare Autorität an, selbst nicht in ganz speziellen Fragen; folglich, welche Achtung ich auch immer für die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit einer Person habe, setze ich in niemanden unbedingten Glauben. Ein solcher Glaube wäre verhängnisvoll für meine Vernunft, meine Freiheit und den Erfolg meines Unternehmens, er würde mich sofort in einen dummen Sklaven und ein Werkzeug des Willens und der Interessen anderer verwandeln.

Wenn ich mich vor der Autorität von Spezialisten beuge und bereit bin, ihren Angaben und selbst ihrer Leitung in gewissem Grade und, solange es mir notwendig erscheint, zu folgen, tue ich das, weil diese Autorität mir von niemand aufgezwungen ist, nicht von den Menschen und nicht von Gott. Sonst würde ich sie mit Abscheu zurückweisen und ihre Ratschläge, ihre Leitung und ihre Wissenschaft zum Teufel jagen, in der Gewissheit, dass sie mich die Brocken menschlicher Wahrheit, die sie mir geben könnten, in viele Lügen eingehüllt, durch den Verlust meiner Freiheit und Würde bezahlen ließen.

Ich neige mich vor der Autorität von Spezialisten, weil sie mir von meiner eigenen Vernunft auferlegt wird. Ich bin mir bewusst, dass ich nur einen sehr kleinen Teil der menschlichen Wissenschaft in allen Einzelheiten und positiven Entwicklungen umfassen kann. Die größte Intelligenz genügt nicht, alles zu umfassen. Daraus folgt für die Wissenschaft wie für die Industrie die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und Vereinigung. Ich empfange und ich gebe, so ist das menschliche Leben. Jeder ist abwechselnd leitende Autorität oder Geleiteter. Es gibt also keine stetige und feststehende Autorität, sondern einen beständigen Wechsel von gegenseitiger Autorität und Unterordnung, die vorübergehend und vor allem freiwillig ist.

Diese gleiche Ursache verbietet mir also, eine feste, beständige und allgemeine Autorität anzuerkennen, weil es keinen universellen Menschen gibt, der imstande wäre, mit jenem Reichtum an Einzelheiten, ohne den die Anwendung der Wissenschaft auf das Leben nicht möglich ist, alle Wissenschaften, alle Zweige des sozialen Lebens zu umfassen. Und wenn es möglich wäre, dass eine solche Universalität je in einem einzigen Mann verwirklicht würde, und wenn er sich derselben bedienen wollte, um uns seine Autorität aufzuzwingen, so müsste man diesen Mann aus der Gesellschaft jagen, weil seine Autorität unvermeidlich alle anderen zur Sklaverei und zum Schwachsinn herabdrücken würde. Ich meine nicht, dass die Gesellschaft Männer von Genie misshandeln soll, wie sie es bis jetzt getan hat. Aber ich meine ebensowenig, dass sie sie zu fett machen, vor allem ihnen irgendwelche Vorrechte oder ausschließlichen Rechte einräumen soll, und dies aus drei Ursachen: erstens weil es ihr oft vorkommen würde, einen Marktschreier für einen Mann von Genie zu halten; dann weil sie durch dieses System von Vorrechten selbst ein wahres Genie in einen Quacksalber verwandeln, demoralisieren, dumm machen kann, und endlich, weil sie sich einen Despoten geben würde.

Ich fasse zusammen. Wir erkennen also die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, weil die Wissenschaft keinen anderen Gegenstand hat, als die sorgfältige und möglichst systematische Wiedergabe der im materiellen, geistigen und moralischen Leben der physischen und der sozialen Welt liegenden Naturgesetze; diese beiden Welten bilden tatsächlich nur ein und dieselbe natürliche Welt. Außerhalb dieser Autorität, der einzig rechtmäßigen, weil vernünftigen und der menschlichen Freiheit entsprechenden, erklären wir alle anderen Autoritäten für lügenhaft, willkürlich, despotisch und verhängnisvoll.

Wir erkennen die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, aber wir weisen die Unfehlbarkeit und Universalität der Vertreter der Wissenschaft zurück. In unserer Kirche — man erlaube mir einen Augenblick, dieses Wort zu gebrauchen, das ich im übrigen verabscheue; beide, Kirche und Staat, sind mir unausstehlich [sont mes deux betes noires] —, in unserer Kirche wie in der protestantischen Kirche haben wir ein Oberhaupt, einen unsichtbaren Christus, die Wissenschaft, und wie die Protestanten, sogar konsequenter als die Protestanten, wollen wir in derselben weder Papst, noch Konzile, noch Versammlungen unfehlbarer Kardinale, noch Bischöfe und selbst keine Priester dulden. Unser Christus unterscheidet sich vom protestantischen und christlichen Christus darin, dass letzterer ein persönliches Wesen und unserer unpersönlich ist; der christliche Christus, der schon in einer ewigen Vergangenheit zur Vollendung gelangte, stellt sich als vollkommenes Wesen dar, während die Vollendung und Vervollkommnung unseres Christus, der Wissenschaft, immer in der Zukunft liegen, was soviel heißt, als dass sie nie zur Verwirklichung gelangen wird. Wenn wir nur die unbedingte Autorität der absoluten Wissenschaft anerkennen, setzen wir also in keiner Weise unsere Freiheit aufs Spiel.

Ich verstehe unter "absoluter Wissenschaft" die wirklich universelle Wissenschaft, die das Universum, das System oder die Zuordnung aller sich in der beständigen Entwicklung der Welten äußernden Naturgesetze, in seiner ganzen Ausdehnung und all seinen unendlichen Einzelheiten ideal wiedergeben würde. Es ist klar, dass diese Wissenschaft, das erhabenste Ziel aller Anstrengungen des menschlichen Geistes, nie in absoluter Vollständigkeit verwirklicht werden wird. Unser Christus wird also ewig unvollendet bleiben, was den Stolz seiner bevorrechteten Vertreter unter uns bedeutend vermindern muss. Gegen diesen Sohn Gottes, in dessen Namen sie uns ihre unverschämte und pedantische Autorität aufzulegen die Anmaßung haben würden, werden wir uns auf Gott den Vater berufen, der die wirkliche Welt, das wirkliche Leben ist, von denen jener nur der nur allzu unvollkommene Ausdruck ist und deren unmittelbare Vertreter wir selbst sind — die lebenden Wesen, die wir leben, arbeiten, kämpfen, lieben, streben, genießen und leiden.

Aber während wir die unbedingte, universelle und unfehlbare Autorität der Männer der Wissenschaft zurückweisen, beugen wir uns gern vor der achtenswerten, aber relativen und sehr vorübergehenden, sehr beschränkten Autorität der Vertreter der Spezialwissenschaften und verlangen nichts Besseres, als sie zu befragen, wenn die Reihe an sie kommt, sehr dankbar für die wertvollen Fingerzeige, die sie uns geben, unter der Bedingung, dass sie selbst bereit sind, von uns gleiche Angaben anzunehmen über Dinge und in Fällen, in denen wir gelehrter sind als sie. Im allgemeinen ist es uns ganz erwünscht zu sehen, dass Männer von großem Wissen, großer Erfahrung, großem Geist und vor allem großen Herzens auf uns einen natürlichen, rechtmäßigen, frei angenommenen Einfluss ausüben, der nie im Namen irgendeiner offiziellen, himmlischen oder irdischen Autorität auferlegt wird. Wir nehmen alle natürlichen Autoritäten und Einflüsse an, die im Wesen der Sache, nicht aber im Recht liegen; denn jede im Recht liegende und daher offiziell auferlegte Autorität und jeder Einfluss dieser Art wird sofort Unterdrückung und Lüge und würde uns unfehlbar, wie ich hinreichend bewiesen zu haben glaube, Sklaverei und Unsinn aufzwingen.

Mit einem Wort, wir weisen alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Autorität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, in der Überzeugung, dass sie immer nur zum Nutzen einer herrschenden und ausbeutenden Minderheit gegen die Interessen der ungeheuren geknechteten Mehrheit sich wenden können.

In diesem Sinne sind wir wirklich Anarchisten.

Die modernen Idealisten verstehen die Autorität in ganz anderem Sinn. Obgleich sie sich von dem überlieferten Aberglauben aller bestehenden positiven Religionen befreit haben, geben sie nichtsdestoweniger der Idee der Autorität einen göttlichen, absoluten Sinn. Diese Autorität ist nicht die einer wunderbar geoffenbarten Wahrheit, noch die einer streng wissenschaftlich bewiesenen Wahrheit. Sie begründen sie auf ein wenig scheinphilosophischer Beweisführung und auf viel unbestimmt religiösem Glauben, auf viel ideal, abstrakt poetischem Gefühl. Ihre Religion ist wie ein letzter Versuch der Vergöttlichung von allem, was die Menschlichkeit in den Menschen bildet.

Dies ist das gerade Gegenteil unseres Werkes. Wir glauben, in Hinsicht auf Menschenfreiheit, Menschenwürde und Menschenwohl dem Himmel die von ihm der Erde geraubten Güter nehmen zu müssen, um sie der Erde zurückzugeben; jene aber bemühen sich, einen letzten religiös heroischen Diebstahl zu begehen, und möchten im Gegenteil dem Himmel, diesem heute entlarvten göttlichen Dieb, den die kühne Pietätlosigkeit und wissenschaftliche Analyse der Freidenker ihrerseits plündert, alles zurückgeben, was die Menschheit an Größtem, Schönstem und Edelstem besitzt.

Zweifellos glauben die Idealisten, dass menschliche Ideen und Dinge, um bei den Menschen größere Achtung zu genießen, mit göttlicher Weihe umgeben sein müssen. Wie äußert sich diese Weihe? Nicht durch ein Wunder, wie bei den positiven Religionen, sondern durch die Größe und Heiligkeit der Ideen und Dinge selbst: Was groß, schön, edel, gerecht ist, das gilt als göttlich. In diesem neuen religiösen Kult wird jeder sich an diesen Ideen, diesen Dingen Erleuchtende ein unmittelbar von Gott selbst geweihter Priester. Und der Beweis dafür? Die Größe der Ideen, die er ausdrückt, der Dinge, die er vollbringt, ist der Beweis; ein anderer ist nicht nötig. Sie sind so heilig, dass sie nur von Gott eingegeben sein können.

Dies ist in wenigen Worten ihre ganze Philosophie, eine Philosophie von Gefühlen, nicht von wirklichen Gedanken, eine Art metaphysischer Pietismus24. Dies scheint unschuldig, ist es aber durchaus nicht, und die sehr genaue, enge und trockene Lehre, die sich unter dem unfassbar Weiten dieser poetischen Formen versteckt, führt zu denselben verderblichen Ergebnissen wie alle positiven Religionen: zur vollständigsten Verneinung der Menschenfreiheit und Menschenwürde.

Wenn man alles, was man Großes, Edles, Schönes in der Menschheit findet, als göttlich preist, erkennt man damit an, dass die Menschheit allein nicht imstande gewesen wäre, es hervorzubringen; dies kommt auf dasselbe hinaus, wie wenn man sagte, dass sie, sich selbst überlassen, ihrer eigenen Natur nach elend, ungerecht, niedrig und hässlich ist. Dadurch kommen wir zum Kern jeder Religion, der Herabsetzung der Menschheit zum größeren Ruhm der Gottheit. Und sobald man die natürliche Minderwertigkeit des Menschen und seine fundamentale Unfähigkeit, sich aus sich selbst heraus, außerhalb aller göttlichen Erleuchtung, zu gerechten und wahren Ideen zu erheben, zugibt, wird es nötig, auch alle theologischen, politischen und sozialen Folgerungen der positiven Religionen zuzugeben. Sobald Gott, das vollkommene und höchste Wesen, sich der Menschheit gegenüberstellt, entstehen von überall göttliche Vermittler, Auserwählte, von Gott Erleuchtete, um das Menschengeschlecht in seinem Namen zu leiten und zu regieren.

Kann man nicht annehmen, dass alle Menschen in gleicher Weise von Gott erleuchtet sind? Dann brauchte man allerdings keine Vermittler. Aber diese Annahme ist unmöglich, weil ihr die Tatsachen zu sehr widersprechen. Man müsste dann der göttlichen Erleuchtung alle Sinnlosigkeiten und Irrtümer, alle Greuel, Schändlichkeiten, Erbärmlichkeiten und Dummheiten, die in der Welt der Menschen vorkommen, zuschreiben. Es gibt also auf der Welt nur wenige göttlich erleuchtete Menschen. Dies sind die großen Männer der Geschichte, die tugendhaften Genies, wie der ausgezeichnete italienische Bürger und Prophet Giuseppe Mazzini18 sagt. Unmittelbar von Gott selbst erleuchtet und auf allgemeine, durch das Volksstimmrecht ausgedrückte Zustimmung gestützt — Dio e Popolo34 —, sind sie berufen, die menschlichen Gesellschaften zu regieren.35

Damit sind wir wieder bei der Kirche und dem Staat angelangt. Zwar würde die Kirche in dieser neuen Organisation nicht mehr Kirche, sondern Schule heißen, die, wie alle alten politischen Organisationen, von Gottes Gnaden sein würde, sich aber diesmal, wenigstens der Form nach, als notwendiges Zugeständnis an den modernen Geist und wie in den Einleitungen der kaiserlichen Dekrete Napoleons III.6 gesagt wird, auf den (fiktiven) Willen des Volkes stützen würde. Aber auf den Bänken dieser Schule würden nicht nur die Kinder sitzen: Dort säße der ewig Unmündige, der Schüler, der für immer als unfähig gilt, seine Prüfungen zu machen, die Kenntnisse seiner Lehrer zu erwerben und ihrer Zucht zu entwachsen, das Volk.36 Der Staat wird nicht mehr Monarchie heißen, sondern Republik, wird aber nichtsdestoweniger der Staat sein, das heißt eine offiziell und regelrecht von einer Minderheit zuständiger Männer, von tugendhaften Männern von Genie oder Talent, errichtete Vormundschaft zur Überwachung und Leitung des Betragens dieses großen, unverbesserlichen Schreckenskindes, des Volkes. Die Schullehrer und Staatsbeamten werden sich Republikaner nennen, aber nichtsdestoweniger Vormünder, Hirten sein, und das Volk wird das bleiben, was es bis jetzt gewesen ist, eine Herde. Achtung also vor den Scherern, denn wo es eine Herde gibt, gibt es auch Scherer und Ausbeuter der Herde.


Abb.: "denn wo es eine Herde gibt, gibt es auch Scherer und Ausbeuter der Herde": Schafscherer [Bildquelle: http://hvu.vu-wien.ac.at/pics-schafscherkurs.htm. -- Zugriff am 2005-01-06]

In diesem System wird das Volk ewig Schüler und Mündel sein. Trotz seiner Herrschaftsgewalt, die ganz fiktiv ist, wird es das Werkzeug von Gedanken, Willen und folglich auch von Interessen sein, die nicht seine eigenen sein werden. Zwischen dieser Lage und der, die wir Freiheit, die einzige wahre Freiheit nennen, liegt ein Abgrund. Es würde unter neuen Formen die alte Unterdrückung und Knechtschaft sein, und wo Knechtschaft ist, ist Elend, Vertierung, die eigentliche Materialisierung der Gesellschaft, sowohl der bevorzugten Klassen wie der Massen.

Durch Vergöttlichung menschlicher Dinge kommen die Idealisten stets zum Triumph eines niedrigen Materialismus. Und das aus einem sehr einfachen Grunde: Das Göttliche verflüchtigt sich und erhebt sich zu seiner Heimat, dem Himmel, und das Niedrige bleibt allein wirklich auf der Erde.

Jawohl, der theoretische Idealismus hat den niedrigsten Materialismus in der Praxis zur notwendigen Folge, nicht für die, die ihn guten Glaubens predigen — für diese ist die Unfruchtbarkeit all ihrer Bemühungen das gewöhnliche Ergebnis —, aber für die, die ihre Lehren im Leben für die ganze Gesellschaft zu verwirklichen sich bemühen, solange sich diese von den idealistischen Lehren beherrschen lässt.

Es fehlt nicht an geschichtlichen Beweisen für diese allgemeine Tatsache, die zuerst sonderbar erscheinen mag, die sich aber natürlich erklärt, sobald man sie näher betrachtet.

Man vergleiche die beiden letzten Kulturen der antiken Welt, die griechische und die römische. Welche von beiden ist die materialistischere, in ihrem Ausgangspunkt natürlichere und menschlich idealere? Die griechische Kultur. Welche dagegen ist die an ihrem Ausgangspunkt abstrakt idealere, die die materielle Freiheit des Menschen der idealen Freiheit des Bürgers opfert, vertreten durch die Abstraktion des juristischen Rechts und die natürliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zur Abstraktion des Staates, und welche ist die in ihren Konsequenzen brutalere? Ohne Zweifel die römische. Die griechische Kultur war zwar, wie alle antiken Kulturen, die römische inbegriffen, ausschließlich national und hatte die Sklaverei zur Grundlage. Aber trotz dieser beiden ungeheuren historischen Fehler fasste und verwirklichte sie nichtsdestoweniger als erste die Idee der Menschheit; sie veredelte und idealisierte wirklich das Leben der Menschen; sie verwandelte die Menschenherden in Vereinigungen freier Menschen; sie schuf die Wissenschaften, Künste, eine unsterbliche Dichtkunst und Philosophie und die ersten Begriffe der Menschenachtung durch die Freiheit. Mit der politischen und sozialen Freiheit schuf sie das freie Denken. Und am Ende des Mittelalters, zur Zeit der Renaissance, genügte es, dass einige griechische Emigranten einige ihrer unsterblichen Bücher nach Italien brachten, um das Leben, die Freiheit, das Denken, die Menschheit, die in dem finsteren Kerker des Katholizismus vergraben waren, zur Wiedererstehung zu bringen. Die menschliche Befreiung, das ist der Name der griechischen Kultur. Und der Name der römischen Kultur? Eroberung mit all ihren brutalen Folgen. Und ihr letztes Wort? Die Allmacht der Cäsaren. Das ist die Herabwürdigung und Sklaverei der Nationen und Menschen.

Und was tötet und erdrückt noch heutzutage brutal, materiell in allen Ländern Europas die Freiheit und Menschlichkeit? Der Triumph des cäsarischen oder römischen Prinzips.

Vergleichen wir jetzt zwei moderne Kulturen: die italienische und die deutsche. Die erstere vertritt zweifellos in ihrem allgemeinen Charakter den Materialismus, die letztere im Gegenteil das Abstrakteste, Reinste, Übersinnlichste, was es an Idealismus gibt. Was sind die praktischen Früchte beider?

Italien leistete der Sache der menschlichen Befreiung schon ungeheure Dienste. Es war das erste Land, welches wieder aufstand und in weitem Sinn das Prinzip der Freiheit in Europa durchführte und der Menschheit ihre Adelstitel wiedergab: Industrie, Handel, Dichtkunst, Künste, positive Wissenschaften und freies Denken. Seitdem wurde es durch drei Jahrhunderte vom kaiserlichen und päpstlichen Despotismus erdrückt und von seiner herrschenden Bourgeoisie in den Kot gezogen, so dass es heute allerdings sehr verfallen erscheint im Vergleich zu dem, was es war. Und doch, welcher Unterschied, wenn man es mit Deutschland vergleicht! Trotz diesem, wie wir hoffen, vorübergehenden Verfall kann man in Italien menschlich und frei leben und atmen, von einem Volk umgeben, das für die Freiheit geboren zu sein scheint. Selbst das bourgeoise Italien kann mit Stolz auf Männer wie Mazzini18 und Garibaldi37 weisen. In Deutschland atmet man die Luft ungeheurer politischer und sozialer Knechtschaft, die ein großes Volk mit wohlbedachter Ergebung und gutem Willen philosophisch erklärt und annimmt. Seine Helden — ich spreche von denen des gegenwärtigen, nicht des künftigen Deutschland, des adligen, bürokratischen, politischen und bourgeoisen, nicht des proletarischen Deutschland — sind ganz das Gegenteil von Mazzini18 und Garibaldi37: Es sind heute Wilhelm I.7, der rohe und naive Vertreter des protestantischen Gottes, und die Herren von Bismarck und Moltke, die Generale Manteuffel und Werder. In all seinen internationalen Beziehungen war Deutschland, seit es besteht, langsam, systematisch eindringend, erobernd, immer bereit, seine eigene freiwillige Knechtschaft auf die benachbarten Völker auszudehnen; seit es sich als einheitliche Macht bildete, wurde es eine Drohung, eine Gefahr für die Freiheit von ganz Europa. Der Name Deutschland bedeutet heute brutalen und triumphierenden Sklavensinn.


Abb.: "Wie sich der theoretische Idealismus sofort und unvermeidlich in praktischen Materialismus verwandelt": Buchtitel

Um zu zeigen, wie sich der theoretische Idealismus sofort und unvermeidlich in praktischen Materialismus verwandelt, braucht man nur das Beispiel aller christlichen Kirchen und natürlich, vor allem, das der römisch-apostolischen Kirche anzuführen. Was gibt es Erhabeneres, im idealen Sinn Uneigennützigeres, von allen irdischen Interessen Losgelösteres als die von dieser Kirche gepredigte Lehre Christi — und was gibt es brutal Materialistischeres als die beständige Praxis derselben Kirche seit dem 8. Jahrhundert, seitdem sie sich als Macht zu bilden begann? Was war und ist wohl der Hauptgegenstand all ihrer Streitigkeiten mit den Herrschern Europas? Die weltlichen Güter, die Einkünfte der Kirche zunächst und dann die weltliche Macht, die politischen Vorrechte der Kirche. Man muss ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass sie zuerst in der modernen Geschichte die unbestreitbare, aber sehr wenig christliche Wahrheit entdeckte, dass Reichtum und Macht, wirtschaftliche Ausbeutung und politische Unterdrückung der Massen der untrennbare Ausdruck des Reichs der göttlichen Idealität auf der Erde sind: Der Reichtum befestigt und vermehrt die Macht, die Macht entdeckt und schafft immer neue Reichtumsquellen, und beide sichern besser als Martyrium und Glaube der Apostel, besser als die göttliche Gnade den Erfolg der christlichen Lehre. Diese geschichtliche Wahrheit verkennen auch die protestantischen Kirchen nicht. Ich spreche natürlich von den unabhängigen Kirchen von England, Amerika und der Schweiz, nicht von den unterjochten Kirchen Deutschlands. Letztere haben keine eigene Initiative; sie tun, was ihre Herren, ihre weltlichen Herrscher, die gleichzeitig ihre geistlichen Oberhäupter sind, ihnen zu tun befehlen. Es ist bekannt, dass die protestantische Propaganda, die Englands und Amerikas besonders, sich sehr eng an die Propaganda der materiellen, der Handelsinteressen dieser beiden großen Nationen anschließt; es ist auch bekannt, dass letztere Propaganda durchaus nicht die Bereicherung und den materiellen Wohlstand der Länder, in die sie in Gesellschaft von Gottes Wort eindringt, zum Gegenstand hat, sondern die Ausbeutung dieser Länder zur wachsenden Bereicherung und wirtschaftlichem Wohlstand gewisser ausbeutender und gleichzeitig sehr frommer Klassen des eigenen Landes.

Mit einem Wort, es ist durchaus nicht schwer, anhand der Geschichte zu beweisen, dass die Kirche, dass alle christlichen und nichtchristlichen Kirchen neben ihrer überirdischen Lehre, wahrscheinlich zur Beschleunigung und Erhöhung des Erfolgs derselben, niemals unterließen, sich zu großen Gesellschaften zu organisieren zur wirtschaftlichen Ausbeutung der Massen, der Arbeit der Massen, unter dem Schutz und mit dem unmittelbaren und besonderen Segen irgendeiner Gottheit; dass alle Staaten, die bekanntlich an ihrem Ursprung mit all ihren politischen und juristischen Einrichtungen und herrschenden und bevorzugten Klassen nichts anderes waren als weltliche Nebenstellen dieser verschiedenen Kirchen, gleicherweise als Hauptgegenstand dieselbe mittelbar von der Kirche gerechtfertigte Ausbeutung zum Nutzen weltlicher Minderheiten haben; und dass im allgemeinen die Tätigkeit des Herrgotts und aller göttlichen Idealitäten auf der Erde immer und überall schließlich zur Begründung des einer kleinen Zahl wohlbekommenden Materialismus auf dem fanatischen und beständig dem Hunger ausgesetzten Idealismus der Massen führte. Was wir heute sehen, ist ein neuer Beweis dafür. Wer sind heute, abgesehen von den oben erwähnten, in die Irre gehenden großen Herzen und Geistern, die erbittertsten Verteidiger des Idealismus? Zunächst alle fürstlichen Höfe. In Frankreich waren es Napoleon III.6 und seine Frau, Madame Eugenie; ihre Exminister, Höflinge und Exmarschälle, von Rouher und Bazaine bis Fleury und Pietri, die Männer und Frauen dieser kaiserlichen Welt, die Frankreich so gut idealisiert und gerettet haben; ihre Journalisten und Gelehrten, die Cassagnac, Girardin, Duvernois, Veuillot, Le Verrier, Dumas, dann die schwarze Phalanx der Jesuiten und Jesuitinnen jeder Kleidung; der ganze Adel und die ganze obere und mittlere Bourgeoisie Frankreichs; liberale Doktrinäre und Liberale ohne Doktrin: die Guizot, Thiers, Jules Favre, Pelletan und Jules Simon, alles verbissene Verteidiger der bourgeoisen Ausbeutung. In Preußen, in Deutschland ist es Wilhelm I.7, der wahre gegenwärtige Vertreter des Herrgotts auf Erden, all seine Generäle, alle seine pommerischen und anderen Offiziere, seine ganze Armee, die, auf ihren religiösen Glauben gestützt, soeben Frankreich auf die bekannte ideale Art erobert hat. In Russland ist es der Zar und sein ganzer Hof, sind es die Murawjow38 und Berg, alle Würger und frommen Bekehrer Polens. Mit einem Wort, überall dient heute der religiöse oder philosophische Idealismus — letzterer ist nur die mehr oder weniger freie Übertragung des ersteren — der materiellen, blutigen und brutalen Gewalt, der schamlosen materiellen Ausbeutung als Fahne; die Fahne des theoretischen Materialismus, die rote Fahne der wirtschaftlichen Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit wird dagegen erhoben von dem praktischen Idealismus der unterdrückten und hungernden Massen, der die größte Freiheit und das menschliche Recht jedes einzelnen in der Brüderlichkeit aller Menschen der Erde zu verwirklichen sucht.

Wer sind die wahren Idealisten, die Idealisten nicht der Abstraktion, sondern des Lebens, nicht des Himmels, sondern der Erde, und wer sind die Materialisten?
Es ist augenscheinlich, dass die Hauptbedingung des theoretischen oder göttlichen Idealismus die Opferung der Logik, der menschlichen Vernunft, der Verzicht auf die Wissenschaft ist. Man sieht andererseits, dass man durch die Verteidigung der idealistischen Lehren unbedingt zur Partei der Unterdrücker und Ausbeuter der Volksmassen hingezogen wird. Diese beiden großen Ursachen sollten, scheint es, genügen, jeden großen Geist, jedes große Herz vom Idealismus zu entfernen. Wie kommt es, dass unsere ausgezeichneten zeitgenössischen Idealisten, denen gewiss weder Geist, noch Herz, noch guter Wille fehlen und die ihr ganzes Dasein dem Dienst der Menschheit geweiht haben, — wie kommt es, dass diese darauf bestehen, in den Reihen der Vertreter einer hinfort verurteilten und entehrten Lehre zu verharren?

Ein sehr triftiger Grund muss sie hierzu treiben. Dies kann weder die Logik noch die Wissenschaft sein, da diese beide ihre Entscheidung gegen die idealistische Lehre abgegeben haben. Ebensowenig können es persönliche Interessen sein, da diese Männer über alles derartige unendlich erhaben sind. Es muss also ein mächtiger moralischer Beweggrund sein. Welcher? Es gibt nur einen einzigen: Diese ausgezeichneten Männer denken ohne Zweifel, dass die idealistischen Theorien oder der idealistische Glaube zur Würde und moralischen Größe des Menschen wesentlich notwendig sind und dass die materialistischen Lehren ihn im Gegensatz dazu auf die Stufe der Tiere herunterbringen würden.

Und wenn gerade das Gegenteil hiervon wahr wäre?

Jede Entwicklung, sagte ich, schließt die Verneinung des Ausgangspunktes ein. Da nach der materialistischen Schule der Ausgangspunkt materiell sein muss, muss seine Verneinung notwendigerweise ideal sein. Von der Gesamtheit der wirklichen Welt oder von dem, das man abstrakt die Materie nennt, ausgehend, gelangt sie logisch zur wirklichen Idealisierung, das heißt zur Humanisierung, zur vollen und ganzen Befreiung der Gesellschaft. Da im Gegensatz dazu und aus dem gleichen Grunde der Ausgangspunkt der idealen Schule ideal ist, gelangt sie notwendigerweise zur Materialisierung der Gesellschaft, zur Organisation eines brutalen Despotismus und einer harten und schändlichen Ausbeutung unter der Form der Kirche und des Staates. Die geschichtliche Entwicklung des Menschen ist nach der materialistischen Schule ein fortschreitender Aufstieg; nach dem idealistischen System kann sie nur ein beständiges Fallen sein.

Bei jeder menschlichen Frage, die man in Betracht zieht, findet man stets denselben wesentlichen Gegensatz zwischen den beiden Schulen. So geht, wie ich schon bemerkte, der Materialismus von der tierischen Stufe aus, um die Menschheit zu bilden; der Idealismus geht von der Gottheit aus, um die Sklaverei zu errichten und die Massen zu aussichtsloser Vertierung zu verurteilen. Der Materialismus leugnet den freien Willen und führt zur Einführung der Freiheit; der Idealismus verkündet den freien Willen im Namen der Menschenwürde und gründet die Autorität auf den Ruinen aller Freiheit. Der Materialismus weist das Autoritätsprinzip zurück, weil er es mit gutem Grund als Zugabe zur tierischen Natur betrachtet und weil nach ihm der Sieg der Menschlichkeit, der in seinen Augen Hauptziel und -bedeutung der Geschichte ist, nur durch die Freiheit verwirklicht werden kann. Mit einem Wort, bei jeder Frage wird man die Idealisten stets bei unbedingtem praktischen Materialismus treffen, während man die Materialisten die höchsten idealen Ziele und Gedanken verfolgen und verwirklichen sieht.

Die Geschichte, sagte ich, kann im System der Idealisten nur ein beständiges Fallen sein. Sie beginnen mit einem schrecklichen Fall, von dem sie sich nie wieder erholen: mit dem göttlichen Salto mortale aus den erhabenen Regionen der reinen, absoluten Idee zur Materie: nicht zu der stets tätigen und bewegten Materie voll Eigenschaften und Kräften, Leben und Intelligenz, wie sie uns in der wirklichen Welt erscheint, sondern zur abstrakten, verarmten Materie, die ins absolute Elend gebracht wird durch die regelrechte Plünderung jener Preußen des Denkens, der Theologen und Metaphysiker, die ihr alles raubten, um es ihrem Kaiser, ihrem Gott zu geben; zu jener Materie, die, aller Eigenschaften, aller eigenen Tätigkeit und Bewegung beraubt, nur mehr — im Gegensatz zur Gottesidee — absolute Dummheit, Undurchdringlichkeit, Untätigkeit und Unbeweglichkeit darstellt.

Der Fall ist so schrecklich, dass die Gottheit, die göttliche Person oder Idee, sich breitschlägt, ihr Eigenbewusstsein verliert und sich nie wiederfindet. Und in dieser verzweifelten Lage ist sie noch gezwungen, Wunder zu üben! Denn sobald die Materie untätig ist, ist jede Bewegung, selbst die materiellste, ein Wunder und kann nur die Wirkung einer göttlichen Dazwischenkunft, von Gottes Einwirkung auf die Materie, sein. Und so bleibt denn diese arme Gottheit, durch ihren Fall heruntergekommen und fast vernichtet, einige hundert Jahrtausende in diesem Ohnmachtszustand, dann erwacht sie langsam, sucht stets vergeblich eine unbestimmte Erinnerung von sich selbst zu gewinnen, und jede Bewegung, die sie im Hinblick auf dieses Ziel in der Materie macht, wird eine neue Schöpfung, eine neue Bildung, ein neues Wunder. Auf diese Weise durchschreitet sie alle Grade der Materialität und Bestialität; zuerst ein Gas, ein einfacher und zusammengesetzter chemischer Körper, ein Mineral, verbreitet sie sich dann auf der Erde als pflanzlicher und tierischer Organismus und konzentriert sich dann im Menschen. Hier scheint sie bestimmt, sich wiederzufinden, denn sie zündet in jedem menschlichen Wesen einen Engelsfunken an, ein Teilchen ihres eigenen göttlichen Wesens, die unsterbliche Seele.

Wie konnte sie eine absolut unkörperliche Sache in etwas absolut Materiellem unterbringen? Wie kann der Körper den reinen Geist enthalten, einschließen, begrenzen, binden? Dies ist wieder eine jener Fragen, die allein der Glaube, diese leidenschaftliche und dumme Behauptung des Unsinnigen, lösen kann. Es ist das größte aller Wunder. Hier haben wir nur die Wirkungen und praktischen Folgen dieses Wunders festzustellen.

Nach Hunderten von Jahrtausenden vergeblicher Bemühungen, zu sich zu kommen, findet die verlorene, in der von ihr belebten und in Bewegung gesetzten Materie verbreitete Gottheit einen Stützpunkt, eine Art Heim, um sich zu sammeln. Dies ist der Mensch, dies ist seine unsterbliche Seele, die eigentümlicherweise in einen sterblichen Körper gesperrt ist. Aber jeder Mensch, für sich genommen, ist viel zu beschränkt, zu klein, um die göttliche Unendlichkeit zu umschließen; er kann nur einen sehr kleinen Teil derselben enthalten, der, unsterblich wie das Ganze, aber unendlich viel kleiner als das Ganze ist. Daraus ergibt sich, dass das göttliche Wesen, das absolut unkörperliche Wesen, der Geist, teilbar ist wie die Materie. Dies ist ein weiteres Geheimnis, dessen Lösung dem Glauben überlassen werden muss.

Wenn sich Gott ganz in jedem Menschen unterbringen könnte, dann wäre jeder Mensch Gott. Wir hätten eine ungeheure Anzahl von Göttern, von denen jeder von allen anderen beschränkt und doch unendlich wäre, ein Widerspruch, der die gegenseitige Vernichtung der Menschen bedeuten würde und die Unmöglichkeit, dass mehr als ein Mensch da wäre. Was die Teile betrifft, ist dies eine andere Sache: Nichts ist tatsächlich der Vernunft entsprechender, als dass ein Teil von einem anderen Teil begrenzt und kleiner als das Ganze sei. Nur zeigt sich hier mehr oder weniger ein anderer Widerspruch. Begrenzt zu sein ist eine Eigenschaft der Materie, nicht des Geistes; des Geistes hier im Sinn der Materialisten, da der Geist für die Materialisten nur die Äußerung des ganz materiellen Organismus des Menschen ist; in diesem Fall hängt Größe oder Kleinheit des Geistes ganz von der mehr oder weniger großen materiellen Vollendung des menschlichen Organismus ab. Aber diese Eigenschaften der Begrenzung und relativen Größe können dem Geist, wie ihn die Idealisten verstehen, nicht angehören, dem absolut unkörperlichen, außerhalb jeder Materie existierenden Geist. Da kann es nichts Größeres und Kleineres, keine Grenze zwischen den Geistern geben, denn es gibt nur einen Geist: Gott. Nimmt man noch dazu, dass die unendlich kleinen und beschränkten Teilchen, die die menschlichen Seelen bilden, gleichzeitig unsterblich sind, so erreicht man den Gipfel der Widersprüche. Aber das ist eine Frage des Glaubens; gehen wir weiter.

So also ist die Gottheit zerrissen und in unendlich kleinen Teilen in einer ungeheuren Anzahl von Wesen jeden Geschlechts, jeden Alters, aller Rassen und Farben untergebracht. Dies ist eine für sie außerordentlich unbequeme und unglückliche Lage; denn die göttlichen Teilchen kennen sich zu Beginn ihrer menschlichen Existenz so wenig untereinander, dass sie beginnen, sich gegenseitig aufzufressen. Jedoch bewahren die göttlichen Teilchen, die Menschenseelen, in diesem Zustand ganz und gar tierischer Barbarei und Brutalität eine gewisse unbestimmte Erinnerung an ihre ursprüngliche Göttlichkeit: Sie werden unaufhaltsam nach ihrem Ganzen zu angezogen; sie suchen sich und suchen das Ganze. Die Gottheit selbst, in der materiellen Welt verbreitet und verloren, sucht sich in den Menschen, und sie ist derart durch diese Menge menschlicher Gefängnisse, in denen sie zerstreut ist, verwirrt, dass sie bei diesem Suchen eine Menge Dummheiten macht.


Abb.: Fetischismus: Anbetung einer Brotoblate als menschgewordener Gott

Mit dem Fetischismus39 beginnend, sucht sie sich selbst und betet sich an bald in einem Stein, bald in einem Stück Holz oder einem Stück Tuch. Wahrscheinlich sogar hätte sie sich nie aus dem Tuchfetzen erhoben, wenn die andere Gottheit, die nicht in die Materie fiel und im Zustand reinen Geistes in den erhabenen Höhen des absoluten Ideals oder in den himmlischen Regionen blieb, nicht mir ihr Mitleid gehabt hätte.

Hier liegt ein neues Geheimnis, das der in zwei Hälften gespaltenen Gottheit, welche Hälften aber jede ein Ganzes und jede unendlich sind und von denen die eine — Gott der Vater — sich in den reinen, immateriellen Regionen erhält, während die andere — Gott der Sohn — sich in die Materie fallen ließ. Wir werden gleich sehen, wie zwischen diesen beiden voneinander getrennten Gottheiten beständige Beziehungen von oben nach unten und von unten nach oben entstehen und wie diese Beziehungen, als ein einziger ewiger und beständiger Akt gedacht, den heiligen Geist bilden. Dies ist, in seinem wahren theologischen und metaphysischen Sinn, das große, das schreckliche Geheimnis der christlichen Dreieinigkeit.

Aber verlassen wir so schnell als möglich diese Höhen und sehen wir, was auf der Erde vorgeht.

Gott der Vater sah von der Höhe seines ewigen Glanzes, dass der arme Sohn Gottes, von seinem Fall flachgequetscht und verwirrt, sich derart in die Materie tauchte und in ihr verlor, dass er, selbst nachdem er den menschlichen Zustand erreicht, sich nicht wiederfand, und er entschloss sich endlich, ihm zu helfen. Aus der ungeheuren Zahl gleichzeitig unsterblicher, göttlicher und unendlich kleiner Teilchen, in die Gott der Sohn sich zerstreute, so dass er sich in ihnen nicht mehr zurechtfand, wählte Gott der Vater die ihm am meisten gefallenden aus und machte daraus seine Erleuchteten, seine Propheten, seine "tugendhaften Genies", die großen Wohltäter und Gesetzgeber der Menschheit: Zarathustra, Buddha, Moses, Konfuzius, Lykurg, Solon, Sokrates, den göttlichen Plato und vor allem Jesus Christus, die vollständige Verwirklichung des endlich in eine einzige menschliche Person gesammelten und konzentrierten Gottessohnes; alle Apostel, Petrus, Paulus und vor allem Johannes; Konstantin den Großen, Mohammed, dann Karl den Großen, Gregor VII., Dante, nach einigen auch Luther, Voltaire und Rousseau, Robespierre und Danton und viele andere große und heilige geschichtliche Persönlichkeiten, deren Namen ich nicht alle anführen kann, aber unter denen ich als Russe den heiligen Nikolaus nicht zu vergessen bitte.

So sind wir also bei dem Erscheinen Gottes auf der Erde angelangt. Aber sobald Gott erscheint, wird der Mensch zu nichts. Man wird einwenden, dass er durchaus nicht zu nichts wird, da er selbst ein Teil Gottes ist. Verzeihung! Ich gebe zu, dass ein Teilchen, ein Teil eines bestimmten, beschränkten Ganzen, wie klein es auch sei, eine Quantität, eine positive Größe ist. Aber ein Teilchen, ein Teil des unendlich Großen ist, mit demselben verglichen, notwendigerweise unendlich klein. Das Produkt von Milliarden, mit Milliarden von Milliarden multipliziert, wird dem unendlich Großen gegenüber unendlich klein sein, und das unendlich Kleine ist gleich null. Gott ist alles, also sind der Mensch und die ganze wirkliche Welt, das Universum, mit ihm nichts. Da gibt es keinen Ausweg.

Gott erscheint, der Mensch wird zu nichts, und je größer die Gottheit wird, desto elender wird die Menschheit. Das ist die Geschichte aller Religionen, die Wirkung aller Erleuchtungen und göttlichen Gesetzgebungen. In der Geschichte ist der Name Gottes die schreckliche historische Keule, mit der alle göttlich erleuchteten Männer, die großen "tugendhaften Genies", die Freiheit, Würde, Vernunft und das Wohl der Menschen niederschlagen.

Zuerst sahen wir den Fall Gottes. Jetzt sehen wir einen Fall, der uns mehr interessiert, den des Menschen, durch das einfache Erscheinen oder die Offenbarung Gottes auf Erden.

In welch tiefem Irrtum befinden sich unsere lieben und ausgezeichneten Idealisten! Wenn sie zu uns von Gott sprechen, glauben sie, uns zu erheben, zu befreien, zu veredeln, und wollen dies, und statt dessen würdigen sie uns herab und erdrücken uns. Sie bilden sich ein, mit dem Namen Gottes unter den Menschen Brüderlichkeit einführen zu können, und schaffen im Gegenteil Stolz und Verachtung; sie sähen Zwietracht, Hass und Krieg und errichten Knechtschaft. Denn mit Gott kommen notwendigerweise die verschiedenen Grade göttlicher Erleuchtung; die Menschheit zerfällt in sehr Erleuchtete, in minder Erleuchtete und in gar nicht Erleuchtete. Zwar sind alle gleich nichtig vor Gott, aber untereinander verglichen sind die einen größer als die anderen, nicht nur in Wirklichkeit, was nichts bedeuten würde, da eine tatsächliche Ungleichheit von selbst in der Menge verloren geht, wenn sie nichts, keine Fiktion oder gesetzliche Einrichtung findet, an die sie sich anklammern kann; nein, die einen sind größer als die anderen durch das göttliche Recht der Erleuchtung, wodurch sofort eine feste, beständige, erstarrende Ungleichheit entsteht. Die mehr Erleuchteten müssen von den weniger Erleuchteten gehört und ihnen muss gehorcht werden, ebenso den weniger Erleuchteten von den gar nicht Erleuchteten. So ist das Prinzip der Autorität fest aufgestellt, und mit ihm die beiden grundlegenden Einrichtungen der Knechtschaft: die Kirche und der Staat.


Abb.: "Die Menschheit zerfällt in sehr Erleuchtete, in minder Erleuchtete und in gar nicht Erleuchtete": Buchtitel

Von allen Despotismen ist der der Doktrinäre oder religiösen Erleuchteten der ärgste. Sie sind so eifersüchtig auf den Ruhm ihres Gottes und den Triumph ihrer Idee, dass ihnen kein Herz bleibt für die Freiheit, die Würde, nicht einmal für die Leiden der lebenden wirklichen Menschen. Der göttliche Eifer, die ausschließliche Sorge um die Idee trocknen in den zartesten Seelen, den mitfühlendsten Herzen die Quellen der Menschenliebe aus. Sie sehen alles, was ist, was in der Welt geschieht, vom Standpunkt der Ewigkeit oder der abstrakten Idee an; sie behandeln vergängliche Dinge mit Verachtung; aber das ganze Leben wirklicher Menschen, der Menschen von Fleisch und Blut, besteht nur aus vergänglichen Dingen; sie selbst sind vorübergehende Wesen, die nach ihrem Vergehen von anderen, ebenso vergänglichen ersetzt werden, die aber nie selbst wiederkommen. Von Bleibendem oder relativ Ewigem gibt es bei den Menschen die Tatsache der Menschheit selbst, die in beständiger Entwicklung, immer reicher, von einer Generation zur anderen übergeht. Ich sage relativ ewig, weil nach der Zerstörung unseres Planeten — und diese Zerstörung muss früher oder später eintreten, da alles, was einen Anfang hat, notwendigerweise auch ein Ende haben muss —, weil nach Zerstörung unseres Planeten, der ohne Zweifel irgend einer neuen Bildung im Weltsystem, das allein wirklich ewig ist, als Element dienen wird, niemand weiß, was aus unserer ganzen menschlichen Entwicklung wird. Da aber der Zeitpunkt dieser Auflösung unendlich weit von uns entfernt ist, können wir die Menschheit, im Vergleich mit dem so kurzen menschlichen Leben, ganz gut als ewig betrachten. Aber diese Tatsache der fortschreitenden Menschheit selbst ist nur wirklich und lebendig durch ihre Erscheinung und Verwirklichung zu bestimmter Zeit, an bestimmten Orten, in wirklich lebenden Menschen, und nicht in ihrer allgemeinen Idee.

Die allgemeine Idee ist immer eine Abstraktion und schon dadurch in gewissem Grade eine Verneinung des wirklichen Lebens. Ich stellte im Anhang als Eigenschaft des menschlichen Gedankens und folglich auch der Wissenschaft fest, dass sie von den wirklichen Tatsachen nur ihren allgemeinen Sinn, ihre allgemeinen Beziehungen, ihre allgemeinen Gesetze erfassen und benennen kann, mit einem Wort das in ihren beständigen Verwandlungen Bleibende wie ihre materielle, individuelle Seite, die sozusagen von Wirklichkeit und Leben vibriert, aber gerade dadurch flüchtig und unfassbar ist. Die Wissenschaft versteht den Gedanken der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst, den Gedanken des Lebens, nicht das Leben. Hier liegt ihre Grenze, die einzige für sie wirklich unüberschreitbare Grenze, die eben in der Natur des menschlichen Gedankens selbst, des einzigen Organs der Wissenschaft begründet ist.

Auf diese natürliche Beschaffenheit gründen sich die unbestreitbaren Rechte und die große Aufgabe der Wissenschaft, aber auch ihre tiefe Ohnmacht und selbst ihre schädliche Wirkung, sobald sie durch ihre offiziellen, patentierten Vertreter sich das Recht anmaßt, das Leben zu beherrschen. Die Aufgabe der Wissenschaft ist folgende: Durch Feststellung der allgemeinen Beziehungen der vorübergehenden und wirklichen Dinge, durch Erkennen der der Entwicklung der Erscheinungen der physischen und sozialen Welt eigenen allgemeinen Gesetze stellt sie sozusagen unveränderliche Markzeichen des Vormarsches der Menschheit auf, indem sie den Menschen die allgemeinen Bedingungen zeigt, deren strenge Beobachtung notwendig und deren Unkenntnis oder Vergessen verhängnisvoll sind. Mit einem Wort, die Wissenschaft ist der Kompass des Lebens, aber sie ist nicht das Leben. Sie ist unabänderlich, unpersönlich, allgemein, abstrakt, gefühllos wie die Gesetze, deren ideale, gedachte, das heißt im Gehirn existierende Wiedergabe sie ist — im Gehirn, um uns zu erinnern, dass die Wissenschaft selbst nur ein materielles Produkt eines materiellen Organs des materiellen Organismus des Menschen, des Gehirns, ist. Das Leben ist ganz flüchtig und vorübergehend, aber auch ganz vibrierend von Wirklichkeit und Individualität, Gefühl, Leiden, Freuden, Streben, Bedürfnissen und Leidenschaften. Das Leben allein schafft freiwillig die Dinge und alle wirklichen Wesen. Die Wissenschaft schafft nichts, sie konstatiert und erkennt nur die Schöpfungen des Lebens. Und jedesmal, wenn die Männer der Wissenschaft, ihre abstrakte Welt verlassend, sich in die lebende Schöpfung in der wirklichen Welt hineinmischen, ist alles, was sie vorschlagen oder schaffen, arm, lächerlich, abstrakt, ohne Blut und Leben, totgeboren, dem von Wagner, dem pedantischen Schüler des unsterblichen Doktor Faust, geschaffenen Homunkulus gleich. Daraus ergibt sich, dass die einzige Aufgabe der Wissenschaft die ist, das Leben zu erhellen, nicht, es zu leiten.

Eine Herrschaft der Wissenschaft und der Männer der Wissenschaft, selbst wenn sie sich Positivisten, Schüler Auguste Comtes40, nennen oder selbst Schüler der doktrinären Schule des deutschen Kommunismus, kann nur ohnmächtig, lächerlich, unmenschlich, grausam, unterdrückend, ausbeutend und verheerend sein. Man kann von den Männern der Wissenschaft als solchen sagen, was ich von den Theologen und Metaphysikern sagte: Sie haben weder Gefühl noch Herz für persönliche lebende Wesen. Man kann ihnen nicht einmal einen Vorwurf daraus machen, denn es ist die natürliche Folge ihres Berufes. Als Männer der Wissenschaft haben sie nur mit Allgemeinheiten zu tun und interessieren sich nur für solche.

Die Wissenschaft, welche nur mit dem zu tun hat, was auszudrücken und beständig ist, d.h. mit mehr oder weniger entwickelten und bestimmten Allgemeinheiten, muss sich hier besiegt erklären von dem Leben, das allein in Verbindung steht mit der lebendigen und empfindlichen, aber unfassbaren und unsagbaren Seite der Dinge. Das ist die wirkliche und man kann sagen die einzige Grenze der Wissenschaft, eine wirklich unüberschreitbare Grenze. Ein Naturforscher, der selbst ein wirkliches und lebendes Wesen ist, seziert beispielsweise ein Kaninchen; dieses Kaninchen ist gleichfalls ein wirkliches Wesen und war, wenigstens vor kaum einigen Stunden, eine lebende Individualität. Nachdem der Naturforscher es seziert hat, beschreibt er es: Nun, das Kaninchen, welches aus seiner Beschreibung hervorgeht, ist ein Kaninchen im allgemeinen, das, jeder Individualität beraubt, allen Kaninchen gleicht und deshalb nie die Kraft zu existieren haben wird und ewig ein unbewegliches und nichtseiendes Wesen bleiben wird, nicht einmal körperlich, sondern eine Abstraktion, der festgehaltene Schatten eines lebendigen Wesens. Die Wissenschaft hat nur mit solchen Schatten zu tun. Die lebendige Wirklichkeit entschlüpft ihr und gibt sich nur dem Leben, das, weil es selbst flüchtig und vorübergehend ist, immer alles, was lebt, d.h. alles, was vergeht oder flieht, fassen kann und in der Tat fasst.

Das Beispiel des der Wissenschaft geopferten Kaninchens berührt uns wenig, weil wir uns gewöhnlich für das individuelle Leben der Kaninchen sehr wenig interessieren. Anders ist es mit dem individuellen Leben der Menschen, das die Wissenschaft und die Männer der Wissenschaft, welche gewöhnt sind, unter Abstraktionen zu leben, d.h. flüchtige und lebendige Wirklichkeiten ihren beständigen Schatten zu opfern, gleichfalls fähig wären, zu opfern oder wenigstens dem Nützen ihrer abstrakten Allgemeinheiten unterzuordnen, wenn man sie nur machen ließe.

Die menschliche Individualität, ebenso die der unbeweglichsten Dinge, ist für die Wissenschaft gleichfalls unfassbar und sozusagen nicht existierend. Deshalb müssen auch die lebenden Individualitäten sich gegen sie verwahren und schützen, um von ihr nicht wie das Kaninchen zum Nutzen irgendeiner Abstraktion geopfert zu werden; wie sie sich gleichzeitig gegen die Theologie, gegen die Politik und gegen die Rechtswissenschaft verwahren müssen, die alle gleichfalls an jenem abstrahierenden Charakter der Wissenschaft teilhaben und das unheilvolle Streben besitzen, die Individuen dem Vorteil derselben Abstraktion zu opfern, die nur mit verschiedenen Namen belegt wird; die Theologie nennt sie die göttliche Wahrheit, die Politik das allgemeine Wohl, die Rechtswissenschaft die Gerechtigkeit.

Ich bin weit davon entfernt, die nützlichen Abstraktionen der Wissenschaft mit den verderblichen Abstraktionen der Theologie, der Politik und der Rechtswissenschaft vergleichen zu wollen. Diese letzteren müssen aufhören zu herrschen, müssen von Grund auf aus der menschlichen Gesellschaft ausgetilgt werden — ihr Wert, ihre Befreiung, ihre endgültige Humanisierung sind nur um diesen Preis möglich —, während die wissenschaftlichen Abstraktionen im Gegenteil ihren Platz einnehmen müssen, nicht um die menschliche Gesellschaft nach dem freiheitsmörderischen Traum der positivistischen Philosophen zu regieren, sondern um ihre natürliche und lebendige Entwicklung zu beleuchten. Die Wissenschaft kann wohl Anwendung auf das Leben finden, aber nie sich im Leben verkörpern, weil das Leben die unmittelbare und lebendige Wirkung, die gleichzeitig natürliche und schicksalsbestimmte Bewegung der lebendigen Individualitäten ist. Die Wissenschaft ist nur die immer unvollständige und unvollkommene Abstraktion dieser Bewegung. Wenn sie sich ihm als unbedingte Lehre, als herrschende Autorität aufzwingen würde, würde sie es arm machen, verdrehen und lahmen. Die Wissenschaft kann nicht aus ihren Abstraktionen hinaus, sie sind ihr Reich. Aber die Abstraktionen und ihre unmittelbaren Vertreter: Priester, Politiker, Juristen, Ökonomisten und Gelehrte müssen aufhören, die Volksmassen zu beherrschen. Der ganze Fortschritt der Zukunft liegt darin. Er ist das Leben und die Bewegung des Lebens, die individuelle und soziale Wirkung der Menschen, die ihrer vollständigen Freiheit zurückgegeben sind. Er ist die vollständige Vernichtung des Autoritätsprinzips. Und wie? Durch die weiteste Verbreitung der freien Wissenschaft im Volk. Auf diese Weise wird die soziale Masse außerhalb sich selbst keine sogenannte absolute Wahrheit mehr haben, die sie lenkt und beherrscht, die vertreten ist von Persönlichkeiten, welche ein großes Interesse daran haben, sie ausschließlich in ihren Händen zu halten, weil sie ihnen die Macht, und mit der Macht den Reichtum, die Möglichkeit gibt, durch die Arbeit der Volksmassen zu leben. Diese Masse wird aber in sich selbst eine immer relative, aber wirkliche Wahrheit, ein Licht haben, welches ihre natürlichen Bewegungen erhellt und jede Autorität und jede äußere Leitung unnötig machen wird.

Jedoch darf man sich nicht zu sehr darauf verlassen, und wenn es beinahe sicher ist, dass kein Gelehrter heute wagen wird, einen Menschen wie ein Kaninchen zu behandeln, muss man doch stets fürchten, dass die Gelehrten als Körperschaft lebende Menschen wissenschaftlichen Versuchen unterwerfen, die für die Opfer gewiss weniger grausam, aber nicht weniger schädlich sein würden. Wenn die Gelehrten an den Körpern einzelner Menschen nicht experimentieren können, werden sie verlangen, am sozialen Körper Versuche zu machen, was man unbedingt verhindern muss.


Abb.: Ergebnis eines doktrinär-kommunistischen (maoistischen) Versuchs am sozialen Körper: Massengrab von Opfern der Roten Khmer in Kambodscha (1975 - 1979) [Bildquelle: http://www.yale.edu/cgp/photographs.html. -- Zugriff am 2005-01-06]

In ihrer gegenwärtigen Organisation, als Monopolisten der Wissenschaft, die als solche außerhalb des sozialen Lebens bleiben, bilden die Gelehrten eine abgeschlossene Kaste, die viele Ähnlichkeiten mit der Priesterkaste hat. Die wissenschaftliche Abstraktion ist ihr Gott, die lebenden und wirklichen Individuen sind die Opfer; sie sind die geweihten und patentierten Opferpriester.

Die Wissenschaft kann die Sphäre der Abstraktionen nicht verlassen. In dieser Beziehung steht sie unendlich tief unter der Kunst, die zwar auch nur mit allgemeinen Typen und Situationen zu tun hat, dieselben aber durch einen ihr eigenen Kunstgriff in Formen zu verkörpern weiß, die zwar nicht im Sinn des wirklichen Lebens lebendig sind, aber trotzdem in unserer Einbildung das Gefühl oder die Erinnerung dieses Lebens hervorrufen; die Kunst individualisiert gewissermaßen die von ihr erfassten Typen und Situationen und erinnert uns durch diese Individualitäten ohne Fleisch und Knochen, deren Schaffung in ihrer Macht liegt, die deshalb bleibend und unsterblich sind, an die lebenden, wirklichen Individualitäten, die vor unseren Augen erscheinen und vergehen. Die Kunst ist also in gewissem Grade die Rückkehr von der Abstraktion zum Leben. Die Wissenschaft ist dagegen die beständige Opferung des flüchtigen, vorübergehenden, aber wirklichen Lebens auf dem Altar der ewigen Abstraktionen.

Die Wissenschaft kann ebensowenig die Individualität eines Menschen wie die eines Kaninchens erfassen. Das heißt, sie steht beiden gleich uninteressiert gegenüber. Nicht, dass ihr das Prinzip der Individualität unbekannt wäre. Sie erfasst es vollständig als Prinzip, aber nicht als Tatsache. Sie weiß sehr gut, dass alle Tierarten, die Gattung Mensch inbegriffen, nur wirklich existieren als unbestimmte Zahl von Individuen, die geboren werden und sterben und neuen, ebenso vorübergehenden Individuen Platz machen. Sie weiß, dass mit dem Aufsteigen der Tierarten zu höheren Arten das Prinzip der Individualität mehr hervortritt und die Individuen vollständiger und freier werden. Sie weiß endlich, dass der Mensch, das letzte und vollendetste Tier auf der Erde, die vollständigste und beachtenswerteste Individualität zeigt wegen seiner Fähigkeit, das allgemeine Gesetz zu erfassen, zu verwirklichen und es gewissermaßen in sich selbst, in seiner sozialen und privaten Existenz, zu verkörpern. Wenn sie nicht durch theologischen der metaphysischen, politischen und juristischen Doktrinarismus oder durch eng wissenschaftlichen Hochmut verdorben und nicht für die natürlichen Instinkte und Strebungen des Lebens taub ist, weiß sie, und das ist ihr letztes Wort, dass die Achtung des Menschen das oberste Gesetz der Menschheit ist und dass das große, das wahre, das einzig rechtmäßige Ziel der Geschichte die Humanisierung und Befreiung, das heißt die wirkliche Freiheit, das wirkliche Wohl, das Glück jedes in der Gesellschaft lebenden Individuums ist. Denn schließlich, wenn man nicht in die freiheitstötende Fiktion, dass der Staat das Gemeinwohl vertrete, verfallen will, eine Fiktion, die stets auf die systematische Opferung der Volksmassen gegründet ist, muss man anerkennen, dass kollektive Freiheit und kollektives Wohlbefinden nur existieren, wenn sie die Summe der Freiheit und des Wohlbefindens der Individuen darstellen.

Die Wissenschaft weiß das alles, aber sie geht nicht weiter und kann nicht weiter gehen. Da die Abstraktion ihre wahre Natur bildet, kann sie wohl das Prinzip der wirklichen und lebenden Individualität erfassen, aber sie kann nichts mit den wirklichen und lebenden Individuen zu tun haben. Sie beschäftigt sich mit den Individuen im allgemeinen, aber nicht mit Peter und mit Jakob, nicht mit diesem oder jenem Individuum, die für sie nicht existieren, nicht existieren können. Ihre Individuen sind, nochmals bemerkt, nur Abstraktionen.

Nicht diese abstrakten Individualitäten aber, sondern die wirklichen, lebendigen, vorübergehenden Individuen machen die Geschichte. Abstraktionen haben keine Füße, sie gehen nur, wenn sie von wirklichen Menschen getragen werden. Für diese wirklichen Wesen, die nicht nur in der Idee, sondern in Wirklichkeit aus Fleisch und Blut bestehen, hat die Wissenschaft kein Interesse. Sie betrachtet sie höchstens als Material zu geistiger und sozialer Entwicklung. Was liegt ihr an den besonderen Verhältnissen und dem zufälligen Schicksal von Peter und Jakob? Sie würde sich lächerlich machen, abdanken und sich selbst aufheben, wollte sie sich damit anders befassen als mit einem Beispiel zur Stütze ihrer ewigen Theorien. Und es wäre lächerlich, ihr deshalb böse zu sein; denn dies ist nicht ihre Aufgabe. Sie kann das Wirkliche nicht erfassen, sie kann sich nur in Abstraktionen bewegen. Ihre Aufgabe ist die Beschäftigung mit der Lage und den allgemeinen Daseins- und Entwicklungsbedingungen der Menschheit im allgemeinen oder einer bestimmten Rasse, eines Volkes, einer Klasse von Individuen, mit den allgemeinen Ursachen ihrer Wohlfahrt oder ihres Verfalls und den allgemeinen Mitteln, auf jede Weise den Fortschritt zu fördern. Wenn sie nur diese Aufgabe in weitem, vernünftigem Sinn erfüllt, hat sie ihre ganze Pflicht getan, und es wäre wahrhaft lächerlich und ungerecht, mehr von ihr zu verlangen.

Aber es wäre ebenso lächerlich und unheilvoll, ihr eine Aufgabe anzuvertrauen, die sie unfähig ist durchzuführen. Da ihre eigene Natur sie zwingt, das Dasein und das Schicksal von Peter und Jakob zu übergehen, darf man nie erlauben, dass sie selbst oder jemand in ihrem Namen Peter und Jakob beherrscht. Denn sie wäre wohl imstande, sie beinahe so zu behandeln, wie sie die Kaninchen behandelt. Oder vielmehr, sie würde fortfahren, sie außer acht zu lassen, ihre patentierten Vertreter aber, die durchaus nicht abstrakte, sondern sehr lebendige Männer mit sehr wirklichen Interessen sind, würden dem verderblichen Einfluss nachgeben, den jedes Vorrecht unvermeidlich auf die Menschen ausübt, und würden die Menschen im Namen der Wissenschaft schinden, wie die Priester, die Politiker aller Farben und die Advokaten im Namen Gottes, des Staates und des juristischen Rechts sie bis jetzt geschunden haben.


Abb.: "Für Gott, Führer und Vaterland": Buchtitel

Was ich predige, ist also, bis zu einem gewissen Grade, die Empörung des Lebens gegen die Wissenschaft oder vielmehr gegen die Herrschaft der Wissenschaft, nicht um die Wissenschaft zu zerstören — dies wäre ein Verbrechen an der Menschheit —, sondern um sie an ihren Platz zu weisen, den sie nie wieder verlassen sollte. Bis jetzt war die ganze Geschichte der Menschheit nur ein beständiges und blutiges Opfern von Millionen armer menschlicher Wesen für irgendeine unerbittliche Abstraktion:

Solcher Art war bis jetzt die natürliche, freiwillige, unvermeidliche Bewegung der menschlichen Gesellschaften. Wir können nichts daran ändern; wir müssen es, was die Vergangenheit betrifft, annehmen, wie wir alles natürliche Unheil annehmen. Man muss glauben, dass dies der einzig mögliche Weg zur Erziehung des Menschengeschlechts war. Denn man darf sich nicht täuschen: Selbst wenn man den machiavellistischen Künsten der herrschenden Klassen den größten Anteil zuschreibt, müssen wir anerkennen, dass keine Minderheiten mächtig genug gewesen wären, all diese schrecklichen Opfer den Massen aufzulegen, wenn es nicht in diesen Massen selbst eine freiwillige, schwindelartige Bewegung gegeben hätte, die sie dazu trieb, sich immer von neuem einer dieser verzehrenden Abstraktionen zu opfern, die, wie die Vampire der Geschichte, sich immer von menschlichem Blut nährten.

Dass die Theologen, Politiker und Juristen dies sehr schön finden, ist klar. Als Priester dieser Abstraktionen leben sie nur von dieser beständigen Opferung der Volksmassen. Ebensowenig darf erstaunen, wenn auch die Metaphysik ihre Zustimmung dazu gibt. Ihre einzige Aufgabe ist ja, das Unbillige und Unsinnige zu rechtfertigen und möglichst vernünftig erscheinen zu lassen. Dass aber selbst die positive Wissenschaft bis jetzt das gleiche Bestreben zeigte, müssen wir feststellen und beklagen. Sie konnte es nur aus zwei Ursachen tun: einmal, weil sie, außerhalb des Volkslebens stehend, von einer bevorrechteten Körperschaft vertreten wird, und dann, weil sie sich selbst bis jetzt als absolutes und letztes Ziel aller menschlichen Entwicklung aufgestellt hat, während sie aufgrund bedachter Kritik, die sie anzuwenden fähig ist und die sie sich letzten Endes gegen sich selbst anzuwenden gezwungen sehen wird, hätte verstehen müssen, dass sie nur ein notwendiges Mittel zur Verwirklichung eines viel höheren Zweckes ist: das der vollständigen Humanisierung der wirklichen Lage aller wirklichen Individuen, die auf der Erde geboren werden, leben und sterben.

Der ungeheure Vorzug der positiven Wissenschaft vor der Theologie, Metaphysik, Politik und dem juristischen Recht besteht darin, dass sie statt der von diesen Lehren verkündeten lügenhaften und unheilvollen Abstraktionen wahre Abstraktionen aufstellt, welche die allgemeine Natur oder die Logik der Tatsachen selbst, ihre allgemeinen Beziehungen und die allgemeinen Gesetze ihrer Entwicklung ausdrücken. Dies trennt sie scharf von allen vorhergehenden Lehren und wird ihr immer eine große Stellung in der menschlichen Gesellschaft sichern. Sie wird gewissermaßen deren kollektives Bewusstsein bilden. Andererseits aber schließt sie sich all diesen Lehren vollständig an: dadurch, dass sie als Gegenstand nur Abstraktionen hat und haben kann und durch ihr Wesen gezwungen ist, die wirklichen Individuen außer acht zu lassen, außerhalb welcher selbst die richtigsten Abstraktionen keine wirkliche Existenz haben. Um diesen wesentlichen Fehler zu beheben, müsste sich das praktische Vorgehen der vorgenannten Lehren und das der positiven Wissenschaft in folgendem unterscheiden. Erstere benutzten die Unwissenheit der Massen, um sie mit Wollust ihren Abstraktionen zu opfern, die übrigens für ihre Vertreter stets sehr einträglich sind. Letztere muss in Erkenntnis ihrer absoluten Unfähigkeit, die wirklichen Individuen zu erfassen und sich für ihr Schicksal zu interessieren, endgültig und unbedingt auf die Regierung der Gesellschaft verzichten; denn wenn sie sich um dieselbe kümmern sollte, könnte sie nichts anderes tun, als stets die lebenden Menschen, die die Welt kennt, ihren Abstraktionen zu opfern, die den einzigen sie wirklich beschäftigenden Gegenstand bilden.

Die wahre Geschichtswissenschaft zum Beispiel ist noch nicht, und man beginnt heutzutage kaum, sich von ihren unendlich verwickelten Bedingungen eine Vorstellung zu machen. Aber nehmen wir an, diese Wissenschaft bestehe: Was wird sie uns geben können? Sie wird das treue, wohldurchdachte Bild der natürlichen Entwicklung der allgemeinen, materiellen und ideellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen, religiösen, philosophischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaften geben, welche eine Geschichte gehabt haben. Aber dieses allgemeine Bild der menschlichen Kultur, wie sehr es auch in die Einzelheiten gehen mag, wird stets nur allgemeine und folglich abstrakte Würdigungen enthalten können in dem Sinn, dass die Milliarden menschlicher Individuen, welche den lebenden und leidenden Stoff dieser Geschichte bilden, die zugleich triumphierend und trostlos ist — triumphierend im Hinblick auf ihre allgemeinen Ergebnisse, trostlos mit Hinsicht auf die ungeheure, "unter ihrem Wagen erdrückte" Hekatombe menschlicher Opfer —; dass diese Milliarden schattenhafter Individuen, ohne welche aber keines dieser großen abstrakten Resultate der Geschichte erreicht worden wäre und die, wohlgemerkt, nie den Vorteil von einem dieser Ergebnisse hatten; dass diese Individuen also nicht einmal den geringsten Platz in der Geschichte finden würden. Sie lebten und wurden zum Wohl der abstrakten Humanität geopfert und vernichtet.

Sollen wir daraus der Geschichtswissenschaft einen Vorwurf machen? Dies wäre lächerlich und ungerecht. Individuen sind unfassbar für das Denken, die Überlegung, selbst für das menschliche Wort, das nur Abstraktionen auszudrücken fähig ist, unfassbar in der Gegenwart wie in der Vergangenheit. Auch die Sozialwissenschaft, die Wissenschaft der Zukunft, wird also notgedrungen fortfahren, sie nicht in den Kreis ihrer Betrachtungen zu ziehen. Wir haben nur das Recht, von ihr zu verlangen, dass sie uns mit fester und treuer Hand die allgemeinen Ursachen der persönlichen Leiden anzeigt, und unter diesen Ursachen wird sie gewiss die leider nur zu häufige Opferung und Unterordnung von lebenden Individuen zugunsten abstrakter Allgemeinheiten nicht vergessen, und sie möge uns gleichzeitig die allgemeinen Bedingungen der wirklichen Befreiung der lebenden Individuen in der Gesellschaft zeigen. Dies ist ihre Aufgabe, dies sind auch ihre Grenzen, außerhalb welcher die Tätigkeit der Sozialwissenschaft nur ohnmächtig und verhängnisvoll sein könnte. Denn jenseits dieser Grenzen beginnen die doktrinären und Regierungsansprüche ihrer patentierten Vertreter, ihrer Priester. Und es ist an der Zeit, mit allen Päpsten und Priestern ein Ende zu machen: Wir wollen keine mehr, selbst wenn sie sich sozialistische Demokraten nennen würden.

Noch einmal: Die einzige Aufgabe der Wissenschaft ist, den Weg zu erhellen. Aber nur das von allen Regierungs- und doktrinären Fesseln befreite, der Fülle seiner natürlichen Tätigkeit wiedergegebene Leben kann schöpferisch tätig sein.

Wie ist dieser Widerspruch zu lösen?

Die Wissenschaft ist einerseits zur vernünftigen Organisation der Gesellschaft unentbehrlich, andererseits darf sie, da sie unfähig ist, sich für das Wirkliche und Lebendige zu interessieren, sich nicht um die wirkliche oder praktische Organisation der Gesellschaft kümmern.

Dieser Widerspruch kann nur auf eine Art gelöst werden: durch die Auflösung der Wissenschaft als außerhalb des sozialen Lebens aller existierendes Wesen, das als solches von einer Körperschaft patentierter Gelehrter vertreten wird, und durch ihre Verbreitung in den Volksmassen. Die Wissenschaft, die berufen ist, hinfort das kollektive Bewusstsein der Gesellschaft zu vertreten, muss wirklich Eigentum aller werden. Ohne ihren universellen Charakter zu verlieren, den sie nie aufgeben kann, ohne aufzuhören, Wissenschaft zu sein, und fortfahrend sich mit den allgemeinen Verhältnissen und Beziehungen der Individuen und Dinge zu beschäftigen, wird sie tatsächlich mit dem unmittelbaren und wirklichen Leben aller Individuen verschmelzen. Diese Bewegung wird derjenigen ähnlich sein, welche die Protestanten zu Anfang der Reformation sagen ließ, dass man jetzt keine Priester mehr brauche, da jeder Mensch jetzt sein eigener Priester werde, da jeder Mensch allein dank der unsichtbaren Vermittlung unseres Herrn Jesu Christi, jetzt seinen Herrgott in sich habe. Aber hier handelt es sich nicht um den Herrn Jesus Christus, noch um den Herrgott, noch um politische Freiheit, juristisches Recht, was bekanntlich alles theologisch oder metaphysisch offenbarte und gleich unverdauliche Dinge sind. Die Welt der wissenschaftlichen Abstraktionen ist nicht offenbart, sie ist der wirklichen Welt eigen und ist deren Ausdruck und allgemeine oder abstrakte Darstellung. Solange diese ideale Welt eine getrennte Region bildet, die speziell von der Körperschaft der Gelehrten vertreten wird, droht sie der wirklichen Welt gegenüber den Platz Gottes einzunehmen und ihren patentierten Vertretern das Priesteramt vorzubehalten. Deshalb ist es notwendig, durch allgemeinen, für alle und alle Geschlechter gleichen Unterricht die abgeschlossene soziale Organisation der Wissenschaft aufzulösen, damit die Massen aufhören, von bevorrechteten Hirten geführte und geschorene Herden zu sein, und von jetzt ab ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können.41

Dürfen aber die Massen, bis sie diesen Bildungsgrad erreicht haben, von den Männern der Wissenschaft geleitet werden? Gott bewahre! Es wäre für sie besser, sich ohne Wissenschaft zu behelfen, als sich von den Gelehrten regieren zu lassen. Die erste Folge einer Gelehrtenregierung wäre, dass die Wissenschaft dem Volke unzugänglich würde, und eine solche Regierung würde notwendigerweise eine aristokratische sein, weil die Wissenschaft, wie sie gegenwärtig besteht, eine aristokratische Einrichtung ist. Aristokratie der Intelligenz — in praktischer Beziehung die unbarmherzigste, in sozialer Hinsicht die anmaßendste und herausforderndste —, dies wäre die im Namen der Wissenschaft errichtete Macht. Diese Regierung wäre imstande, Leben und Bewegung der Gesellschaft zu lahmen. Die Gelehrten, die immer anspruchsvoll und dünkelhaft, immer ohnmächtig sind, würden sich um alles kümmern wollen, und alle Quellen des Lebens würden unter ihrem abstrakten und gelehrten Hauch austrocknen.


Abb.:" Aristokratie der Intelligenz — in praktischer Beziehung die unbarmherzigste, in sozialer Hinsicht die anmaßendste und herausforderndste": Abb.: Professor bei Graduierung, USA (©ArtToday)

Noch einmal: Das Leben, nicht die Wissenschaft, schafft das Leben; nur die natürliche Tätigkeit des Volkes selbst kann die Volksfreiheit schaffen. Es wäre gewiss ein großes Glück, wenn die Wissenschaft schon heute den natürlichen Zug des Volkes seiner Befreiung entgegen erhellen könnte. Aber gar kein Licht ist noch besser als ein falsches, das spärlich von außen leuchtet mit dem klaren Zweck, das Volk irrezuführen. Übrigens wird das Licht dem Volk nicht ganz fehlen. Nicht vergeblich durchlief ein Volk eine lange geschichtliche Laufbahn und zahlte für seine Irrtümer mit Jahrhunderten schrecklicher Leiden. Die praktische Zusammenfassung dieser schmerzlichen Erfahrungen bildet eine Art überlieferter Wissenschaft, die in gewisser Hinsicht so viel wert ist wie die theoretische Wissenschaft. Endlich werden Teile der studierenden Jugend, diejenigen Bourgeois-Studenten, die hinreichend Hass gegen die Lüge, die Heuchelei, die Nichtswürdigkeit und Feigheit der Bourgeoisie empfinden, um in sich den Mut zu finden, ihr den Rücken zu kehren, und hinreichende Leidenschaft, um ohne Vorbehalt die gerechte und menschliche Sache des Proletariats zu der ihren zu machen, wie ich schon sagte, die brüderlichen Unterweiser des Volkes sein; wenn sie ihm die noch fehlenden Kenntnisse bringen, werden sie die Regierung der Gelehrten ganz unnötig machen.

Wenn das Volk sich vor der Regierung der Gelehrten hüten muss, so muss es noch mehr vor der der erleuchteten Idealisten auf der Hut sein. Je aufrichtiger diese Gläubigen und Dichter des Himmels sind, desto gefährlicher werden sie. Die wissenschaftliche Abstraktion, sagte ich, ist eine vernünftige, in ihrem Wesen wahre Abstraktion, die dem Leben notwendig ist, dessen theoretische Darstellung, dessen Bewusstsein sie ist. Sie kann und muss vom Leben aufgenommen und verarbeitet werden. Die idealistische Abstraktion, Gott, ist ein ätzendes Gift, welches das Leben zerstört und zersetzt, fälscht und tötet. Der Hochmut der Idealisten, der kein persönlicher, sondern ein göttlicher ist, ist unbesiegbar und unversöhnlich. Er kann und muss sterben, wird aber nie weichen, und noch mit dem letzten Atemzug wird er versuchen, die Welt unter den Fuß seines Gottes zu knechten, geradeso wie die preußischen Leutnants, diese praktischen Idealisten Deutschlands, sie unter dem gespornten Stiefel ihres Königs zertreten zu sehen wünschen. Der Glaube ist derselbe — seine Gegenstände sind nicht einmal sehr verschieden —, und der Glaube zeitigt dasselbe Ergebnis: Knechtschaft.

Dies ist gleichzeitig der Triumph des krassesten und brutalsten Materialismus: Für Deutschland bedarf dies keines Beweises, denn man müsste wirklich blind sein, um es im gegenwärtigen Augenblick nicht zu sehen. Aber ich halte es für nötig, dies auch in Bezug auf den göttlichen Idealismus zu beweisen.

Der Mensch ist, wie die ganze übrige Welt, ein vollständig materielles Wesen. Der Geist, die Fähigkeit zu denken, die verschiedenen äußeren und inneren Eindrücke zu empfangen und zurückzuwerfen, sich der vergangenen zu erinnern und sie durch das Gedächtnis wieder hervorzubringen, sie zu vergleichen und zu unterscheiden, gemeinsame Eigenschaften zu abstrahieren und so allgemeine oder abstrakte Begriffe zu schaffen, schließlich durch verschiedene Gruppierung und Zusammenfassung der Begriffe Ideen zu bilden, — die Intelligenz mit einem Wort, der einzige Schöpfer all unserer idealen Welt, gehört dem tierischen Körper an und insbesondere der ganz materiellen Organisation des Gehirns.

Wir wissen dies ganz bestimmt durch die allgemeine Erfahrung, die durch nichts je widerlegt wurde und die jeder Mensch in jedem Augenblick seines Lebens nachprüfen kann.

In allen Tieren, die niedrigsten Arten nicht ausgenommen, finden wir einen gewissen Grad von Intelligenz, und wir sehen, dass in der Reihe der Arten die tierische Intelligenz sich um so mehr entwickelt, je mehr sich der Organismus einer Art dem des Menschen nähert, dass sie aber im Menschen allein zu jener Macht der Abstraktion gelangt, welche eigentlich das Denken ausmacht.

Die allgemeine Erfahrung,42 welche in ihrer Ganzheit der einzige Ursprung, die Quelle all unserer Kenntnisse ist, zeigt uns also erstens, dass jedes Tier Intelligenz besitzt, zweitens, dass die Intensität, die Kraft dieser tierischen Funktion, von der relativen Vollkommenheit des tierischen Organismus abhängt. [...] Andererseits ist es sicher, dass kein Mensch je den reinen, von jeder körperlichen Form losgelösten, von einem tierischen Körper getrennten Geist sah oder sehen konnte. Wenn ihn aber nie jemand sah, wie konnten die Menschen zu dem Glauben an seine Existenz gelangen? Denn dieser Glaube steht allgemein fest, und er ist, wenn auch nicht universell, wie die Idealisten behaupten, so doch wenigstens sehr allgemein und als solcher ganz unserer aufmerksamen Beachtung wert; denn ein allgemeiner Glaube, wie dumm er auch sein mag, übt immer einen allzu mächtigen Einfluss auf die Geschicke der Menschheit aus, als dass es erlaubt wäre, ihn außer acht zu lassen oder von ihm abzusehen.

Die Tatsache dieses Glaubens erklärt sich übrigens auf natürliche und vernünftige Weise. Das Beispiel von Kindern und Jünglingen, selbst von vielen Erwachsenen, zeigt uns, dass der Mensch seine geistigen Fähigkeiten schon lange gebrauchen kann, bevor er sich darüber Rechenschaft ablegt, wie er sie ausübt, bevor er zum klaren und genauen Bewusstsein dieser Ausübung kommt. In dieser Zeit, in welcher der Geist seiner selbst unbewusst in Tätigkeit tritt, in der die Intelligenz naiv oder gläubig tätig ist, schafft der von der äußeren Welt bedrückte Mensch, von dem inneren Stachel, dem Leben und den vielartigen Bedürfnissen des Lebens getrieben, eine Menge Einbildungen, Begriffe und Ideen, die notwendigerweise zuerst sehr unvollkommen sind und der Wirklichkeit der Dinge und Tatsachen, die sie sich auszudrücken bemühen, sehr wenig entsprechen. Und da er sich seiner eigenen Verstandestätigkeit nicht bewusst ist, da er noch nicht weiß, dass er selbst diese Einbildungen, Begriffe und Ideen hervorbringt und hervorzubringen fortfährt, da er selbst ihren ganz subjektiven, das heißt menschlichen Ursprung nicht kennt, betrachtet er sie natürlich mit Notwendigkeit als objektive Wesen, als wirkliche Wesen, die von ihm selbst ganz unabhängig durch sich selbst und in sich selbst sind.

Auf diese Weise schufen die Naturvölker, die langsam ihre tierische Unschuld verließen, ihre Götter. Nachdem sie sie geschaffen, fiel ihnen nicht ein, dass sie selbst ihre einzigen Schöpfer waren, und sie beteten sie an, betrachteten sie als wirkliche, ihnen selbst unendlich überlegene Wesen, legten ihnen Allmacht bei und erklärten sich als ihre Geschöpfe, ihre Sklaven. Mit der Weiterentwicklung der menschlichen Ideen idealisierten sich auch die Götter, die, wie ich bemerkte, stets nur der phantastische, ideale, poetische Widerschein oder das verkehrte Bild dieser Ideen waren. Aus groben Fetischen39 wurden sie allmählich zu reinen Geistern, die außerhalb der sichtbaren Welt existieren, und zum Schluss, als Folge einer langen geschichtlichen Entwicklung, verschmolzen sie in ein einziges göttliches Wesen, den reinen, ewigen, absoluten Geist, den Schöpfer und Herrn der Welten.

In jeder richtigen oder falschen, wirklichen oder eingebildeten Entwicklung kostet immer der erste Schritt am meisten, ist die erste Handlung die schwierigste. Wenn der erste Schritt getan, die erste Handlung vollzogen, folgt das übrige in natürlicher Weise als notwendige Folge. Das Schwierige in der geschichtlichen Entwicklung dieses schrecklichen religiösen Wahnsinns, der uns noch immer besessen hält und erdrückt, war also die Aufstellung einer göttlichen Welt als solcher, außerhalb der wirklichen Welt. Dieser erste Akt der Verrücktheit, so natürlich er vom psychologischen Gesichtspunkt und so notwendig er demzufolge in der Geschichte der Menschheit sein mag, vollzog sich nicht auf einen Schlag. Es brauchte ich weiß nicht wie viele Jahrhunderte, um diesen Glauben zu entwickeln und in die geistigen Gewohnheiten der Menschen eindringen zu lassen. Nachdem er sich aber einmal festgesetzt hatte, wurde er allmächtig, wie dies notwendigerweise jede Verrücktheit wird, die sich des menschlichen Gehirns bemächtigt. Man nehme einen Narren: Welches immer der besondere Gegenstand seiner Narrheit sein mag, man wird finden, dass die dunkle und fixe Idee, die von ihm Besitz ergriffen, ihm die natürlichste Sache von der Welt scheint, während dagegen die dieser Idee widersprechenden natürlichen und wirklichen Tatsachen ihm lächerlicher und verhasster Wahnsinn zu sein scheinen. Nun, die Religion ist ein gemeinsamer Wahnsinn, der um so mächtiger ist, weil es ein überlieferter Wahnsinn ist, dessen Ursprung sich in das entfernteste Altertum verliert. Als allgemeiner Wahnsinn drang sie in alle öffentlichen und privaten Einzelheiten des sozialen Daseins eines Volkes ein, verkörperte sich in der Gesellschaft, wurde sozusagen deren Seele und gemeinsamer Gedanke. Jeder Mensch ist von seiner Geburt an von ihr umringt, nimmt sie mit der Muttermilch in sich auf, nimmt sie auf mit allem, was er hört und sieht. Er wurde damit so sehr genährt, vergiftet und in seinem ganzen Wesen durchdrungen, dass er später, wie mächtig auch sein natürlicher Verstand sein mag, unerhörte Anstrengungen machen muss, sich von ihr zu befreien, und nie gelingt ihm dies vollständig. Unsere modernen Idealisten sind ein Beweis hierfür; ein weiterer Beweis sind unsere doktrinären Materialisten, die deutschen Kommunisten: Sie konnten sich von der Religion des Staates nicht losmachen.

Sobald einmal die übernatürliche, die göttliche Welt sich in der überlieferten Einbildung der Völker festgesetzt hatte, ging die Entwicklung der verschiedenen religiösen Systeme ihren natürlichen und logischen Lauf, immer übrigens der gleichzeitigen tatsächlichen Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen entsprechend, deren treue Wiedergabe und göttliche Weihe in der Welt der religiösen Phantasie sie stets war. So entwickelte sich der gemeinsame geschichtliche Wahnsinn, den man Religion nennt, vom Fetischismus39, durch alle Grade des Polytheismus bis zum christlichen Monotheismus.

Der zweite Schritt in der Entwicklung des religiösen Glaubens, nach der Errichtung einer getrennten göttlichen Welt gewiss der schwerste, war gerade dieser Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus, vom religiösen Materialismus der Heiden zum vergeistigten Glauben der Christen. Die heidnischen Götter, dies war ihr wesentlicher Charakterzug, waren vor allem ausschließlich nationale Götter. Da sie ferner zahlreich waren, bewahrten sie notwendigerweise mehr oder weniger einen körperlichen Charakter, oder vielmehr, weil sie körperlich waren, waren sie so zahlreich, da Verschiedenheit eine der Haupteigenschaften der wirklichen Welt ist. Die heidnischen Götter waren noch nicht im eigentlichen Sinn die Verneinung der wirklichen Dinge, sie waren nur ihre phantastische Übertreibung.

Um auf den Trümmern ihrer so zahlreichen Altäre den Altar eines einzigen und obersten Gottes, des Herrn der Welt, zu errichten, musste also zuerst das selbständige Dasein der verschiedenen Nationen der heidnischen oder antiken Welt zerstört werden. Dies taten die Römer auf sehr brutale Weise; sie schufen durch Eroberung des größten Teils der den Alten bekannten Welt gewissermaßen den ersten, gewiss noch ganz negativen und groben Entwurf der Idee der Menschheit. [...] Die große Ehre des Christentums, sein unbestreitbares Verdienst und das ganze Geheimnis seines unerhörten und übrigens ganz berechtigten Triumphs war, dass es sich an das ungeheure leidende Volk wandte, dem die antike Welt, die eine enge und grausame geistige und politische Aristokratie bildete, auch die letzten Eigenschaften und einfachsten Rechte der Menschheit verweigerte. Sonst hätte es sich nie verbreiten können. Die von den Aposteln Christi gepredigte Lehre, so trostreich sie den Unglücklichen erscheinen mochte, war vom Gesichtspunkt der menschlichen Vernunft aus zu empörend, zu unsinnig, als dass aufgeklärte Männer sie hätten annehmen können. Wie triumphierend spricht nicht auch der heilige Apostel Paulus von dem Ärgernis des Glaubens und dem Triumph dieser göttlichen Narrheit, welche die Mächtigen und Weisen der Zeit zurückwiesen, welche aber um so leidenschaftlicher von den Einfachen, den Unwissenden und den Armen im Geiste angenommen wurde!

Es muss wirklich sehr tiefe Unzufriedenheit mit dem Leben, sehr großer Durst des Herzens und beinahe vollständige Geistesarmut vorhanden sein, um die christliche Sinnlosigkeit anzunehmen, die kühnste und ungeheuerlichste aller religiösen Sinnlosigkeiten.

Sie war nicht nur die Verneinung aller politischen, sozialen und religiösen Einrichtungen des Altertums, sondern der unbedingte Umsturz des gesunden Menschenverstandes, aller menschlichen Vernunft. Das wirklich existierende Wesen, die wirkliche Welt, wurden von jetzt ab als das Nichts betrachtet; das Produkt der menschlichen Abstraktionsfähigkeit, die letzte und höchste Abstraktion, in welcher diese Fähigkeit nach Überschreitung aller existierenden Dinge, der allgemeinsten Bestimmungen des lebenden Wesens wie der Ideen von Zeit und Raum sogar, nach denen nichts zu überschreiten übrig bleibt, in der Betrachtung ihrer Lehre und absoluten Unbeweglichkeit ruht, — diese Abstraktion also, dieser tote Rückstand, jeden Inhalts leer, das wahre Nichts, Gott, wird zum einzigen wirklichen, ewigen, allmächtigen Wesen proklamiert. Das wirkliche All wird als Nichts erklärt und das absolute Nichts als All. Der Schatten wird Körper und der Körper verschwindet wie ein Schatten.43

Es war eine unerhörte Kühnheit und Sinnlosigkeit, das wahre Ärgernis des Glaubens, der Sieg der gläubigen Dummheit über den Geist, für die Massen und für einige wenige der triumphierende Spott eines ermüdeten, verdorbenen, enttäuschten Geistes, den das ehrliche und ernste Suchen der Wahrheit anekelte, das Bedürfnis, sich zu betäuben und zu verdummen, wie es sich oft bei abgestumpften Geistern findet: Credo quia absurdum ("Ich glaube nicht nur an das Unsinnige; ich glaube daran gerade und hauptsächlich, weil es das Unsinnige ist.") So glauben viele ausgezeichnete und aufgeklärte Geister in unseren Tagen an den tierischen Magnetismus, den Spiritismus, das Tischerücken, — aber warum so weit gehen? — sie glauben noch an das Christentum, an den Idealismus, an Gott.

Der Glaube des antiken Proletariats, ebenso wie der der modernen Massen nach ihm, war derber und einfacher. Die christliche Lehre hatte sich an sein Herz gewendet, nicht an seinen Geist, an sein ewiges Trachten, seine Bedürfnisse, seine Leiden, seine Sklaverei, nicht an seine noch schlummernde Vernunft, für welche die logischen Widersprüche, die augenscheinliche Sinnlosigkeit also, nicht existieren konnten. Die einzige Frage, welche das antike Proletariat interessierte, war die, wann die Stunde der versprochenen Erlösung schlagen, wann das Reich Gottes kommen würde. Um die theologischen Dogmen kümmerte es sich nicht, weil es nichts davon verstand. Das zum Christentum bekehrte Proletariat bildete seine aufsteigende materielle Macht, nicht sein theoretisches Denken.

Die christlichen Dogmen wurden bekanntlich in einer Reihe literarischer theologischer Arbeiten und auf den Kirchenversammlungen hauptsächlich von den bekehrten Neuplatonikern des Orients ausgearbeitet. Der griechische Geist war so tief gesunken, dass wir schon im vierten christlichen Jahrhundert, der Zeit der ersten Kirchenversammlung, die Idee eines persönlichen Gottes, des reinen, ewigen, absoluten Geistes, des Schöpfers und obersten Herrn der Welt, der außerhalb der Welt existiert, von allen Kirchenvätern einstimmig angenommen finden, und als logische Konsequenz dieser absoluten Sinnlosigkeit den jetzt natürlichen und notwendigen Glauben an die Geistigkeit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die in einem sterblichen, aber nur zum Teil sterblichen Körper wohnt und eingesperrt ist; — nur zum Teil sterblich, weil ein Teil dieses Körpers, obgleich körperlich, unsterblich wie die Seele ist und wie die Seele wieder auferstehen wird. So schwer wurde es selbst Kirchenvätern, sich den reinen Geist außerhalb jeder Körperform vorzustellen!

Im allgemeinen liegt es in der Art aller theologischen und auch metaphysischen Gedankengänge zu versuchen, eine Sinnlosigkeit durch eine andere zu erklären.

Es war ein großes Glück für das Christentum, dass es die Welt der Sklaven fand. Ein anderes Glück widerfuhr ihm: der Einfalt der Barbaren. Die Barbaren waren tapfere Leute, voll natürlicher Kraft, und vor allem belebt und getrieben von großem Lebensbedürfnis und großer Lebensfähigkeit; erprobte Räuber, fähig, alles zu verwüsten und zu verschlingen, wie ihre Nachfolger, die heutigen Deutschen; viel weniger systematisch und pedantisch in ihrem Räubertum als letztere, weniger moralisch, weniger gelehrt, aber dagegen viel unabhängiger und stolzer, fähig der Wissenschaft und der Freiheit nicht unfähig wie die Bourgeois des modernen Deutschland. Aber trotz all dieser großen Eigenschaften waren sie nichts als Barbaren, das heißt, allen Fragen der Theologie und Metaphysik gegenüber ebenso gleichgültig wie die antiken Sklaven, von denen übrigens viele ihrer Rasse angehörten. Sobald also einmal ihr praktischer Widerwille gebrochen war, war es nicht schwer, sie theoretisch zum Christentum zu bekehren.

Zehn Jahrhunderte nacheinander konnte das mit der Allmacht der Kirche und des Staates bewaffnete Christentum ohne Beeinträchtigung von irgendwelcher Seite den Geist Europas verderben, verschlechtern und fälschen. Es hatte keine Rivalen, weil es außerhalb der Kirche keine Denker, nicht einmal Gebildete gab. Die Kirche allein dachte, sprach, schrieb und lehrte. Ketzereien, die in ihrem Schoß entstanden, griffen stets nur die theologischen oder praktischen Entwicklungen des Grunddogmas an, nicht dieses Dogma selbst. Der Glaube an Gott, den reinen Geist und Schöpfer der Welt, und der Glaube an die Geistigkeit der Seele blieben unberührt. Dieser Doppelglaube wurde die ideale Grundlage der ganzen westlichen und östlichen Kultur Europas und drang in alle Einrichtungen ein, verwirklichte sich in allen Einzelheiten des öffentlichen und privaten Lebens aller Klassen ebenso wie der Massen.

Kann man sich dann wundern, dass dieser Glaube sich bis zum heutigen Tag erhalten hat und fortfährt, seinen verhängnisvollen Einfluss selbst auf so hohe Geister wie Mazzini, Quinet, Michelet und so viele andere auszuüben? Wir sahen, dass ihm der erste Kampf von der Renaissance des freien Geistes im 15. Jahrhundert geliefert wurde, der Renaissance, welche Helden und Märtyrer hervorbrachte wie Vanini44, wie Giordano Bruno und Galilei; obgleich bald erstickt von dem Lärm, Tumult und den Leidenschaften der Reformation, setzte sie geräuschlos ihre unsichtbare Arbeit fort und hinterließ den edelsten Geistern jeder Generation das Werk menschlicher Befreiung durch die Zerstörung des Unsinnigen, bis sie endlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder im vollen Tageslicht erschien und kühn die Fahne des Atheismus und Materialismus entrollte.

Man hätte damals glauben können, dass der menschliche Geist sich ein für allemal von jedem göttlichen Druck befreien würde. Dies war ein Irrtum. Die Gotteslüge, mit der sich die Menschheit — um nur von der christlichen Welt zu sprechen — 18 Jahrhunderte lang genährt hatte, sollte sich noch einmal mächtiger als die menschliche Wahrheit zeigen. Da sie sich nicht mehr der Schwarzröcke, der geweihten Raben der Kirche, der katholischen oder protestantischen Priester, die jedes Vertrauen verloren hatten, bedienen konnte, so bediente sie sich der Laienpriester, der Lügner und Sophisten im kurzen Rock, und die Hauptrolle fiel zwei verhängnisvollen Männern unter ihnen zu: dem falschen Geist und dem doktrinär despotischsten Willen des vergangenen Jahrhunderts, J. J. Rousseau28 und Robespierre27.

Der erstere ist der wahre Typus der Lüge und argwöhnischen Kleinlichkeit, der Überhebung der eigenen Person, der kalten Begeisterung und sentimentaler und gleichzeitig unbarmherziger Heuchelei, der notwendigen Lüge des modernen Idealismus. Man kann ihn als den wahren Schöpfer der modernen Reaktion betrachten. Während er dem Anschein nach der demokratischste Schriftsteller des 18. Jahrhunderts ist, brütet in ihm der erbarmungslose Despotismus des Staatsmanns. Er war der Prophet des doktrinären Staats, dessen Hohepriester Robespierre27, sein würdiger und treuer Schüler, zu werden versuchte. Rousseau28 hörte Voltaire sagen, dass, wenn es keinen Gott gäbe, er erfunden werden müsse, und er erfand das höchste Wesen, den abstrakten und leeren Gott der Deisten. Und im Namen des höchsten Wesens und der von ihm befohlenen heuchlerischen Tugend guillotinierte Robespierre zuerst die Hebertisten45, dann den Genius der Revolution, Danton46, in dessen Person er die Republik ermordete, um so den von da ab notwendig gewordenen Triumph der Diktatur Bonapartes vorzubereiten. Nach diesem großen Sieg suchte und fand die idealistische Reaktion weniger fanatische, weniger schreckliche Diener, wenn man sie an dem bedeutend geringeren Maßstab der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts misst. In Frankreich waren es Chateaubriand47, Lamartine48 und — soll ich es sagen? Warum nicht? Man muss die ganze Wahrheit sagen — Victor Hugo49, der Demokrat, der Republikaner, der Schein-Sozialist von heute, und nach ihnen die ganze melancholische und sentimentale Kohorte magerer und blasser Geister, die unter der Führung jener Meister die Schule des modernen Romantismus bildeten. In Deutschland waren es die Schlegel, die Tieck, die Novalis, die Werner, waren es Schelling und so viele andere, deren Namen nicht einmal genannt zu werden verdienen.

Die von dieser Schule geschaffene Literatur war das wahre Reich der Geister und Gespenster. Sie vertrug das Tageslicht nicht und konnte nur im Halbdunkel leben. Ebensowenig vertrug sie die brutale Berührung der Massen; es war die Literatur der zarten, feinen, ausgezeichneten Seelen, die dem Himmel, ihrer Heimat, zustrebten und wie gegen ihren Willen auf der Erde lebten. Sie verachtete und verabscheute die Politik, die Tagesfragen; wenn sie aber zufällig von ihnen sprach, zeigte sie sich offen reaktionär und nahm die Partei der Kirche gegen die Unverschämtheit der Freidenker, die Partei der Könige gegen die Völker und die Partei aller Aristokratien gegen das elende Straßengesindel. Übrigens herrschte in dieser Schule, wie ich soeben sagte, beinahe vollständige Gleichgültigkeit gegenüber politischen Fragen vor. In den Wolken, in denen sie lebte, konnte man nur zwei wirkliche Punkte unterscheiden: die rasche Entwicklung des Bourgeois-Materialismus und die zügellose Entfesselung persönlicher Eitelkeit.

Um diese Literatur zu verstehen, muss man ihre Entstehungsursache in der Umwandlung suchen, die sich in der Bourgeois-Klasse seit der Revolution von 1793 vollzog.

Von der Renaissance und der Reformation bis zu dieser Revolution war die Bourgeoisie, wenn nicht in Deutschland, so doch wenigstens in Italien, Frankreich, der Schweiz, England und Holland der Held und Vertreter des revolutionären Geistes der Geschichte. Aus ihr gingen der größte Teil der Freidenker des 15. Jahrhunderts, die großen religiösen Reformatoren der beiden folgenden Jahrhunderte und die Apostel der menschlichen Befreiung des 18. Jahrhunderts hervor, diesmal die Deutschlands Inbegriffen. Sie allein, natürlich auf die Sympathien und den mächtigen Arm des Volkes, das an sie glaubte, gestützt, machte die Revolution von 1789 und 1793. Sie verkündete den Fall des Königtums und der Kirche, die Verbrüderung der Völker, die Menschen- und Bürgerrechte. Dies sind ihre unsterblichen Ruhmestitel.

Seit jener Zeit spaltete sie sich. Eine beträchtliche Partei reich gewordener Käufer von Nationalgütern, die sich diesmal nicht auf das städtische Proletariat, sondern auf die Mehrheit der gleichfalls Grundbesitzer gewordenen Bauern Frankreichs stützte, strebte den Frieden, die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, die Gründung einer regelmäßigen und mächtigen Regierung an. Voll Glück jauchzte sie also der Diktatur des ersten Bonaparte zu und sah, obgleich stets voltairiansch gesinnt, dessen Abkommen mildem Papst und die Wiederherstellung der offiziellen Kirche in Frankreich nicht mit bösem Auge an: "Die Religion ist dem Volke so notwendig!" — was heißen will, dass dieser nun selbst gesättigte Teil der Bourgeoisie von jetzt ab zu verstehen begann, dass es im Interesse der Erhaltung seiner Lage und seiner neu erworbenen Güter dringend notwendig sei, den ungesättigten Hunger des Volkes durch Versprechungen himmlischen Mannas zu täuschen. Damals begann Chateaubriand47 zu predigen.50

Napoleon fiel. Die Restauration führte mit der rechtmäßigen Monarchie die Macht der Kirche und die Aristokratie nach Frankreich zurück, welche, wenn nicht ihre ganze, so doch einen beträchtlichen Teil ihrer früheren Macht wiederergriffen hat. Diese Reaktion warf die Bourgeoisie in die Revolution zurück, und mit dem revolutionären Geist erwachte auch der Freigeist wieder. Sie legte Chateaubriand beiseite und begann wieder Voltaire zu lesen. Sie ging nicht bis Diderot: Ihre geschwächten Nerven vertrugen keine so starke Kost mehr. Voltaire, der gleichzeitig Freigeist und Deist war, passte ihr dagegen sehr. Béranger51 und Paul-Louis Courier52 drückten ganz und gar diese neue Richtung aus. Der "Gott der braven Leute" und das Ideal des Bürgerkönigs, der zugleich liberal und demokratisch ist und sich vom majestätischen und jetzt weniger offensiven Hintergrund der gigantischen Siege des Kaiserreiches abhebt, — dies war in jener Zeit die tägliche geistige Nahrung der französischen Bourgeoisie.

Lamartine48, von dem eitel lächerlichen Neid angestachelt, sich zur poetischen Höhe des großen englischen Dichters Byron zu erheben, hatte seine kalt delirierenden Hymnen zu Ehren des Gottes der Adligen und der rechtmäßigen Monarchie begonnen. Aber seine Gesänge hallten nur in den aristokratischen Salons wider. Die Bourgeoisie hörte sie nicht. Beranger war ihr Dichter und Paul-Louis Courier ihr politischer Schriftsteller.

Die Juli-Revolution hatte die Veredlung ihres Geschmacks zur Folge. Man weiß, dass jeder Bourgeois in Frankreich den unverwüstlichen Typus des "bourgeois gentil-homme" (Der Bürger als Edelmann) in sich trägt, der stets hervortritt, sobald er ein bisschen Reichtum und Macht erwirbt. 1830 hatte die reiche Bourgeoisie endgültig den alten Adel im Besitz der Macht verdrängt. Sie strebte natürlich die Gründung einer neuen Aristokratie an: einer Aristokratie des Geldes vor allem, aber auch einer Aristokratie des Geistes, des guten Benehmens und der feinen Gefühle. Die Bourgeoisie begann sich religiös zu fühlen.

Das war von ihrer Seite nicht nur eine bloße Nachäffung der aristokratischen Sitten, sondern auch eine notwendige Folge ihrer Lage. Das Proletariat hatte ihr einen letzten Dienst erwiesen, indem es ihr half, den Adel nochmals zu stürzen. Jetzt brauchte die Bourgeoisie diese Hilfe nicht mehr, denn sie fühlte, dass sie im Schatten des Julithrons sicher war, und die von jetzt ab unnütze Verbindung mit dem Volk begann ihr unbequem zu werden. Das Volk musste auf seinen Platz verwiesen werden, was natürlich nicht möglich war, ohne große Entrüstung in den Massen hervorzurufen. Es wurde notwendig, dieselben zurückzuhalten. Aber in wessen Namen? Etwa im Namen des ohne Umschweife zugegebenen Bourgeois-Interesses? Dies wäre zu schamlos gewesen. Je ungerechter, unmenschlicher ein Interesse ist, desto mehr bedarf es einer Weihe, und wo eine solche hernehmen, wenn man sie nicht in der Religion findet, dieser guten Beschützerin aller Satten und der so nützlichen Trösterin aller Hungrigen? Und mehr als je fühlte die triumphierende Bourgeoisie, dass die Religion dem Volke unbedingt notwendig sei.

Nachdem sie all ihre unvergänglichen Ruhmestitel in religiöser, philosophischer und politischer Opposition, im Protest und in der Revolution gewonnen hatte, war die Bourgeoisie endlich die herrschende Klasse geworden und hierdurch von selbst Verteidigerin und Erhalterin des Staates, der seinerseits die regelrechte Einsetzung der ausschließlichen Macht dieser Klasse ist. Der Staat ist die Gewalt und hat vor allem das Recht der Gewalt für sich, die triumphierende Beweisführung mit dem Zündnadelgewehr und dem Chassepot53. Aber der Mensch ist so sonderbar beschaffen, dass ihm diese Art der Beweisführung, so beredt sie scheint, auf die Dauer nicht genügt. Um ihm Achtung einzuflößen, ist irgendeine moralische Weihe absolut notwendig. Diese Weihe muss ferner so augenscheinlich und einfach sein, dass sie die Massen überzeugen kann, die, von der Gewalt des Staates niedergerungen, hierauf zur moralischen Anerkennung seines Rechts gebracht werden müssen.

Es gibt nur zwei Mittel, die Massen von der Güte irgendeiner sozialen Einrichtung zu überzeugen. Das erste, das einzige wirkliche, aber auch das schwerste, weil es die Abschaffung des Staates mit sich bringt — das heißt die Abschaffung der politisch organisierten Ausbeutung der Mehrheit durch irgendeine Minderheit —, dieses Mittel wäre die direkte und vollständige Befriedigung aller Bedürfnisse, aller menschlichen Strebungen der Massen; dies käme der vollständigen Auflösung der politischen und wirtschaftlichen Existenz der Bourgeois-Klasse gleich und, wie ich soeben sagte, auch der Abschaffung des Staates. Dieses Mittel wäre zweifellos heilbringend für die Massen, aber verhängnisvoll für die Bourgeois-Interessen. Es kommt also nicht in Betracht.

Sprechen wir von dem anderen Mittel, das nur für das Volk verhängnisvoll, dagegen für das Wohl der Bourgeois-Vorrechte wertvoll ist. Dieses andere Mittel kann nur die Religion sein. Es ist jene ewige Luftspiegelung, welche die Massen auf die Suche nach den göttlichen Schätzen hinreißt, während die herrschende Klasse viel bescheidener sich damit begnügt, die elenden Güter der Erde und das menschliche Hab und Gut des Volkes, seine politische und soziale Freiheit inbegriffen, unter ihre eigenen Mitglieder zu verteilen, auf sehr ungleiche Art übrigens und so, dass der, der mehr besitzt, immer noch mehr erhält.

Es gibt, es kann keinen Staat ohne Religion geben. Man nehme die freiesten Staaten der Erde, die Vereinigten Staaten von Nordamerika oder die Schweiz, und sehe, welch wichtige Rolle die göttliche Vorsehung, diese oberste Weihe aller Staaten, in allen offiziellen Reden spielt.

Jedesmal aber, wenn ein Staatsoberhaupt von Gott spricht, sei es Wilhelm I., der knutogermanische Kaiser, oder Grant, der Präsident der großen Republik, kann man sicher sein, dass er sich vorbereitet, seine Volksherde von neuem zu scheren.

Die französische Bourgeoisie, liberal, voltairianisch und von ihrem Temperament zu einem eigentümlich engen und brutalen Positivismus, um nicht zu sagen Materialismus getrieben, musste sich also, nachdem sie durch ihren Triumph von 1830 die Staatsklasse geworden, notwendigerweise eine offizielle Religion geben. Die Sache war nicht leicht. Sie konnte sich nicht unvermittelt unter das Joch des römischen Katholizismus begeben. Zwischen ihr und der Kirche von Rom lag ein Abgrund von Blut und Hass, und wie praktisch und klug man auch geworden sein mag, man unterdrückt doch nie in sich eine geschichtlich gewordenen Leidenschaft. Der französische Bourgeois hätte sich übrigens mit Lächerlichkeit bedeckt, wenn er zur Kirche zurückgekehrt wäre, um an den frommen Zeremonien des Gotteskults teilzunehmen, der Hauptbedingung einer verdienstlichen und aufrichtigen Bekehrung. Mehrere versuchten es wohl, aber das Ergebnis ihres Heroismus war nur unfruchtbarer Skandal. Die Rückkehr zum Katholizismus war endlich wegen des unlösbaren Widerspruches zwischen der unveränderlichen Politik Roms und der Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Interessen des Mittelstandes unmöglich.

In dieser Hinsicht ist der Protestantismus viel bequemer. Er ist die Bourgeois-Religion par excellence.


Erläuterungen:

1 Proudhon

Pierre Joseph Proudhon (* 15. Januar 1809 in Besançon, Frankreich; † 19. Januar 1865 in Passy bei Paris) war ein französischer Ökonom, Soziologe und Anarchist.

Leben

Proudhon wurde in der Region Franche-Comté geboren. Wie das Schweizer Jura jenseits der Berge, war sie eine Hochburg des libertären Sozialismus. Victor Hugo, Charles Fourier und Gustave Courbet wurden hier geboren, Peter Kropotkin und Michail Bakunin besuchten sie regelmäßig.

Der Sohn eines Küfers und einer Küchenmagd arbeitete bis zu seinem zwölften Geburtstag als Ochsenhirt. Durch ein Stipendium wurde ihm der Schulbesuch ermöglicht, er musste diesen aufgrund Geldmangels aber trotzdem frühzeitig beenden. Er erlernte den Beruf des Schriftsetzers und bildete sich als Autodidakt weiter. Als er nach Paris ging, wurde er zum soziologischen und politischen Denker und Autor.

Er stellte seine eigene Unabhängigkeit und seine moralischen Grundsätze vor andere Erwägungen. Obwohl den größten Teil seines Lebens in Armut verbringend, lehnte er mehrfach Angebote für gut bezahlte Stellen als Publizist ab, um seine geistige Unabhängigkeit nicht zu gefährden.

In der Februarrevolution von 1848 trifft er Michail Bakunin und er entwickelt als Abgeordneter der französischen Nationalversammlung ein Arbeitsprogramm. Er erstrebt eine Entwicklung zum Sozialismus ohne Gewalt, getragen von der freien Entscheidung der Arbeiter. Proudhon lehnt jede staatliche Gewalt ab und prägt die Überzeugung der Anarchisten, wonach die unbegrenzte Freiheit der Menschen die Grundvoraussetzung für eine sozialistische Ordnung ist. Proudhon sah in der Revolution eine starke Tendenz zu staatssozialistischen Vorstellungen, die er insbesondere in der Person des "regierungswütigen Louis Blancs" bekämpfte.

1849 will Proudhon mit der Gründung einer "Volksbank", die kostenlose Kredite vergibt, seine gesellschaftlichen Vorstellungen in die Praxis umsetzen. Nach einem halben Jahr muss Proudhon diese Volksbank jedoch wieder schließen, da er verhaftet und wegen seiner Beteiligung an der Revolution für drei Jahre inhaftiert wird.

Aufgrund dessen, dass der rhetorisch wesentlich gewandtere Louis Blanc in der Bevölkerung bald mehr Anhänger genoss, griff Proudhon auch zu für einen Sozialisten ungewöhnlichen Methoden. Er versuchte Napoleon III. zur Unterstützung seiner Pläne zu gewinnen, dieser brachte ihm jedoch vor allem Misstrauen entgegen. Proudhon hoffte, dass Napoleon III. ein "Repräsentant der Revolution wider Willen" würde.

Pierre Joseph Proudhon stirbt am 19. Januar 1865 in Passy bei Paris.

Werk

Proudhon war einer der ersten, der den Begriff Anarchie positiv fasste. Für ihn bedeute sie nicht Unordnung, sondern Ordnung in Freiheit. Von ihm ist auch die Parole "Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft" abgeleitet

Proudhon fasste die Wissenschaft der Politik stets als die Wissenschaft der Freiheit auf. Er schrieb: Die Politik ist die Wissenschaft von der Freiheit: die Beherrschung des Menschen durch den Menschen, gleichviel hinter welchem Namen sie sich verbergen mag, ist Unterdrückung, die höchste Vollkommenheit der Gesellschaft findet sich in der Vereinigung von Ordnung und Anarchie.

In seiner 1840 veröffentlichten Schrift "Qu'est-ce que la propriété?" kommt er zu dem Schluss: Eigentum ist Diebstahl. (Gemeint ist Privateigentum.) Man dürfe außer den persönlichen Arbeitsmitteln lediglich diejenigen Güter besitzen, die man durch eigene oder kollektive Arbeit hergestellt oder im Tausch dagegen erworben hat. Erbschaft oder Ausbeutung der Arbeitskraft anderer gehöre unterbunden, um die Kapitalanhäufung und die daraus resultierende Machtkonzentration zu verhindern. Die Gesellschaft soll sich auf dem freiwilligen Zusammenschluss dezentral organisierter, überschaubarer Einheiten ("fédéralisme"), also einem herrschaftsfreien System ("Anarchie") ohne Staat und großen Institutionen wie beispielsweise der Kirche, gründen.

Proudhons Schriften beeinflussten zahlreiche Intellektuelle der Zeit, vor allem aber die entstehende Gewerkschaftsbewegung in Frankreich, die lange anarchistisch orientiert blieb. Ökonomische Denker verurteilten Proudhon oft wegen der Unzulänglichkeit seiner Werke, eher politisch Interessierte schätzten ihn oft als normativen Denker.

Die Auseinandersetzung mit Karl Marx

Karl Marx schätzt zunächst den Menschen Proudhon, den er 1844/45 mehrfach in Paris trifft. Er lobt das "scharfsinnige Werk Proudhons" (Der Kommunismus und die Augsburger Allgemeine Zeitung) und in der Heiligen Familie dessen Angriffe auf das Eigentum (Qu'est-ce que la propriété) als einen die Nationalökonomie umwälzenden Fortschritt. In der Zeit des Kommunistischen Korrespondenzbüros bittet Marx Proudhon gar um Mitarbeit (Brief vom 5. Mai 1846), dieser lehnt jedoch in seinem Antwortschreiben vom 17. Mai ab. Einerseits wendet sich Proudhon gegen den möglichen Einsatz revolutionärer Gewalt, andererseits warnt er auch vor sich abzeichnenden autoritären Tendenzen beim jungen Marx:

"Lassen Sie uns gemeinsam, wenn Sie es wünschen, die Gesetze der Gesellschaft ergründen, die Art und Weise, wie diese Gesetze sich durchsetzen, die Methode, mit der wir sie entdecken können; aber nachdem wir alle Dogmen zertrümmert haben, lassen Sie uns um Gottes Willen nicht dazu verleiten, die Menschen unsererseits zu indoktrinieren; lassen Sie uns nicht den gleichen Fehler begehen, wie Ihr Landsmann Martin Luther, der, nachdem er die katholische Theologie stürzte, an deren Stelle eine protestantische Theologie mit Exkommunikation und Bannfluch setzte. Die letzten drei Jahrhunderte war Deutschland hauptsächlich damit beschäftigt, Luthers Pfuscherei rückgängig zu machen; lassen Sie uns nicht die Menschheit mit einer ähnlichen Sauerei zurücklassen. Ich appelliere an Sie aus vollem Herzen, alle Ihre Ansichten auszusprechen; lassen Sie uns kollegial streiten und der Welt ein Beispiel unserer erlernten und weitsichtigen Toleranz geben. Lassen Sie uns nicht, weil wir an der Spitze einer Bewegung sind, zu den Führern eitler neuer Intoleranz machen und nicht als Apostel einer neuen Religion auftreten, selbst wenn diese Religion die Religion der Logik, die Religion der Vernunft wäre. Lassen Sie uns alle Einwände annehmen und ermutigen, und jede Ausschließlichkeit, jede Mystik entmutigen. Lassen Sie uns niemals eine Frage als veraltet betrachten, und wenn uns die Argumente ausgehen, lassen Sie uns nötigenfalls von vorne beginnen – mit Eloquenz und Ironie. Unter dieser Bedingung werde ich gerne ihrem Verein beitreten. Ansonsten – nein!"

Seit dieser Absage wendet sich Marx entschieden gegen Proudhon. Er kritisiert als Studierter die philosophische Unzulänglichkeit des Autodidakten, zum anderen ist ihm der starke moralische Impetus von Proudhons Werken zuwider. Auf dessen im Oktober 1846 erschienene Contradictions économiques (Untertitel: Philosophie des Elends')' antwortet Marx 1847 mit dem Elend der Philosophie, in dem er Proudhon als kleinbürgerlichen Ideologen brandmarkt. Zugleich fungiert diese zunächst nur auf französisch erschienene Schrift sowohl als Analyse der kapitalistischen Gesellschaft wie als Programm einer Partei, deren Chef Marx ist (so Engels in einem Brief an Marx).

Der Bruch zwischen Marx und Proudhon markiert die Spaltung der Arbeiterbewegung so in zweifacher Weise: Einerseits scheiden die Anhänger der direkten Aktion, des revolutionären Streiks (also neben Anhängern Blanquis und Marx' auch viele Anarchisten) von den Anhängern einer allmählichen Erneuerung der Gesellschaft durch die Selbstorganisation des Proletariats und eine Kollektivbewegung; andererseits in Anarchisten und (vermeintliche) Etatisten."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Pierre_Joseph_Proudhon. -- Zugriff am 2005-01-059


2 Animalität: Tierheit

3 omnivore: allesfressende

4 Genesis (Erstes Buch Mose) 3:

1Und die Schlange war listiger denn alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von den Früchten der Bäume im Garten?

2Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;
3aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esst nicht davon, rührt's auch nicht an, dass ihr nicht sterbt.

4Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet mitnichten des Todes sterben;
5sondern Gott weiß, dass, welches Tages ihr davon esst, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.

6Und das Weib schaute an, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er lieblich anzusehen und ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte; und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann auch davon, und er aß.
7Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schürze.
8Und sie hörten die Stimme Gottes des HERRN, der im Garten ging, da der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des HERRN unter die Bäume im Garten.

9Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du?

10Und er sprach: Ich hörte deine Stimme im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.

11Und er sprach: Wer hat dir's gesagt, dass du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, davon ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?

12Da sprach Adam: Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß.

13Da sprach Gott der HERR zum Weibe: Warum hast du das getan? Das Weib sprach: Die Schlange betrog mich also, dass ich aß.

14Da sprach Gott der HERR zu der Schlange: Weil du solches getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und vor allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du gehen und Erde essen dein Leben lang.
15Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.

16Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein.

17Und zu Adam sprach er: Dieweil du hast gehorcht der Stimme deines Weibes und hast gegessen von dem Baum, davon ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen, verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang.
18Dornen und Disteln soll er dir tragen, und sollst das Kraut auf dem Felde essen.
19Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.

20Und Adam hieß sein Weib Eva, darum dass sie eine Mutter ist aller Lebendigen.

21Und Gott der HERR machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und kleidete sie.

22Und Gott der HERR sprach: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!

23Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden, dass er das Feld baute, davon er genommen ist,
24und trieb Adam aus und lagerte vor den Garten Eden die Cherubim mit dem bloßen, hauenden Schwert, zu bewahren den Weg zu dem Baum des Lebens.

[Luther-Bibel 1912]

5 Matthäusevangelium 20, 16: "Denn viele sind berufen, aber wenige auserwählt."

6 Napoleon III.

"Napoleon III., Kaiser der Franzosen, gewöhnlich Louis Napoleon genannt, geb. 20. April 1808 im Palais Royal in Paris, gest. 9. Jan. 1873, dritter Sohn Ludwig Bonapartes, Königs von Holland, und der Hortense Beauharnais, Stieftochter Napoleons I., begleitete nach dem zweiten Sturz des Kaiserreichs seine Mutter in die Verbannung nach Augsburg, wo er das Gymnasium besuchte, dann nach Arenenberg im Thurgau, beteiligte sich 1831 mit seinem ältern Bruder, Napoleon Louis, der am 17. März 1831 an den Masern starb, an dem misslungenen Aufstandsversuch Menottis in der Romagna, lebte mehrere Jahre in Zurückgezogenheit auf Arenenberg und trat als Hauptmann der Artillerie in die Schweizer Miliz ein; er veröffentlichte damals: »Considérations politiques et militaires sur la Suisse« und »Manuel sur l'artillerie«. Durch den Tod des Herzogs von Reichstadt (1832) wurde er das anerkannte Haupt der Napoleonischen Dynastie und entwickelte das Ideal des kaiserlichen Regierungssystems in den »Rêveries politiques«. Bei dem Versuche, sich in Straßburg zum Staatsoberhaupt ausrufen zu lassen, ward er in der Finkmattkaserne 30. Okt. 1836 verhaftet und nach Amerika verbannt. Auf die Nachricht von der Krankheit seiner Mutter kehrte er 1837 nach Europa zurück und lebte auf Arenenberg, bis die französische Regierung von der Schweiz seine Ausweisung verlangte. Er kam ihr zuvor, indem er sich nach London begab, wo er in den »Idées Napoléoniennes« (1839) nochmals sein politisches Glaubensbekenntnis entwickelte, das aus den Taten und noch mehr aus den heuchlerischen Phrasen seines Oheims geschickt zusammengestellt ist. Als Ludwig Philipp 1840 durch die Abholung der Leiche Napoleons I. nach Frankreich dem Napoleon-Kultus selbst eine Huldigung darbrachte, glaubte Napoleon die günstige Zeit für eine neue Schilderhebung für gekommen und landete, nachdem er eine Anzahl hochgestellter Generale gewonnen, an der französischen Küste bei Boulogne und versuchte 6. Okt. 1840 in diese Stadt einzudringen, wurde aber, da sich niemand für ihn erklärte, auf der Flucht verhaftet. Die Pairskammer verurteilte ihn zu lebenslänglicher Hast in der Festung Ham; hier lebte er in Gesellschaft eines Mitschuldigen, Conneau, fünf Jahre in milder Haft. Als Maurer verkleidet (angeblich unter dem Namen Badinguet, der ihm als Spottname verblieb) entfloh er von Ham 25. Mai 1846 nach England.

Nach der Februarrevolution ward er mehrfach zum Deputierten gewählt und erschien im September 1848 in der Nationalversammlung Er beobachtete eine kluge Zurückhaltung, ließ aber gleichzeitig die Masse des Volkes, in dessen Augen sein Name ihm einen Nimbus gab, für sich bearbeiten. So kam es, dass er bei der Präsidentenwahl 10. Dez. 1848: 51/2 Mill. Stimmen gegen 11/2 Mill. für Cavaignac erhielt; am 20. Dez. leistete er den Eid auf die Verfassung der Republik. Während die Vertreter der Nation ihre Zeit in erbittertem Parteikampf vergeudeten, füllte Napoleon Heer und Beamtenstand mit seinen Anhängern und gewann den Klerus durch die Unterstützung des Papstes gegen die römischen Republikaner (1849) sowie den Bürgerstand durch die Aussicht auf einen dauernden Frieden unter einer starken Regierung. Der Gesetzgebenden Versammlung gegenüber, mit der er bald in Konflikt geriet, trat er als der Erwählte der Nation auf, und als sie sich weigerte, seine Wiederwahl durch eine Revision der Verfassung zu ermöglichen (19. Juli 1851), die Verfügung über die Truppen beanspruchte und eine dritte Gehaltserhöhung Napoleons abschlug, setzte er in der Nacht vom 1. auf den 2. Dez. 1851 den seit langem im geheimen vorbereiteten Staatsstreich ins Werk: die Führer des Parlaments wurden verhaftet und verbannt, ein republikanischer Aufstandsversuch in den Straßen von Paris durch schonungsloses Einschreiten der Truppen im Keim erstickt. Von der Volksvertretung appellierte Napoleon an das souveräne Volk selbst, das durch die Wahl Napoleons zum Präsidenten auf zehn Jahre mit 71/2 Mill. Stimmen (20. Dez.) die Errichtung einer Militärdiktatur billigte; die neue Verfassung vom 14. Jan. 1852 gab dem Volk das Recht des Plebiszits in besondern Fällen, der Volksvertretung (Senat und Gesetzgebendem Körper) nur das der Beratung, dem Staatsoberhaupt eine sonst unumschränkte Gewalt. Am 7. Nov. 1852 erklärte der Senat die Wiederherstellung des Kaiserreichs für den Willen der Nation, die das Senatskonsult am 22. mit über 7,800,000 Stimmen bestätigte. Am 2. Dez. 1852 wurde Napoleon III. als Kaiser der Franzosen proklamiert. Von den europäischen Mächten wurde Napoleon bald anerkannt, eine Heirat mit einer Prinzessin aus fürstlichem Haus kam aber nicht zustande. Napoleon vermählte sich daher 29. Jan. 1853 mit einer Spanierin, Eugenie , Gräfin von Teba, die ihm 16. März 1856 einen Erben, den kaiserlichen Prinzen (s. S. 421 f.), gebar.
Napoleon strebte vor allem danach, durch Kriegsruhm die französische Nation zu blenden und sich das Verdienst zu erwerben, Frankreich das Übergewicht in Europa wiederzuerringen. Hierzu diente ihm die Beteiligung am Krimkrieg; die Kämpfe vor Sebastopol befriedigten den Ehrgeiz der Armee, die Niederlage Russlands befreite das liberale Europa von dem Druck, den der despotische Zar Nikolaus ausgeübt hatte, England und Österreich waren Frankreichs Bundesgenossen, und auf dem Pariser Kongress 1856 waren die Gesandten sämtlicher Großmächte um den Kaiser versammelt, der durch Großmut auf Kosten seiner Verbündeten Russland für sich gewann. Das Attentat des Italieners Orsini (14. Jan. 1858), das ebenso wie die vorhergegangenen der Italiener Pianori (28. April 1855) und Bellamare (8. Sept. 1855) scheiterte, bezeichnete einen Wendepunkt in der kaiserlichen Politik. Seiner doktrinären Neigung folgend, erklärte Napoleon jetzt die Befreiung der unterdrückten Völker für das Ziel der französischen Politik. Nachdem er sich mit Cavour in Plombières verständigt und das Bündnis und eine Familienverbindung mit Sardinien geschlossen, zog er mit diesem 1859 gegen die österreichische Herrschaft in Italien zu Felde, siegte bei Magenta und Solferino, entzog sich weitern Verwickelungen durch den Frieden von Villafranca (11. Juli) und erwarb Savoyen und Nizza (1860). Er schien jetzt auf der Höhe seiner Macht zu stehen; die mächtigsten Reiche des Kontinents hatte er gedemütigt, und alle Welt lauschte gespannt seinen Worten. Um den Klerus zu gewinnen, musste er sich jedoch der vollständigen Einigung Italiens widersetzen und 1867 bei Mentana sogar mit den Waffen zugunsten des Papstes einschreiten, wodurch er die Dankbarkeit der Italiener verscherzte. Die Bundesgenossenschaft, die Napoleon beim Staatsstreich sich aufgeladen, die der Abenteurer und Glücksritter, deren Frivolität und zynische Geldgier ihn schon durch verschiedene Börsenschwindeleien kompromittiert hatten, verleitete ihn 1862 zu der verhängnisvollen mexikanischen Expedition, mit der er das nebelhafte Ziel einer französischen Protektion über die lateinische Rasse auch in der Neuen Welt verband. Aber seine Berechnungen erwiesen sich als trügerisch: die Eroberung Mexikos und die Errichtung eines Vasallenthrons waren nicht so leicht, wie er gedacht, und als die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach Beendigung ihres Bürgerkrieges gegen die französische Intervention Protest erhoben, musste Napoleon Mexiko räumen und seinen Schützling, Kaiser Maximilian, preisgeben (1867), nachdem das Unternehmen an direkten Kosten der Armee und an Anleihen für das mexikanische Kaiserreich ungeheure Geldsummen verschlungen hatte und die Armeevorräte aufgebraucht worden waren. Daher musste sich Napoleon gefallen lassen, dass Russland seine Intervention zugunsten Polens, England seinen Vorschlag eines allgemeinen Kongresses in Paris ablehnte (1863), und konnte 1866 nach dem glänzenden Sieg Preußens über Österreich dem Sieger nicht Einhalt gebieten und Kompensationen am Rhein für Frankreich erzwingen, wie die öffentliche Meinung verlangte; nicht einmal Luxemburg gelang es ihm 1867 zu erwerben.

Diese Misserfolge minderten Napoleons Ansehen rasch. Seine Haltung war von da ab unsicher und schwankend, wozu auch sein schmerzhaftes Steinleiden beitrug. Einerseits schmiedete er unaufhörlich Pläne, um durch territoriale Erwerbungen die Eroberungsgier der Nation zu befriedigen, zu welchem Zweck er die Armee durch Niel reorganisieren und mit dem Chassepotgewehr ausrüsten ließ sowie einen Dreibund (mit Italien und Österreich) gegen Preußen anstrebte; anderseits machte er Zugeständnisse in der innern Politik, indem er dem Gesetzgebenden Körper 1860 das Interpellationsrecht, 1867 die Adressdebatte zurückgab und 1869 ihm Budgetrecht, Verantwortlichkeit der Minister u.a. zugestand. Das am 2. Jan. 1870 berufene Ministerium Ollivier sollte Frankreich zu einem konstitutionellen Staat umbilden. Bei dem Plebiszit, dem dieser Reformplan 8. Mai 1870 unterworfen ward, wurden 11/2 Mill. Nein abgegeben; diese verhältnismäßig hohe Zahl zeigte, dass die Zugeständnisse zu spät gekommen waren, dass man sie ebensowenig würdigte wie das Verdienst, das sich Napoleon durch den Handelsvertrag mit England (1860) erworben. Unter dem Eindruck der Missstimmung der Nation ließ sich Napoleon 1870 wider seinen Willen von dem leidenschaftlichen und beschränkten Minister des Äußern, Gramont, sowie von der Hofpartei, den Klerikalen und Reaktionären zum Krieg mit Preußen drängen (s. Deutsch-französischer Krieg). Aber sein Mangel an Vertrauen zu sich selbst und seine Krankheit raubten ihm den letzten Rest von Energie und Tatkraft in der Führung der Armee, deren Oberbefehl er schon 12. Aug. niederlegte. Der Tag von Sedan (1. Sept.) besiegelte sein Schicksal. Nachdem »es ihm nicht gelungen, den Tod zu finden«, gab er sich kriegsgefangen, wagte aber nicht die Verantwortung für Friedensverhandlungen zu übernehmen. Noch am 2. Sept. reiste er nach dem ihm angewiesenen Aufenthalt, Schloss Wilhelmshöhe, ab und begab sich nach Abschluss des Präliminarfriedens und nach seiner Absetzung durch die Nationalversammlung (1. März) zu seiner Familie nach Chislehurst in England, wo er an den Folgen einer Steinoperation starb.

Napoleon hatte in seinem Äußern wenig vom Bonaparteschen Familientypus; auch sein Phlegma, seine träumerische Apathie wiesen auf andern als korsischen Ursprung hin. Von Natur war er sanft und wohlwollend, seinen Freunden und Dienern treu und dankbar; seine geistige Begabung war nicht unbedeutend, wenn auch nicht schöpferisch. Seine Kenntnisse waren vielseitig, doch neigte er zum Doktrinarismus. Sein Verhängnis war sein Prätendententum; die Schuld des Staatsstreiches lastete schwer auf ihm, und sein Regierungssystem musste an dem unversöhnbaren Widerspruch zwischen Despotismus und Volkssouveränität scheitern. Indes Italien hat ihm ein dankbares Andenken bewahrt und 1879 in Mailand ein Standbild errichtet. In jüngster Zeit zieht auch in Frankreich sein Andenken Vorteil aus dem Wiedererwachen des Napoleon-Kultus. Napoleons Werke erschienen gesammelt als »OEuvres de Napoléon III« in 5 Bänden (Par. 1854-69; deutsch von Richard, Leipz. 1857-58, 4 Bde.). Kleinere Schriften sind: »Politique de la Franceen Algérie« (1865); »Carte de la situation militaireen Europe« (1868); »Titres de la dynastie Napoléonienne« (1868); »Progrès de la France sous le gouvernement impérial« (1869); »Forces militaires de la France« (1872). Sein Hauptwerk ist die »Histoire de Jules César« (1865-66, 2 Bde.; deutsch, Wien 1865-66), deren zweiter Band wegen der gründlichen Studien über den gallischen Krieg wertvoll ist. Nach seinem Tod erschienen: »OEuvres posthumes; autographes inédits de Napoleon IIIen exil« (1873)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

7 Wilhelm I

"Wilhelm I. Friedrich Ludwig, deutscher Kaiser und König von Preußen, der zweite Sohn König Friedrich Wilhelms III. (s. Friedrich 60) und der Königin Luise (s. Luise 3), geb. 22. März 1797 in Berlin, gest. daselbst 9. März 1888, wurde 1. Jan. 1807 Offizier und durch Delbrück und den Hauptmann v. Reiche vortrefflich erzogen. Wilhelm zeigte früh einen klaren, praktischen Verstand, große Ordnungsliebe und einen ernsten, zuverlässigen Charakter, während er an geistiger Regsamkeit seinem ältern Bruder, Fritz (Friedrich Wilhelm IV.), nachstand. 1814 Hauptmann geworden, begleitete der Prinz seinen Vater auf dem Feldzug nach Frankreich, erwarb sich bei Bar-sur-Aube 26. Febr. das Eiserne Kreuz, zog 31. März mit in Paris ein, folgte den Monarchen auch beim Besuch in England und führte, 8. Juni 1815 konfirmiert und zum Major befördert, ein Bataillon des 1. Garderegiments von neuem nach Frankreich, wo indes der Krieg schon zu Ende war. Seit 1. Jan. 1816 führte er das Stettiner Gardelandwehrbataillon, erhielt 1818 als Generalmajor eine Gardeinfanteriebrigade, 1. Mai. 1820 die 1. Gardedivision und 1825 als Generalleutnant das Gardekorps. Mit Treue die Pflichten seiner militärischen Stellung erfüllend, half er mit Erfolg in der langen Friedenszeit den militärischen Geist in den Truppen zu erhalten. Auch zu den Staatsangelegenheiten herangezogen und wiederholt an den Petersburger Hof gesandt, vermählte er sich, nachdem er 1826 auf die Heirat mit der Prinzessin Elise Radziwill (s. Radziwill, S. 564), die er innig liebte, verzichtet hatte, weil sie Streit über die Erbfolge in der Dynastie hervorzurufen drohte, 11. Juni 1829 mit der Prinzessin Augusta  von Sachsen-Weimar, deren Schwester Maria die Gemahl in seines jüngern Bruders Karl (s. Karl 48) war. Sie gebar ihm 18. Okt. 1831 den Prinzen Friedrich Wilhelm (s. Friedrich 5) und 3. Dez. 1838 die Prinzessin Luise (seit 1856 Großherzogin von Baden). Nach dem Tode seines Vaters 1840 erhielt Wilhelm als präsumtiver Nachfolger seines Bruders Friedrich Wilhelm IV. den Titel »Prinz von Preußen«, wurde bald darauf General der Infanterie und verfolgte nun mit lebhaftem Interesse die innere Politik, ohne jedoch auf seinen Bruder wesentlichen Einfluss zu gewinnen. Nur mit schwerer Besorgnis stimmte er 1847 der Berufung des Vereinigten Landtags zu. Im März 1848 war er entschieden für Bewilligung einer konstitutionellen Verfassung, aber ebenso für unbedingte Aufrechthaltung der königlichen Macht. Wegen seiner ausgesprochenen Vorliebe für das Militärwesen erschien er jedoch dem Volke als die Hauptstütze der absolutistischen Tendenzen, war persönlich gefährdet und ging deswegen 22. März nach London, wo er im Verkehr mit dem Prinzen Albert, R. Peel, J. Russell, Palmerston und andern Staatsmännern seine politischen Anschauungen klärte. Anfang Juni kehrte er nach Berlin zurück, wurde in die preußische Nationalversammlung gewählt, nahm aber, nachdem er seine konstitutionellen Grundsätze dargelegt hatte, keinen weitern Anteil an den Verhandlungen. Am 8. Juni 1849 mit dem Oberbefehl über die zur Bewältigung der süddeutschen Revolution bestimmten Truppen betraut, unterwarf er, nachdem er in Mainz einem Attentat glücklich entgangen, in wenigen Wochen die aufständische Pfalz und Baden. Im Oktober Militärgouverneur am Rhein und in Westfalen geworden, nahm er seinen Wohnsitz in Koblenz, ward 1854 Generaloberst der Infanterie mit dem Rang eines Feldmarschalls und zugleich Gouverneur der Festung Mainz. Mit der auswärtigen Politik Preußens seit 1850 war der Prinz nicht einverstanden, hielt sich aber auch von der politischen und kirchlichen Reaktion fern und förderte die Wehrmacht Preußens in der Erkenntnis, dass nur durch militärische Erfolge eine grundsätzliche politische Wandlung herbeigeführt werden könnte. So sehr er mit dieser Anschauung allein stand, so war er doch in der letzten Zeit wenig hervorgetreten, galt als guter preußischer und deutscher Patriot, als kirchlich unbefangen und konstitutionell gesinnt, und die früher ihm ungünstige öffentliche Meinung war so umgeschlagen, dass alle Hoffnungen sich ihm zuwandten, als er während der Krankheit des Königs 23. Okt. 1857 als dessen Stellvertreter und 7. Okt. 1858 als Regent an die Spitze der Regierung trat. Nachdem er 26. Okt. den Eid auf die Verfassung geleistet, berief er 5. Nov. das liberale Ministerium Hohenzollern (»neue Ära«) und legte 8. Nov. in einem Erlass an dieses seine Regierungsgrundsätze dar: Von einem Bruch mit der Vergangenheit könne nicht die Rede sein, aber alle Scheinheiligkeit und Heuchelei sei zu meiden; in der auswärtigen Politik dürfe Preußen fremden Einflüssen nicht nachgeben, es müsse vielmehr durch eine weise Gesetzgebung, Hebung aller sittlichen Elemente und Ergreifung von Einigungsmomenten in Deutschland moralische Eroberungen zu machen suchen. Diese Äußerungen wurden im Volke mit Beifall aufgenommen, aber zu wenig Beachtung fanden seine Worte, in denen er von der notwendigen Heeresreform und den dazu erforderlichen Geldmitteln sprach, da Preußens Heer mächtig und angesehen sein müsse, wenn Preußen seine Aufgabe erfüllen solle. Die Ereignisse von 1859, als die Mobilmachung auf große Schwierigkeiten stieß und viele Mängel im Heerwesen aufdeckte, erwiesen die Berechtigung dieser Gedanken; aber das Abgeordnetenhaus konnte sich nicht entschließen, die Mehrkosten der durchgreifenden Heeresreorganisation, deren Plan 1860 vorgelegt wurde, zu bewilligen. Voll Ungeduld wollte man erst tatsächliche Beweise einer erfolgreichen deutschen Politik sehen. Am 14. Juli 1861 machte der Student Oskar Becker in Baden-Baden sogar ein Attentat auf Wilhelm, der nach Friedrich Wilhelms Tode (2. Jan. 1861) wirklich König geworden war, verwundete ihn aber nur leicht. Die Krönung (18. Okt. 1861) zeigte der Öffentlichkeit die von dem Parlament unabhängige Macht des Königtums, verstärkte aber deswegen das Misstrauen gegen die konstitutionellen Ansichten des Königs; die Neuwahlen Ende 1861 fielen fortschrittlich aus, und mit dem Rücktritte des Ministeriums der Neuen Ära (17. März 1862), das zurücktrat, weil es die gesetzliche Genehmigung der tatsächlich bereits durchgeführten Heeresreorganisation nicht erreichen konnte, begann der Verfassungskonflikt, in dem der König sein eigenstes Werk, die Heeresreform, mit Standhaftigkeit festhielt und für das Ministerium Bismarck (s. Bismarck 1) mit seiner ganzen königlichen Autorität eintrat. Dadurch verlor der König rasch seine frühere Popularität wieder, wie sich besonders bei den 50jährigen Erinnerungsfesten an die Befreiungskriege und an die Vereinigung der neuen Provinzen mit Preußen 1863-65 zeigte. Obwohl Wilhelm schwer unter dieser Entfremdung des Volkes litt, blieb er doch in der Verteidigung der Rechte der Krone standhaft, verfolgte aber Bismarcks kühnem und staatsklugem Plane gemäß eine entschiedene deutsche Politik. Da aber die damalige öffentliche Meinung diese Pläne nicht verstand, so hielt sie das Verhalten des Königs gegen den Fürstenkongress 1863 und in der schleswig-holsteinischen Sache 1864 für bloße Spiegelfechterei. Um den Konflikt zu beenden, ohne die mit Mühe durchgeführte Heeresreform preiszugeben, ging der König, wiewohl widerstrebend, auf Bismarcks geniale Politik ein, die 1866 zum Entscheidungskampf mit Österreich führte. Er übernahm selbst den Oberbefehl über das Heer und errang den glänzenden Sieg bei Königgrätz. Bei den Friedensverhandlungen verzichtete er nur ungern auf die Annexion Sachsens, um Bismarcks deutsche Einigungspläne nicht zu durchkreuzen, und bot dem Landtag durch das Indemnitätsgesetz die Hand zum Frieden, die nun nach dem Erfolg freudig ergriffen wurde. Durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 1. Juli 1867 ward Wilhelm dessen Präsident. Im Innern lenkte er in die liberale Bahn, die verhasstesten Minister der Konfliktsperiode wurden durch liberale Männer ersetzt. Der Krieg mit Frankreich 1870-71 bedeckte das Heer mit neuem Ruhm. Wilhelm übernahm wieder den Oberbefehl über die gesamte in Frankreich einrückende Armee, befehligte selbst bei Gravelotte und bei Sedan und leitete von Oktober 1870 bis März 1871 von Versailles aus die militärischen Operationen und die politischen Verhandlungen über die Errichtung des Deutschen Reiches. Durch die Kaiserproklamation, die am 18. Jan. 1871 im Versailler Schloss stattfand, nahm Wilhelm für sich und seine Nachfolger an der Krone Preußen den Titel »deutscher Kaiser« an. Am 16. Juni 1871 hielt er seinen glänzenden Einzug in Berlin. Rastlos mit der Vollendung der militärischen Organisation des Deutschen Reiches und der innern Reform des preußischen Staatswesens beschäftigt, hielt Wilhelm auch im Kulturkampf gegenüber allen ultramontanen Schmeicheleien und Drohungen entschlossen zu seinen Ministern und wies die Anmaßung des Papstes in seinem berühmten Schreiben vom 3. Sept. 1873 zurück. Zur Sicherung des europäischen Friedens schloss er im September 1872 den Dreikaiserbund zwischen Deutschland, Russland und Österreich, der die beiden letztern Mächte einander näherte. Demselben Zwecke dienten des Kaisers Besuche 1873 in St. Petersburg und Wien, 1875 in Mailand. Durch seine unermüdliche, aufopfernde Tätigkeit für das Gemeinwohl erlangte Wilhelm eine außerordentliche Beliebtheit, die sich bei seinem 70jährigen und 80jährigen Militärjubiläum, bei der Feier des 80. und 90. Geburtstags (1877 und 1887) sowie bei der Goldenen Hochzeit (1879) in großartigen Huldigungen des deutschen Volkes bewährte. Selten hat ein Fürst noch in so hohem Alter seinem Haus und Staate solche Ehren errungen wie er, der nicht bloß der älteste, sondern auch der angesehenste und mächtigste Monarch Europas war. Um so größeres Erstaunen erregten die auf sein Leben von Hödel  11. Mai 1878 und Nobiling  2. Juni 1878 unternommenen Attentate. Obwohl der Kaiser durch die bei letzterm erhaltenen Wunden an Kopf und Arm so krank wurde, dass er 4. Juni den Kronprinzen zum Stellvertreter ernennen musste, so bewahrte er dennoch unerschütterliche Seelenruhe und übernahm nach längerm Aufenthalt in Baden und Wiesbaden 5. Dez. die Regierung wieder. Im Sommer 1878 ward im ganzen Reiche die Kaiser Wilhelms- Spende  aus kleinen Gaben gesammelt. Am 17. Nov. 1881 und 14. April 1883 ergingen die Botschaften an den Reichstag, in denen die wichtigen Gesetze für das Wohl der Arbeiter angekündigt wurden. Auch knüpfte der Kaiser Verhandlungen mit dem neuen friedliebenden Papste Leo XIII. zur Beendigung des Kulturkampfes an. Ungeachtet seiner tief gewurzelten Sympathien für Russland gab er 1879 seine Zustimmung zum Bündnis mit Österreich, aus dem durch den Zutritt Italiens der Dreibund  wurde. Unermüdlich tätig, weilte Wilhelm meist in Berlin und ging nur im Sommer kurze Zeit nach Ems und Gastein. Schmerzlich getroffen durch die Krankheit seines Sohnes und den Tod seines Enkels (des Prinzen Ludwig von Baden), starb Wilhelm nach kurzer Krankheit 9. März 1888 in Berlin und ward 16. März im Mausoleum zu Charlottenburg beigesetzt. Zahlreiche, teilweise großartige Denkmäler wurden ihm von Provinzen und Städten u. errichtet: Ende 1902 wurden 322 an 318 Orten gezählt. Die bedeutsamsten darunter sind das auf Reichskosten errichtete Nationaldenkmal in Berlin (von R. Begas, mit Halle von Halmhuber, 22. März. 1897, enthüllt; s. Tafel »Berliner Denkmäler I«, Fig. 1), das vom deutschen Kriegerbund errichtete auf dem Kyffhäuser (von Schmitz, mit Reiterstandbild von Hundrieser), das der Rheinprovinz am deutschen Eck bei Koblenz (von denselben) und das der Provinz Westfalen auf dem Wittekindsberg bei Minden (von Schmitz, mit Standbild von Zumbusch). Außerdem sind zu erwähnen das Jung Wilhelm-Denkmal auf der Luiseninsel im Tiergarten zu Berlin in Marmor (von Adolf Brütt, 3. Mai 1904 enthüllt), das den Prinzen in der Uniform der Gardefüsiliere im Alter von 17 Jahren zeigt, die Reiterdenkmäler in Eberfeld und Mannheim (beide von Eberlein), Bremen (von Bärwald), Görlitz (von Pfuhl), Frankfurt a. M. (von Buscher), Düsseldorf (von K. Janssen), Köln (von R. Anders), Kiel (von Brütt), Stettin (von Hilgers), Metz (von Fr. v. Miller), Breslau (von Behrens) und Magdeburg (von Siemering) und die Marmorstandbilder in Ems (von P. Otto) und Wiesbaden (von Schilling). Vgl. Kuntzemüller, Die Denkmäler Kaiser Wilhelms des Großen (Brem. 1903). Das 2. westpreußische Grenadierregiment Nr. 7 wurde Grenadierregiment König Wilhelm I. benannt.

Wilhelm war von großer, imposanter Gestalt und regelmäßigen, angenehmen und freundlichen Gesichtszügen. Geregelte Tätigkeit und einfache Lebensweise bewahrten ihm bis in sein hohes Alter eine seltene körperliche Rüstigkeit und geistige Frische. Allgemein bewundert wurden seine Liebenswürdigkeit im persönlichen Verkehr und seine unermüdliche Ausdauer in der Erfüllung seiner Pflichten als Monarch. »Einfach, bieder und verständig«, so hatte seine Mutter ihn 1810 bezeichnet, und so entwickelte er sich harmonisch. Er war ein gläubiger Christ, aber ohne Unduldsamkeit. Hervorragende Geistesgaben zeichneten ihn nicht aus; er zeigte hauptsächlich für militärische und politische Dinge Verständnis, weniger für Künste und Wissenschaften. Doch suchte er sich als Herrscher über alle wichtigen Dinge genau zu unterrichten und sich ein selbständiges Urteil zu bilden. Seine Menschenkenntnis gestattete ihm, fast immer die richtigen Männer für die zu lösenden Aufgaben zu finden. Bedeutend waren seine Charaktereigenschaften: seine Wahrheitsliebe, Treue, Dankbarkeit, sein sittlicher Mut, sein Pflichtgefühl als Herrscher, seine Standhaftigkeit in gefährlichen, seine Mäßigung in glücklichen Lagen. Mit Bescheidenheit pflegte er das Verdienst der von ihm selbst ausgewählten Gehilfen, besonders Bismarcks, Moltkes und Roons, nicht nur selbst anzuerkennen, sondern ertrug auch die ihn selbst in Schatten stellende Verherrlichung derselben ohne Eifersucht. Kaiser Wilhelm war ein glänzendes Beispiel dafür, dass im Staatsleben ein Charakter weit mehr wert ist als ein Talent. Den Beinamen »der Große«, den ihm sein Enkel beigelegt und auf vielen Denkmälern verewigt hat, versagt ihm die Geschichte, aber als »Wilhelm der Siegreiche« und populär als »der alte Wilhelm« lebt er im Andenken des Volkes. Gesammelt erschienen: »Militärische Schriften weiland Kaiser Wilhelms des Großen« (Berl. 1897, 2 Bde.); »Politische Korrespondenz Kaiser Wilhelms I.« (das. 1890) und »Kaiser Wilhelms des Großen Briefe, Reden und Schriften« (hrsg. von E. Berner, das. 1905, 2 Bde.). Den Briefwechsel zwischen Kaiser Wilhelm und Fürst Bismarck gab Penzler heraus (Leipz. 1900)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

8 Ferdinand von Österreich

"Ferdinand I. (als König von Böhmen und Ungarn Ferdinand V.) Karl Leopold Joseph Franz Marcellin, Kaiser von Österreich, ältester Sohn des Kaisers Franz I. und der Maria Theresia, Prinzessin beider Sizilien, wurde 19. April 1793 in Wien geboren, starb 29. Juni 1875 in Prag. Von früher Jugend an von sehr schwächlicher Konstitution, erhielt er eine seiner künftigen Bestimmung wenig entsprechende Erziehung, zeichnete sich aber durch Menschenfreundlichkeit und Herzensgüte aus. Seine Lieblingsstudien waren heraldische und technologische, außerdem zog ihn die Landwirtschaft an. Erst seit 1829 wohnte er den Sitzungen des Staatsrats bei und wurde vom Kaiser mit der Unterschrift und mit der Erledigung bestimmter Geschäfte beauftragt. Am 28. Sept. 1830 wurde er (als Ferdinand V.) zu Preßburg zum König von Ungarn gekrönt. Am 12. Febr. 1831 vermählte er sich mit Maria Anna Carolina Pia (geb. 19. Sept. 1803, gest. 4. Mai 1884), einer Tochter König Viktor Emanuels von Sardinien. Am 9. Aug. 1832 entging er glücklich einem Attentat durch den pensionierten Hauptmann Franz Reindl, verfiel aber in lange Krankheit. Am 2. März 1835 folgte er seinem Vater auf dem Kaiserthron. Die Leiter der Regierung (»Staatskonferenz«) waren sein Oheim Erzherzog Ludwig, sein Bruder Erzherzog Franz Karl, Fürst Metternich und Graf Kolowrat. Am 7. Sept. 1836 empfing er in Prag die Krone von Böhmen, und 6. Sept. 1838 wurde er zum König der Lombardei gekrönt. Bei dieser Gelegenheit erteilte er eine allgemeine Amnestie für alle bisher stattgehabten politischen Vergehen seiner Untertanen in den italienischen Provinzen. Bei Ausbruch der Unruhen im Frühjahr 1848 begab sich Ferdinand mit seinem Hof zuerst nach Innsbruck, kehrte Mitte August 1848 nach Wien zurück, um dann beim Ausbruch des Oktoberaufstandes nach Olmütz zu gehen, und hier legte er, da seine Ehe kinderlos war, 2. Dez. 1848 zugunsten seines Neffen Franz Joseph die Regierung nieder. Seitdem lebte er in völliger Zurückgezogenheit meist in Prag."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

9 Alexander von Russland

"Alexander II. Nikolajewitsch, Kaiser von Russland, Sohn des Kaisers Nikolaus I. und der Kaiserin Alexandra, geb. 29. (17.) April 1818, gest. 13. (1.) März 1881, durch den Dichter Shukowskij trefflich erzogen, bestieg den Thron 2. März (18. Febr.) 1855 und wurde 7. Sept. 1856 in Moskau gekrönt. Den Krieg gegen die Pforte setzte er zunächst fort und besuchte im November selbst Odessa und die Krim. Der Pariser Friede (1856) schwächte dann zwar Russlands Machtstellung im Orient sehr; doch erholte es sich durch die vorsichtige, aber tatkräftige Politik des Kaisers bald. Die Unterwerfung der kaukasischen Bergvölker wurde fortgesetzt und vollendet, während zugleich die Gebiete zwischen dem Kaspischen Meer und dem Aralsee besetzt oder doch unter russischen Einfluss gebracht wurden. Wichtiger war die von Alexander in Angriff genommene innere Reform, deren wesentlichste Bestandteile die seit 1861 durchgeführte Aufhebung der Leibeigenschaft, die Justizreform und die neue Militärorganisation sind. Der polnische Aufstand 1863 wurde schonungslos niedergeworfen. Die Reformen und die Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse riefen in vielen davon betroffenen Kreisen tiefe Missstimmung hervor und halfen in der großenteils ungebildeten Bevölkerung sozialistische und kommunistische Ideen verbreiten (s. Nihilismus), während der Sieg über die Polen die nationale Leidenschaft der Russen erweckte und den Panslawismus ins Leben rief. Dabei duldete Alexander gewissenlose, habsüchtige hohe Beamte in seiner nächsten Umgebung, infolgedessen denn auch die Unzufriedenheit in gewissen Schichten des Volkes gegen Alexanders wohlwollende Regierung stieg. Ein im April 1866 von dem Edelmann Karakosow versuchtes Attentat auf den Kaiser, das durch den Bauer Kommissarow verhindert wurde, veranlasste Untersuchungen, die das Vorhandensein zahlreicher Geheimbünde aufdeckten. Dies und ein zweites Attentat, das während der Pariser Ausstellung (1867) von einem wahnsinnigen Polen, Berezowski, versucht wurde, machten auf den Kaiser tiefen Eindruck. Die Zensur wurde in alter Strenge wiederhergestellt und eine umfassende polizeiliche Überwachung eingerichtet. Während des Krieges zwischen Österreich und Preußen 1866 bewahrte Alexander eine neutrale, aber preußenfreundliche Haltung. Auch während des Krieges zwischen Frankreich und Deutschland 1870/71 gab Alexander seine Vorliebe durch Ordensverleihungen an die deutschen Heerführer und durch Ernennung des Kronprinzen und des Prinzen Friedrich Karl zu russischen Generalfeldmarschällen kund. Das neue Deutsche Reich und sein Kaiser waren Alexander durch Dankbarkeit und verwandtschaftliche Bande verpflichtet, und das eine Revanche ersehnende Frankreich bewarb sich eifrig um seine Freundschaft. Das im September 1872 auf einer persönlichen Zusammenkunft mit den Kaisern Wilhelm und Franz Joseph zu Berlin geschlossene Dreikaiserbündnis machte der langen Spannung zwischen Russland und Österreich ein Ende. Der Feldzug nach Chiwa 1873 erweiterte Russlands Macht in Innerasien. Währenddessen betrieb Alexander die Reorganisation des Heeres nach deutschem Muster; noch ehe sie vollendet war, wurde er durch die panslawistische Agitation, die namentlich die altrussischen Adels- und Beamtenkreise ergriffen hatte, zur neuen Einmischung in die orientalische Frage gedrängt. Er duldete die Unterstützung Serbiens und Montenegros durch Freiwillige und Gelder und sprach sein Mitgefühl für die Christen in der Türkei und seinen Willen aus, ihr Los zu bessern. Bei der Begrüßung durch den Adel in Moskau ließ er sich 10. Nov. 1876 durch die drohende Haltung Disraelis (9. Nov.) zu einer kriegerischen Rede hinreißen, die ihn im Falle des Scheiterns der Konferenz in Konstantinopel zum Kriege verpflichtete. 1877 folgte Alexander dem Donauheer nach Bulgarien und schlug sein Hauptquartier in Gorny Studen auf, wo er während der Unglücksmonate Juli bis September standhaft ausharrte. Als der Fall von Plewna den Eindruck der Niederlagen verwischt hatte, kehrte er 15. Dez. 1877 heim und wurde am 22. in Petersburg mit Jubel empfangen. Auch nach dem Kriege blieb seine Lage inmitten der sich bekämpfenden Richtungen in Russland schwierig, besonders nach den neuen Ausschreitungen der Nihilisten 1879. Mehrere Attentate wurden auf das Leben des Kaisers von den Nihilisten unternommen: 14. April 1879 schoss Solowiew beim Palais fünf Schüsse auf Alexander ab; 1. Dez. d. J. versuchten die Nihilisten bei Moskau den Eisenbahnzug, in dem Alexander fuhr, und 17. Febr. 1880 das Winterpalais in die Luft zu sprengen. Die strengsten Gegenmaßregeln waren die Folgen davon. Am 3. Juni 1880 starb seine Gemahlin Maria Alexandrowna, Tochter des Großherzogs Ludwig II. von Hessen (geb. 8. Aug. 1824, vermählt 1841). Am 31. Juli vermählte er sich mit der Prinzessin Katharina Dolgorukow (spätern Fürstin Jurjewskaja, s. d.), von der er schon drei Kinder (Fürsten Jurjewski) hatte. Seiner Absicht, eine Reichsvertretung zur Beratung großartiger Veränderungen im Staatsleben Russlands zu berufen, machte 13. (1.) März 1881 ein Attentat der Nihilistenpartei ein Ende. Auf der Fahrt von der Michaelmanege zum Winterpalais, am Katharinenkanal, wurde er durch Dynamitbomben so verwundet, dass er anderthalb Stunden später im Winterpalais starb. Sein ältester Sohn, Nikolaus (geb. 1843). war schon 1865 gestorben. Außer dem Thronfolger, Alexander III., hatte Alexander II. noch vier Söhne: 1) Wladimir, geb. 22. April 1847; 2) Alexei, geb. 14. Jan. 1850; 3) Sergius, geb. 11. Mai 1857; 4) Paul. geb. 3. Okt. 1860, und eine Tochter, Maria. geb. 17. Okt. 1853,23. Jan. 1874 mit dem Herzog Alfred von Edinburg, späterm Herzog von Sachsen-Koburg-Gotha (gest. 30. Juli 1900), vermählt. Denkmäler wurden ihm 1884 in Helsingfors und 1898 im Kreml zu Moskau errichtet."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

10 Jean-Baptiste Troppmann (1849 - 1870), ermordete 1869 acht Mitglieder einer Familie Kinck, wurde am 19. Januar 1870 in Paris hingerichtet.

11 Genesis 3,22: "Und Gott der HERR sprach: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!"

12 Anmerkung Bakunins:

"Der Leser wird eine vollständigere Darstellung dieser drei Prinzipien in dem Anhang dieses Buches finden, unter dem Titel: Philosophische Betrachtungen über das göttliche Phantom, über die wirkliche Welt und über den Menschen."

13 Materie

"Materie (materia, hylê) oder Stoff bedeutet zunächst, allgemein, das Korrelat zur Form , den Inhalt derselben, das Geformte, Gestaltete, Formungsfähige in Abstraktion von seiner Form, also alles, sofern es Objekt einer Formung ist oder werden kann, allen Gehalt einer Sache, eines Begriffs, eines Urteils , einer Erkenntnis, eines Kunstwerkes. Der absolut ungeformte Stoff ist nur eine Idee, ein abstrakter Begriff; alle konkrete Materie ist nur relativ »Stoff« von oder zu etwas, im Verhältnis zu einer höheren, aktiveren Form, einer Formung. Seit KANT unterscheidet man Form  und Stoff des Erkennens , der Erfahrung . Stoff der Erfahrung ist das noch ungeordnete Chaos der Empfindungen (vgl. KANT, Krit. d. r. Vern., Transcend. Ästhet.). W. ROSENKRANTZ betrachtet (»Materie und Form« als Nebenkategorien der Hauptkategorie »Ursache und Wirkung« (Wissensch. d. Wiss. II, 201). »Soll Überhaupt etwas werden, so muss immer schon etwas vorhanden. sein, das entweder selbst etwas anderes wird, oder woran etwas anderes wird. - Da ferner die Ursache der Wirkung entgegengesetzt ist, so kann jede Ursache das, was sie wirkt, nur an einem andern wirken, was sie nicht selbst ist. — Dasjenige endlich, was dadurch an diesem andern entsteht, erscheint nur der Ursache gegenüber als Wirkung. Im Vergleiche mit dem, woraus es entsteht, erscheint es als etwas, was dieses nicht ursprünglich war, sondern wozu es von außen bestimmt wurde, sohin als Form, zu welcher das hierzu Bestimmte in seinem ursprünglichen Zustande die Materie bildete« (l.c. S. 201 f.). Nach CARNERI ist der Stoff die Identität von Geist und Materie, von Inhalt und Form (Sittl. u. Darw. S. 95).

Metaphysisch bedeutet die Materie den beharrenden Träger der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen, die Substanz  der Körper, insofern sie räumlich-mechanisch und dynamisch begrifflich bestimmt wird. Die Materie ist nicht ein Ding unter Dingen, sondern das allen gemeinsame Substantielle im Raume und in der Bewegung. Ein Ding ist materiell, insofern es räumlich ausgedehnt, bewegt und widerstandskräftig ist. Die Materie als solche, der Stoff, ist weder ein Ding an sich noch Schein, sondern eine begriffliche Hypostase  der Körperlichkeit der Dinge, welche dynamische und energetische  Relationen der Dinge untereinander und auf das erkennende Subjekt darstellt. Qualitativ lässt sich die Materie in (aktive und passive, aktuelle und potentielle) Kräfte  auflösen, im engeren Sinne ist sie der Inbegriff von Widerständen in räumlicher Form, insofern diese Sitz, Ausgangs- und Angriffspunkte von Bewegungskräften bilden. Die Konstanz der Materie bedeutet die Unzerstörbarkeit derselben, das Postulat des (naturwissenschaftlichen) Denkens, die einmal gesetzte materielle Substanz für alle Veränderung festzuhalten, ein Postulat, das durch die Erfahrung beständig als berechtigt erhärtet wird. Der Materialismus  erblickt in der Materie die einzige oder doch eine absolute Realität ersten Ranges. In der modernen Physik besteht teilweise die Tendenz, den Begriff der Materie zu »eliminieren«, ihn durch den Begriff der Energie  zu ersetzen. Als Gegensatz der Materie wird oft der Geist ( betrachtet.

Die Materie wird bald als das Seelische einschließend, als belebt (Hylozoismus, ), bald als vom Geiste schroff unterschieden betrachtet, es werden ihr bald innere Kräfte zugeschrieben, bald gilt sie als träge Masse (»rudsi indigestaque moles«), sie wird geometrisch-mechanisch und auch dynamisch bestimmt.

Von den ionischen Naturphilosophen (THALES, ANAXIMADER, HERAKLIT) wird die Materie als bestimmter Stoff (Wasser, Luft, Feuer) bestimmt, von ANAXIMANER als unbegrenzter Kraftstoff (s. Apeiron). Bei den Eleaten tritt die Materie im Begriffe des starren Seins  auf. Nicht ganz sicher ist es, was die PLATONISCHE Materie eigentlich bedeutet, ob einen Stoff oder eher den leeren Raum (so nach ARISTOTELES, Phys. IV, 2, 209 b 11 squ.; E. ZELLER, Gesch. d. Philo  Griech. II4, 1, 727 ff.; SIEBECK, Platons Lehre von d. Mat.; Unters. zur Philo Gesch.2, S. 49 ff.; WINDELBAND, Plato2, S. 108 ff.; BÄUMKER, Probl. d. Mat. S. 177 ff.). Plato vergleicht die Materie mit der hylê der Handwerker. Sie ist das triton genos neben den Ideen und den Sinnendingen, ein mê on, relativ Nichtseiendes (Tim. 48 E). Sie ist gestaltlos, unbegrenzt, qualitätslos, unwahrnehmbar, nur durch einen unechten Schluss (logismô tini nothô) erfassbar, sie ist der Schloss des Werdens, die dexamenê ein ekmageion ein alles Aufnehmendes (pandeches), sie ist genos tês chôras (Tim. 52 A); die Dinge entstehen in ihr (en hô gignesthai, Tim. 50 C). Pasês einai geneseôs hypodochên auto, hoion tithênên (Tim. 49 A). Dechetai te gar aei ta panta kai morphên oudemian pote oudeni tôn eisiontôn homoian eilêphen oudamê oudamôs: ekmageion gar physei panti keitai, kinoumenon te kai diaschêmatizomenon hypo tôn eisiontôn... en d' oun tô paronti chrê genê dianoêthênai tritta, to men gignomenon, to d' en hô gignetai, to d' hothen aphomoioumenon phyetai to gignouenon. kai dê kai proseikasai prepei to men dechomenon mêtri (Tim. 50 C, D); kai tô ta tôn pantôn aei te ontôn kata pan heautou pollakis aphomoiômata kalôs mellonti dechesthai pantôn ektos autô prosêkei pephykenai tôn eidôn, dio dê tên tou gegonotos, horatou kai pantôs aisthêtou mêtera kai hypodochên mête mên mête aera mête pyr mête hydôr legomen, mête hosa ek toutôn mête ex hôn tauta gegonen. all' anoraton eidos ti kai amorphon, pandeches (Tim 51 A). Triton de au genos on to tês chôras aei, phthoran ou prosdechomenon, hedran de parechon hosa echei genesin pasin, auto de met' anaisthêsias hapton logismô tini nothô, mogis piston (Tim. 52 A, B).

Den Begriff der Materie im Gegensatze zum Formbegriffe prägt ARISTOTELES. Die Materie (hylê) ist eines der Prinzipien (archai). Sie ist die dynamis, das dynamei on, die Möglichkeit (Potenz) zu allem, das Unbestimmte (aoriston), das der Form zur konkreten Existenz bedarf, die Grundlage aller Gestaltung, das »weibliche« Prinzip (to thêly, De gener. anim. II, 1). Legô gar hylên to prôton hypokeimenon hekastô, ex hou gignetai ti enyparchontos; (Phys. I 9, 192 a 31); hou gar hê diaphora kai hê poiotês esti, tout' esti to hypokeimenon,ho legomen hylên. — Legô d' hylên hê kath' hautên mête ti mête poson mête allo mêden legetai hois hôristai to on. esti gar ti kath' hou katêgoreitai toutôn hekaston, hô to einai heteron kai tôn katêgoriôn hekastê (Met. VII 3, 1029 a 20 squ.); dynaton gar kai einai kai mê einai hekaston autôn, touto d' estin hê hekastô hylê Met. VII 7, 103 a 21); hylên de legô, hê mê tode ti ousa energeia dynamei esti tode ti (Met. VIII 1, 1042a 27). Die Materie ist träge, formlos (aeides kai amorphon), unbegrenzt (aoriston Met. VII 11, 1037 a 27), allein für sich unerkennbar (agnôstos kath' hautên, Met. VII 10, 1036a 8). Zu unterscheiden sind hylê aisthêtê und noêtê (sinnlicher und geistiger Stoff, Met. VII 10, 1036a 9 squ.). Die hylê ist dynamei, hoti elthoi an eis to eidos. hotan de g'energeia ê, tote en tô eidei estin (Met. VIII 8, 1050 a 15). Die Materie ist den Dingen immanent: hê men gar hylê ou chôristê tôn pragmatôn (Met. IV 7, 214a 13). Allen Dingen liegt die gleiche Materie zugrunde: estin hylê mia tôn enantiôn... tô d'einai heteron, kai mia tô arithmô... hotan gar ex hydatos aêr genêtai, hê autê hylê ou proslabousa ti allo egeneto, all' ho ên dynamei, energeia egeneto (Met. IV 9, 217 a 22 squ.). Das Substrat (hypokeimenon) aller Dinge ist die Urmaterie, hylê prôtê (»materia prima«), die aber für sich allein nur in der Abstraktion, begrifflich Existenz hat (Met. V 4, 1015a 7). Die hylê eschatê (idia, oikeia, »materia secunda«) ist die specifische und schon roh geformte Materie, die noch weiter zu formen ist (z.B. Erz) (Met. VIII 6, 1045 b 18). Die hylê prôtê ist ousia pôs, insofern sie sich mit der Form zu einer ousia verbindet (Phys. I, 9). Jedes Ding ist Materie im Verhältnis zu einem höheren Dinge: aei gar to anôteron pros to hyph' auto, hôs eidos pros hylên, houtôs echei pros allêla (De coel. IV 3, 310 b 15). Nur Gott  ist ohne Materie, reine Form (»actus purus«, ). Die Materie ist der Grund des Zufälligen (symbebêkos), Akzidentiellen, des Mechanischen, Alogischen: hôste estai hê hylê hê endechomenê para to hôs epi to poly allôs tou symbebêkotos aitia (Met. VI 2, 1027 a 13). En tê gar hylê to anagakaion, to d' hou heneka en tô logô (Phys. II 9, 200a 14). Nach EUDEMOS ist die Materie ein Gestaltloses, kein sôma, sondern sômatoeidês; die Formen sind in ihr (Simpl. ad Arist. Phys. I u. IV; von enyloi logoi ist die Rede bei ARISTOTELES, De an. I, 403 a 25; enyla eidê: ALEXANDER APHRODIS., De an. 89). Die Stoiker identifizieren die Urmaterie (prôtê hylê) mit dem, »Leidenden« (paschon), welches mit dem poioun zur Einheit verbunden ist. Das paschon bestimmen sie als tên apoion ousian tên hylên (Diog. L. VII, 134). Die Materie ist als solche träge und gestaltlos, ihre Größe ist konstant. »Materia iacet iners, res ad omnia parata creatura, si nemo moveat« (SENECA, Ep. 65, 2). Hylê de estin ex hês hoti dêpotoun ginetai. Kaleitai de dichôs, ousia te kai hylê, hê te tôn pantôn kai hê tôn epi merous. hê men oun tôn holôn oute pleiôn oid' elattôn ginetai, hê de tôn epi merous kai pleiôn kai elattôn (Diog. L. VII, 150); aidion kai oute pleiô gignomenên oute elattô. oute auxêsin oute meiôsin hypomenousan; apoion kai amorphon (Stob. Ecl. I 11, 322, 324). Die Konstanz der Materie spricht der Epikureer LUCREZ aus: »Nec stipata magis fuit unquam materiae copia nec porro maioribus intervallis: nam neque adaugescit quicquam neque deperit inde« (De rer. nat. II, 294 - 96). Nach PHILO ist die Materie qualitätslos, tot (nekron) passiv (apoios), gestaltlos (amorphos), unrein, bös  (ZELLER, Philo  Griech. III 23, 386 f.). PLOTIN unterscheidet von der intelligiblen Materie in den Ideen, welche Formen annimmt (Enn. IV, 4, 4) die sinnliche Materie, das Abbild (mimêma) jener. Die Materie (hylê) ist to bathos hekastou, das Substrat von allem, sie ist dunkel, unbestimmt (apeiron), ein Böses (kakon), eine sterêsis (Beraubung) des hen, ein mê on (Nicht-Seiendes), eine apousia agathou, die skia logou kai ekpiôsis, asômaton, ihr Begriff ist ein »unechter«, abstrakter (Enn. I, 8, 7; II, 4, 3 squ.; III, 6, 6 squ.). Das gegenseitige In- einander-übergehen der Elemente bezeugt, dass für die Körper ein Substrat als ein anderes neben ihnen bestehen muss (l.c. II, 4, 6). Die Materie ist die letzte, schwächste Emanation  des »Einen« (l.c. I, 8, 7). Eine intelligible Materie nimmt auch JAMBLICH an: hylên tina katharan kai theian einai legômen (De myster. Aegypt. V, 23). - Nach ALEXANDER VON APHRODISIAS hat die Materie das Vermögen zu den entgegengesetztesten Qualitäten (Quaest. nat. I, 15); sie bedarf der Form, um Bestimmtheit (tode ti) zu erlangen (l.c. de an. II, p. 120).

Nach den Valentinianern ist die Materie eine ousia amorphos (Iren. I, 4; II, 29, 3), ein Nichtiges, sie hat eine physikê hormê, ein Streben (l.c. I, 2, 4; von einem Streben Dach Dasein in der Materie spricht schon PLOTIN, Enn. III, 6, 7). Das Materielle entstand durch den Fall der sophia, aus deren pathê die Elemente wurden (Iren. II, 10, 3). Die Qualitätslosigkeit der Materie behauptet HERMOGEXES (Tertull., Adv. Herm. 35, 37). Die Materie ist weder gut noch böse (l.c. 37), ist ursprünglich in ungeordneter (»incondite«) Bewegung (l.c. 42). Ihre Teile haben alle von allem etwas (l.c. 39). ORIGENES lehrt die Schöpfung  der Materie durch Gott (De princ. II, 164). Sie ist qualitätslos, aber fähig, qualitativ bestimmt zu werden (Contr. Cels. III, 41), existiert nur mit den Qualitäten: »Haec tamen materia quamvis secundum suam propriam rationem sine qualitatibus sit, umquam tamen subsistere extra qualitatem invenitur« (De princ. II, 1). AUGUSTINUS definiert: »Hylen dico quandam penitus informem et sine qualitate materium, unde istae, quae sentimus qualitates, formantur« (De trin. VIII, 358c). Sie enthält die Potenz zu allen Dingen, ist niemals zeitlich ohne Form, wenn sie auch logisch der Form (als deren Grund) vorhergeht (Conf. XII, 8; 40; De civ. Dei XXII, 2). An sich ist sie »quaedam informitas sine ulla specie« (Conf. XII, 3). Nach JOH. PHILOPONUS ist die Materie von Gott aus dem Nichts geschaffen, sie kann nicht ohne Form sein (De aetern. mund. XI, 1; XII, 1).

Nach GREGOR VON NYSSA besteht die Materie aus immateriellen Qualitäten  (De hom. opif. 24). So auch nach JOH. SCOTUS ERIUGENA: »Ipsa etiam materies, si quis intentus aspexerit, ex incorporeis qualitatibus copulatur« (De div. nat. I, 42; vgl. I, 61 f.). Die Materie ist »invisibilis, incorporea« (l.c. III, 14), eine »privatio« (l.c. I, 56), keine Substanz.

DAVID von Dinant nennt Gott die »materia omnium« (Alb. Magn., Sum. th. I, 20, 2). Die Materie ist »primum indivisibile, ex quo constituuntur corpora« (Thom., In sent. 2, d. 17, qu. 1, 1). Nach AVICENNA ist die Materie ewig, das Prinzip der Individuation (Met. VI, 2). Nach AVERROËS hat die Materie die Formen der Dinge potentiell in sich. Nach IBN GEBIROL ist eine (von Gott emanierende) Materie auch in der (Geisterwelt, allem liegt eine »materia universalis« zugrunde, nur der Gottheit nicht (STÖCKL II, 62; M. EISLER, Jüd. Philos. I, 62 ff.). - Ähnlich BONAVENTURA. Die geistigen Wesen haben weil aus Potentialität und Aktualität zusammengesetzt, eine »materia spiritualis« (In sent. 2, d. 3, 17). - Nach MAIMONIDES ist die Materie von Gott geschaffen.

ALBERTUS MAGNUS erklärt: »Materia est primum subiectum eius quod est« (Sum. th. II, 4, 1). »Materia appetit formam« (l.c. I, 26, 1). Die Urmaterie (»materia prima«) ist »potentia inchoationis formae« (l.c. II, 4, 4). »Materia numquam separata est a formis omnibus propter sui imperfectionem, quae adesse non safficit sine forma, et haec imperfectio numquam relinquit materiam; et ideo cum forma semper erit secundum actum« (In phys. I, 2, 4). Es gibt »materia incorruptibilium et corruptibilium« (Sum. th. II, 47). Die schon von einer bestimmten Form gestaltete Materie ist »materia signata« (Met. VII, 3, 2). Nach THOMAS ist die Materie das, »ex quo est generatio« (De princ. nat., Op. 31), sie ist »potentia pura« (Opusc. 15, 7), »id, quod est in potentia« (Sum. th. I, 3, 2 c), »ex qua aliquid fit« (l.c. I, 92, 2 ad 2), »primum subiectum, ex quo aliquid fit per se« (1 phys. 15; Sum. th. III 72, 2). Ihre »prima dispositio« ist »quantitas dimensiva« (Sum. th. III, 72, 2). Sie wird »substantia« genannt, »non quasi ens aliquid actu existens in se considerata, sed quasi in potentia, ut sit aliquid actu« (8 met. 1 f.). »Materia prima« ist dasjenige, »quod est in genere substantiae ut potentia queedam intellecta praeter omnem speciem et formam et etiam praeter privationem, quae tamen est susceptiva et formarum et privationum« (Spir. 1 c). Es gibt eine, »materia sensibilis« und »intelligibilis« (Sum. th. I, 85, 1 c; C. gent. II, 75, III, 105). Zu unterscheiden sind ferner: »materia composita« und »simplex« (C. gent. III, 97), »materia corporalis« und »spiritualis« (Sum. th. I, 12, 11 c), »materia elementaris« (l.c. I, 71, 1 ad 1), »materia communis« und »particularis« (Sum. th. I, 3, 3c; C. gent. II, 30, III, 41), »materia prima (pura)« und »ultima« (Sum. th. I, 3, 8c; C. gent. I, 17), »materia demonstrata, designata, signata« (Sum. th. I, 75, 4e; C. gent. I, 21, 65; De ente et ess. 2; De verit. II, 6 ad 1). »Materia signata (individualis)« ist die schon von einer Form gestaltete Materie (z.B. ein Knochen, ein Stock Fleisch, Sum. th. I, 85, 1). »Signatio materiae est esse sub certis dimensionibus, quae faciunt esse hoc et nunc ad sensum demonstrabile« (Sum. th. III, 77, 2). Sie ist »principium individuationis«  (1 anal. 38c; 1 cael. 19b). Es gibt endlich eine »materia enunciationis« und »syllogismi«. DUNS SCOTUS schreibt allen endlichen Dingen eine (auch ohne Form wirkliche) Materie, als »subiectum omnis receptionis« (De rer. princ. qu. 8, 4, 26) zu. Die formlose Urmaterie (»actus entitativus«) ist »materia primo prima« (l.c. qu. 8, 3, 19). »materia secundo prima« ist »subiectum generationis et corruptionis« (l.c. qu. 8, 3, 20). »Materia tertio prima« ist die Materie »cuiuslibet artis et materia cuiuslibet agentis naturalis particularis« (ib.). Nach SUAREZ ist die Materie »subiectum primum« der Veränderung (Met. disp. 13, sct. 1, 8), die bleibende Potentialität der Körper (l.c. 3, sct. 4 5). - GOCLEN erklärt: »Materia est causa interna, ex qua ens producitur.« »Materia propria est materia disposita, id est, praeparata et adepta« (Lex. philos. p 669). MICRAELIUS bestimmt: »Materia est altera causa naturalis interna et essentialis, ex qua corpora fiunt et constant.« »Materia sumitur vel obiective pro materia circa quam, quae dicitur obiectum; vel subiective, pro materia in qua et dicitur subiectum inhaerentiae; vel constitutive pro materia ex qua, ita ut insit composito materiato; vel logice pro genere« (Lex. philos. p. 622). Als Gründe für die Annahme der Materie bei den Scholastikern wird angegeben: 1) »ex mutua elementorum transmutatione«, 2) »ex generatione rerum«, 3) »ex puro actu«, 4) »ex contrarietate privationis et formae« (l.c. p. 624).

NICOLAUS CUSANUS bezeichnet die Materie als das (aus dem Nichts geschaffene) »Werden-können«, als »posse fieri«; die intelligible Materie ist eins mit dem schöpferischen Vermögen Gottes (De venat. sap. 39). PARACELSUS bestimmt die Urmaterie als »limbus mundi« (»limbus maior«), »yliaster« (hylê, astrum), »hyaster«, in welchem die Keime zu allen Dingen lagen; sie ist »mysterium magnum« (Paramir. I, 1). Die materiellen Elemente sind die »Mütter« aller Dinge, sind beseelt. Nach CARDANUS ist die Materie das in allen Dingen Gemeinsame, das Konstante im Entstehen und Vergehen (De subtil. p. 358 ff.). Als träge, tote Masse, »corporea moles«, bestimmt die Materie TELESIUS, der ihr eine Widerstandskraft gegen alle Veränderung zuschreibt, der zufolge ihre Menge stets konstant bleibt (De rer. nat. I, 4 ff.). Von einer »resistentia«, »antitypia« (, wie die Stoiker) der Materie spricht PATRITIUS, der die Materie als »fluor seu humor primogenius« bestimmt (Panaug. 6, p. 78).

CAMPANELLA bestimmt die Materie als (von Gott geschaffene) »secunda substantia«, »basis formarum, principium passivum compositionis rerum«, als »iners«, »invisibilis«, »nigra« (Real. philos. p. 6). »Materiam universalem, locum omnium formarum, sicuti spatium est locus omnium materiarum, molem esse corpoream intelligimus« (De sensu rer. II, 1; Physiol. I, 3). Die feinste Materie ist der Äther (l.c. I, 4). J. B. VAX NHELMONT bestimmt die Materie als »fluorem genericum sive generativum«. Sie ist die Substanz jedes Dinges (Causae et init. rer. nat. p. 35 f.). Eine unbestimmte Materie gibt es nicht (l.c. p. 33). G. BRUNO fasst die Materie als Gestaltungsstoff auf. »Es gibt... eine Art Substrat, aus welchem, mit und in welchem die Natur ihre Wirksamkeit, ihre Arbeiten vollzieht und welches durch diese in so ziele Formen gebracht wird, als sich in der großen Verschiedenheit der Arten den Blicken des Betrachters darbieten« (De la causa III). Die Materie, das Formlose, die Potenz der Formen, ist das Bleibende in den Dingen, das nur begrifflich erkannt zu werden vermag. »Wie auch die Formen sich ins Unendliche vermannigfaltigen und eine auf die andere folgt, es bleibt doch immer eine und dieselbe Materie vorhanden.« »Es muss also immer eins und dasselbe sein, was an sich nicht Stein, nicht Erde, Leichnam, Mensch, Embryo, Blut oder etwas anderes ist, was aber, nachdem es Blut war, Embryo wird, indem es das Embryo-Sein annimmt. Nur die Formen wechseln, die Materie aber ist unvergänglich, fest, ewig, die wahrhaft seiende Substanz.« »Sie ist nicht eigentlich körperlich, denn sie hat alle Arten von Gestaltungen und körperlichen Richtungen, und weil sie alle hat, so hat sie keine von allen« (l.c. IV). Die Materie ist als Wirksamkeit göttlicher Natur (ib.). Das ist die Reaktion gegen die häufige Verachtung, Geringwertung der Materie bei den christlichen Philosophen des Mittelalters. R. FLUDD nimmt einen Urstoff, »universa massa«, welcher die Finsternis ist, an. Die Materie ist formlos, qualitätlos, hat die Möglichkeit zu allen Körpern in sich (Historia utriusque cosmi, C. 4, 6). Ähnlich OETINGER.

Nach GALILEI ist die Materie stets unverändert und dieselbe (Discorsi, Opp. III, p. 4). Sie besteht aus unausgedehnten Atomen (II Saggiatore, Opp. II, p. 342). Die Konstanz der Materie behauptet auch F. BACON: »Omnia mutari et nil vere interire, ac summam materiae prorsus eandem manere satis constat« (Opuscul. philos., Works V, p. 82). Nach HOBBES ist die Materie nichts als »corpus generaliter sumptum« (De corp. C. 8, 24), d.h. der Körper bloß hinsichtlich seiner Größe und Ausdehnung und der Fähigkeit, Form und Akzidentien anzunehmen, betrachtet (ib.). DESCARTES scheidet schroff die Materie als besondere Substanz  vom Geiste. Sie hat keine inneren Kräfte, ist nichts als »res extensa«, mit der Eigenschaft der Bewegung , rein passiv, sie ist erfüllter Raum. Die Ausdehnung konstituiert die Natur der »substantia corporea« (Princ. philos. I, 63). »Quod agentes, percipiemus naturam materiae, sive corporis in universum spectati, non consistere in eo quod sit res dura, vel ponderosa, vel colorata, vel alio aliquo modo sensus afficiens; sed tantum in eo, quod sit extensa in longum, latum et profundum« (l.c. 11, 4). Eine und dieselbe Materie liegt dem Himmel und der Erde zugrunde (l.c. II, 22). »Materia itaque in toto universo una et eadem existit; utpote quae omnis per hoc unum tantum agnoscitur, quod sit extensa. Omnesque proprietates, quas in ea clare percipimus, ad hoc unum reducuntur quod sit partibilis et mobilis secundum partes; et proinde capax illarum omnium affectionum, quas ex eius partium motu sequi posse principimus. Partitio enim, quae sit sola cogitatione, nihil mutat; sed omnis materiae variatio, sive omnium eius formarum diversitas, pendet a motu« (l.c. II, 23). Auch SPINOZA bestimmt die Materie durch das Prädikat der Ausdehnung. sie ist nicht Substanz, sondern Attribut  der einen Substanz . MALEBRANCHE setzt »matière« und »l'étendue« gleich. Die Materie hat zwei Eigenschaften: »celle de recevoir différentes figures« und »la capacité d'être mue« (Rech. I, 1). »La matière est toute sans action« (ib.). GASSENDI erklärt: »Quia imprimis sensu manifestum est, in rerum natura multa fieri et multa quoque interiere: ideo mente tenendum est, opus ad hoc esse materia, ex qua res gignantur, in quam resolvantur« (Philos. Epic. synt. II, sct. I, 4). Die Materie besteht aus Atomen (l.c. II, sct. I, 5 squ.). Nach NEWTON besteht die Materie aus harten, undurchdringlichen, beweglichen Teilchen (Opt. qu. 31, p. 325). Nach J. BOSCOVICH sind die »primae materiae elementa« »puncta penitus inextensa et indivisibilia, a se invicem aliquo intervallo disiuncta« (Theor. philos. 1763, p. 41). Vgl. Atomistik.

Nach H. MORE besteht die Unmaterie aus gleichartigen Monaden (Enchir. met.). Bildende (plastische) Kräfte (»vires plasticae«) schreibt R. CUDWORTH der Materie zu (Syst. intell.). Nach GLISSON kommt ihr ein Streben zu (Tract. de natur. subst. energ. p. 90 f.). Dynamisch bestimmt die Materie LEIBNIZ. »Materia prima« ist die Widerstandskraft (»antitypia«), die Rezeptivität, die Kraft der Undurchdringlichkeit, eine rein passive Kraft (Erdm. p. 157, 463, 466, 691). Die »materia secunda« ist eine Erscheinung, aber ein »phaenomenon bene fundatum« (l.c. p. 725), die »verworrene« Vorstellung von geistigen Monaden , deren Aggregat sich uns als Körper, als »substantiatum«, darstellt (vgl. Gerh. IV, 18; Nouv. Ess. IV, ch. 3). - Nach CHR. WOLF ist Materie »illud, quod determinantur in ente composito« (Ontolog. § 948). Sie ist »extensum vi inertiae praeditum« (Cosmolog. § 141). »Dasjenige nun, was einem Körper die Ausdehnung gibt mit seiner widerstehenden Kraft, wird die Materie genennet« (Vern. Ged. I, § 607). Sie besteht aus Natur-Monaden . RÜDIGER unterscheidet die Materie, deren Wesen die Ausdehnung bildet, von der Körperlichkeit, die in der Elastizität besteht. Die Seele  ist materiell, aber nicht körperlich. Nach L. EULER besteht das Wesen der Materie im Trägheitswiderstand.

LOCKE definiert die Materie (»matter«) als »an extended solid substance« (Elem. of nat. philos. ch. 1). Die »Materie« ist ein unklarer, problematischer Begriff, sie ist nur eine Abstraktion vom Körper, bezeichnet die überall gleiche und einförmige Dichtigkeit der Körper (Ess. III, ch. 10, § 15). Für sich allein ist die Materie passiv, unbewegt (l.c. IV, ch. 10, § 10). Als bloße Vorstellung fasst die Materie A. COLLIER auf: »All matters, which exist, exist in or dependantly on mind« (Clav. univ. p. 10). BERKELEY bestreitet die Existenz einer Materie. Sie ist nichts als der abstrakte Begriff eines Wesens (»being«) überhaupt (Princ. XVII), existiert weder außer noch in dem Bewusstsein (l.c. LXVII). Die Annahme einer Materie (»Materialismus«, ) nützt nichts, die Erscheinungen der Natur sind direkt durch das Wirken Gottes zu erklären (l.c. LXXII). Da alle Qualitäten  samt Ausdehnung und Bewegung nur Vorstellungen sind, so hat die Materie keinen realen Sinn (l.c. LXXIII, LXXX). Auch HUME hält den Begriff der Materie für eine bloße Fiktion (Treat. IV, sct. 3; vgl. Substanz). - BOYLE definiert die »universal matter« als »an extended, divisible and inpenetrable stubstance« (Works 1738, p. 197).

Die Materialisten  halten die Materie, das Materielle für absolut real. Nach PRIESTLEY ist die Materie »a substance possessed of the property of extension and of powers of attraction or repulsion« (Disquls. I, Introd. p. II). HOLBACH erklärt: »La matière en général est tout ce qui affecte nos sens d'une façon quelconque« (Syst. de la nat. I, ch. 3, p. 31). »La matière est éternelle et nécessaire, mais ses combinaisons et ses formes sont passagères et contingentes« (l.c. I, ch. 6). - Nach DIDEROT ist die Materie ewig, in sich selber bestehend, sie hat (in ihren Atomen) Empfindung (Pensées sur l'interprét. de la nat. 175; Sur la matière et sur le mouvement, 1770). Nach D'ALEMBERT ist das Wesen der Materie unbekannt (Mél. T. V). ROUSSEAU nennt Materie alles, was außer uns wahrgenommen wird und was auf unsere Sinne wirkt (Emil IV). BONNET betont: »In n'existe point de matière en général; mais il existe une infinité de corps particuliers, dans lesquels nous remarquons des déterminations communes et des déterminations propres. Nous déduisons de celles-là, par la réflexion, la notion des attributs essentiels des corps, et nous donnons a la collection de ces attributs le nom de matière« (Ess. analyt., préf. p. XXVI f.).

Phänomenalistisch und dynamisch ist der Begriff der Materie bei KANT. Da alle Qualitäten  sowie Ausdehnung und Bewegung subjektiver Natur, da ferner die Kategorien  des Denkens apriorisch-subjektiv sind, insbesondere auch der Begriff der Substanz , so ist die Materie kein Ding an sich , sondern die Erscheinung eines solchen ganz in der Form unserer Anschauung und unseres Denkens, als solche aber, empirisch, objektiv real. Sie hat eine Wirklichkeit, »die nicht geschlossen werden darf, sondern unmittelbar wahrgenommen wird« (Krit. d. r. Vern. S. 314). Die Materie der Erscheinung (das Physische) bedeutet ein Etwas, das im Raume und in der Zeit angetroffen wird und der Empfindung korrespondiert (l.c. S. 555). Die Materie ist die Resultierende von Anziehungs- und Abstoßungskräften. Die Abstraktion von der Erfahrung der Undurchdringlichkeit  bringt in uns den Begriff der Materie hervor (Träume ein. Geisterseh. I. T., 1. Hptst.). Die Materie hat »eine Kraft der Zurückstößung« (ib.). Materie ist »das Bewegliche im Raume«, »das Bewegliche, sofern es einen Raum erfüllt«, d.h. allem Beweglichen widersteht (Met. Anf. d. Naturw. S. l, 31), und zwar durch eine »besondere bewegende Kraft« (l.c. S. 33). »Die Materie erfüllet ihre Räume durch repulsive Kräfte aller ihrer Teile, d. i. durch eine ihr eigene Ausdehnungskraft, die einen bestimmten Grad hat, über den kleinere oder größere ins Unendliche können gedacht werden« (l.c. S. 36). Alle Materie ist daher ursprünglich elastisch (l.c. S. 37). »Materielle Substanz ist dasjenige im Raume, was für sich, d. i. abgesondert von allem anderen, was außer ihm im Raume existiert, beweglich ist« (l.c. S. 42; vgl. S. 106). Materie ist »das Bewegliche, sofern es, als ein solches, ein Gegenstand der Erfahrung sein kann« (l.c. S. 138). Es kann nur »eine ursprüngliche Anziehung im Konflikt mit der ursprünglichen Zurückstoßung einen bestimmten Grad der Erfüllung des Raumes, mithin Materie möglich machen« (l.c. S. 70). »Bei allen Veränderungen der körperlichen Natur bleibt die Quantität der Materie im ganzen dieselbe, unvermehrt und unvermindert« (l.c. S. 116; vgl. dazu die chemischen Versuche LAVOISIERS).

Bei der Mehrzahl der philosophischen Systematiker nach Kant herrscht ein dynamischer Materie-Begriff, der vielfach zugleich phänomenologisch ist, indem die Materie als objektive oder subjektive Erscheinung, auch als Produkt immaterieller Kräfte oder Tätigkeiten betrachtet wird.
Nach LICHTENBERG ist die Materie ein abstrakter Begriff, dem empirisch nur Kräfte entsprechen. Phänomenal ist der Begriff der Materie nach BOUTERWEK (Lehrb. d. philos. Wiss. I, 154). A. WEISHAUPT betont: »Keine Materie als solche wirkt; alle Wirkungen der Materie sind also Wirkungen der immateriellen Kräfte, aus welchen sie besteht« (Üb. Material. u. Ideal.2, S. 46). Alle Materie, alle Ausdehnung, alle Zusammensetzung ist Erscheinung (l.c. S. 183). Nach KRUG ist die Materie »ein Tätiges oder Wirksames im Raume, so da, wir von ihr eben nichts weiter als diese Wirksamkeit erkennen«. »Die Materie ist also als ein ursprünglich dynamisches Etwas zu denken« (Handb. d. Philos. I, 331). Nach J. G. FICHTE ist die (nur als Produkt des »Ich«, , existierende) Materie »das, was im Raume ist und denselben ausfüllt« (Syst. d. Sittenl. S. 162). SCHELLING erklärt: »Aller Stoff ist bloßer Ausdruck eines Gleichgewichts entgegengesetzter Tätigkeiten, die sich wechselseitig auf ein bloßes Substrat von Tätigkeiten reduzieren« (Syst. d. tr. Ideal. S. 101). »Alle Materie ist innerlich eins, dem Wesen nach reine Identität« (Naturphilos. I, 239). »Materie ist... etwas, was, nach drei Dimensionen ausgedehnt, den Raum erfüllt« (l.c. S. 246). Sie besteht nur »durch Wirkung und Gegenwirkung anziehender und zurückstoßender Kräfte« (l.c. S. 247), sie ist nichts »als diese Kräfte im Konflikt gedacht« (l.c. S. 266). »Materie und Körper also sind selbst nichts als Produkte entgegengesetzter Kräfte, oder vielmehr selbst nichts anderes als diese Kräfte« (l.c. S. 270). Die Materie ist das erste »Etwassein« des Welt-Subjekts. Dies ist die nichtkörperliche Urmaterie, die Potenz der sinnlich wahrnehmbaren Materie (WW. I 10, 104). L. OKEN bestimmt: »Materie ist nur die sichtbar gewordene, begrenzte Tätigkeit... Es gibt keine tote Materie, sie ist durch ihr Sein lebendig, durch das Absolute in ihr.« Urmaterie ist der (göttliche) Äther (Naturphilos. I, 42 ff.). Die Materie ist ewig, grenzenlos (l.c. S. 41). Nach J. E. v. BERGER ist die Materie eine Abstraktion, ideale Prinzipien sind das Wirksame in ihr (Zur philos. Naturerk. 1821). Ähnlich LAMMENAIS. STEFFENS erklärt: »Das Absolute, insofern es die Indifferenz aller Dimensionen ist, ist die Materie.« »Die Materie ist ewig und das Absolute der Natur selbst.« »Der Raum ist von der Materie nicht verschieden, sondern ist die Materie selbst, insofern ihm die endliche Unendlichkeit der Zeit eingepflanzt ist« (Grdz. d. philos. Naturwiss. S. 23). Nach SCHLEIERMACHER ist »Materie« »nicht nur das Raumerfüllende, sondern auch das nur Zeiterfüllende, das chaotisch Materielle des Bewusstseins«. (Dial. S. 140). Nach H. RITTER gibt es keine Materie, der nicht ein inneres oder geistiges Dasein entspräche. »Der Raum wird nicht erfüllt durch materielle Substanzen. Atome u.s.w., sondern durch Tätigkeiten oder Kräfte..., welche, von verschiedenen Subjekten ausgehend, steh in einem Raume sättigen und so die Undurchdringlichkeit der körperlichen Erscheinung bilden« (Abr. d. philos. Log.2, S. 45). Nach F. BAADER ist die Materie keine Substanz, sondern die Äußerlichkeit der nichtdenkenden Natur. Die Natur integriert beständig aus »immateriellen differentialen Materiell-Wesen« (Üb. d. Incompet. unserer dermal. Philos. S. 12 f., 31; vgl. Ferm. Cognit.). Jeder Körper besteht aus einem Kräfte-Ternar (Beitr. zur Elementarphysiol. 1796). Nach HEINROTH ist die Materie nur Kraft (Psychol. S. 264), sonst nichts (l.c. S. 264). Nach HILLEBRAND besteht das Materielle in »ursprünglichen, einfach wirkenden Selbstkräften, gleichsam bloß in einem mechanischen Sich-setzen« (Philo Geist. I, 49 ff.). HEGEL bestimmt die Materie als »Identität des Raumes und der Zeit, des unmittelbaren Außereinander und der Negativität oder der als für sich seienden Einzelheit« (Encykl. § 261), als »das Reale an Raum und Zeit«, die »erste Realität, das daseiende Für-sich-sein«, als »positives Bestehen des Raumes«, als »dauerndes Etwas« in der Bewegung (Naturphilos.2, S. 67). »Die Materie ist die Form, in welcher das Außer-sich-sein der Natur zu ihrem ersten In- sich-sein kommt, dem abstrakten Für-sich-sein, das ausschließend und damit eine Vielheit ist, welche ihre Einheit, als das für-sich-seiende Viele, in ein allgemeines Für-sich-sein zusammenfassend, in sich zugleich und noch außer sich hat - die Schwere« (l.c. S. 41 f.). Eine selbständige Substanz ist die Materie nicht, ihr Wesen besteht in Bewegung. K. ROSENKRANZ bemerkt: »Insofern... das Wesen, indem es sich als Existenz setzt, nach verschiedenen Seiten hin seinen Unterschied von andern Existenten verschieden auszudrucken vermag, kann es gegen diesen möglichen Wechsel der Form als die Materie erscheinen, welche gestaltet wird und als passiver Stoff gegen die aktive Form sich verhält« (Syst. d. Wiss. S. 67). Die Materie ist die Äußerlichkeit der Idee (l.c. S. 178). »Alle konkrete Materie ist... qualitativ und quantitativ sich unaufhörlich verändernd« (l.c. S. 221). - BRANISS bestimmt die Materie als das Sein, »welches die entgegengesetzten Kräfte als verschwindende Momente zum Inhalt, deren Bestimmungen aber, nämlich Repulsion und Attraktion, als ruhendes Außereinander und indifferente Einheit zu seiner Form hat« (Syst. d. Met. S. 324). Nach CHALYBAEUS ist die Materie das räumlichzeitlich Unendliche (apeiron), »das reale Moment im Absoluten«, das objektive Sein des Unendlichen, ein der Störungen passiv fähiges, aber nicht aktiv produktives Wesen (Wissenschaftslehre S. 105 ff.). Vgl. G. BIEDERMANN Philos. als Begriffswiss. II, 25 ff. Vgl. ROSMINI, Teosofia, V, p. 449 ff.

SCHOPENHAUER betrachtet die Materie als Erscheinung, Objektivation  des »allgemeinen Willens zum Leben«. Ihr Sein ist »Wirken« (W. a. W. u. V. I. Bd., § 4). Aus der Vereinigung von Raum und Zeit entstehend, ist sie wie diese nur Vorstellung (l.c. § 7). Sie ist durch und durch Kausalität, ist nur »die objektiv aufgefasste Verstandesform der Kausalität selbst«, die »objektivierte, d.h. nach außen projizierte Verstandesfunktion der Kausalität selbst, also das objektivierte hypostasierte Wirken überhaupt, ohne nähere Bestimmung seiner Art und Weise«. Die empirisch gegebene Materie manifestiert sich nur durch ihre Kräfte, jede Kraft inhäriert einer Materie; beide zusammen machen den empirisch realen Körper aus. Die Materie ist »die bloße Sichtbarkeit des Willens, nicht aber dieser selbst: demnach gehört sie dem bloß Formellen unserer Vorstellung, nicht aber dem Ding an sich an. Demgemäß eben müssen wir sie als form- und eigenschaftslos, absolut träge und passiv denken; können sie jedoch nur in abstracto also denken: denn empirisch gegeben ist die bloße Materie, ohne Form und Qualität, nie. Wie es aber nur eine Materie gibt, die unter den mannigfaltigsten Formen und Akzidentien auftretend, doch dieselbe ist, so ist auch der Wille in allen Erscheinungen zuletzt einer und derselbe.« (Prolegom. II, § 75). Das, woraus alle Dinge werden und hervorgehen, muss als Materie erscheinen, »d.h. als das Reale überhaupt, das Raum. und Zeit Erfüllende, unter allem Wechsel der Qualitäten und Formen Beharrende, welches das gemeinsame Substrat aller Anschauungen, jedoch für sich allein nicht anschaubar ist« (ib.). In der Anschauung kommt sie nur in Verbindung mit der Form und Qualität vor, als Körper. Sie ist Bedingung, nicht Gegenstand der Erfahrung, wird nur gedacht als »das durch die Formen unseres Intellekts, in welchem die Welt als Vorstellung sich darstellt, notwendig herbeigeführte, bleibende Substrat aller vorübergehenden Erscheinungen«. Sie ist »dasjenige, wodurch der Wille, der das innere Wesen der Dinge ausmacht, in die Wahrnehmbarkeit tritt, anschaulich, sichtbar wird. In diesem Sinne ist also die Materie die bloße Sichtbarkeit des Willens oder das Band der Welt als Wille mit der Welt als Vorstellung. Dieser gehört sie an, sofern sie das Produkt der Funktionen des Intellekts ist, jener, sofern das in allen materiellen Wesen, d. i. Erscheinungen, sich Manifestierende der Wille ist« (W. a. W. u. V. II. Bd. C. 24). Die einmal von uns gesetzte Materie »können wir schlechterdings nicht mehr wegdenken, d.h. sie als verschwunden und vernichtet, sondern immer nur als in einen andern Raunz versetzt uns vorstellen: insofern also ist sie mit unserm Erkenntnisvermögen eben so unzertrennlich verknüpft, wie Raum und Zeit selbst. Jedoch der Unterschied, dass sie dabei zuerst beliebig als vorhanden gesetzt sein muss, deutet schon an, dass sie nicht so gänzlich und in jeder Hinsicht dem formalen Teile unserer Erkenntnis angehört, wie Raum und Zeit, sondern zugleich ein nur a posteriori gegebenes Element enthält. Sie ist in der Tat der Anknüpfungspunkt des empirischen Teils unserer Erkenntnis an den reinen und apriorischen, mithin der eigentümliche Grundstein der Erfahrungswelt« (W. a. W. u. V. II. Bd., C. 24). Aus den innern Eigenschaften der Materie geht alle bestimmte Wirkungsart der Körper hervor, und doch wird die Materie selbst nie wahrgenommen, sondern zu den Wirkungen hinzugedacht (ib.). Jedes Objekt ist als Ding an sich Wille, als Erscheinung Materie; auf dem Willen beruht alles Empirische der Materie. Die niedrigste Stufe der Objektivation des Willens ist die Schwere. Was objektiv Materie ist, ist subjektiv Wille (ib.). Kraft und Stoff sind im Grunde eines. Für die physische Forschung ist die Materie der Ursprung der Dinge, die »mater rerum«, aber sie ist selbst ein Mittelbares, Sekundäres, was der Materialismus  verkennt (ib.). Alle Materie ist »nur für den Verstand, durch den Verstand, im Verstande« (l.c. I. Bd., § 4). Die Beharrlichkeit der Materie ist ein Reflex der Zeitlosigkeit des Subjektes: »So erscheint die endlose Dauer der Materie als Spiegel der Ewigkeit (d. i. Zeitlosigkeit) des Subjekts« (Neue Paralipom. § 12).

HERBART betrachtet die ausgedehnte Materie als »objektiven Schein«, als Erscheinung. »Ebendieselbe Materie aber ist real, als eine Summe einfacher Wesen, und in diesen Wesen geschieht wirklich etwas, welches die Erscheinung einer räumlichen Existenz zur Folge hat.« Den innern Zuständen der »Realen« , den »Selbsterhaltungen«, gehören »gewisse Raumbestimmungen, als notwendige Auffassungsweisen für den Zuschauer« zu, die »eben weil sie nichts Reales sind, sich nach jenen innern Zuständen richten. müssen«, so dass »ein Schein von Attraktion und Repulsion« entspringt, deren Gleichgewicht den Dichtigkeitsgrad u.s.w. der Materie bestimmt (Lehrb. zur Psychol.3, S. 110 f.). »Die Kohäsion und Dichtigkeit jeder Materie hängt ab von einem Gleichgewichte zwischen Attraktion und Repulsion, welches beides nicht von gewissen räumlichen Kräften der einfachen Wesen, sondern von der formalen Notwendigkeit herrührt, dass der äußere Zustand, d. i. die räumliche Lage, dem innern Zustande, d.h. den Selbsterhaltungen der Wesen, völlig entspreche« (Psychol. als Wissensch. II, § 153). Die Materie entsteht durch partielle Durchdringung der »Realen«. Je nach der Art und Stärke des Gegensatzes entsteht die feste oder starre Materie, der Wärmestoff (Caloricum), das Electricum, der Äther. Die Materie ist »kein Kontinuum, sondern ursprünglich eine starre Masse« (All. Met. II, § 246 ff., 253 ff., 269 ff., 274; Lehrb. zur Psychol.3, S.111). Die Materie besteht aus unräumlichen Elementen, aus Monaden (Encykl. d. Philos. S. 221; vgl. Lehrb. zur Einl.5, S. 178 ff., 314 ff.). Eine innere Bildsamkeit kommt ihr zu. Als Erscheinung von immateriellen realen Wesen betrachten die Materie die Herbartianer VOLKMANN, R. ZIMMERMANN (Anthropos.), O. FLÜGEL, u. a. - RENAN erklärt: »Alles geht von der Materie aus, aber die Idee ist es, die alles belebt.« »Nichts besteht ohne Materie, aber die Materie ist nur die Bedingung des Seins, nicht die Ursache« (Philos. Dial. u. Fragm. p. 41 f.). Nach TRENDELENBURG versteht das Denken die Materie nur durch die Bewegung als deren Wesen. W. WEBER hat den Begriff einer »Masse, an welcher die Vorstellung der räumlichen Ausdehnung gar nicht notwendig haftet« (bei FECHNER, Atomenl.2, S. 88 f.). Nach LOTZE ist die Materie »ein System unausgedehnter Wesen..., die durch ihre Kräfte sich ihre gegenseitige Lage im Raume vorzeichnen, indem sie der Verschiebung untereinander wie dem Eindringen eines Fremden Widerstand leisten, jene Erscheinung der Undurchdringlichkeit und der stetigen Raumerfüllung hervorbringen« (Mikrok. I2, 403). »Es bleibt... bloß die eine Ansicht übrig, die einfachen Wesen oder die Atome der Physik als unausgedehnte Mittelpunkte von Kräften, d.h. von aus- und eingehenden Wirkungen, jede stetige Materie aber als eine bloße Erscheinung anzusehen, die aus einer Vielheit wechselwirkender diskreter Atome besteht« (Gr. d. Met.2, S. 79). Die träge Materie ist kein Wahrnehmungsgegenstand, sondern eine Hypothese (Med. Psychol. S. 58 ff.). Die Eigenschaften der Materie sind nur »Formen des äußerlichen Verhaltens mehrerer Subjekte gegeneinander« (l.c. S. 63). ULRICI fasst alle Materie als »Kraftäußerung« auf, als Erscheinung der »einfachen Central- und Widerstandskräfte« eines Dinges, nicht als totes Substrat (Leib u. Seele S. 30 ff.). Der Stoff ist nur die Erscheinung der Kraft, ist an sich Kraft, Widerstandskraft (Gott u. d. Nat. S. 456 ff., 19). Ähnlich K. SNELL (Streitfr. d. Mat. S. 327). Nach M. CARRIERE ist die Materie »das Phänomen, die Erscheinung des Zusammentreffens der Kraft in uns mit Kräften außer uns; die Kräfte in ihrer Wechselbeziehung bringen den Stoff hervor« (Sittl. Weltordn. S. 32). Die Materie ist Widerstandskraft (l.c. S. 33). Nach J. H. FICHTE ist die ausgedehnte Materie nur ein »Phänomen... auf dem Augenpunkte unseres Bewusstseins«, Erscheinung, Bild eines Realen (Psychol. I, 34 f.). E. v. HARTMANN bestimmt die Materie (die vom sinnlichen »Stoff« zu unterscheiden ist) als »System von Atomkräften«, »Dynamidensystem« (wie REDTENBACHER), »System von Atomkräften mit gewissem Gleichgewichtszustande« (Philo Unbew.3, S. 474, 484), objektive Erscheinung unbewusster Willenskräfte . Der Begriff der Materie ist nicht zu eliminieren (Weltansch. d. mod. Phys. S. 206 ff.; ähnlich A. DREWS, Das Ich S. 261 ff.). Nach R. HAMERLING ist die Materie, genau besehen, ein Immaterielles (Atomist. d. Will. II, 47). »Materie ist in alle Ewigkeit nichts anderes als die Kombination sinnfälliger Wirkungen immaterieller Kräfte« (l.c. S. 49), nur »Folgeerscheinung von Kraft«, nicht Ursache und Träger derselben (1.c. S. 50 f., ähnlich NIETZSCHE, s. Mechanisch). Nach G. SPICKER ist die Materie »nichts anderes als die mittelst der Empfindung vorgestellte Kraft« (K. H. u. B. S. 196). Dynamisch bestimmen die Materie auch VACHEROT (La science et la conscience 1866), CH. LEVÈQUE (La science et l'invisible 1865), BOUILLIER (Le princ. vitale2, 1874), P. JANET, WALLACE, ZÖLLNER, A. WIESNER. Nach HELLENBACH ist die Materie nur eine Zusammensetzung individueller Kraftwesen (Der Individual. S. 188). Ein System von Kräften ist sie nach DU PREL (Mon. Seelenl. S. 301). O. CASPARI führt die Materie auf Kraft zurück (Zusammenh. d. Dinge S. 5). Nach F. ERHARDT liegt die Realität der Materie in der Kraft (Wechselwirk. zw. Leib u. Seele S. 101 ff.). - Nach RENOUVIER ist die Materie die Erscheinung von Monaden . FECHNER betrachtet das Materielle als die Erscheinung desselben, was an sich geistig ist (Zend-Av. II, 164). Geistigem und Materiellem liegt ein Wesen zugrunde (l.c. E, 149). Die Materie ist für den naiven Verstand das »Handgreifliche«, für den Physiker die »allgemeinste Unterlage der Naturerscheinungen« (Physikal. u. philos. Atom.2, S. 105 f.). Nach E. SPENCER ist die Vorstellung der Materie »nur das Symbol irgend einer Form jener Macht..., die uns absolut und für immer unbekannt bleibt« (Psychol. I, § 63; First. princ. § 16). »Die Darstellung aller objektiven Tätigkeiten in Ausdrücken der Bewegung ist nur eine Darstellung und nicht eine Erkenntnis derselben« (Psychol. I, § 63, S. 166). Die Vorstellung der Materie beruht auf der Wahrnehmung des Widerstandes. »It follows, that forces are standing in certain relations from the whole content of our idea of matter« (First princ. I, § 3). LEWES erklärt: »Matter is the felt viewed in its statical aspect« (Probl. II, 262). »Force« ist »activity of the felt«. »Matter is the symbol of all the known properties« (l.c. p. 264). RIEHL bestimmt die Materie als die (phänomenale) »Substanz im Raume«, »die von den räumlichen Empfindungen des Drucks und des Widerstandes abgeleitete Vorstellung des Realen, als Substrat der objektiven Teilvorstellung« (Philos. Kritic. II 1, 274 f.). Nach R. WAHLE ist die Materie eine bloße subjektive Wirkung, eine Vorstellung; ihr entspricht eine unbekannte Ursache (Kurze Erkl. S. 172). Sie ist kein Agens, ist ohne Kräftigkeit (Das Ganze d. Philos. S. 107 ff.). Nach MAINLÄNDER ist die Materie »die apriorische gemeinsame Form für alle Sinneseindrücke« (Philo Erlös. S. 7).
FROHSCHAMMER setzt das Wesen der Materie in die Räumlichkeit (Die Phantas. S. 230), CZOLBE in die Ausdehnung . Nach E. DÜHRING ist die Materie der »Träger alles Wirklichen« (Log. S. 201), das »Weltmedium.« als »Inbegriff aller Regungen und Kräfte«, »ein großer Gesamtkörper, der unter sich relativ getrennte Gruppen befasst« (ib.). Nach Lord KELVIN ist die Materie eine durch Wirbelbewegung entstehende Differenzierung des Äthers, sie besteht aus Wirbelatomen (»vortex atoms«). - MOLESCHOTT betont: »Kein Stoff ohne Kraft. Aber auch keine Kraft ohne Stoff« (Kreisl. d. Leb.4, S. 394). So auch L. BÜCHNER (Kr. u. St. S. 2). Nach Du BOIS- REYMOND sind Kraft und Materie nur Abstraktionen der Dinge ohne isolierten Bestand (Unters. üb. d. tier. Elektric. I, S. XLI). Das Wesen der Materie ist unerkennbar (l.c. I, 105 ff.). - ÜBERWEG erklärt: »Materie und Kraft - bezeichnen die zweifache Auffassung einer untrennbaren Einheit, einesteils durch die Sinneswahrnehmung, anderesteils nach der Analogie der inneren Wahrnehmung von unserer eigenen Willenskraft« (Log. S. 84). Nach Überweg sind Materie und Kraft »nur zwei verschiedene Weisen der Auffassung des nämlichen Seins«. »Materie ist sinnlich angeschaute Kraft.« »Kraft ist die nach der Analogie der innern Wahrnehmung, insbesondere der Wahrnehmung von unserem Wollen, vorgestellte Realität der erscheinenden Materie« (Welt- und Lebensansch. S. 52 f.). Nach HAGELMANN sind Kraft und Stoff nicht zu trennen. »Betrachten wir nämlich die Körper in ihren wirkungslosen Dasein als das Raumerfüllende, Beharrliche, was aus sich nicht zur Bewegung oder zur Ruhe kommt, so nennen wir dieses Stoff oder Materie. Dasjenige hingegen, was den verschiedenen Eigenschaften und Wirkungsweisen der Körper zugrunde liegt, nennen wir die Kräfte derselben« (Met.9, S. 65).

ROBINET, GOETHE, L. NOIRÉ, L. GEIGER, E. HÄCKEL, BÖLSCHE, CLIFFORD, ROMANES u. a. (s. Hylozoismus) schreiben der Materie Leben, Trieb, Empfindung zu.

Nach WUNDT ist der Begriff der Materie der Niederschlag der begrifflichen Verarbeitung der äußern Erfahrung, für die allein er Gültigkeit hat; sie ist ein Hilfsbegriff zur Erledigung der naturwissenschaftlichen Aufgaben, der aus dem »Bedürfnis der Kausalerklärung stammt. Hypothetisch ist dieser Begriff insofern, als verschiedene Voraussetzungen über die Eigenschaften der Materie denkbar sind, welche Postulate der Anschauung sind.« Die Materie wird gedacht als »das Substrat der in den äußeren Anschauungen gegebenen Erscheinungen«, als »Sitz der Kräfte oder der Energien«, als System der Ausgangs- und Angriffspunkte der Kräfte. Die Materie ist die Form, unter der unser Denken die ihm gegebenen Objekte apperzipiert, begreift (Log. I2, 537 ff., 548 ff., 626 ff.; II2, 1, 327 ff.; Syst. d. Philos.2, S. 284 ff., 438, 461 ff.; Philos. Stud. II, 187, X, 11 ff., XIII, 80). »Die Materie ist ein Begriff und keine Anschauung. Die letztere hat es nur mit zusammengesetzten Körpern zu tun. Die Erscheinungen, welche an diesen sich darbieten, nötigen uns erst, jenen hypothetischen Begriff zu bilden, der den Zusammenhang der Erscheinungen deutlich machen soll« (Ess.2, S. 36). In den ursprünglichen Bedingungen der Naturerkenntnis liegt die Aufgabe, die Natur als ein System beharrender Substanzelemente zu begreifen, die nur äußere Kausalitätsverhältnisse zueinander darbieten (Syst. d. Philos.2, S. 275). Daher ist die Materie nicht zu eliminieren (ib.). An sich jedoch gibt es keine Materie als Wesen, sondern Tätigkeit, Willen . Der Satz von der Konstanz der Materie ist ursprünglich eine Denkforderung, alle Veränderung in das Prinzip der Kausalität aufzunehmen. »Die materielle Substanz bleibt beharrlich, weil ihre Kausalität als ein bloßes Prinzip äußerer Veränderungen angenommen ist. Diese äußeren Veränderungen bestehen in räumlichen Lageänderungen, also in einem bloßen Wechsel der äußeren Relationen der Substanzelemente, wobei die Elemente selbst konstant bleiben.« Auf die äußeren Relationen der Dinge muss sich die Naturwissenschaft beschränken (Syst. d. Philos.2, S. 260 ff.; Philos. Stud. II, 182, 187 f.). UPHUES führt die Materie auf Undurchdringlichkeit zurück (Psychol. d. Erk. I, 85). Nach THOMSON und TAIT ist die Materie »that which can be perceived by the senses«, »that which can be acted upon by, or can exert force« (Natural Philos. 161). KROMAN erklärt: »Die Materie kann nicht aus nichts entstehen oder sich in nichts verwandeln. Dagegen, ist die Behauptung von dem konstanten Quantum der Materie in der Welt mit Unrecht als notwendiges Prinzip aufgestellt« (Unsere Naturerk. S. 289 ff., 296).

Der erkenntnistheoretische Idealismus  erblickt in der Materie nur einen für die Interpretation der Erfahrungen notwendigen Begriff oder eine Vorstellung. So SCHUBERT-SOLDNER, dem die Materie »ein räumliches Zusammen sinnlicher Qualitäten« ist, deren Grundlage der »qualitativ bestimmte, also anschauliche, koncrete Raum« ist (Gr. e. Erk. S. 59, 63). SCHUPPE definiert die Materie als einen »mit Sinnesqualitäten erfüllten Raum« (Log. S. 83). Ähnlich V. LECLAIR, M. KAUFFMANN (vgl. Immanenzphilosophie). COLLYNS-SIMON betont, »that there is no material substance in the Universe« (Universal Immaterial. p. 198 ff.). Eine vom Erkennenden unabhängige Materie gibt es nicht nach J. F. FERRIER, GREEN, BRADLEY u. a. Nach H. COHEN ist die Materie die »objektivierte Empfindung«, »diejenige Gruppe von Erscheinungen des Bewusstseins, an welcher wir die andere Gruppe derselben, die psychischen, studieren müssen« (Princ. der Infin. S. 103). »Materielle Teilchen sind zunächst geometrische Punkte, an welchen dynamische Beziehungen verrechnet werden, und welche, sofern solche dynamischen Beziehungen der Rechnung gemäß unter ihnen obwalten, zu materiellen Punkten und Teilchen werden« (l.c. S. 134). Stoffliche Massenpunkte sind nicht anzunehmen (l.c. S. 135). Nach ZIEHEN ist die Materie nur eine allgemeine Hypothese, sie ist nicht Erlebnis, sondern zu den Empfindungen und Vorstellungen hinzugedacht als Ursache, als Inbegriff von Kraftzentren (Leitfad, d. physiol, Psychol.4, S. 25). Nach MÜNSTERBERG ist die Materie nicht in den wirklichen Dingen, sondern nur in den physikalischen Objekten, den Produkten einer Abstraktion, wirksam (Grdz. d. Psychol. I, 390). Sie ist ein »Abschlussbegriff für die Ausarbeitung der Objekte« (l.c. S. 391). Nach CLIFFORD ist die Materie »ein Gedankenbild, in dem Seelenstoff ('mind-stuff', ) das vorgestellte Ding ist«, ein Bild des Wirklichen im Geiste (V. d. Nat. d. Dinge an sich S. 47). Nach E. MACH ist die Materie nur »ein Gedankensymbol für Empfindungen« (Populärwiss. Vorles. S. 230), »ein gewisser gesetzmäßiger Zusammenhang der Elemente«, wobei das »Verbindungsgesetz« das Beständige ist (Analy Empfind. S. 222 f.). »Das Ding, der Körper, die Materie ist nichts außer dem Zusammenhang der Farben, Töne u.s.w., außer den sogenannten Merkmalen« (Analy Empfind.4, S. 5). Die Annahme eines Stoffes als absoluten Trägers der Kraft ist eine Illusion. So auch nach OSTWALD, der den Begriff der Materie ganz eliminieren und durch den der Energie  ersetzen will (Überwind. d. wissensch. Material.). Materie ist nichts als »eine räumlich zusammengesetzte Gruppe verschiedener Energien« (l.c. S. 28), ein »räumlich zusammengeordneter Komplex gewisser Energien« (Vorl. üb. Naturphilos.2, S. 245). »Dadurch..., dass eine Anzahl von Eigenschaften, wie Masse, Gewicht, Volum, Gestalt und Farbe, dauernd örtlich beisammen bleibt und sich zum Teil gar nicht (wenigstens nicht messbar), zum Teil nur in geringem Maße mit der Zeit und den äußeren Umständen ändert, ist der Begriff eines von aller Zeit und allen Umständen unabhängigen Trägers entstanden, an dem diese Eigenschaften haften« (Energet. S. 5). Ähnlich lehrt TAIT (Properties of Matter 1886; vgl. auch die Arbeiten STALLOS). H. CORNELIUS betont: »Von einem Gegensatze zwischen der Welt der Erscheinungen und einer unabhängig von diesen Erscheinungen bestehenden materiellen Welt im Sinne eines Gegensatzes 'bloßer Erscheinung' und 'wahren Seins' ist hier nicht mehr die Rede: die materielle Welt ist ihrer empirischen Bedeutung nach nur ein abgekürzter Ausdruck für die gesetzmäßigen zusammenhänge der Erscheinungen.« Die »Massen« und »Kräfte« sind nichts als solche Zusammenhänge; »der Wert dieser Begriffe beruht nur darin, dass durch ihre Einführung die Beschreibung unserer Erfahrungen eine Vereinfachung erfährt« (Einleit. in d. Philos. S. 327). - Gegen die »reine Energetik« sind WUNDT, E. V. HARTMANN U. a. RIEHL bemerkt: »In den Kapazitäten... steckt der empirische Begriff der Materie, und statt diesen Begriff wirklich eliminieren zu können, hat die Energetik ihn nur anders benannt. Mag die Materie immerhin ein Abstraktum sein, darum ist sie noch kein bloßes Gedankending; Sie ist überhaupt kein Ding, sondern die Vorstellungsart von Dingen durch die äußeren Sinne.« In jedem physikalischen Erscheinungsgebiete treffen wir auf besondere Größen, die wir uns naturgemäß nur unter dem Bilde der Materie vorstellen können. »Wir werden die Materie nicht los wie wir den Raum nicht los werden« (Zur Einf. in d. Philos. S. 148 f.). Vgl. J. C. S. SCHILLER, Riddles of the Sphinx2, 1894; KRAMAR, Das Problem d. Materie; SIGWART, Log. II2, 244 ff., 705; MAXWELL, Matter and Motion, dtsch. 1875; BAEUMKER, Problem d. Materie; CHERVREUIL, Résumé d'une histoire de la matière 1878. Vgl. Körper, Objekt, Substanz, Kraft, Unendlichkeit, Atom, Element, Materiell."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. -- 2. völlig neu bearb. Aufl. -- Berlin :  Mittler, 1904. -- 2 Bde. -- Bd. 1. -- S. 628ff.]

14 Anmerkung von Bakunin: 

"Ich nenne es "frevelhaft", weil, wie ich in dem erwähnten Anhang erwiesen zu haben glaube, dieses Geheimnis die Weihe aller in der Welt der Menschen begangenen und noch stattfindenden Greuel war und ist, und ich nenne es "einzig", weil alle anderen theologischen und metaphysischen Sinnlosigkeiten, die den Menschengeist verdummen, nur die notwendigen Folgen dieses Geheimnisses sind."

15 Die thebaische Sphinx gab jedem, der ihr nahte, das Rätsel auf: "Welches Geschöpf geht am Morgen auf vier Füßen, am Mittag auf zweien, am Abend auf dreien?" Wer das Rätsel nicht lösen konnte. musste sich vom Felsen in den Abgrund stürzen. Ödipus deutete es richtig auf den Menschen, worauf sich die Sphinx vom Berge herabstürzte.

16 Tertullian

"Tertullianus, Quintus Septimius Florens, geb. zwischen 150 u. 160 in Karthago, Sachwalter in Rom, erst Heide, dann Christ, als welcher er (wie Tatian) die heidnische Kultur und Philosophie verachtet und hasst, Presbyter in Karthago, dann Mitglied der Sekte der Montanisten, gest. 222.
Tertullianus, der alle Philosophie als Werk der Dämonen, als ketzerisch bekämpft (»philosophis - patriarchis, ut ita dixerim, haereticorum«) und den christlichen Glauben allein schätzt, ist doch selbst so sehr von der griechischen Philosophie, besonders von der Stoa beeinflusst, dass er trotz seines Christentums geradezu in eine Art Materialismus verfällt. Das Höchste ist das Christentum, welches alles Forschen unnötig macht und begrenzt (»cum credimus, nihil desideramus ultra credere«), da es die Wahrheit hat, während die Philosophen einander widersprechen. Die Seele ist von Natur aus christlich (»testimonium animae naturaliter christianae«), sie ist vernünftig und hat einen unverlierbaren göttlichen Keim in sich. Mag auch diese Wahrheit zuweilen unbegreiflich sein (wie etwa die Auferstehung Christi), so ist sie doch, gerade weil sie (auf natürliche Weise) unmöglich ist, zu glauben (»credibile est, quia ineptum est«, »certum est, quia impossibile est«, De carne christi, 5; daraus ist das »credo, quia absurdum« entstanden, das nirgends vorkommt).

Im Sinne der Stoiker erklärt Tertullianus, alles Wirkliche sei körperlich (»omne quod est, corpus est sui generis; nihil est incorporale, nisi quod non est«). So ist auch die Seele körperlich, denn sonst wäre sie nichts (»nihil enim, si non corpus«). Sie ist eine besondere Art des Körpers (»corpus sui generis in sua effigie«), ein Geist-Stoff (»Pneuma«), weil sie als Hauch (»flatus«) atmet. Sie ist ausgedehnt, fein, einfach, unteilbar, unzerstörbar, von der Gestalt des Leibes, den sie durchdringt, von Gott eingeblasen (»Dei flatu natam«), unsterblich. Die Seele jedes Menschen ist ein Zweig (»surculus«) der Seele Adams, von dem sie die Erbsünde ererbt hat. Gemäß seinem Traduzianismus lehrt Tertullianus das Hervorgehen der Seele des Kindes aus dem Samen des Vaters (wie ein Sprössling, »tradux«), dessen seelische Eigenschaften auf das Kind übergehen. Der Intellekt ist der Seele eingeboren, nicht von ihr trennbar. Der Wille des Menschen ist absolut frei. Körperlich ist nach Tertullianus auch Gott, der ewig, frei (»libertas, non necessitas Deo competit«), vernünftig und gütig ist und die Weisheit, den Logos, als seinen Sohn aus sich zeugt, mittelst dessen er aus Güte die Welt aus nichts erschaffen hat und zugleich mit ihr erst die Zeit (vgl. Plato). Die Welt hat Gott nach Ideen geschaffen (»nihil sine exemplaribus in sua dispositione molitus«). Der sichtbare Gott ist in Christus, aber auch in der Welt überhaupt erschienen. In der Welt ist alles gut und vernünftig geordnet; sie ist da, damit sich Gott offenbart, damit der Mensch Gott erkennt (»mundum homini, non sibi fecit«) und sein Heil findet. Den Menschen hat Gott nach seinem Ebenbilde geschaffen. Der Mensch ist mit einem freien Willen geschaffen (»liberum et sui arbitrii invenio hominem a Deo institutum«), vermittelst dessen er gut handeln kann. Die schlechte sinnliche Natur des Menschen ist zu unterdrücken, das Ideal ist möglichste Weltflucht und Askese, Keuschheit usw."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Philosophen-Lexikon : Leben, Werke und Lehren der Denker. -- Berlin : Mittler, 1912. -- 889 S. -- S. 742f.]

17 das Zitat kann ich nicht nachweisen

18 Mazzini

"Mazzini, Giuseppe, ital. Agitator, geb. 22. Juni 1805 in Genua, gest. 10. März 1872 in Pisa, widmete sich dem Rechtsstudium, ward Advokat in Genua und arbeitete daneben für den »Indicatore Genovese« und nach dessen Unterdrückung 1829 für den »Indicatore Livornese«, der dasselbe Schicksal hatte. Als Carbonaro verraten, saß Mazzini 1830 mehrere Monate im Kerker zu Savona. Freigelassen, aber verbannt, begab er sich nach Marseille, forderte den König Karl Albert von Sardinien in einem berühmten Brief zur Befreiung Italiens auf und gründete den Bund des Jungen Italien sowie die Zeitung »La giovine Italia«, um für die geeinigte Republik Italien und für Freiheit und Gleichheit durch die Presse und durch Verschwörungen zu wirken (vgl. Junges Europa). Nachdem zwei Verschwörungen, in Genua und Savoyen, welch letztere Mazzini 1834 von Genf aus leitete, missglückt waren, wurde er in Sardinien in contumaciam zum Tode verurteilt und 1836 auch aus der Schweiz verwiesen. Nach langem Umherirren ließ er sich 1842 in London nieder, gab dort eine Zeitung unter dem Namen »L'Apostolato popolare« heraus und unterhielt eine lebhafte Korrespondenz mit italienischen Unzufriedenen. Nach dem Aufstand in Mailand im März 1848 begab sich Mazzini dahin und gründete daselbst ein Journal, »L'Italia del popolo«, und einen politischen Klub, den »Circolo nazionale«; doch wurde er von den Gemäßigten in den Hintergrund gedrängt. Nach der Kapitulation Mailands im August 1848 trat er in die Garibaldische Legion ein, musste aber bald auf Schweizer Gebiet flüchten. Sobald er von der Flucht des Großherzogs von Toskana gehört hatte, begab er sich nach Florenz, wurde in Livorno zum Abgeordneten gewählt und von der provisorischen Regierung nach Rom geschickt, um mit der dortigen Republik Verbindungen anzuknüpfen. Hier ward er im März 1849 mit Armellini und Saffi zum Triumvir ernannt und leitete die Verteidigung der Republik gegen die Franzosen. Nach dem Fall Roms (3. Juli) ging er nach der Schweiz und später nach London, wo er mit Kossuth, Ledru-Rollin und Ruge zum Zweck republikanischer Agitation das »Comitato europeo« gründete, während er durch eine Anleihe (Mazzinische Anleihe) unter den Radikalen aller Länder die Mittel zu einer neuen Schilderhebung in Italien zu erlangen suchte. Der unbesonnene Mailänder Insurrektionsversuch vom 6. Febr. 1853 sowie die Bewegungen in Genua 29. und 30. Juni 1857 waren sein Werk. Beim Beginn des italienischen Krieges 1859 erklärte er sich gegen das Bündnis Sardiniens mit Frankreich. Dagegen unterstützte er Garibaldis Expedition nach Sizilien und feuerte ihn an, auch Rom und Venedig durch einen Handstreich zu befreien. Nach Garibaldis Gefangennahme bei Aspromonte (August 1861) sagte er sich und seine Partei von der Monarchie für immer los. 1866 wurde er in Messina zum Abgeordneten in das italienische Parlament gewählt; die Wahl wurde zweimal für ungültig erklärt und erst, als sie zum drittenmal wiederholt war, anerkannt, von Mazzini aber 7. Febr. 1867 wegen seiner republikanischen Überzeugung abgelehnt. Erst kurze Zeit vor seinem Tode kehrte Mazzini nach Italien zurück. Nach seinem Tode feierte die italienische Presse seine Verdienste um Italien in schwungvollen Worten, und die italienische Kammer sprach offiziell ihren Schmerz über sein Ableben aus. Sein Begräbnis zu Genua, wo ihm 1882 ein Denkmal errichtet wurde, war feierlich. Mazzini war lange Zeit der Schrecken der Polizei; er war ein schwärmerischer Idealist, der mit bewunderungswürdiger Selbstverleugnung und Ausdauer, wenn auch oft mit den bedenklichsten und nicht zu rechtfertigenden Mitteln, für seine Ziele wirkte. Eine Ausgabe seiner »Scritti editi ed inediti« erschien in Mailand, später in Rom (1861-1891, 18 Bde.), in Auswahl deutsch von L. Assing (Hamb. 1868, 2 Bde.) und englisch (»Life and writings of Jos. Mazzini«, Lond. 1870-91, 6 Bde.). Briefe Mazzinis gaben unter andern Giurati (Turin 1887), Melegari (Par. 1895) und Mazzatinti (Rom 1905) heraus."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

19 Michelet

"Michelet, Jules (1798-1874), franz. Historiker, * in Paris, † in Hyères. 1816 getauft, löste er sich zwischen 1839/42 vom Christentum. Bd. 4-5 seiner »Histoire de France« (17 Bde, 1833-67) beschreiben den Niedergang einer Kirche, die sich nicht um den Menschen kümmere und das Volk verraten habe. In »Etude sur les Jésuites« (1843) proklamiert Michelet den »Tod der Freiheit«. Der Essay »Du pretre, de la femme et de la famille« (1844) greift die Beichte an, die die Frau tyrannisiere und eine Bedrohung der Familie darstelle. »Du peuple« (1846) wendet sich gegen ein Christentum, das dem jüdischen Vorurteil gegen die Natur huldigt und die Ungerechtigkeit der Erbsünde verteidigt. Michelet hofft, dass dieses Christentum abstirbt und zu der die Menschheit vergottenden Universalkirche aufersteht. Die »Histoire de la Révolution française« (7 Bde, 1847-53) beschreibt den Zusammenstoß der monarchiegebundenen »Gnadenreligion« mit der Suche nach der neuen, auf Gerechtigkeit, Freiheit und menschlichem Fortschritt basierenden Religion. Natur- und Fortschrittsmystik sowie der Gedanke einer einigenden Religion für alle Menschen (La Bible de l'humanité, 1864) bestimmen die späteren Lebensjahre. Michelet, der in seiner Jugend Vico übersetzt hatte (1829), sah die Aufgabe des Historikers als ein »Auferwecken«, als Kampf der Erinnerung gegen den Tod."

[Quelle: Pierre Burgelin <1905 - 1985>. -- In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG³). -- Bd. 4. -- 1960. -- Sp. 938 ff.]

20 Quinet

"Quinet, Edgar (spr. kinä), franz. Dichter und Publizist, geb. 17. Febr. 1803 in Bourg-en-Bresse, gest. 27. März 1875 in Versailles, studierte in Straßburg, Genf, Paris und Heidelberg, wo er sich viel mit deutscher Literatur, namentlich mit Herder, beschäftigte, dessen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« er in französischer Übersetzung nebst einer Einleitung (1827, 3 Bde.) herausgab, und dem er noch einen besondern »Essai« (1828) widmete. Die von der französischen Regierung nach Morea ausgerüstete Expedition begleitete Quinet im Auftrag des Instituts, und das Werk »De la Grèce moderne et de ses rapports avec l'antiquité« (1830, 2. Aufl. 1832) war das Ergebnis. Zunächst wandte er sich der Betrachtung des Mittelalters, bald aber, durch die scharfe Kritik, die sein »Rapport sur les épopées françaises du XII. siècle« (1831) erfuhr, verletzt, der Politik zu. Sein Werk »Allemagne et Italie« (1832; neue Aufl. 1846, 2 Bde.) enthält viele richtige Urteile über die Verhältnisse Deutschlands. 1840 ward er zum Professor der auswärtigen Literatur an der Fakultät zu Lyon ernannt und 1842 in gleicher Stellung an das Collège de France berufen, allein wegen seiner mit Michelet herausgegebenen Schrift »Les Jesuites« (1844) sowie wegen seines fortwährenden Abschweifens auf politische Diskussionen jener Würde 1846 wieder enthoben. Inzwischen hatte er die Werke: »Le génie des religions« (1842, 2. Aufl. 1851), durch Strauß' »Leben Jesu« veranlasst, und »Le christianisme et la Révolution« (1845) veröffentlicht, in denen er die Religion als die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, sowie bereits früher eine Reihe poetischer Werke: »Ahasvérus«, ein Mysterium (1833), »Napoléon« (1836), »Prométhée« (1838) und das allegorisch-philosophische Poem »Merlin l'enchanteur« (1860, 2 Bde.; 4. Aufl. 1895), von hohem Schwung der Gedanken und blendenden Schilderungen, aber mystisch und formlos. Durch Dekret vom 9. Jan. 1852 nach dem Staatsstreich aus Frankreich verwiesen, lebte er 20 Jahre (seit dem Erlass der Amnestie von 1859 freiwillig) in der Verbannung erst zu Brüssel, dann zu Genf und Montreux. Während dieser Zeit schrieb er unter anderm: »Les revolutions d'Italie« (1848-52, 2 Bde.); »Histoire de mes idées«, eine interessante Autobiographie, zugleich treffliche Materialien zur Literaturgeschichte seiner Zeit enthaltend (1860); »Histoire de la campagne de 1815« (1862, 2. Aufl. 1867; deutsch, Kaff. 1862); »La révolution« (1865, 2 Bde.; 5. Aufl. 1868; 1889). Nach dem Zusammenbrechen der kaiserlichen Regierung kehrte Quinet nach Paris zurück, voller Ingrimm gegen Deutschland, das er übrigens besser kannte als die meisten seiner Landsleute. In der Nationalversammlung von Bordeaux und Versailles (1871) gehörte er wie 1848 mit Victor Hugo und Louis Blanc den Führern der äußersten Linken an. Seine letzten Publikationen waren: »La création« (1870, 2 Bde.; deutsch, Leipz. 1811), Studien und Hypothesen über die Weltschöpfung, und »L'esprit nouveau« (1874), gleichsam ein Hymnus auf den steten Fortschritt der Menschheit. Nach seinem Tod erschienen noch: »Le livre de l'exilé« (1875); »Correspondance inédite« (1877, 2 Bde.); »Lettres d'exil à Michelet et à divers amis« (1884-86, 4 Bde.) und »Lettres à sa mère« (1895, 2 Bde.). Seine »OEuvres complètes« erschienen in 28 Bänden (1857-79, mit Biographie von Chassin); zur Hundertjahrfeier seines Geburtstags: »Extraits de ses oeuvres« (1903). Vgl. noch die Schriften seiner Witwe: »Edgar Quinet avant l'exil (1887) und depuis l'exil« (1889) und »Cinquante ans d'amitié. Michelet-Quinet, 1825-1875« (1899); ferner Heath, Edgar Quinet, his early life and writings (Lond. 1881). In Bourg ist ihm ein Denkmal (von Millet) errichtet."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

21 Anmerkung von Bakunin:

"Herr Stuart Mill ist vielleicht der einzige, dessen ernstgemeinten Idealismus zu bezweifeln erlaubt ist, aus zwei Gründen: erstens, weil er, wenn auch nicht ein unbedingter Schüler, so doch ein leidenschaftlicher Bewunderer, ein Anhänger der positiven Philosophie Auguste Comtes ist, welche, trotz ihrer vielen Verschweigungen, in Wirklichkeit atheistisch ist; zweitens, weil Herr Stuart Mill Engländer ist und in England sich als Atheist zu erklären selbst heute noch bedeutet, sich außerhalb der Gesellschaft zu stellen."

"Mill, John Stuart, Philosoph und Nationalökonom, geb. 20. Mai 1806 in London, gest. 8. Mai 1873 in Avignon, wurde von seinem Vater mit völliger Beiseitelassung jedes Religionsunterrichts erzogen, zeigte bereits mit 14 Jahren eine solche Frühreife, dass ein Mann wie Jer. Bentham ihn seines Umganges würdigte, und vollendete seit 1820 seine Ausbildung in Frankreich. Von 1823-1858 war er Beamter der Ostindischen Kompanie, 1865-68 Mitglied des Unterhauses. Benthams Hauptwerk übte einen großen Einfluss auf ihn aus, so dass er schon als Jüngling eine »utilitarische« Gesellschaft gründete, von der sich der Name »Utilitarier« herschreibt. Seinen Ruhm als Philosoph verdankt Mill vorzüglich seinem Hauptwerk: »System of logic, ratiocinative and inductive«, das er 1832 begann und 1841 vollendete, worauf es 1843 im Druck erschien (9. Aufl. 1875, 2 Bde.; auch Ausg. in 1 Bd.; deutsch von Schiel, 4. Aufl., Braunschw. 1877, und mit Anmerkungen von T. Gomperz, 2. Aufl., Leipz. 1884-87, 3 Bde.). Es steht dieses auf dem Boden des englischen Empirismus und geht darauf aus, »den induktiven Prozess auf strenge Regeln und einen wissenschaftlichen Probierstein, wie es der Syllogismus für das Schließen ist, zurückzuführen«. Die entgegenstehende Ansicht hat er in seiner »Examination of Sir E-Hamilton's philosophy« (5. Aufl. 1878) zu widerlegen gesucht. Mills Theorie der Induktion war in ihren Grundzügen fertig, als er Comtes (s. d.) »Cours de philosophie positive« kennen lernte und durch ihn für eine Reihe von Jahren ein ebenso feuriger Anhänger der positiven Philosophie wie später entschiedener Gegner der positiven Politik desselben wurde. Letztere hat er in seiner Schrift »Auguste Comte and the positivism« (Lond. 1865, 4. Aufl. 1890; deutsch von Elise Gomperz, Leipz. 1874) hauptsächlich ihrer hierarchischen Tendenzen halber einer vernichtenden Kritik unterzogen. In seiner Abhandlung »Utilitarianism« (1863) gibt er Regeln, deren Befolgung zu einer möglichst leidlichen und genussreichen Existenz in möglichst großer Ausdehnung führen soll. Als Nationalökonomen haben Mill zuerst seine 1844 erschienenen »Essays on some unsettled questions of political economy« (2. Aufl. 1874) Ruf verschafft, die Vorläufer seiner 1848 zuerst erschienenen »Principles ok political economy« (7. Aufl. 1871; deutsch von Soetbeer, 4. Ausg., Leipz. 1881-85, 2 Bde.), die in England sich als das neben den Werken von Macculloch verbreitetste und angesehenste Lehrbuch der Nationalökonomie behauptet haben. Wesentlich an die Gedanken von Adam Smith und Ricardo anknüpfend, hat Mill nach Vollständigkeit und Systematik gestrebt, sich indessen sozialistischen Anwandlungen, zu denen er durch den Schüler Saint-Simons, G. d'Eichthal, Anregung empfing, nicht verschlossen. Von den zahlreichen politischen Schriften Mills sind zu nennen die »Considerations on representative government« (1861, 3. Aufl. 1865; Index 1904; deutsch von Wessel, Leipz. 1873), ferner der »Essay on liberty« (1859 u. ö.; deutsch in Reclams Universal-Bibliothek). Mill stand als Politiker durchaus auf dem Boden der radikalen Parteien und ist, nicht ohne Beeinflussung durch seine geistreiche und hochgesinnte Freundin und nachherige Frau (Mrs. Taylor), die auf ihn einen ähnlichen Zauber ausübte wie Madame de Vaux auf Aug. Comte, ein eifriger Anhänger des Frauenstimmrechts gewesen, für das er namentlich in der »Subjection of women« (1869, 5. Aufl. 1883; deutsch von Jenny Hirsch, 3. Aufl., Berl. 1891) eintrat. Seine »Dissertations and discussions« erschienen gesammelt in 4 Bänden (2. Aufl., Lond. 1875). Nach seinem Tode wurden herausgegeben seine »Autobiography« (1873; deutsch von Kolb, Stuttg. 1874), in der er seine Erziehung ausführlich schildert, und drei religiöse Aufsätze: »Nature, the utility of religion, and Theism« (1874, 3. Aufl. 1885; deutsch von Lehmann, Berl. 1875), die eine ernstliche Hinneigung zum Manichäismus verraten, ferner Mills »Correspondance inédite avec Gustave d'Eichthal« (Par. 1897) und »Lettres inédites de James Stuart Mill à Auguste Comte, avec les réponses d'Aug. Comte« (mit Einleitung von Lévy-Bruhl, das. 1899). Die von T. Gomperz redigierte deutsche Ausgabe von Mills »Gesammelten Werken« (Leipz. 1873-80, 12 Bde.) enthält außer den oben angeführten Hauptwerken auch die vermischten kleinern Schriften (Bd. 10-12)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

22 Joseph de Maistre

"Maistre, Joseph Marie de. geb. 1754 in Chambéry (Savoyen), Botschafter in St. Petersburg 1803-17, gest. 1821 in Turin.

de Maistre, der Begründer des neuem Ultramontanismus, gehört der französischen »theologischen« Schule an, welche die Reaktion gegen die Aufklärung, den Sensualismus und Materialismus des 18. Jahrhunderts, aber auch gegen die Anschauungen der großen Revolution darstellt. Die absolute Herrschaft gebührt der Kirche und dem Papste. Die Übel der Welt sind Strafen Gottes; Krieg. Inquisition, Todesstrafe u. dgl. sind Mittel der Sühne und Züchtigung. Die gottlose und völlig falsche Aufklärung hat in Bacon ihren geistigen Stammvater."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Philosophen-Lexikon : Leben, Werke und Lehren der Denker. -- Berlin : Mittler, 1912. -- 889 S. -- S. 446.]

23 Momiers

" Momiers (frz., spr. -mje, etwa soviel wie Mucker), spottende Benennung einer seit 1814 in Genf hervortretenden, zuerst unter dem Einfluss der Frau v. Krüdener stehenden, später mehr methodistischen Partei, die in Gegensatz zu der des Abfalls beschuldigten Staatskirche trat, sich in Konventikeln erbaute und eine sehr ernste Lebensrichtung hatte. Hervorgerufen und geleitet war die Bewegung von den Genfer Geistlichen Empaytaz, C. Malan, Gaussen, Merle d'Aubigné, F. Monod u.a. Aus den Momiers ging 1831 die Evangelische Gesellschaft in Genf hervor, die 1832 eine besondere Lehranstalt errichtete; 1848 vereinigten sich die verschiedenen Dissidentengemeinden zu einer freien evangelischen Kirche (Église libre), die seitdem neben der Staatskirche (Église nationale) besteht, sich aber 1883 in eine freie und in eine strengere Richtung spaltete."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

24 Pietisten

"Piëtismus (neulat.), eine krankhafte Form der Frömmigkeit (pietas), die, nach Umständen und Persönlichkeiten zu verschiedenen Zeiten verschieden gestaltet, bald in einseitigem Betonen einzelner Glaubenslehren, bald in überspannten und exzentrischen Gefühlen, bald in skrupulöser Ängstlichkeit, bald endlich in einem separatistischen Treiben ohne Maß und Ziel, immer in unruhigem und ungesundem Streben nach Heil und Gnade sich kundgibt. Eine epochemachende historische Bedeutung hat der Pietismus erst in der evangelischen Kirche erhalten, während in der römisch-katholischen Kirche die Jansenisten, die Quietisten u.a. nur Analogien dazu bieten. Protestantischerseits machte sich der Pietismus zunächst als wohltätiges Gegengift gegen die totale Stockung und Lähmung des religiösen Bewusstseins geltend, die unter der Herrschaft der Orthodoxie Platz gegriffen hatten. Anderseits zog der Pietismus allenthalben einen des kirchlichen Gemeinsinns entbehrenden Subjektivismus groß. Der Separatismus, der ihm sonach im Blut sitzt, kündigt sich zuerst nur schüchtern an in der Konventikelbildung, die aus der reformierten Kirche Hollands, dort bereits unter Labadies (s. d.) Leitung den Weg der Separation beschreitend, in die reformierten Kirchen des Niederrheins eingedrungen ist; hier fand sie ihren eifrigsten Förderer an Tersteegen (s. d.). Der Name Pietismus aber ist erst auf dem Gebiete der lutherischen Kirche Deutschlands entstanden. Was hier Spener (s. d.) mit dem redlichsten Eifer und noch mit hoher Mäßigung einleitete, das führten zahlreiche Schüler mit Leidenschaft und Parteieifer fort. Zunächst fanden die von Spener in seinem Haus veranstalteten Versammlungen (collegia pietatis), deren Hauptinhalt Gebet und Schrifterklärung bildeten, in andrer Form auch anderwärts Eingang, soz. B. in Leipzig, wo mehrere junge Dozenten, Paul Anton, J. K. Schade und Aug. Herm Francke (s. d.), seit 1686 sogen. Collegia philobiblica veranstalteten, d.h. exegetisch-praktische Vorlesungen, denen seit 1689 populäre Vorlesungen über das Neue Testament für Bürger und Studierende zur Seite traten. Hier kam auch der Parteiname der Pietisten auf, zunächst für die Besucher der Collegia philobiblica, die sich durch eine besonders eingezogene Lebensweise hervortaten. Die orthodoxe Leipziger theologische Fakultät, besonders Joh. Bened. Carpzov (s. d.), brachte es alsbald dahin, dass nach Speners Weggang von Dresden auch die obengenannten Dozenten Leipzig verlassen mussten. Francke ging später nach Halle, und dies ward nun der Hauptsitz der Pietisten (daher auch Hallenser genannt); hier wirkten neben Francke Joachim Iust. Breithaupt (s. d.) und Joachim Lange. Hatte Spener zur Umgestaltung der damaligen Theologie eingehendes Bibelstudium empfohlen, so wollten manche seiner Anhänger das ganze theologische Studium auf die Heilige Schrift beschränkt wissen, und Löscher, der gelehrteste und objektivste unter den Gegnern des Pietismus, konnte als ersten Charakterzug des Pietismus den fromm scheinenden Indifferentismus in Sachen der Dogmatik bezeichnen. Das größte Gewicht legte der Pietismus auf ein asketisches Leben; er erklärte den Tanz, das Spiel, den Besuch des Theaters, das Tragen kostbarer Kleider, mitunter sogar das Lachen, den Scherz, das Spazierengehen etc. für unerlaubt. Mit dieser Selbstkasteiung hing eine gewisse Verschiebung und Verdrängung des protestantischen Begriffs der Rechtfertigung durch den Glauben zugunsten der Lehre von der Buße, Bekehrung und Wiedergeburt zusammen. Wo letztere nicht vorhanden, da ist nach pietistischer Lehre weder richtige theologische Erkenntnis noch gesegnete Amtsführung möglich. Mit gleichem Eifer wurde die von den Pietisten aus der Apokalypse entnommene Lehre von dem Tausendjährigen Reich orthodoxerseits verworfen. Übrigens hielten die Pietisten grundsätzlich an dem kirchlichen Lehrbegriff fest.

Die von Spener angeregte Belebung des praktischen Christentums ist nicht ohne heilsame Früchte geblieben: zahllose Anstalten der Wohltätigkeit inmitten der Kirche, obenan die Franckeschen Stiftungen in Halle, die Bibelanstalt Cansteins (s. d.), sind durch den Pietismus ins Leben gerufen, überhaupt die Gesichtskreise für die kirchlichen Aufgaben mannigfach erweitert worden. Auch die 1722 durch Graf Zinzendorf entstandene Brüdergemeine (s. d.) ist eine die Union der Konfessionen vorbereitende Tochter des Pietismus, und die Theologie selbst, namentlich die praktische, hat unter den Händen Speners und der bessern seiner Schüler manche Modifikationen erfahren. Halle ward, wie einst Genf, das Herz, dessen Schläge man durch alle evangelischen Lande fühlte. Nach allen Ländern Deutschlands berief man Prediger und Schullehrer aus Halle. Zu dieser innern kam auch die äußere Mission; mehrere Zöglinge Franckes gingen zu Anfang des 18. Jahrh. nach Ostindien (s. Mission, S. 899, 2. Spalte). In die Fußstapfen Speners und seiner nächsten Schüler traten später als Häupter des Pietismus: Ch. B. Michaelis, der jüngere Francke, Freylinghausen, Rambach u.a. Aber die Einseitigkeit und das Schiefe der ganzen Richtung traten doch trotz persönlicher Ehrenhaftigkeit ihrer Anhänger immer mehr hervor, und bald war der Pietismus wirklich das, was die Gegner schon lange ihm schuld gegeben, eine krankhaft überspannte, in Bekehrungsunternehmungen und Bußkrämpfen schwelgende, nicht selten auch zum hochmütigen Absprechen über die »Welt«, ja zur schnöden Heuchelei herabsinkende Richtung. Während der Herrschaft des Rationalismus und des Indifferentismus zog er sich in engere Kreise zurück und schien ganz erstorben zu sein, bis er im 19. Jahrh., durch die gewaltigen Zeitbewegungen gefördert, sich nochmals als moderner Pietismus erhob. Eine begeisterte Vertreterin und Verbreiterin fand derselbe an der Frau v. Krüdener (s. d.). Es entstanden die frommen Konventikel, Kassen zur Verbreitung von Traktätchen und Vereine für Belebung der innern und äußern Mission, die in Opferfreudigkeit, aber auch in Vielgeschäftigkeit wetteiferten, sich hin und wieder, wie in Königsberg 1835 (s. Ebel 2), mit schwärmerischer Mystik verbanden oder, wie im Elberfelder Waisenhaus 1861, in eine Erweckungsepidemie ausarteten. Berlin, Halle, das Mulde- und Wuppertal, dann Württemberg waren die Plätze, wo dieser moderne Pietismus die zahlreichsten Anhänger fand. Durch seine Vorliebe für die alten Formen des Kirchenglaubens und seine Opposition gegen den Rationalismus wurde der Pietismus ein natürlicher Verbündeter der wieder auflebenden Rechtgläubigkeit, und beide Richtungen, die sich früher bekämpft hatten, söhnten sich nunmehr aus, um infolge der politischen und sozialen Stürme der Jahre 1848 und 1849 das Übergewicht in der evangelischen Kirche Deutschlands zu erringen. Verwandt sind den deutschen Pietisten die Mômiers (s. d.) in der Schweiz und die Methodisten (s. d.) in England. "

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25 Methodisten

"Methodisten, eine aus der anglikanischen Kirche hervorgegangene Religionsgesellschaft, die keine neue Lehre einführen, sondern, ähnlich wie die Pietisten und Labadisten auf dem Festlande, das Christentum verinnerlichen und praktisch fruchtbar machen wollte. Deshalb wurden ihre Mitglieder spottweise Methodisten, d. h. solche, welche die Frömmigkeit nach der Methode betrieben, ihre Richtung und Denkart Methodismus genannt. Gründer des Methodismus waren die Brüder John und Charles Wesley (s. d.), die 1729 in Oxford einen geistlichen Verein gründeten, der sich gemeinsames Beten und Lesen der Bibel, häufige Abendmahlsfeier, Verkündigung des Evangeliums dem unwissenden Volk, Besuch und Bekehrung der Kranken und Gefangenen zu Zwecken setzte. Die beiden Wesley wirkten seit 1735 besonders in Amerika, namentlich in Neugeorgia; aber erst nach ihrer Rückkehr entstand 1739 durch den seit 1735 mit ihnen verbundenen George Whitefield (s. d.) eine förmlich organisierte Gemeinschaft, nachdem die Geistlichen der bischöflichen Kirche den methodistischen Predigern die Kanzel verboten hatten. Notgedrungen von der englischen Kirche abgelöst, predigten sie zuerst auf freiem Felde, dann in besondern Kapellen. Auch in Schottland (seit 1741) und Irland (seit 1747) verbreiteten sich die Methodisten rasch, namentlich unter dem niedern Volk, infolge des bedeutenden Rednertalents Wesleys und mehr noch Whitefields. Durch die frühere, jedoch schon 1740 wieder gelöste Verbindung mit der Brüdergemeinde, die Wesley in Amerika und Deutschland kennen gelernt hatte, hat die ursprüngliche Verfassung der Methodisten manches aus der herrnhutischen aufgenommen (Bandgesellschaften [bands] und select societies. d. h. intimere Kreise der Begnadigten innerhalb des größern Teiles der united societies). Diese Verfassung wurde jedoch verdrängt durch das 1742 von Wesley eingeführte Klassensystem. Zur gegenseitigen Förderung in der Heiligung teilt sich eine Gemeinde in Klassen mit vierteljährlich erneuerten Mitgliederkarten (society-tickets), gewöhnlich von etwa 20 Personen gleichen Geschlechts und gleicher Lebensverhältnisse, jede unter einem Vorsteher (class leader). Mehrere Gemeinden sind zum Bezirk (circuit) unter Leitung eines Superintendenten vereinigt. Gemeinsame Liebesmahle (love feast) werden gehalten. Das Ritual ist das der bischöflichen Kirche, nur mit Hervorhebung des Gesanges. Auch im Dogma weichen die Methodisten nicht von der englischen Kirche ab, nur betonen sie die fortgehende unmittelbare Wirkung des Heiligen Geistes und machen die Bekehrung von seiner wunderbar mächtigen und plötzlich eingreifenden Wirksamkeit abhängig. Innerhalb der Methodisten gab seit 1769 die Lehre von der Gnadenwahl Anlass zur Spaltung, da Whitefield und seine Anhänger an der partikularen Gnadenwahl festhielten, während Wesley und Fletcher den Universalismus der Gnade lehrten. Die Eigentümlichkeit des Methodismus liegt indessen nicht auf theologischem Gebiet, sondern in strengster seelsorgerischer Überwachung jedes Einzelnen und intensiver Liebestätigkeit. An der Spitze der Methodisten steht seit 1744 die jährliche Generalkonferenz. Sie beschließt über die Disziplin und ernennt die Bischöfe für die einzelnen Distrikte sowie die Prediger (ministers), die für je drei Jahre einem Bezirk zugeteilt und in den Einzelgemeinden von Laienpredigern mit bürgerlichem Beruf unterstützt werden. Besondere Beamte (stewards) besorgen die ökonomischen Angelegenheiten. Für Nordamerika weihte Wesley 1784 in der Person des Thomas Coke einen besondern Superintendenten, der den Titel eines Bischofs annahm und Begründer der Methodist Episcopal Church (mit besonderer, in einer vierjährig zusammentretenden Generalkonferenz gipfelnden Verfassung) wurde; ihr trat als Missionskirche eine deutsche bischöfliche Methodistenkirche, 1849 von L. S. Jacoby gegründet, zur Seite. Erst auf dem amerikanischen Boden entfaltete der Methodismus seinen ganzen Bekehrungseifer in den großen Versammlungen, die entweder in den Städten stattfinden und dann Revivals (Wiederbelebungen, Erweckungen) heißen, oder auf dem Land unter dem Namen Camp meetings veranstaltet werden methodisch ins Werk gesetzte Erschütterungen des Gemüts, die so lange fortgesetzt werden, bis sich die Erregtheit der Gemeinde unter Seufzen und Schluchzen in wildem Geheul steigert und mit konvulsivischem Gebaren endigt; daher der Name Jumpers (»Springer«). Trotz vieler krankhafter Auswüchse hat der Methodismus die verwilderten Massen der Neuen Welt vielfältig in eine wohltätige Zucht genommen und namentlich auf die Sklavenbevölkerung erhebend eingewirkt. Übrigens gab 1845 die Sklavenfrage Veranlassung zu einer Spaltung der Methodisten in den Vereinigten Staaten in eine Nord- und eine Südkirche, und 1830 spaltete sich die Methodist Protestant Church mit kongregationalistischer Verfassung ab. Aber auch in England fanden beständige Separationen innerhalb der Methodisten statt, und namentlich bildete sich 1797 nach dem Tode Wesleys wegen Unzufriedenheit mit der von ihm hinterlassenen Erklärungsurkunde (deed of declaration), die alle Macht in die Hände der Generalkonferenz legte, die Partei der Neuen Methodisten (New Connexion). Gleichfalls im Widerspruch mit der Allgewalt der Konferenz bildete sich 1810 unter dem Namen Primitive Methodists oder Ranters (Schwärmer) eine zur ursprünglichen Einfachheit zurückgekehrte Sekte, die auch den Frauen das Predigen gestattet und auch in Amerika vertreten ist. Gleichfalls durch Laienvertretung unterschieden sich seit 1835 noch die London Wesleyan Methodists Association und seit 1857 die United Methodist Free Churches. Infolgedessen hat 1877 auch die Mutterkirche ihre Konferenz zur Hälfte aus Laien bestellt. Seit 1814 entstanden zwei methodistische Missionsgesellschaften für äußere und innere Mission. Temperenzgesellschaften, Diakonievereine etc. sind organisiert. Die Methodisten auf dem Kontinent gehören überwiegend der amerikanischen bischöflichen Methodistenkirche an: so in der Schweiz, vorzüglich im Kanton Waadt, wo sie das Volk spottend als Mômiers (s. d.) bezeichnet, und in Deutschland, namentlich in Württemberg und Bremen (s. auch Albrechtsleute). Seit 1859 wurden die amerikanischen »Erweckungen« zuerst in Großbritannien, dann mit steigendem Erfolg auch auf dem Festland in Szene gesetzt, so besonders 1875 durch Pearsall Smith, Sankey und Moody; s. Gemeinschaftsbewegung. In Frankreich haben die Methodisten besonders seit der Julirevolution 1830 durch ihre Beteiligung an der Société Evangélique (s. Evangelisation), durch einen Lehrstuhl an der Fakultät Montauban und durch Verbreitung von Bibeln und Traktätchen an Bedeutung gewonnen. Die Gesamtzahl der Methodisten wurde 1901 auf dem alle 10 Jahre tagenden ökumenischen Konzil aller Methodisten auf über 7,5 Mill. geschätzt. Die amerikanisch bischöfliche Methodistenkirche zählte 1904: 3,031,918 (Deutschland ca. 21,000) Mitglieder. Neben den beiden bischöflichen Kirchen Nord und Süd bestehen in Amerika noch acht selbständige Negergemeinschaften, dazu die Protestant Church (s. oben), die amerikanischen Wesleyaner, die Kongregationalisten, die neuen Kongregationalisten, die freien Methodisten, die Independenten. Bei der starken Unionstendenz ist eine Vereinigung sämtlicher Methodisten in absehbarer Zeit möglich. Aus den Wesleyanischen Methodisten in England ist die Heilsarmee (s. d.) hervorgegangen."

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26 Genesis 3, 17ff.:

17Und zu Adam sprach er: Dieweil du hast gehorcht der Stimme deines Weibes und hast gegessen von dem Baum, davon ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen, verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang.
18Dornen und Disteln soll er dir tragen, und sollst das Kraut auf dem Felde essen.
19Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.

27 Robespierre

"Robespierre (spr. robbespjär'), Maximilien Marie Isidor, eigentlich de Robespierre, einer der hervorragendsten Männer der französischen Revolution, geb. 6. Mai 1758 in Arras, gest. 28. Juli 1794, ließ sich in seiner Vaterstadt als Advokat nieder. Seine lebhafte Beteiligung an den literarischen Bestrebungen bewirkte seine Ernennung zum Präsidenten der Akademie von Arras. 1789 als Deputierter von Arras in die Nationalversammlung gewählt, spielte er anfangs eine untergeordnete Rolle. Indes seine Keckheit und Zähigkeit und der ihn begleitende Ruf der Unbestechlichkeit verschafften ihm allmählich Achtung und Einfluss. Zugleich trat sein argwöhnischer, misstrauischer Charakter hervor, namentlich in seinen Reden im Jakobinerklub, dessen Präsident er 1790 wurde. Das Königtum bekämpfte er seit der Flucht des Königs, den er fortan als Verräter betrachtete. Der verhängnisvolle Beschluss, dass kein Mitglied der Konstituierenden Versammlung in die Legislative gewählt werden dürfe, war sein erster großer parlamentarischer Erfolg. Nach dem Schluss der Konstituante (30. Sept. 1791) wurde Robespierre einer der populärsten Revolutionsmänner. Er zog damals in die einfache Wohnung des Tischlers Duplay, dessen Tochter Lenore seine Geliebte wurde. Robespierre wirkte als öffentlicher Ankläger beim Tribunal von Paris, welches Amt er jedoch im Mai 1792 niederlegte, und als Redner im Jakobinerklub, den er ganz beherrschte. Seit den Wahlen zum Nationalkonvent galt Robespierre als der Stimmführer der großen radikalen Partei, welche die Revolution bis zu allen ihren Konsequenzen durchzuführen entschlossen war, und war Haupturheber der Verurteilung und Hinrichtung des Königs. Hierauf benutzte er seine einflußreiche Stellung zum Sturz der Gironde (Anfang Juni 1793) und nahm unter dem Eindruck des die Katastrophe begleitenden Schreckens als leitendes Mitglied des Wohlfahrtsausschusses faktisch die Diktatur in die Hand. Jetzt in der Lage, sein Ideal, die Wiedergeburt der Gesellschaft und die Herrschaft der Tugend, zu verwirklichen, scheute er kein Mittel, dies zu erreichen; die blutige Vertilgung des alten verderbten Geschlechts der Verräter und Verschwörer schien ihm vor allem notwendig. Um allein zu herrschen, wandte er sich gegen seine bisherigen Helfershelfer und brachte Hébert (24. März 1794), Danton und die Cordeliers (5. April) sowie Chaumette (13. April) auf das Schafott. Nun schien ihm niemand mehr bei Ausrichtung seiner Herrschaft im Wege zu stehen; die Würde und Machtbefugnis eines Hohenpriesters der demokratischen Idee war das Ziel seines ehrgeizigen Strebens. Den ersten Schritt zu dessen Erreichung bezeichnete seine Erklärung im Mai 1794, dass das französische Volk an ein höchstes Wesen glaube. Als er aber auch jetzt mit den blutigen Schreckensmaßregeln fortfuhr, gab die Furcht seinen Gegnern und Rivalen Mut zu geheimer Verständigung, und so stieß Robespierre im Wohlfahrtsausschuss auf unerwartete Opposition. Um einen vernichtenden Schlag auf seine Gegner zu führen, denunzierte Robespierre 8. Thermidor (26. Juli 1794) vor dem Konvent ein Komplott, das auf dessen Spaltung hinarbeite. Aber 9. Thermidor (27. Juli) ließen Robespierres Gegner ihn nicht zu Wort kommen. Tallien hielt eine feurige Anklagerede gegen ihn, und ein Mitglied wagte den Antrag auf Robespierres Verhaftung, die nebst der Couthons und Saint-Justs sofort dekretiert wurde. Robespierre ward nach dem Luxembourg gebracht, vom Volk aber mit seinen Anhängern befreit und auf das Stadthaus geführt. Allein der Konvent zeigte eine ungeahnte Energie, und als die ihm treuen Nationalgarden das Stadthaus stürmten, versuchte Robespierre, sich durch einen Pistolenschuss zu töten, zerschmetterte sich jedoch nur die Kinnlade. Er ward in die Conciergerie geschafft, von wo aus er 10. Thermidor gegen 6 Uhr nachmittags mit 20 Genossen zum Schafott auf dem Eintrachtsplatz gefahren wurde. Sein Sturz bezeichnete das Ende des Schreckensregiments. Robespierres Intelligenz hatte einen beschränkten Gesichtskreis, sein Charakter war durch krankhafte Überreiztheit getrübt. Er war kein Staatsmann, aber ein salbungs- und wortreicher Parlamentsredner. »OEuvres choisies de Max. Robespierre« wurden von Laponneraye und Carrel (Par. 1832-42, 3 Bde.) und von Vermorel (2. Aufl., das. 1868) herausgegeben."

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28 Rousseau

"Rousseau, Jean Jacques, berühmter franz. Schriftsteller und Philosoph, geb. 28. Juni 1712 in Genf, gest. 2. Juli 1778 in Ermenonville (Oise). Seine Mutter, die Tochter eines evangelischen Predigers, starb schon bei seiner Geburt, und der Vater, Uhrmacher und Tanzlehrer, kümmerte sich nicht viel um die Erziehung seines Sohnes, der in seiner Lesewut alle Bücher verschlang, deren er habhaft werden konnte, am liebsten aber die Romane des 17. Jahrh. und Plutarchs Lebensbeschreibungen las. Man brachte ihn zuerst in das Bureau eines Anwalts, dann zu einem Kupferstecher in die Lehre. Aber sein unsteter Sinn und harte Züchtigungen infolge seiner schlechten Streiche trieben ihn aus Genf; nach mehrtägigem umherirren kam er nach Consignon zu dem katholischen Geistlichen, der ihn nach Annecy an Frau v. Warens (s. d.) empfahl. Diese, eine junge, liebenswürdige, aber äußerst schwache und gutmütige Frau, die ihren Mann verlassen hatte, war kurz vorher zum Katholizismus übergetreten und bemühte sich, den 16jährigen Rousseau ebenfalls zu bekehren; sie sandte ihn nach Turin in ein Bekehrungshaus, wo er bald darauf den Protestantismus abschwor (23. Aug. 1728). In Turin wurde er Bedienter bei einer vornehmen Dame, von der er jedoch bald wieder entlassen wurde wegen des Verdachts, einen Diebstahl begangen zu haben, und kehrte nach einigen Irrfahrten 1730 zu Frau v. Warens zurück. Im April 1731 schloss er sich eine Zeitlang einem Hochstapler an, gelangte nach vielen Abenteuern bis nach Paris, kehrte dann aber 1732 zu Frau v. Warens zurück, die inzwischen nach Chambéry verzogen war. Mit seiner Freundin verlebte er dort acht glückliche Jahre, schwelgend im Genuss der schönen Natur, hauptsächlich aber mit ernsten Studien beschäftigt. Hier las er die englischen, deutschen und französischen Philosophen, studierte Mathematik und Latein, vertiefte seine religiösen Anschauungen und versuchte sich in Lustspielen und Opern. Wegen eines Herzleidens reiste er 1737 auf zwei Monate ins Bad nach Montpellier; als er dann nach seiner Rückkehr bei Frau v. Warens einen andern Liebhaber findet und mit diesem ihre Gunst nicht teilen will, wie sie es ihm vorschlägt, verlässt er ihr Haus (sie hatte im Sommer 1738 das Landgut Les Charmettes gepachtet), geht als Hauslehrer nach Lyon und 1741 nach Paris, um sein neues System, Noten durch Zahlen auszudrücken, der Akademie zu unterbreiten. Als diese seine Entdeckung zurückwies, nahm Rousseau die Stelle eines Sekretärs beim französischen Gesandten in Venedig, dem Grafen Montaigu, an, einem geizigen, brutalen Mann, bei dem er nur 18 Monate aushielt. Nach Paris zurückgekehrt, trat er in lebhaften Verkehr mit Diderot, Grimm, d'Alembert, Holbach, Frau v. Epinay u.a., und schon damals rühmte man seine geistvolle Unterhaltung und spottete über sein unbeholfenes Benehmen und seine maßlose Eitelkeit. In dieser Zeit knüpfte er auch sein Verhältnis mit Thérèse Levasseur an, einer Arbeiterin ohne jede Schulbildung und so beschränkt, dass sie weder die Monatsnamen erlernen, noch den Wert der einzelnen Geldmünzen behalten konnte. Trotzdem lebten beide glücklich in einer Vereinigung, deren festester Kitt die Macht der Gewohnheit war, und die erst 25 Jahre später durch die Ehe geheiligt wurde. Sie schenkte ihm fünf Kinder, die er alle ins Findelhaus brachte, eine Herzlosigkeit, die er mit vielen Sophistereien zu entschuldigen versuchte. Inzwischen war er ein berühmter Mann geworden. Seine Abhandlung über die Verderblichkeit der Bildung (»Discours sur les sciences et les arts«, 1750), eine Antwort auf eine von der Akademie zu Dijon gestellte Preisfrage, war von dieser mit dem Preis ausgezeichnet worden. Von nun an trat er in bewussten Gegensatz zu der Zivilisation, die er für alle menschlichen Laster und besonders für seine eignen Verirrungen verantwortlich machte. Er verschmähte es jetzt auch, von der Schriftstellerei zu leben, und empfahl sich trotz des heftigen Widerspruchs seiner Geliebten und ihrer Mutter als Notenabschreiber in der sichern Erwartung, dass es einem berühmten Mann an Aufträgen nicht fehlen würde, worin er sich auch nicht täuschte. Auch auf dem Theater errang er nun einen glänzenden Erfolg mit der Oper »Le devin du village« (1752). Im Jahre 1753 erschien seine »Lettre sur la musique française«, mit der er durch seine Parteinahme für die italienische Musik einen heftigen Sturm gegen sich erregte. Seine zweite größere Schrift war wiederum von der Akademie zu Dijon angeregt und handelte von dem Ursprung und den Gründen der Ungleichheit unter den Menschen (»Discours sur l'inégalité parmi les hommes«, 1753); auch diese Schrift enthält die heftigsten Anklagen gegen die Gesellschaft. In dieser Zeit machte er eine Reise nach Genf, wo er glänzend empfangen wurde und (1. April 1754) zum Calvinismus zurücktrat; er nannte sich von nun an mit Vorliebe »Citoyen de Genéve«. Seit 1756 bewohnte er auf eine Einladung der Frau v. Epinay ein Gartenhäuschen im Walde von Montmorency, das berühmte, später umgebaute »Ermitage«. Hier, in der Einsamkeit, inmitten einer herrlichen Natur, hoffte er ein glückliches und ruhiges Leben führen zu können; aber seine häusliche Misere, seine heftige, sinnliche Leidenschaft für die Gräfin d'Houdetot und besonders sein krankhaftes Misstrauen und seine nervöse Reizbarkeit, die den Bruch mit seinen besten Freunden, Grimm, Diderot und Frau v. Epinay, herbeiführte, machte den Aufenthalt dort unmöglich; er bezog Montmorency. Hier lebte er auf dem Lustschloss Montlouis, das ihm der Herzog von Luxembourg zur Verfügung stellte, von 1757-62, und wenn auch sein Gemüt nicht gesundete, so sind hier doch seine berühmtesten Werke vollendet worden: Die »Lettre à d'Alembert contre les spectacles« (1758), »Julie, ou la Nouvelle Héloïse« (Februar 1761), »Du contrat social, ou principes du droit politique« (deutsch, Berl. 1873) und »Émile, ou de l'éducation« (deutsch unter anderm von E. v. Sallwürk, mit Anmerkungen, nebst Biographie von Th. Vogt, 3. Aufl., Langensalza 1893, 2 Bde.; von Wattendorff, 2. Aufl., Münst. 1906), beide Frühjahr 1762 erschienen. Aber auch er teilte das Geschick aller Propheten. Aus Frankreich verbannt, wo das Parlament die Verbrennung des »Émile« und die Verhaftung des Verfassers dekretiert hatte, in seiner Vaterstadt, wo man seine Schriften öffentlich verbrannt hatte, geächtet, musste er 1762 in dem damals preußischen Neuchâtel, im Dorf Môtiers- Travers, eine Zuflucht suchen; günstig nahm ihn der Gouverneur des Ländchens, der Marschall George Keith, auf. Von hier schrieb er seine Streitschrift an den Erzbischof von Paris und die berühmten »Lettres de la montagne«, worin er die Glaubensfreiheit gegen Kirche und Polizei in Schutz nahm als Antwort auf Tronchins »Lettres de la campagne«, die das Verhalten der Genfer Regierung gegen Rousseau rechtfertigen sollten. Doch die Intrigen seiner Feinde ließen ihn auch hier nicht ruhen. Auf Anstiften des protestantischen Geistlichen machten die fanatisierten Bauern einen Angriff auf sein Haus und vertrieben ihn aus ihrem Dorf (September 1765). Auch von der Petersinsel im Bieler See, wohin er sich geflüchtet, wurde er verjagt; schon wollte er sich auf die Einladung Friedrichs II. nach Berlin begeben, als er den dringenden Bitten Humes, nach England überzusiedeln, nachgab. Aber auch dort war seines Bleibens nicht lange; sein Menschenhass, der durch die Leiden der letzten Jahre allmählich in Verfolgungswahn ausgeartet war, vielleicht auch einige Rücksichtslosigkeiten seines Gastgebers, besonders aber wohl der Anstoß, den die englische Gesellschaft an seinem Verhältnis zu Thérèse nahm, führte bald den Bruch herbei. Schon 1. Mai 1767 landete er in Frankreich, erhielt 1770 die Erlaubnis, nach Paris zurückzukehren, wo er in der Rue Plâtrière (die jetzt seinen Namen trägt) eine Wohnung bezog, und vollendete dort die schon in England begonnenen »Confessions« (deutsch von L. Schücking, Hildburgh. 1870; von E. Hardt, Berl. 1906), worin er mit einer oft empörenden Offenheit und Rücksichtslosigkeit gegen sich und andre sein ganzes Leben der Welt darlegte. In langer armenischer Kleidung wandelte er damals melancholisch unter den Parisern umher, trieb Musik und Botanik und nährte sich vom Notenschreiben, bis er im Mai 1778 vom Marquis v. Girardin die Einladung erhielt, in Ermenonville, unweit Paris, ein stilles Landhaus zu beziehen. Dort ist er bald nachher gestorben. 1794 wurden seine Gebeine (von Ermenonville) feierlich im Panthéon beigesetzt, von wo sie unter der Restauration heimlich wieder entfernt worden sein sollen; seine Landsleute aber errichteten auf der nach ihm benannten Rousseauinsel in Genf ihrem größten Bürger ein Denkmal; im Panthéon zu Paris wurde ihm 1889 ein Standbild errichtet. Sein Bildnis s. Tafel »Klassiker der Weltliteratur II« im 12. Bd. Außer den angeführten Werken schrieb Rousseau: »De l'imitation théâtrale« (1764); das Melodrama »Pygmalion«, das Berquin in Verse brachte (vgl. Istel, J. J. Rousseau als Komponist seiner lyrischen Szene; Pygmalion', Leipz. 1901); die Abhandlung über die »Vertu la plus nécessaire aux héros« (1769); ein »Dictionnaire de musique« (1767); »Lettres sur la botanique« (deutsch, Leipz. 1903); »Dialogues«, Briefe etc. Mehrere Schriften erschienen erst nach seinem Tode, wie »Émile et Sophie, ou les solitaires«, eine schwächliche Fortsetzung des »Èmile«; und die »Confessions«, die vervollständigt wurden durch eine Art Tagebuch: »Les rêveries du promeneur solitaire«, die gegen seinen ausdrücklichen Wunsch schon drei Jahre nach seinem Tode veröffentlicht wurden.

Mehr als Voltaire bestimmte Rousseau die geistige Physiognomie des alternden 18. Jahrh. Aufgewachsen in einer Stadt, die durch harte Kämpfe gegen Gewalt und Übermut frei und groß geworden, in der strenge calvinistische Zucht wahre und tiefe Frömmigkeit nicht ausschloss, mit einem Herzen voll glühender Liebe zur Natur, deren Großartigkeit und Lieblichkeit in ihm einen begeisterten Lobredner fand, trefflich gewappnet mit dem geistigen Rüstzeug des philosophischen Jahrhunderts, ein scharfer Denker, von der feurigsten Beredsamkeit, daneben von einer Betonung des eignen Ich, von einer Selbstsucht und Überhebung, die in ihrer Übertreibung geradezu widerwärtig wirken: so unternimmt er es, die moralischen und politischen Verhältnisse umzuformen, indem er den glänzenden Schleier, der die Fäulnis und das Elend des sozialen Lebens verhüllte, mit kühner Faust zerriss und vollständige Umkehr predigte, die Rückkehr zur natürlichen Empfindung und zur reinen Bürgertugend. Seine Hauptwerke geben uns ein anschauliches Bild seines Systems. Wenn er in der Abhandlung über die Verderblichkeit der Bildung nachwies, dass mit dem Fortschreiten der Kultur der Verfall der Sitten Hand in Hand gegangen sei, dass Irrtum und Vorurteil unter dem Namen Philosophie die Stimme der Vernunft und der Natur erstickt hätten, so zeichnet er im »Émile« das Ideal eines Bürgers und die Mittel, das Kind zu einem solchen zu erziehen. Fern von der Welt und dem verderblichen Einfluss der Gesellschaft soll die Seele des Kindes sich bilden; da der Mensch von Natur gut ist, so braucht nur Irrtum und Laster fern gehalten zu werden; dann wird er von selbst Wissenschaft und Kunst und zuletzt auch Gott finden lernen. Den Glanzpunkt des »Émile« bildet das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars; hier bekennt Rousseau in herrlicher Sprache das tiefe Bedürfnis eines wahren, natürlichen Gefühls nach Religion, nach dem Gotte, dessen Allmacht und Größe seine Werke jeden Tag aufs neue verkünden. Der ungeheure Einfluss, den dieses Buch, das Naturevangelium der Erziehung, wie es Goethe nennt, auf die Zeitgenossen ausübte, ging weit über Frankreichs Grenzen hinaus; Pestalozzi sucht und findet seinen Ruhm in der praktischen Durchführung von Rousseaus Ideen, ohne indes seinen Maßlosigkeiten und Absonderlichkeiten zu folgen. Wie diese beiden Schriften der Afterbildung der Zeit das Ideal wahrer Bildung gegenüberstellen, so versuchen die »Abhandlung über die Ungleichheit unter den Menschen« und der »Gesellschaftsvertrag« die soziale Frage zu lösen. Das erstere Werk unterzieht die bestehenden sozialen Verhältnisse einer vernichtenden Kritik. Weil die Zivilisation den Menschen unglücklich mache, so müsse man zu einem Naturzustand zurückkehren, der dem der Wilden, ja dem der Tiere möglichst gleichkomme. Aus dem Begriff des Eigentums habe sich die Ungleichheit entwickelt, aus der Vereinigung zu gegenseitigem Schutz die Regierung, aus der Erblichkeit der Regierung der Despotismus und die Entartung. Aber ein Despot sei nur so lange Herr, als er die Macht habe, und die Revolution, die einen Herrscher vernichte, sei ebenso gerechtfertigt wie das Schalten und Walten des Herrschers über Leben und Eigentum seiner Untertanen. Diesen leidenschaftlichen, oft unrichtigen und meist übertriebenen Deduktionen gegenüber entwickelt er im »Contrat social« die Grundsätze seines politischen Systems. Die ersten Worte: »Der Mensch ist frei geboren«, bilden den Grundtext des ganzen Buches. Seine Freiheit gibt der Mensch nicht auf, wenn er eine Gesellschaft, einen Staat bildet; darum ist die Gesellschaft allein der Souverän, der Gesamtwille das höchste Gesetz. Der Zweck aber der Gesetze ist Freiheit und Gleichheit. Das Merkwürdigste ist, dass er seiner Republik eine Staatsreligion verleiht, und dass er Andersgläubige verbannt, Abtrünnige mit dem Tode bestraft wissen will. Wie diese Theorien sich in der Praxis ausnehmen, zeigten der Konvent und Robespierre; ein viel höherer Grad von Tyrannei war die notwendige Konsequenz solcher Lehren. Der »Contrat social« hatte einen großartigen Erfolg: der französischen Revolution diente er als Grundbuch; Polen und Korsen stellten an Rousseau die Anforderung, ihnen Verfassungen zu geben. Aber das Geheimnis dieses Erfolgs liegt nicht bloß in der Kühnheit der Ideen, sondern ebensosehr in der vollendeten Form, dem prophetischen Ton, der Sicherheit seiner Logik, der Heftigkeit seiner Angriffe. Nicht geringen Widerhall in den Herzen der Jugend, besonders auch der deutschen, fand die »Neue Heloïse«. Hier zeigt er sich als wahrer Dichter, nicht bloß in den Naturschilderungen, die, wie diejenigen der »Confessions«, von bestrickendem Zauber sind, sondern hauptsächlich in der Darstellung einer tiefen, echten Liebe, der zartesten Empfindung und der glutvollsten Leidenschaft. Juliens Fehltritt aber ist nicht nur unmoralisch, sondern stört auch die Harmonie des Werkes, und wenig gelungen ist die moralisierende Fortsetzung des Romans. Der Einfluss Rousseaus war in Literatur und Kultur so gewaltig, dass er auch heute noch unser Leben bis in seine Tiefen erregt.

Unter den zahlreichen Gesamtausgaben der Werke Rousseaus heben wir hervor: die von Du Peyrou besorgte (Genf u. Par. 1782, 35 Bde.), mit den »OEuvres posthumes« (1782-83, 12 Bde.); die von Villenave und Depping (1817, 8 Bde.); von Musset- Pathay, mit Biographie und Anmerkungen (1823-1826, 23 Bde.); von Hachette (1865, 13 Bde.; neugedruckt 1900 ff.). Die beste Ausgabe des »Contrat social« mit allen Varianten gab Dreyfus- Brisac (Par. 1895). Von deutschen Übersetzungen nennen wir die von Cramer (Berl. 1786-99, 11 Bde.) und die von Ellissen, G. Julius, K. Große, Marx etc. (Leipz. 1843-45, 10 Bde.). Eine Auswahl gab in deutscher Übersetzung Heusinger (Stuttg. 1898, 6 Bde.). Einen Band »Lettres inédites« gab Bosscha (Amsterd. 1858) heraus, andre Briefe Streckeisen- Moulton (»OEvres et correspondences inédites de J. J. Rousseau«, Par. 1861, dann in »Rousseau, ses amis et ses ennemis«, das. 1865, 2 Bde.; neue Ausg. 1904), Usteri (Zürich 1886), H. de Rothschild (Par. 1892); »Fragments inédits« veröffentlichte Jansen (Berl. 1882)."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Philosophen-Lexikon : Leben, Werke und Lehren der Denker. -- Berlin : Mittler, 1912. -- 889 S. -- S. 613ff.]

29 Spinoza

"Spinoza, Benedictus de, oder Baruch Despinoza, geb. am 24. November 1632 in Amsterdam als Sohn jüdischer Eltern, die aus Portugal nach Holland ausgewandert waren. Er besuchte die jüdische Schule und studierte bald, unter der Leitung des Saul Levi Morteira, den Talmud nebst den Schriften des Maimonides, des Gersonides u. a., ferner die Kabbala, zwar unbefriedigt von dem allen, aber doch nicht ohne einen gewissen Einfluss durch dieses Studium zu erfahren. Von dem Arzte und Freidenker Franz van den Enden erhielt er Unterricht im Lateinischen, auch im Griechischen, welches letztere er aber nur unvollkommen erlernte. Er studierte auch eine Reihe scholastischer Autoren (Thomas von Aquino, Heereboord u. a.), las auch vielleicht Giordano Bruno und beschäftigte sich eifrig mit den Schriften Descartes' und mit Naturwissenschaften. Wegen seiner freien Anschauungen von der Synagoge zum Widerruf aufgefordert, verweigerte er diesen, ließ sich auch durch nichts bestechen und so wurde er 1656 wegen seiner »Irrlehren« in den großen »Bann« getan, was ihn aber nicht bewog, etwa Christ zu werden. Nachdem Spinoza (auf den ein fanatischer Jude einen Mordversuch gemacht haben soll) 1656-60 in der Nähe von Amsterdam gelebt hatte, wurde er, als Atheist verdächtigt, ausgewiesen und lebte nun in Rhynsburg, mit seinen Freunden Simon de Vries und Ludwig Meyer in Amsterdam korrespondierend und philosophisch tätig. Seinen Lebensunterhalt erwarb er sich durch Schleifen optischer Gläser, eine Tätigkeit, die wohl den frühen Tod des schwächlichen Mannes beschleunigen half. 1664-69 hielt sich Spinoza bei Haag (in Voorburg), von 1670 an in Haag auf, zuerst im Hause der Witwe van Velden, dann bei dem Maler van der Spyck. Die heftigen Angriffe, die sein »theologisch-politischer Traktat« erfuhr, bestimmten Spinoza, nichts mehr zu veröffentlichen ; wenn auch keineswegs feig, war er doch keine Kampfnatur, die Ruhe des Geistes ging ihm über alles, und so nahm er auch eine ihm im Jahre 1673 durch Karl Ludwig von der Pfalz angebotene Professur in Heidelberg nicht an, um in seinem Philosophieren frei und unbeeinträchtigt zu sein. Ein Mann von den geringsten Bedürfnissen, eine echt beschauliche, abgeklärte Natur, ein höchst lauterer, streng sittlicher, gütiger, edler Charakter von »grenzenloser Uneigennützigkeit« (Goethe), lebte er rein der philosophischen Forschung, zugleich (wie die Rabbiner des Mittelalters) sein Handwerk ausübend und eine kleine Rente, die ihm sein Freund Simon de Vries vermachte, beziehend. Am 21. Februar 1677 starb Spinoza an seiner Schwindsucht. Lange Zeit galt er als verruchter »Atheist«, wie ein »toter Hund« wurde er behandelt, bis dann seit Lessing, Herder, Goethe, Schleiermacher das Blatt sich wandte, Spinozas Charakter und Denken zu größten Ehren kam und sein Einfluss auf die Philosophie ein außerordentlicher wurde, so dass geradezu ein »Neo-Spinozismus« entstand.

Spinoza ist der Begründer des neueren Pantheismus als System einer Identitätsphilosophie, eines universalen Monismus. Ein neues System liegt vor, wenn auch Einflüsse seitens des jüdischen Einheitsgedankens, der Stoa, des Neuplatonismus, der Scholastik und Mystik, G. Brunos u. a. bestehen, und wenn auch Spinoza zunächst an Descartes anknüpft. In erkenntnis-theoretischer Beziehung ist Spinoza Rationalist, der sich aber schließlich einer gewissen Mystik zuwendet (»intellektuelle Gottesliebe«).

Sein System gibt Spinoza erst in der nach seinem Tode erschienenen »Ethik«, welche ihren Namen daher hat, dass hier die rechte Gestaltung des menschlichen Lebens durch Erkenntnis das Ziel ist. Der Abfassung der »Ethik« (1662 ff,, öfter überarbeitet, erst in drei, dann in fünf Büchern) gingen verschiedene Arbeiten voraus, die schon manches aus dem Hauptwerk vorwegnehmen, zum Teil aber mit Modifikationen. Der »Tractatus de Deo et homine eiusque felicitate« ist - das lateinische Original dürfte verloren sein - in holländischer Übersetzung erst spät gefunden worden. Hier führt Spinoza aus, das Dasein Gottes gehöre zu seinem Wesen und Gott müsse, wenn der Mensch eine Vorstellung von ihm hat, auch wirklich sein (I, 1). Gott ist das Wesen, dem alles oder unendliche Attribute beigelegt werden, von welchen jedes unendlich und vollkommen ist; das All muss eben alle Attribute halten. Es gibt keine beschränkte Substanz, alle Substanz muss in ihrer Art unendlich vollkommen sein; es gibt nicht zwei Substanzen, eine kann die andere nicht hervorbringen. In dem »unendlichen Verstande Gottes« gibt es nichts, als was in der Natur wirklich ist. Gott hat alles, was in seinem Denken lag, geschaffen. Denken und Ausdehnung sind die uns bekannten Attribute der göttlichen Substanz, welche an sich unteilbar ist (Teile sind reine Gedankendinge). Die einzelnen Dinge sind »Modi« der Substanz, diese ihr Ursprung, von dem sie abhängen. Gott ist die einzige, ewige, unendliche, durch sich selbst bestehende Substanz, die »immanente Ursache« der Dinge. Es gibt eine schaffende und eine geschaffene Natur: erstere ist (wie dies schon die Thomisten sagen) Gott. Die geschaffene Natur ist ein »Sohn, Geschöpf oder Produkt« Gottes, ebenso wie der Intellekt, der von Ewigkeit her geschaffen ist und ewig unverändert bleibt. Der Mensch ist keine Substanz, sondern besteht aus Modis des Denkens und der Ausdehnung; unsere Seele ist nur ein Modus wie unser Körper. Die Erkenntnis Gottes geht der Erkenntnis aller anderen Dinge voraus und die höchste Liebe knüpft sich an die Erkenntnis Gottes als des Vollkommensten, Gott ist die Wahrheit, die Wahrheit ist Gott selbst. In intellektualistischer Weise bestimmt Spinoza den Willen als Vermögen der Bejahung oder Verneinung, ob etwas gut oder schlecht ist, als Idee. als Modus des »Denkens« (im weitesten Sinne), als Werk des Verstandes (im Unterschied von der Begierde, vom Trieb). Es gibt keine Freiheit des Willens. Wir sind von der Natur abhängig, sind »Diener, ja Knechte Gottes«, und es ist dies unsere größte Vollkommenheit, indem wir ein Teil des Ganzen sind und an seinen Werken mitwirken. Darin, dass wir Gott alles zuschreiben, ihn allein lieben und uns so ihm ganz opfern, besteht der wahre Gottesdienst und unsere wahre Glückseligkeit. Wenn die Seele mit Gott sich vereinigt (in der Liebe), dann muss sie mit ihm unveränderlich bleiben, d.h. dadurch und insofern unsterblich sein.

Im »Tractatus de intellectus emendatione« betont Spinoza den Vorrang der Spekulation, der Erkenntnis des Wahren und Göttlichen, vor allen anderen, vergänglichen und unbefriedigenden Gütern. Nachdem er eingesehen, dass alles, was sich im gewöhnlichen Leben bietet, eitel und wertlos ist, und dass alles, wovor er sich fürchtete, nur insofern Gutes oder Schlimmes enthielt, als die Seele davon bewegt wurde, beschloss er, an die Forschung nach einem wahren und beständigen Gut zu gehen. Ehre, Reichtum und Sinnenlust gab er um der Erkenntnis willen auf, die den Menschen vervollkommnet. Als Erkenntnisarten führt hier Spinoza an: 1. das Wissen durch Hörensagen oder ein sonstiges Zeichen, 2. das Wissen durch vage, rohe Erfahrung, 3. das Wissen durch (nicht-adäquates) Erschließen des Wesens einer Sache aus einer ändern Sache, 4. das Wissen, bei dem die Sache bloß aus ihrem Wesen oder durch die Erkenntnis ihrer nächsten Ursache begriffen wird. Nur die vierte Art des Wissens erfasst das »adäquate Wesen« einer Sache ohne Irrtum. Die wahre Idee ist verschieden von ihrem Gegenstände (ihrem »Ideat«), sie ist das ideelle (bei Spinoza »objektive«) Sein des Gegenstandes und als solches erkennbar. Die Gewissheit ist die Art, wie wir das wirkliche Sein empfinden. Vor allem muss, damit Gewissheit möglich ist, in uns die wahre Idee wie ein angeborenes Werkzeug vorhanden sein, das als Norm dient. Die Wahrheit offenbart sich selbst und das Falsche; Ideen, die klar und deutlich sind, können niemals falsch sein (vgl. Descartes), sie stammen »rein aus dem Geiste«, nicht ans den zufälligen Erregungen des Körpers. Der Verstand denkt mit Evidenz und notwendig so, wie er denkt; ferner erfasst er die Dinge unter dem Gesichtspunkte der Ewigkeit und Unendlichkeit, d.h. er achtet weder auf die Zahl noch auf die Dauer. Falschheit und Irrtum beruhen auf einem Mangel der Ideen, sind nichts Positives.

Die »Ethik«, das Hauptwerk Spinozas ist nach geometrischer Methode (»more geometrico«), nach dem Vorbilde des synthetischen Verfahrens Euklids, abgefasst. An die »Definitionen« der Begriffe schließen sich »Axiome« (Grundsätze) und aus beiden werden »Lehrsätze« (propositiones) abgeleitet, auf welche dann »Korollarien« (Zusätze) und »Scholien« (Erläuterungen) folgen. In rationalistischer Weise leitet. Spinoza seine Sätze rein begrifflich ab, in der Überzeugung, dass der logischen Folge aus ihren Gründen das Folgen der Dinge aus ihrem Urgrunde entspricht. Die Kausalität erhält so bei ihm einen mathematisch-logischen Charakter, das Sein wird völlig logisiert.

Das erste Buch der »Ethik« enthält die allgemeine Metaphysik. Das Prinzip aller Dinge, der Urgrund derselben, ihre immanente Ursache, ihre ihnen innewohnende Einheit (die nicht die Summe der Teile ist; sondern etwas. Ursprüngliches), das allein wahrhaft Seiende, Ewige, die einzige Substanz ist Gott oder die (schaffende) Natur (»deus sive natura«). Gott ist das Absolute,. dasjenige, dessen Wesen die Existenz einschließt, das, was nur als existierend gedacht werden kann, der Grund seiner selbst, »causa sui« (»per causam sui intelligo id, cuius essentia involvit existentiam sive id, cuius natura non potest concipi nisi existens«). Während Descartes zwar schon Gott als absolute Substanz bestimmte, daneben aber doch Geist und Körper als abhängige Substanzen angesehen hatte, gibt es für Spinoza nur eine einzige, allen Dingen zugrundeliegende Substanz, Gott oder die Natur. »Substanz« ist, was in sich ist und durch sich allein begriffen wird, das absolut für sich allein, ohne Beziehung auf etwas anderes Denkbare (»per substantiam intelligo id, quod in se est et per se concipitur, hoc est id, cuius conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari debeat«). Die Substanz, das unendliche, allgemeine Sein, geht logisch ihren Besonderheiten vorher (»substantia prior est natura suis affectionibus«), da diese ohne sie nicht denkbar sind. Es kann nur eine Substanz geben; weil sie unendlich ist, kann eine Substanz nicht die andere beschränken, auch sie nicht hervorbringen. Es gehört zum Wesen der Substanz, zu existieren, und zwar als unendlich und unteilbar (»substantia absolute infinita est indivisibilis«). Gott ist die einzige Substanz (»propter Deum nulla dari neque concipi potest substantia«), und Gott existiert (als das »ens absolute infinitum«) notwendig, seine Existenz ist eins mit seinem Wiesen (»Dei essentia et existentia unum et idem sunt«). Er ist die aus unendlichen Attributen, die alle sein Wesen ausdrücken, bestehende Substanz (»substantiam constantem infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam et infinitam essentiam exprimit«), er enthält alles und alles ist in ihm, von ihm abhängig (»Quidquid est in Deo est, et nihil sine Deo esse neque concipi potest«). Gott ist die immanente Ursache der Dinge, er verbleibt mit seinem Wesen in ihnen (»Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens«). Nichts gibt es außerhalb Gottes. Gott ist die schaffende Natur (die »natura naturans«), sofern er freie Ursache (causa libera) von allem ist; die geschaffene Natur (»natura naturata«) ist der Inbegriff dessen, was aus dem Wesen Gottes und seiner Attribute notwendig folgt (»omne, quod ex necessitate Dei naturae sive unius cuiusque Dei attributorum sequitur«), die Summe der »Modi«, des Einzelnen.

Unter Attribut versteht Spinoza das, was das Denken als das Wesen der Substanz ausmachend erfasst (»per attributum intelligo id, quod intellectus de substantia percipit tamquam eiusdem essentiae constituens«). Je mehr etwas Realität hat, desto mehr Attribute hat es; daher besteht Gott als das höchste Sein aus unendlich vielen Attributen, die alle sein Wesen ausdrücken. Von diesen Attributen erfassen wir aber nur zwei: Ausdehnung (»extensio«) und Denken (Bewusstsein, Vorstellung, »cogitatio«). Jedes dieser Attribute ist durch sich selbst zu denken, dennoch bleibt die Substanz nur ein Wesen mit zwei Seinsweisen (»quamvis duo attributa realiter distincta concipiantur, hoc est, unum sine ope alterius, non possumus tamen inde concludere, ipsa duo entia sive duas diversas substantias constituere«). Jedes Attribut ist unendlich, unveränderlich und ewig wie Gott selbst (»omnia Dei attributa sunt eterna«), und alles, was aus ihnen folgt, existiert ewig und unendlich. Die eine Substanz ist also sowohl ausgedehnt als »denkend« (geistig), so dass Körper und Geist keine Substanzen, sondern Seinsweisen der Substanz sind.

Die endlichen Besonderungen oder Zustände der Substanz nennt Spinoza Modi (»Per modum intelligo substantiae affectiones, sive id quod in alio est, per quod etiam concipitur«). Sie sind unselbständig, inhärieren der Substanz, sind wechselnde Zustände der Attribute, aus welchen sie erfolgen. Aus ihnen bestehen die Einzeldinge und diese sind nichts als Zustände der göttlichen Attribute und damit der Substanz selbst, aber nicht etwa Teile dieser (»res particulares nihil sunt, nisi Dei attributorum affectiones, sive modi, quibus Dei attributa certo et determinato modo exprimuntur«). Während die Körper sowie ihre Gestalten und Bewegungen Modi der unendlichen Ausdehnung sind, bedeuten die Seelen und ihre Vorstellungen, Gedanken, Wollungen (»singulares cogitationes«) Modi des unendlichen Denkens. Die einzelnen Intellekte konstituieren insgesamt den ewigen und unendlichen Intellekt Gottes (»mens nostra, quatenus intelligit, aeternus cogitandi modus est, qui alio aeterno cogitandi modo determinatur et hic iterum ab alio et sic in infinitum, ita ut omnes simul Dei aeternum et infinitum intellectum constituant«). Der menschliche Intellekt ist ein Teil des unendlichen Intellekts. Dieser selbst erfasst nichts anderes als die göttlichen Attribute und deren Affektionen; Gott denkt Unendliches auf unendliche Weisen, er hat eine Idee von sich und allein, was aus ihm folgt (»Deus enim infinita infinitis modis cogitare, sive ideam suae essentiae et omnium, quae necessario ex ea sequuntur, formare potest«). In Gott sind ferner Freiheit und Notwendigkeit eins: indem Gott seiner Natur gemäß wirkt, handelt er frei, d.h. durch nichts genötigt, und zugleich notwendig (»Deus ex solis suae naturae legibus et a nemine coactus agit«, »ex sola suae necessitate«). Alles folgt mit (logischer) Notwendigkeit aus dem Wesen Gottes, nichts konnte daher anders werden, als es der Fall ist (»res nullo alio modo neque alio ordine a Deo produci potuerunt, quam productae sunt«), alles ist insofern prädeterminiert (»quod omnia a Deo fuerint praedeterminata«) und determiniert (»determinata... ad certo modo existendum et operandum«). In der Welt. ist alles kausal bedingt, alles geschieht notwendig, gesetzlich. Gott wirkt aber so, dass er nie unmittelbar eingreift, sondern dass er stets nur durch einen bestimmten Modus Ursache eines ändern Modus ist. In der Natur geht alles streng kausal-mechanisch zu (Korpuskulartheorie), ohne Wirksamkeit von Zweckursachen, welche letztere nur Fiktionen sind (»omnes causas finales nihil nisi humana esse figmenta«).

Im zweiten Buche lehrt nun Spinoza, dass eine Kausalität nur innerhalb jedes Attributes, also nur innerhalb jeder Reihe von Modi existiert, nicht aber ein Kausalnexus zwischen den Modis verschiedener Attribute. Physisches wirkt stets nur auf Physisches, Psychisches nur auf Psychisches oder Körper auf Körper, Gedanken auf Gedanken (»Cuiuscunque attributi modi Deum quatenus tantum sub illo attributo, cuius modi sunt, et non quatenus sub ullo alio consideratur, pro causa habent«). Zwischen Körper und Geist besteht keine Wechselwirkung (»nec corpus mentem ad cogitandum, nec mens corpus ad motum neque ad quietem nec ad aliquid... aliud determinare potest«). Die Gedanken (Vorstellungen usw.) haben nur Gott als denkendes Wesen (»res cogitans«), nicht als ausgedehnte Substanz zur Ursache. Vorstellung und Ding, Bewusstsein und Sein, Psychisches und Physisches gehen einander als Seinsweisen eines und desselben Wesens in derselben Ordnung parallel, ohne aufeinander einzuwirken (Psychophysischer Parallelismus auf Grund einer Identitätstheorie). »Quod substantia cogitans et substantia extensa una eademque est substantia, quae iam sub hoc, iam sub illo attributo comprehenditur. Sic etiam modus extensionis et idea illius modi eademque est res: sed duobus modis expressa.« Eine und dieselbe Ordnung kommt zweifach zum Ausdruck, objektiv und subjektiv, real und ideell (»ordo et connexio idearum idem est, ac ordo et connexio rerum«; »quicquid ex infinita Dei natura sequitur formaliter, id omne ex Dei idea eodem ordine eademque connexione sequitur in Deo obiective«). Die Verknüpfung und Ordnung der Dinge hat ihr Korrelat in der Reihenfolge der Vorstellungen, insbesondere entspricht jedem körperlichen Zustand ein psychischer. Allen Modi der Ausdehnung entsprechen Modi des »Denkens«, alles kommt (in Gott) als Sache und als Idee derselben vor (»cuiuscunque rei datur necessario in Deo idea«), so dass in diesem Sinne alles in verschiedenem Grade beseelt ist (»diversis gradibus animata«). Ein und dasselbe Individuum ist einerseits Körper, anderseits Seele. Diese ist also keine Substanz (Aktualismus), sondern das Bewusstsein des Organismus (»idea corporis«), aus den Vorstellungen des Körpers (»idea corporis«) und seiner Affektionen durch andere Körper bestehend, also etwas Zusammengesetztes (»ex pluribus ideis composita«). Die Seele handelt nach bestimmten Gesetzen und ist gleichsam ein »geistiger Automat«. Das Selbstbewusstsein besteht in der Idee des Geistes, welche in Gott mit dem Geiste ebenso vereinigt ist, wie dieser mit dem Körper (»mentis humanae datur etiam in Deo idea sive cognitio«; »haec mentis idea eodem modo unita est menti, ae ipsa mens unita est corpori«). Diese Vorstellung vom Geiste selbst (»idea mentis«, »idea ideae«) ist die Form des Geistes als solchen, ohne Beziehung auf dessen Objekte (»forma ideae, quatenus haec ut modus cogitandi absque relatione ad obiectum consideratur«), das Wissen um das eigene Wissen, während sonst die Seele sich nur erkennt, soweit sie die Vorstellungen der Affektionen ihres Leibes erfasst.

An diese Erörterungen knüpfen sich psychologisch- erkenntnistheoretische Betrachtungen. Das menschliche Denken ist ein Modus des menschlichen Intellekts und damit auch des göttlichen Denkens. Wir denken nun vermittelst der Ideen (logische Vorstellungen, Gedanken, Begriffe, keine »imaginationes«, Vorstellungsbilder), welche Gebilde des Denkens selbst sind, seiner Aktivität entspringen (»conceptus actionem mentis exprimere videtur«) und schon Bejahung oder Verneinung (»affirmationem aut negationem«) enthalten. »Adäquat« (genau entsprechend) sind jene Ideen, welche alle Merkmale der wahren Idee an sich haben und mit ihrem Gegenstande übereinstimmen (»convenientia ideae cum suo ideato«). Wahr ist jede Idee, welche in uns absolut, oder adäquat und vollkommen ist. Eines äußern Kriteriums bedarf die Wahrheit nicht, sie bekundet sich selbst und zugleich ihren Mangel, das Falsche, sowie das Licht sich selbst und die Finsternis bekundet (»nemo, qui veram habet ideam, ignorat veram ideam summam certitudinem involvere«; »sane sicut lux se ipsam et tenebras manifestat, sic veritas norma sui et falsi«). Die adäquate Idee ist in Gott als Substanz unseres Geistes adäquat (»idea vera in nobis est illa, quae in Deo, quatenus per naturam mentis humanae explicatur, est adaequata«). Was wir in Gott erkennen und auf Gott beziehen, ist wahr. Von der sinnlich-empirischen Erkenntnis (»opinio« oder »imaginatio«) unter scheidet Spinoza die Erkenntnis der Vernunft (»ratio«) und die geistige Intuition des Wesens der Dinge (»scientia intuitiva«). Die imaginative (vorstellungsmäßige) Erkenntnis erfasst die Dinge als gesondert-einzelne und zufällige, in der Zeit vergehende (Die Zeit ist nur ein »modus cogitandi«). Die Vernunft erkennt durch allgemeine Begriffe das allgemeine, konstante Wesen der Dinge, ihre Gesetzlichkeit und Notwendigkeit (»De natura rationis non est res ut contingentes, sed ut necessarias contemplari«; »ut in se sunt.«); insofern erkennt sie die Dinge als in Gottes ewigem Wesen wurzelnd, in einer gewissen Ewigkeitsform (»sub quadam aeternitatis specie«). Die intuitive Erkenntnis geht von der adäquaten Idee des Wesens göttlicher Attribute zur adäquaten Erkenntnis des Wesens der Dinge (»ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum«). Sie erfasst die Dinge, wie sie zeitlos in Gott liegen und aus dem göttlichen Wesen folgen, in ihrer ewigen Notwendigkeit (»sub specie aeternitatis«: »Res duobus modis a nobis ut actuales concipiuntur, vel quatenus eadem cum relatione ad certum tempus et locum existere, vel quatenus ipsas in Deo contineri et ex naturae divinae necessitate consequi concipimus. Quae autem hoc secundo modo ut verae seu reales concipiuntur, eas sub aeternitatis specie concipimus, et earum ideae aeternam et infinitam Dei essentiam involvunt«).

Während Descartes den Irrtum auf die Willensfreiheit zurückführt, erblickt Spinoza in jenem nur einen Mangel des Wahrheitsgehaltes, eine »Privation«. Der Wille ist vom Intellekt nicht verschieden (»voluntas et intellectus unum et idem est«), das Wollen eine Funktion des Intellekts, insofern Bejahung und Verneinung im Gedanken selbst schon liegt (»quam idea, quatenus idea est, involvit«). Auch gibt es keinen abstrakten, allgemeinen Willen, nur konkrete Wollungen (»singulares volitiones«), d.h. einzelne Bejahungen oder Verneinungen. Gottes Wille und Verstand sind eins. Wie aus Gottes Wesen alles notwendig folgt, so sind auch unsere Willenshandlungen teils von außen, teils von innen (psychologisch) determiniert, eine (absolute) Willensfreiheit besteht nicht, beruht auf Einbildung. Der Wille des Menschen ist keine freie, sondern eine notwendige Ursache (»causa necessaria«), er bedarf einer Ursache, durch die er bestimmt wird und die selbst wieder ins Unendliche auf Ursachen zurückführt. Wir dünken uns nur frei, weil wir uns oft der Beweggründe nicht bewusst sind: so könnte aber auch ein geworfener Stein sich für frei halten. Doch leugnet Spinoza weder die psychologische, noch die ethische Freiheit als Selbständigkeit. In diesem Sinne ist frei, wer sich von äußerem Zwange und inneren Erregungen unabhängig macht, wer klar und deutlich erkennt und dadurch aktiv sich verhält, wer seine Affekte beherrscht, sich durch die Vernunft leiten lässt (»qui ratione ducitur«).

Beherrschung der Affekte. Streben nach Erhaltung des wahrhaft menschlichen Seins, welches in der Vernunft liegt, vernunftgemäßes Handeln - darauf zielt Spinozas Ethik hin, welche psychologisch fundiert ist und einen teleologischen (energistisch-eudämonistischen) Charakter hat. Ähnlich wie die Stoa geht Spinoza von einer Untersuchung der Affekte (bzw. Leidenschaften) aus. Der Affekt ist ein »verworrenes Bewusstsein« (»confusa idea«), dessen Inhalt eine Affektion des Körpers ist, durch welche dessen Kraft (Macht) gesteigert oder geschwächt wird (»corporis affectiones quibus ipsius corporis agendi potentia augetur vel minuitur, iuvatur vel coërcetur, et simul harum affectionum ideas«). Zugleich wird durch den Affekt der Geist gefördert oder gehemmt. Wir empfinden Lust (Freude, »laetitia«), wenn wir zu größerer Vollkommenheit (»ad maiorem perfectionem«) fortschreiten, im gegenteiligen Falle aber Unlust (Trauer, »tristitia«). Dazu kommt als dritter Grundaffekt die Begierde (»cupiditas«), der mit Bewusstsein verbundene Trieb (»appetitus cum eiusdem conscientia«). Der Selbsterhaltungstrieb ist jedem Dinge eigen (»unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur«), konstituiert dessen innerstes Wesen (Ansatz zu einem Voluntarismus, wie er schon bei den Stoikern, Telesius u.a. bestand und von Schopenhauer u.a. weitergebildet wurde). Nach Erhaltung der eigenen Kraft, nach Steigerung der Macht (vgl. schon Hobbes) zu streben, ist das Natürliche, Naturgemäße. Was unsere Kraft schwächt, wodurch wir leiden, ist daher nicht gut, so z.B. das Mitleid als Affekt, der (nur) für den vernünftigen Menschen unnötig ist (»commiseratio in homine, qui ex ductu rationis vivit, per se mala et inutilis est«); er wird helfen, ohne sich zu erregen, aus Vernunft und Menschlichkeit (vgl. Kant, Nietzsche). Auch die Reue ist für den vernünftigen Menschen unnötig.

Auf das Streben bezieht sich das Gute. Gut ist etwas nicht an sich, sondern als Objekt eines Begehrens (»quia id conamur, volumus, appetimus atque cupimus«); das Gute liegt nicht schon in den Dingen, sondern erst und nur in uns, es ist subjektiv und relativ (»bonum et malum quod attinet, nihil etiam positivum in rebus, in se scilicet consideratis, iudicant, nec aliud sunt praeter cogitandi modos seu notiones, quas formamus ex eo, quod res ad invicem comparamus«). Gleichwohl gibt es ein allgemeines, in diesem Sinne objektiv Gutes, nämlich das für den Menschen wahrhaft Nützliche (»utile«), das die menschlich-vernünftige Natur Erhaltende und Fördernde, dem Menschheitsideale Dienende (»per bonum... intelligam id, quod certo scimus medium esse, ut ad exemplar humanae naturae, quod nobis proponimus, magis magisque accedamus«; idealistischer Perfektionismus). Gut ist, was unsere Macht steigert. Die Macht unseres Geistes liegt nun in der Vernunft, im wahren Erkennen, und so ist gut, was unsere Erkenntnis fördert (»quod ad intelligendum re vera conducit, vel quod impedire potest, quo minus intelligamus«). In dem Streben nach Erhaltung und Förderung des vernünftigen Ichs besteht die Tugend (»virtus est ipsa humana potentia, quae sola hominis essentia definitur, hoc est, quae solo conatu, quo homo in suo esse perseverare conatur, definitur«). Tugendhaft Handeln ist eins mit dem Handeln gemäß den Gesetzen der eigenen Natur (»ex legibus propriae naturae agere«, ethische Autonomie), d.h. mit dem vernünftigen Handeln (»ex ductu rationis agere«). Der Sittliche ist aber kein reiner Egoist, sondern er wünscht das Gute auch seinen Mitmenschen; zum Nützlichen gehört auch alles, was zum harmonischen Gemeinschaftsleben beiträgt (»quae ad hominum communem societatem conducunt, sive quae efficiunt, ut homines concorditer vivant, utilia sunt«). Die Tugend selbst ist Glückseligkeit, diese ist kein Lohn, deren jene bedarf (»beatitudo non est virtutis praemium, sed ipsa virtus«).

Affekte können (wie schon F. Bacon lehrt) nur durch Affekte bekämpft werden, nicht durch den bloßen Intellekt. Soll also die Vernunft den Menschen frei machen, ihn von der Knechtschaft (»servitus«), in die ihn seine Affekte versetzen, erlösen, so muss die Erkenntnis von einem Gefühl begleitet sein, welches den Affekten entgegenwirkt. Diese Affekte, welche leidentliche Zustände (»passiones«) der Seele sind, werden durch die Erkenntnis, dass alles in der Welt notwendig aus dem Wesen der göttlichen Natur folgt, überwunden, der Geist wird Herr über sie, wird aktiv. Die klare und deutliche Erkenntnis des Bezogenseins aller Dinge auf Gott als deren Einheit, zu der auch wir gehören, zeitigt ein reines, aktives Gefühl der intellektuellen Liebe zu Gott (»amor Dei intellectualis«), die das höchste Gut, das größte Glück bedeutet (»summum bonum est, quod ex dictamine rationis appetere possumus«). Die intellektuelle Liebe knüpft sich an die Betrachtung der Dinge »sub aeternitatis specie«, an die Erkenntnis Gottes, sofern er ewig ist und sofern wir in ihm sind. Diese Liebe ist ewig, ist die Liebe Gottes zu sich selbst in uns (»amor intellectualis est ipse Dei amor, quo Deus se ipsum amat«), ein Teil der unendlichen Selbstliebe Gottes (»pars est infiniti amoris, quo Deus se ipsum amat«). Wer Gott liebt, kann nicht verlangen, dass Gott auch ihn (als Einzelnen) liebt. Aber Gottes Liebe zu sich ist zugleich seine Liebe zu den Menschen. In der beständigen und ewigen Liebe zu Gott und Gottes Liebe zu den Menschen, die eins sind, besteht unsere höchste Freiheit und Seligkeit (»salus nostra seu beatitudo seu libertas«). Nichts kann diese Liebe vernichten. Sofern wir Geist sind, der Gott und alles, sich inbegriffen, in ihm erkennt, sind wir unsterblich, d.h. zeitlos ewig, ohne dass wir als Individuen mit Erinnerung weiterleben. Der menschliche Geist geht nicht mit dem Körper unter, sondern das Ewige in ihm bleibt bestehen (»eius aliquid remanet, quod aeternum est«); der Geist ist ewig, sofern er Ewiges denkt, an diesem Teil hat, sofern das Wesen des ihm zugehörigen Körpers in Gott ewig zum Ausdruck kommt (»in Deo datur necessario conceptus seu idea, quae corporis humani essentiam exprimit«; »est... haec idea... certus cogitandi modus, qui ad mentis essentiam pertinet quique necessario aetemus est«; »sentimus... mentem nostram, quatenus corporis essentiam sub aeternitatis specie involvit, aeternam esse et hanc eius existentiam tempore definiri sive per durationem explicari non posse«). Die Rechts- und Staatsphilosophie Spinozas findet sich besonders im »Tractatus theologico-politicus« und im »Tractatus politicus«. Im ersteren fordert Spinoza religiöse Freiheit, überhaupt Gewissensfreiheit; er hält Philosophie und Glauben scharf auseinander, insofern beide voneinander unabhängig sein sollen. Die Bibel will nicht Erkenntnisse vermitteln, sondern hat rein religiös ethische Bedeutung. Auch ist Spinoza schon ein Vorläufer der neueren Bibel-Kritik. Während Spinoza im älteren Traktat die reine Demokratie verficht, plädiert er im späteren für eine mehr aristokratische Form, ohne aber ein Anhänger des von Hobbes verteidigten Absolutismus zu Sein. Die Menschen sind von Natur Feinde (»ex natura hostes«), aber die Not des Lebens und die Furcht vor Einsamkeit treibt sie zur bürgerlichen Gesellschaft (»statum civilem homines natura appetere«). Das Naturrecht (»ius naturae«) ist eins mit der Macht der Natur, mit dem, was die Menschen ihrer Natur gemäß tun, die von Natur aus so viel Recht zur Existenz und Wirksamkeit besitzen, als sie die Macht dazu haben. Im Staate, der durch Vertrag entsteht, werden die Beziehungen der Menschen zueinander vernünftig geregelt, damit Sicherheit und Frieden herrscht und die Wohlfahrt aller gefördert wird.

Spinozas Lehren fanden zunächst meist heftige Gegner, so J. Thomasius, F. Rappolt, v. Blyenburg, J. Musaeus, J. Vateler, Poiret, Bayle, Fénelon H. Horchius, Kortholt, G. Wachter, Leibniz (der Spinoza besucht hatte), Wolff, Jacobi (dessen Streit mit Mendelssohn über den »Spinozismus« Lessings Anlass zum Wandel in den Anschauungen über Spinoza gaben) u.a. Anhänger Spinozas sind J. Jellis, Simon de Vries, Cuffeler, Leenhoff, Stosch, zum Teil Tschirnhausen u.a. Von Spinoza beeinflusst sind in verschiedenem Maße und in verschiedener Weise Lessing, Herder, Goethe, Schleiermacher, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer u.a. (»Neospinozismus«), ferner Fechner, E. v. Hartmann, Wundt, Spencer, Häckel, Steudel. J. Stern, Spir u.a., auch van Vloten, Land, Betz u.a."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Philosophen-Lexikon : Leben, Werke und Lehren der Denker. -- Berlin : Mittler, 1912. -- 889 S. -- S. 694ff.]

30 Hegel

"Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, geb. 27. August 1770 in Stuttgart, studierte in Tübingen Theologie und Philosophie, war erst Hauslehrer in Bern, dann in Frankfurt. a. M., habilitierte sich 1801 in Jena, wo er Mitherausgeber des »Kritischen Journal der Philosophie« wurde find eine außerordentliche Professur erhielt, die er 1805 aufgab. 1805-1808 war er Redakteur der »Bamberger Zeitung«, 1808-1816 Direktor des Ägidiengymnasiums in Nürnberg, 1816-1818 Prof. in Heidelberg, von da an Prof. in Berlin, wo er eine außerordentliche Zahl von Hörern hatte und als »preußischer Staatsphilosoph« galt. Er starb (an der Cholera) am 14. November 1831 in Berlin.

Hegel ist der bedeutendste Philosoph des 19. Jahrhunderts. Schwerfällig und in seiner Ausdrucksweise oft dunkel, beweist er doch eine gewaltige logisch-spekulative Kraft, mit der er den Erfahrungsinhalt zur Einheit eines Systems des absoluten Idealismus zu verarbeiten sucht. Von Heraklit, Plato, Aristoteles, dem Neuplatonismus, Spinoza, Leibniz, Herder. Kant, Fichte und Schelling beeinflusst, ist er der Begründer einer neuen Weltanschauung und Methodik geworden, des Panlogismus, der aus einer logischen (»dialektischen«) Denkbewegung den Erkenntnisinhalt ableitet und begreiflich macht und zugleich in der Welt selbst die Entfaltung eines objektiven Denkens oder Gedankengehaltes (»Begriffs«) erblickt. Alles Seiende ist Manifestation (objektive Erscheinung) einer absoluten Wirklichkeit, welche Idee, Vernunft, Denken ist und sich in der Natur wie im Bewusstsein entfaltet. Aus seiner abstraktesten, allgemeinsten Form entwickelt sich (logisch, nicht zeitlich) das Absolute (das Weltsubjekt) bis zur Stufe des selbstbewussten, sein Wesen erfassenden absoluten Geistes. Im philosophischen Erkennen wiederholt sich der Weltprozess und so wird durch die Spekulation der Vernunft (das absolute Wissen) der Subjektivismus und Relativismus des mir auf endliche, »unwahre« Seinsbestimmungen gerichteten abstrakten Standpunktes der Reflexion, des Verstandes (vgl. Jacobi, Schelling) überwunden und auch der Kritizismus Kants nur als Durchgangsphase anerkannt. Das Vertrauen zur konstruktiv-deduktiven Macht des spekulativen Denkens erscheint bei Hegel in seiner höchsten Potenz, wenn Hegel auch den nicht zu überwindenden irrationalen Rest in der Natur anerkennt.

Die Philosophie ist formal »denkende Betrachtung der Gegenstände«, material »Wissenschaft des Absoluten«, als die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit. Das Seiende zu begreifen ist die Aufgabe der Philosophie. Sie ist »zeitloses Begreifen, auch der Zeit und aller Dinge überhaupt, nach ihrer ewigen Bestimmung«, sie will erkennen, »was unveränderlich, ewig, an und für sich ist«, sie will den Gedanken, den Begriff mit der Wirklichkeit versöhnen. Sie zerfällt in Logik, Natur- und Geistesphilosophie, indem sie zuerst die Idee, das Logische an sich (als reines Denken, als Idealität, als System der Kategorien), dann die entäußerte, objektivierte Idee, d.h. die Natur, endlich die Idee in ihrem Beisichsein, ihrem An und für sich als Geist betrachtet. Die Identität von Denken und Sein, Natur und Geist, darf nicht wie bei Schelling »aus der Pistole geschossen« sein, sondern muss deduziert werden. Das Vernünftige muss als wirklich, das Wirkliche als vernünftig dargetan werden, wobei nicht alles Zufällige oder Vorübergehende als »wirklich« (im vollsten Sinne) zu gelten hat, so dass es natürlich in der Erfahrung auch Unvernünftiges gibt, das zu überwinden ist.
Die Methode der Hegelschen Philosophie ist die dialektische als Gegenstück zur objektiven Dialektik des Weltprozesses, der im philosophischen Denken zum Bewusstsein seiner selbst gelangt; denn das Sein selbst ist Denken, Denkentwicklung. Der »Widerspruch« (Gegensatz) ist die Triebkraft dieser Denkbewegung, die im Dreischritt von Thesis, Antithesis, Synthesis (vgl. Fichte, ferner Kants Antinomien, Heraklit) erfolgt und zur »Aufhebung« des Gegensatzes in einem höheren Begriff führt, der wieder seinen Gegensatz hat usw. Alles existiert zunächst »an sich«, in der Unmittelbarkeit der Potenz zu einem besonderen Sein (wie z. B, der Keim zu einer Pflanze), dann »für sich«, als Einzelnes, schließlich »an und für sich« als Konkret-Allgemeines, als Einheit in der Mannigfaltigkeit seiner Bestimmungen, als objektiver »Begriff«, der zugleich den Gehalt, das Wesen des Dinges bildet. Indem das philosophische Denken die Selbstentfaltung der Idee zum Gegenstände hat, macht es den Geheilt des Seins selbst zum Objekt; das System des Denkens erzeugt so aus sich das System der Erfahrung, der Panlogismus wird zu einem »Panempirismus« (Külpe). Das dialektische Denken ist ein »Totalitätsdenken« (M. Adler), in der die Tatsachen selbst zum Ausdruck kommen sollen. Die Idee ist das Denken »als die sich entwickelnde Totalität seiner eigentümlichen Bestimmungen und Gesetze, die es sich selbst gibt«. Die Dialektik entsteht dadurch, dass das Denken »sich in Widersprüche verwickelt, d. i. sich in die feste Nichtidentität der Gedanken verliert, somit sich selbst nicht erreicht, vielmehr in seinem Gegenteil befangen bleibt«. - Als Verstand muss das Denken in das »Negative seiner selbst, in den Widerspruch geraten«. Die Kategorien des Verstandes sind als solche beschränkte Bedingungen, Formen des Bedingten, abstrakt, unwahr. Das dialektische Moment ist nun »das eigene Sichaufheben solcher endlicher Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzte«. »Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben.« Durch Negation der Negation wird der Widerspruch beseitigt; so ist z.B. das Nichts die Negation des Seins, mit dem zusammen es im »Werden« aufgehoben wird. Diese Dialektik ist ein »Waltenlassen der Sache selbst oder der allgemeinen Vernunft in uns, die mit dem Wesen der Dinge identisch ist«. Das Denken selbst löst seine eigenen Widerspräche auf. Dem analog ist das Absolute die eine Idee, die als urteilend sich zum System der bestimmten Ideen besondert, die wieder in die eine Idee zurückgehen. Die Idee ist selbst die Dialektik, eine ewige Schöpfung, ewige Lebendigkeit, ewiger Geist, ewiges Anschauen ihrer selbst im andern.

Die Wissenschaft der »reinen Idee«, der Idee als solcher ist die Logik, die zugleich Erkenntnistheorie und Ontologie (Metaphysik) ist, da das Sein selbst Begriff ist. Sie enthält den »Gedanken, insofern er ebensosehr die Sache an sich selbst ist«. Sie ist die Wissenschaft der Idee im abstrakten Elemente des Denkens, die Wissenschaft vom Logos, von der Vernunft als solcher, von der Wahrheit an sich, die »Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen, vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist«, die »Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefasst«. Sie zerfällt in die Lehre vom Sein (vom Gedanken in seiner Unmittelbarkeit), die Lehre vom Wesen (vom Gedanken in seiner Reflexion) und die Lehre vom Begriff und der Idee (vom Gedanken in seinem Beisichsein). Oder (in der »Enzyklopädie«) in die »objektive« und die »subjektive« Logik. Diese »spekulative« Logik, 'welche Form und Inhalt des Denkens nicht isoliert, stellt die innerliche und apriorische Notwendigkeit der Gedanken und damit auch der Sachen dar. Es wird von Hegel betont, der Inhalt der Philosophie sei kein anderer als »der im Gebiete des lebendigen Geistes ursprünglich hervorgebrachte und sich hervorbringende, zur Welt, äußeren und inneren Welt des Bewusstseins gemachte Gehalt«, die Wirklichkeit im Unterschiede von der Erscheinung, d.h. dein, was »vorübergehend und bedeutungslos« ist. Die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und Erfahrung ist notwendig trotz alles Apriorismus und Rationalismus. Die spekulative Logik anerkennt den Inhalt der Erfahrung und die Gesetze der Wissenschaft, aber sie bildet sie mit weiteren Kategorien weiter und um. Das Aufnehmen des von den Wissenschaften verarbeiteten Inhalts durch die Philosophie ist zugleich ein »Entwickeln des Denkens aus sich selbst«, wodurch die Philosophie diesem Inhalte die Gestalt des Apriorischen und die Bewährung der Notwendigkeit gibt. Die Wissenschaft des Absoluten, der Idee ist System, »weil das Wahre als konkret nur als sich in sich entfaltend und in Einheit zusammennehmend und haltend, d. i. als Totalität ist«. Die Idee ist »das Denken nicht als formales, sondern als die sich entwickelnde Totalität seiner eigentümlichen Bestimmungen und Gesetze, die es sich selbst gibt, nicht schon hat und in sich vorfindet«. Das Denken als Tätigkeit ist das »tätige Allgemeine«, dessen Tat eben das Allgemeine ist; es ist von der Vorstellung scharf zu unterscheiden. Das Allgemeine als Produkt der Denktätigkeit ist die Sache, das Wesentliche, das Wahre. Nach der Subjektivität ist das Denken das Erzeugnis des Geistes als denkendes Subjekt, ein Akt der Freiheit. Insofern die Gedanken Ausdruck der Sachen sind, sind sie »objektive Gedanken«. »Dass Verstand, Vernunft in der Welt ist, sagt dasselbe, was der Ausdruck: objektiver Gedanke enthält.« Der objektive Gedanke bezeichnet die Wahrheit, welche »absolut an und für sich ist«. Der Empirismus ist insoweit berechtigt, als das, was wahr ist, »in der Wirklichkeit sein und für die Wahrnehmung da sein muss«. Der Kritizismus betont mit Recht, dass es die Kategorien sind, wodurch die bloße Wahrnehmung zur Objektivität, zur Erfahrung erhoben wird. Aber wie sie der Verstand festhält, sind die Kategorien »beschränkte Bestimmungen, Formen des Bedingten, Abhängigen, Vermittelten«. Die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen wird nun durch die Dialektik überwunden und die Kategorien werden jetzt zu Momenten der Denkentwicklung und damit zu Formen des Weltinhalts selbst.

Vom reinen Sein geht das Denken aus, weil jenes sowohl reiner Gedanke als das unbestimmte einfache Unmittelbare ist. Das Sein schlägt als die reine Abstraktion, als das absolut Negative (Inhaltslose) in das Nichts um. Dieses ist dasselbe wie das Sein und die Wahrheit beider; deren Einheit ist das Werden, die »Unruhe in sich«. Das Sein ist das Übergehen in nichts und das Nichts das Übergehen ins Sein, das Werden das Resultat von Sein und Nichts. Alles Sein ist Werden, Prozess. Aus dem Sein geht das Dasein hervor, das bestimmte Sein, welches seine Qualität hat, deren Sein als solches Ansichsein ist. Etwas wird ein Anderes, dieses ist selbst wieder ein. Etwas, das ein Anderes wird, und so fort; dies ergibt die (»schlechte«, »negative«) Unendlichkeit als bloße Negation des Endlichen, als Progress ins Unendliche. Indem das Etwas in seinem Übergehen in Anderes nur mit sich selbst zusammengeht, entsteht die wahre Unendlichkeit und das Dasein wird Fürsichsein. Die Wahrheit des Endlichen ist seine Idealität, denn das Wahre und Wirkliche an ihm ist das Unendliche (Absolute). Das aufgehobene Fürsichsein ist die Quantität als reine Quantität, Quantum, Grad. Das qualitative Quantum ist das Maß. Das Sein, welches aus seiner Unmittelbarkeit zu sich zurückgekehrt, mit sich selbst vermittelt ist, ist das Wesen, das »Sein als Scheinen in sich selbst«. Als Beziehung auf sich ist es Identität mit sich, als Abstehen seiner von sich selbst ist es Unterschied; die Einheit beider ist der Grund. Aus ihm geht die Existenz hervor. Das Existierende ist das Ding mit Eigenschaften; es zerfällt in Materie und Form. Als sich selbst aufhebend ist die Existenz Erscheinung.

Das Wesen muss erscheinen, das entwickelte Scheinen ist die Erscheinung. Das Wesen ist nicht hinter oder jenseits der Erscheinung. Die Form ist das »Gesetz der Erscheinung«, sie schlägt in Inhalt um und dieser in Form. So ergibt sich das Verhältnis. Das unmittelbare Verhältnis ist das des Ganzen zu den Teilen. Das mit sich identische Ganze ist die Kraft, deren Äußerung sie selbst zum Ausdruck bringt; das Äußere ist derselbe Inhalt wie das Innere. Die Identität beider ist die Wirklichkeit, die »unmittelbar gewordene Einheit, des Wesens und der Existenz«. Hierher gehört das Substantialitätsverhältnis. Die Substanz ist die »Totalität der Akzidenzen, in denen sie sich als deren absolute Negativität, d. i. als absolute Macht und zugleich als den Reichtum alles Inhalts offenbart«. Die Substantialität ist die »absolute Formtätigkeit«. Die Substanz ist Ursache als die ursprüngliche Sache und als die Wirkung setzend. Dieses Gesetztsein ist die Reflexion der Ursache in sich selbst, daher ist die Ursache an und für sich »causa sui«. Die Reihe der Ursachen und Wirkungen geht ins Unendliche. Dieser Prozess ist in der Wechselwirkung aufgehoben, zu einem in sich geschlossenen Verhältnis umgebogen. Die Wahrheit der Substanz ist der Begriff als die Wahrheit des Seins und des Wesens; das Sein ist nur ein Moment des Begriffs. - Der Übergang von der Notwendigkeit zur Freiheit ist damit gegeben und damit die »subjektive« Logik. Der Begriff ist »das Freie als die für sich seiende substantielle Macht und ist Totalität«. Das Fortgehen des Begriffes ist nicht mehr Übergehen, noch Scheinen in Anderes, sondern (logische) »Entwicklung«. Der Begriff tritt auf als subjektiver oder formeller Begriff, als »Objektivität«, als »Idee« (Subjekt - Objekt). Der Begriff ist das »schlechthin Konkrete«; Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit sind in ihm vereinigt. Das Bestimmen des Begriffes ist das Urteil, d.h. der »Begriff in seiner Besonderheit, als unterscheidende Beziehung seiner Momente«. Alle Dinge sind ein Urteil, d.h. sie sind einzelne, welche eine Allgemeinheit oder innere Natur in sich sind, oder ein Allgemeines, das vereinzelt ist. Die Einheit des Begriffe und des Urteils ist der Schluss. Er ist das Vernünftige: Alles ist ein Schluss, alles wird mit sich selbst zusammengeschlossen. Diese Realisierung des Begriffs, in welcher das Allgemeine diese eine in sich zurückgegangene Totalität ist, ist das Objekt. Dieses tritt auf als Mechanismus, Chemismus, Teleologie. Der Zweck ist der »in freie Existenz getretene, für-sich-seiende Begriff vermittelst der Negation der unmittelbaren Objektivität«. Die Zweckmäßigkeit ist eine innere. Der erreichte Zweck wird Mittel für andere Zwecke. Im Zweck vermittelt sich der Begriff mit sich selbst, - Es wird so die an sich seiende Einheit des Subjektiven und Objektiven als für sich seiend gesetzt: die Idee. Diese ist die »absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität«. Das Absolute ist die Idee. Alles Wirkliche, sofern es ein Wahres ist, ist die Idee und hat seine Wahrheit nur durch diese. »Das einzelne Sein ist irgend eine Seite der Idee.« Das Absolute ist als Idee nicht bloß die allgemeine Substanz, sondern als entwickelte wahrhafte Wirklichkeit Subjekt, Geist. Die Idee ist die Vernunft, das Subjekt-Objekt, die Einheit des Ideellen und Reellen, des Endlichen und Unendlichen, der Seele und des Leibes, sie ist ewige Schöpfung, welche dies alles in sich unterscheidet, sie ist wesentlich »Prozess«. Die unmittelbare Idee ist das Leben. Der Begriff ist als Seele in einem Leibe realisiert. Der Tod der nur unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit ist das Hervorgehen des Geistes. Die Idee tritt ferner als das Erkennen auf, als theoretisches Erkennen und als Wollen, als Trieb, sich zu realisieren. Die absolute Idee ist die Einheit der subjektiven und der objektiven Idee, der Begriff der Idee, dem die Idee als solche der Gegenstand ist, die sich selbst denkende Idee. Als Form ist sie die Methode ihres Inhalts. Die Wissenschaft ist die reine Idee, für welche die Idee ist. - Die anschauende Idee ist Natur. »Als Anschauen aber ist die Idee in einseitiger Bestimmung der Unmittelbarkeit oder Negation durch äußerliche Reflexion gesetzt,«

So kommen wir zur Naturphilosophie, zur denkenden, begreifenden Betrachtung der Natur. Die Philosophie muss mit der Naturerfahrung übereinstimmen, ohne in bezug auf die Notwendigkeit ihres Inhalts sich auf die Erfahrung zu berufen. Sie betrachtet diesen Inhalt »in seiner eigenen immanenten Notwendigkeit nach der Selbstbestimmung des Begriffs«. Die Naturphilosophie betrachtet, »wie die Natur an ihr selbst dieser Prozess ist, zum Geiste zu werden, ihr Anderssein aufzuheben«. Sie ist die »Wissenschaft der Idee in ihrem Anderssein«. Die Natur ist das »Aus-sich-heraustreten der Idee«, daher zeigt sie in ihrem Dasein keine Freiheit, sondern Notwendigkeit und Zufälligkeit. An sich, in der Idee, ist sie göttlich, aber wie sie ist, entspricht ihr Sein ihrem Begriffe nicht, sie ist der »unaufgelöste Widerspruch«, eine Art Abfall der Idee von sich selbst. »Die Natur ist der sich entfremdete Geist, der darin nur ausgelassen ist.« »Von der Idee entfremdet ist die Natur nur der Leichnam des Verstandes.« Die Natur ist ein »System von Stufen«, »deren eine aus der andern notwendig hervorgeht...., aber nicht so, dass die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee«. Also kein eigentlicher Evolutionismus in der Natur, denn die »Metamorphose« kommt nur dem Begriffe (und Geiste) zu, dessen Veränderung allein »Entwicklung« ist. Es besteht eine »Ohnmacht der Natur, den Begriff in seiner Ausführung festzuhalten«. Die Natur ist an sich ein »lebendiges Ganzes«. Ihre Bewegung ist die, dass die Idee sich als das setze, was sie an sich ist (Potentialität-Aktualität) oder »dass sie aus ihrer Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit, welche der Tod ist, in sich gehe, um zunächst als Lebendiges zu sein, aber ferner auch diese Bestimmtheit, in welcher sie mir Leben ist, aufhebe und sich zur Existenz des Geistes hervorbringe, der die Wahrheit und der Endzweck der Natur und die wahre Wirklichkeit der Idee ist«. Die Naturphilosophie ist Mechanik, Physik und Organik.

Zur Mechanik gehört die Betrachtung von Raum und Zeit. Der Raum ist die ganz abstrakte Allgemeinheit des Außersichseins der Natur, das »ganz ideelle Nebeneinander«. Die Zeit ist die »negative Einheit des Außersichseins«, ein Ideelles wie der Raum, das »angeschaute Werden«. Raum und Zeit sind Anschauungsformen. Nur das Natürliche ist der Zeit unterworfen, der Begriff (Geist) hingegen ist überzeitlich, ist die »Macht der Zeit«, der Geist ist ewig. Die Zeit ist ein Produkt des Weltprozesses selbst, nicht dessen Faktor. Die Zeit selbst ist das Werden, das »seiende Abstrahieren«. Sie ist der »aufgehobene Raum«. Das Vergehen und Sichwiedererzeugen des Raums in Zeit und der Zeit in Raum ist die Bewegung. Die unmittelbar identisch daseiende Einheit von Raum und Zeit ist die Materie. Die Substanz der Materie ist die Schwere. Die Einzelheiten der Mechanik und Physik übergehen wir hier. Der unendliche, sich selbst anfachende und unterhaltende Prozess ist der Organismus, als geologischer, vegetabilischer und animalischer Organismus. In letzterem erhält sich die selbstische Einheit. Das Lebendige ist nur, indem es sich zu dem macht, was es ist; es ist »vorausgehender Zweck, der selbst nur das Resultat ist«. Die auf bewusstlose Weise wirkende Zwecktätigkeit ist der Instinkt. Die Natur bildet die Organismen an die Umwelt an, schmiegt sie dieser an. Die Unangemessenheit des Lebewesens zur Allgemeinheit ist der angeborene Keim des Todes. Durch diesen wird die Unangemessenheit aufgehoben, das letzte Außersichsein der Natur fällt weg, der in ihr nur an sich seiende Begriff ist für sich geworden. Aus dem »Tode des Natürlichen« geht so der Geist hervor als die Wahrheit, das Ziel der Natur, das »Bei-sich-selbst-sein« der Idee, die »unendliche Subjektivität« derselben.

Die Philosophie des Geistes ist die Wissenschaft der Idee, die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrt. - Schon in der »Phänomenologie« wird die Entwicklung des Geistes von seiner niedrigsten bis zu seiner höchsten Bewusstseinsstufe und die Notwendigkeit seines Fortgangs bis zum absoluten Standpunkt dargestellt. Diese Phänomenologie bildet auch einen Teil der Geistesphilosophie (in der »Enzyklopädie«). Die Geistes- und Geschichtsphilosophie ist die Hauptleistung Hegels. - Der Geist, der an sich das Prius der Natur ist, macht sich selbst zu dem, was er ist. Seine Tätigkeit ist »Hinausgehen über die Unmittelbarkeit, das Negieren derselben und Rückkehr in sich«. Das Wesen des Geistes ist die Freiheit, seine Bestimmtheit die Manifestation. Der Geist ist 1. subjektiver Geist (in der Form der Beziehung auf sich selbst), 2. objektiver Geist (»in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt.., in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist«), 3. absoluter Geist (»in an und für sich seiender und ewig sich hervorbringender Einheit der Objektivität des Geistes und seiner Identität oder seines Begriffs.., der Geist in seiner absoluten Wahrheit«). Die verschiedenen Stufen der Geistestätigkeit sind Stufen seiner Befreiung, seines zu sich selbst Kommens.
Der subjektive Geist ist a) an sich oder unmittelbar als Seele oder Naturgeist (Anthropologie), b), für sich und vermittelt als Bewusstsein (Phänomenologie), c) der in sich bestimmende Geist als Subjekt für sich (Psychologie). Die Seele ist die »allgemeine Immaterialität der Natur, deren einfaches ideelles Leben« (der »passive Geist« des Aristoteles). Der Geist ist die »existierende Wahrheit der Materie«. In der natürlichen Seele lebt der Geist das allgemeine planetarische Leben mit. Die Empfindung ist »die Form des dumpfen Webens des Geistes in seiner bewusst- und verstandlosen Individualität, in der alle Bestimmtheit noch unmittelbar ist«. Das Gedächtnis ist der »Mechanismus der Intelligenz«, die Gewohnheit der »Mechanismus des Selbstgefühls« (Mechanisierung). Seele und Leib sind an sich identisch. Die Seele ist in ihrer Leiblichkeit als einzelnes Subjekt für sich und die Leiblichkeit ist die Äußerlichkeit, das Zeichen der Seele. Das Fürsichsein der freien Allgemeinheit ist das Erwachen der Seele zum Ich und zum Bewusstsein. »Ich« ist die unendliche Beziehung des Geistes auf sich, aber als subjektive, als Gewissheit seiner selbst. Der Geist ist als das Ich Wesen, als Bewusstsein aber nur das Erscheinen des Geistes (daher die »Phänomenologie« des Geistes). Die Stufen des Bewusstseins sind: Bewusstsein überhaupt, Selbstbewusstsein, Vernunft (Einheit beider). Das sinnliche Bewusstsein ist das reichste an Inhalt, das ärmste an Gedanken; dann folgen das Wahrnehmen und der Verstand. In Wirklichkeit ist alles Bewusstsein eines anderen Gegenstandes zugleich Selbstbewusstsein. Dieses tritt auf als Begierde, anerkennendes Selbstbewusstsein, allgemeines Selbstbewusstsein. Die Vernunft ist die Identität der Subjektivität und Objektivität, des allgemeinen Objekts und des »reinen Ich« (der »reinen Form«). Die »wissende Wahrheit« ist der Geist (im engeren Sinne), dessen Fortschreiten Entwicklung ist; Ziel des Geistes ist, die objektive Erfüllung und damit die Freiheit seines Wissens hervorzubringen. Der Begriff selbst ist der Endzweck, Der Geist ist theoretischer, praktischer und freier Geist. Der theoretische Geist ist die Intelligenz, das Wissen, Erkennen. Kein Wille ohne Intelligenz, keine Intelligenz ohne Willen. Das Erkennen tritt auf als Anschauung, Vorstellung (»erinnerte Anschauung«), Denken. Der praktische Geist, die Intelligenz sich wissend als das Bestimmende des Inhalts, ist Wille, als welcher der Geist in Wirklichkeit tritt. Die wahre Freiheit des (denkenden) Willens ist, dass er einen allgemeinen Inhalt zu seinen Zwecken hat. Der Wille tritt auf als praktisches Gefühl. Trieb und Willkür und wird endlich zum freien Geist (freien Willen), zum Geist, »der sich als frei weiß und sich als diesen seinen Gegenstand will, d. i. sein Wesen zur Bestimmung und zum Zwecke hat«. Es ist dies der »vernünftige Wille«. Die Idee erscheint hier im endlichen Willen, der die Tätigkeit ist, sie zu entwickeln und ihren sich entfaltenden Inhalt zu verwirklichen - als objektiver Geist.

Im objektiven Geiste erhält die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, die Form der Notwendigkeit und Macht. Recht, Moralität, Sittlichkeit sind die Formen des objektiven Geistes. Das Recht ist das »Dasein der Freiheit im Äußerlichen«; es hat nur in der Gesellschaft seine Wirklichkeit, ist die Verwirklichung der Freiheit in der Gesellschaft. Das Verbrechen ist die Negation des Rechts, die Strafe die Negation dieser Negation (Vergeltung) das »Recht des Verbrechers«. Die Moralität ist die subjektive Sittlichkeit, die Sphäre der Gesinnung, des Charakters usw. Das Gute ist der Inhalt des allgemeinen Willens; es ist der absolute Endzweck der Welt, die Pflicht, des Subjekts. Das Gewissen ist der Wille des Guten. Die Sittlichkeit ist das objektivierte Gute, der objektivierte freie, vernünftige Wille. Die Gesetze der Sittlichkeit sind das Vernünftige selbst. Die Sittlichkeit ist »die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute«. Die frei sich wissende Substanz, in welcher das absolute Sollen ebensosehr Sein ist, hat als Geist eines Volkes Wirklichkeit, der sich in Personen vereinzelt. Die Sittlichkeit ist »der göttliche Geist als inwohnend dem Selbstbewusstsein in dessen wirklicher Gegenwart als eines Volkes und der Individuen derselben«. In sozialen und staatlichen Gebilden ist also nach Hegels ethischem »Universalismus« die Sittlichkeit verkörpert; der Einzelne ist dem Ganzen untergeordnet. Die »sittliche Substanz« tritt auf als Familie, als bürgerliche Gesellschaft und als Staatsverfassung (d.h. als »der zu einer organischen Wirklichkeit entwickelte Geist«). Der Staat ist die »selbstbewusste sittliche Substanz«, »der vernünftige, göttliche Wille, der sich so organisiert hat«. Er ist eine Persönlichkeit, ein Individuum. Die Gesetze sprechen die »Inhalts-Bestimmungen der objektiven Freiheit« aus. Die Verfassung ist die »existierende Gerechtigkeit«; sie ist ein Produkt des Volksgeistes und dessen Geschichte, nichts Künstliches. - Der Volksgeist geht in die allgemeine Weltgeschichte über, deren Begebenheiten die »Dialektik der besonderen Volksgeister, das Weltgericht« darstellt. Die Geschichte ist »der Weg zur Befreiung der geistigen Substanz, die Tat, wodurch der absolute Endzweck der Welt sich in ihr vollführt, der nur erst an sich seiende Geist sich zum Bewusstsein und Selbstbewusstsein und damit zur Offenbarung und Wirklichkeit seines an und für sich seienden Wesens bringt und sich auch zum äußerlich allgemeinen, zum Weltgeist, wird«. Die einzelnen Momente und Stufen der historischen Entwicklung sind die Völkergeister, deren jeder seine ganz besondere Leistung hat, so dass Vernunft in der Geschichte herrscht. Der Zweck jedes Volkes liegt in seiner Staatlichkeit. Das Selbstbewusstsein eines besonderen Volkes ist Träger der jedesmaligen Entwicklungsstufe des allgemeinen Geistes. Die Weltgeschichte ist der »vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes«. Sie ist der »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«. Es ist die »List der Vernunft«, die Interessen und Leidenschaften der Individuen für ihre Zwecke arbeiten, den Willen des Weltgeistes erfüllen zu lassen, den besonders die »Heroen« realisieren. Die erste Stufe der Geschichte ist das »Versenktsein des Geistes in die Natürlichkeit«, die zweite das »Heraustreten desselben in das Bewusstsein seiner Freiheit«, die dritte das »Selbstbewusstsein und Selbstgefühl des Wesens der Geistigkeit«. Bei den Orientalen ist einer, bei den Griechen mehrere frei, bei den Germanen (im Christentum) ist der Mensch als Mensch, die ganze Menschheit frei.
Der absolute Geist ist der sich als solchen wissende Geist, der Geist in seiner absoluten Wahrheit, als an und für sich seiende und sich ewig hervorbringende Einheit der Objektivität des Geistes und seiner Idealität oder seines Begriffs. In der Kunst, Religion und Philosophie stellt er sich auf verschiedene Weise (in der Anschauung, in der Vorstellung, im Denken) dar.

Die Ästhetik ist »Philosophie der Kunst«. Die Kunst ist die sinnliche Vorstellung des Absoluten und tritt als klassische, symbolische, romantische Kunst auf. Nur als den Geist bedeutende, charakteristische, sinnvolle Naturform ist die Wirklichkeit durch die Kunst nachzuahmen. Die Ästhetik Hegels ist eine spekulativ-idealistische Gehalts-Ästhetik. Das Schöne ist das »sinnliche Scheinen der Idee«. Die Gestalt ist hier Zeichen, unmittelbarer Ausdruck der Idee, des Geistigen. In der klassischen Kunst liegt die Vollendung der Schönheit, in der symbolischen die Erhabenheit; hier ist die der Idee angemessene Gestaltung noch nicht gefunden. Die romantische Kunst stellt das Göttliche als Innigkeit in der Äußerlichkeit dar.
In der Religion ist der Inhalt der Idee als absoluter Geist für den Geist. Die Religion ist das »Wissen des endlichen Geistes von seinem Wesen als absoluter Geist«, das »Selbstbewusstsein Gottes« im Menschen, die vorstellungsmäßige (nicht rein begriffliche) Erfassung des absoluten Geistes, der sich im Bewusstsein des Menschen offenbart. »Gott ist nur Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sichwissen ist ferner sein Selbstbewusstsein im Menschen.« Der Mensch weiß nur von Gott, sofern Gott im Menschen von sich weiß. Die Stufen der Religion sind: die Naturreligion, die Religion der geistigen Individualität, die absolute Religion. Gott ist (analog der christlichen Dreieinigkeit) a) als in seiner Manifestation bei sich selbst bleibender, ewiger Inhalt, Gedanke (Gott als Vater), b) als Unterscheidung des ewigen Wesens von seiner Manifestation in Natur und endlichem Geist (Sohn); c) als unendliche Rückkehr und Versöhnung der entäußerten Welt mit dem ewigen Wesen. Schöpfung, Sündenfall, Erlösung sind ewige Prozesse, welche auf dem Standpunkte der Vorstellung zu einmaligen Vorgängen werden (Spekulative Dogmendeutung), Gott ist nicht eins mit der Welt, sondern die Geisteseinheit, die die Welt ewig von sich unterscheidet. (Idealistischer Pantheismus im Gegensatze zum naturalistischen »Pantheismus«.) Das »ontologische« Argument für das Sein des Absoluten steht in Kraft.

Die Einheit der Kunst und Religion ist die Philosophie, deren Definition wir oben anführten. Sie ist »die sich denkende Idee«, die »wissende Wahrheit«, die »sich wissende Vernunft«, die noêsis noêseôs des Aristoteles. In der Philosophie wird das Absolute durch reines, unsinnliches Denken erfasst; das philosophische Denken ist geradezu eine Reproduktion der Dialektik des Weltprozesses, in dem sich Gott offenbart, das Absolute zu sich kommt. Die Geschichte der Philosophie wiederholt die Phasen des philosophischen Denkens. Die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie ist dieselbe wie die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee. Die letzte Philosophie ist das Resultat aller früheren, die als aufgehobene Momente in ihr erhalten bleiben: daher ist sie, wenn sie wahrhafte Philosophie ist, die entfaltetste, reichste und konkreteste. Die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte des Sichselbstfindens des Gedankens.

Nachdem die Hegelsche Philosophie lange Zeit eine gewaltige Herrschaft ausgeübt hatte, geriet sie infolge der Reaktion der naturwissenschaftlichen, positivistischen, realistischen, materialistischen Tendenzen schon bald nach Hegels Tode in Verfall und wurde sogar vielfach sehr verachtet, wozu auch Schopenhauers Angriffe beigetragen haben. Seit einiger Zeit aber hat sie (in modifizierter Form) in England und Amerika eine Erneuerung gefunden und gegenwärtig ist sie auch wieder in Deutschland im Emporkommen, ganz abgesehen von dem Einflusse, den sie auf viele Philosophen schon geübt hat. - Das Organ der Hegelschen Schule waren die »Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik.« (1827-47). Nach Hegels Tode trat eine Spaltung der Hegelschen Schule in eine »Rechte« (orthodox- theistische), gemäßigte und »Linke« (Junghegelianer), pantheistische oder geradezu naturalistische ein, deren Organ die »Hallischen Jahrbücher« (1838-43) waren. Zur »Rechten« bzw. zur »Mitte« gehören Gabler, Göschel, Hinrichs, Vatke, Daub, Marheineke, Conradi, K. Rosenkranz, J. E. Erdmann, G. Biedermann, A. E. Biedermann, K. Fischer, Schaller u. a., zur »Linken« Richter, Ruge, Bruno Bauer, D. Fr. Strauß, Feuerbach u. a. Von Hegel beeinflusst sind C. H. Weisse, Chalybaeus u. a., auch E. v. Hartmann, Wundt, Cohen, Kohler, Stirling, Höijer, Green, Bradley, Mc Taggart, Vera, Ceretti, Spaventa, Fiorentino, Croce, Monrad, Bolland, Cieszkowski, Bjelinskij, Strachow, Gogozkij, Tschitscherin und viele andere deutsche und ausländische Philosophen (vgl. Ueberweg-Heinze, Grundriss der Geschichte der Philosophie IV10, 1906).

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Philosophen-Lexikon : Leben, Werke und Lehren der Denker. -- Berlin : Mittler, 1912. -- 889 S. -- S. 235ff.]

31 Pantheismus

"Pantheismus (pan, theos) ist die Lehre, dass Gott (s. d.) und Welt nicht zwei wahrhaft voneinander geschiedene, außereinander bestehende Wesenheiten sind, sondern dass Gott selbst die Alleinheit, das All selbst Gott, alle Dinge Modi (s. d.), Partizipationen der Gottheit, diese den Dingen (als deren substantiale Wesenheit) immanent, einwohnend ist, so dass alles zwar nicht selbst Gott, aber doch (sub specie aeternitatis betrachtet) von göttlicher Natur ist. Der naturalistische Pantheismus nähert sich dem Atheismus, indem er Gott und Natur (s. d.) identifiziert, der idealistische (spekulative) Pantheismus bestimmt die Alleinheit als Identität (s. d.) von Geist und Natur oder als Geist (Vernunft, Wille)."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. -- 2. völlig neu bearb. Aufl. -- Berlin :  Mittler, 1904. -- 2 Bde. -- Bd. 2. -- S. 70]

32 Deismus

"Deismus: Vernunftreligion, Annahme einer Gottheit, die aber nicht in den Lauf der Natur eingreift, keine Wunder tut, sich nicht direkt offenbart. Die bekanntesten Deisten (»Freidenker«, freethinker) des 17.-18. Jahrhunderts sind: HERBERT VON CHERBURY, CH. BLOUNT, J. TOLAND, M. TINDAL, A. COLLINS, BOLINGBROKE, SHAFTESBURY, VOLTAIRE, ROUSSEAU, H. S. REIMARUS. »Deist« kommt schon bei BLOUNT, TOLAND und SHAFTESBURY (The moral. I, 2) vor. (Vgl. G. V. LECHLER, Gesch. d. engl. Deismus, 1841.) CRUSIUS bezeichnet als »Deisten« oder »Universalisten« eine »Art von Atheisten« nach welchen »alles, was wir sehen und hören, mit zu Gott gehöret«, also die Pantheisten (Vernunftwahrh. § 236). Nach KANT glaubt der »Deist« an einen Gott überhaupt (Kr. d. r. Vern. S. 496). »Der so allein eine transzendentale Theologie einräumt, wird Deist, der, so auch eine natürliche Theologie annimmt, wird Theist genannt. Der erstere gibt zu, dass wir allenfalls das Dasein eines Urwesens durch bloße Vernunft erkennen können, aber unser Begriff von ihm bloß transzendental sei, nämlich nur als von einem Wesen, das alle Realität hat, die man aber nicht näher bestimmen kann. Der zweite behauptet, die Vernunft sei imstande, den Gegenstand nach der Analogie mit der Natur näher zu bestimmen, nämlich: als ein Wesen; das durch Verstand und Freiheit den Urgrund aller andern Dinge in sich enthalte« (l.c. S. 494 f.). »Der deistische Begriff ist ein ganz reiner Vernunftbegriff, welcher aber nur ein Ding ist, das alle Realität vorstellt, ohne deren eine einzige bestimmen zu können« (Prolegom. § 57)."

[Quelle: Eisler, Rudolf <1873-1926>: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. -- 2. völlig neu bearb. Aufl. -- Berlin :  Mittler, 1904. -- 2 Bde. -- Bd. 1. -- S. 200f.]

33 gemeint ist der so genannte Jesuitenstaat in Paraguay. Siehe dazu:

Payer, Margarete <1942 - > ; Payer, Alois <1944 - >: Bibliothekarinnen Boliviens vereinigt euch! = Bibliotecarias de Bolivia ¡Uníos! : Berichte aus dem Fortbildungssemester 2001/02. -- Teil 2: Chronik Boliviens. -- 7. Von 1759 bis zur Französischen Revolution (1789). -- URL: http://www.payer.de/bolivien2/bolivien0207.htm. -- Zugriff am 2005-01-06

34 Dio e Popolo (italienisch): Gott und das Volk

35 Anmerkung von Bakunin:  "Vor sechs oder sieben Jahren hörte ich Herrn Louis Blanc in London beinahe dieselbe Idee ausdrücken: Die beste Regierungsform, sagte er zu mir, wäre die, welche immer tugendhafte Männer von Genie an die Spitze der Regierung brächte."

"Blanc, Louis, franz. Publizist und Historiker, geb. 29. Okt. 1811 in Madrid, wo sein Vater Generalinspektor der Finanzen unter Joseph Bonaparte war, gest. 6. Dez. 1882 in Cannes, kam von Korsika ins Collège zu Rhodez, studierte seit 1830 in Paris und ward Schreiber bei einem Advokaten, dann Hauslehrer in Arras. Nachdem er seit 1834 in Paris für radikale Journale gearbeitet, redigierte er 1836-38 das Journal »Le bon sens«, arbeitete aber zugleich für andre Blätter. 1839 gründete er die »Revue du progrès«, und 1840 veröffentlichte er seine sozialistische Schrift »Organisation du travail« (deutsch von Prager, Berl. 1899). Als Krebsschäden bezeichnet er darin den Individualismus und die Konkurrenz, wodurch die Arbeitslöhne herabgedrückt würden; der Staat müsse die industrielle Arbeit an sich ziehen und jeden in gleicher Weise belohnen. Als demokratischer Geschichtschreiber machte sich Blanc durch seine »Histoire de dix ans 1830-1840« (Par. 1841-44, 5 Bde.; 12. Aufl. 1877; deutsch von Fink, 2. Aufl., Leipz. 1847) einen Namen. Schonungslose Kritik der Politik Ludwig Philipps sowie der sozialen Verhältnisse, scharfe Charakterzeichnung und hinreißende Darstellung verschafften diesem Werke Verbreitung und Einfluss. Blancs zweites großes Werk, die »Histoire de la révolution française« (1847-62, 12 Bde.; 1878, 10 Bde.; deutsch, Leipz. 1847-53, Bd. 1-3), hatte geringern Erfolg. Nach dem Ausbruch der Februarrevolution von 1848 wurde Blanc Mitglied der provisorischen Regierung und setzte die Errichtung eines Regierungskomitees für die Arbeiter durch, wirkte dadurch wesentlich zur Aufregung des Arbeiterstandes mit, verlor aber durch sein Bemühen, die Ordnung aufrecht zu erhalten, die Sympathien der Arbeiter. Gleichwohl wurde er nach dem Attentat vom 15. Mai angeklagt und musste nach Belgien und von da nach England gehen. Im Auslande verfasste er mehrere Schriften zu seiner Verteidigung: »La révolution de février au Luxembourg« (1848); »Appel aux honnêtes gens« (1849); »Page d'histoire de la révolution de février« (1850; deutsch, Quedlinb. 1850). Auch gründete er die kurzlebige Zeitschrift »Le nouveau monde«, war dann Korrespondent für französische Zeitungen (eine Sammlung seiner Korrespondenz erschien u. d. T.: »Lettres sur l'Angleterre«, 1866-1867, 4 Bde., s. unten) und schrieb noch »Histoire de la révolution de 1848« (1870, 2 Bde.; 5. Aufl. 1880). Blanc kehrte erst 8. Sept. 1870 nach Frankreich zurück und sprach während der Belagerung von Paris gegen jeden Versuch, die Regierung der nationalen Verteidigung zu stürzen. Am 8. Febr. 1871 in die Nationalversammlung gewählt, bekämpfte er die Auflehnung der Kommune gegen die Regierung von Versailles. Seit 1876 war er radikales Mitglied der Deputiertenkammer und gründete eine neue Zeitung: »L'Homme libre«, von der er sich aber bald wieder trennte. Er wurde auf Staatskosten zu Paris begraben. Außer den genannten Schriften veröffentlichte er noch: »Questions d'aujourd'hui et de demain« (1873-84, 5 Bde., eine Sammlung seiner Artikel im »Rappel« und »L'Homme libre«); »Dix ans de l'histoire d'Angleterre« (1879-81, 10 Bde., von denen Bd. 1-3 ein Neudruck der »Lettres sur l'Angleterre« sind, Bd. 4-10 eine Sammlung seiner weitern Briefe an den »Temps«) und »Discours politiques, 1847 à 1881« (1882)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

36  Anmerkung von Bakunin:

"Ich fragte eines Tages Mazzini [siehe Anm. 18], welche Maßregeln man zur Befreiung des Volkes treffen würde, wenn seine siegende unitäre Republik endgültig errichtet wäre? "Die erste Maßregel", sagte er mir, "wird die Gründung von Schulen für das Volk sein." Und was wird man das Volk in diesen Schulen lehren? — "Die Pflichten der Menschen, Aufopferung und Hingabe'." — Aber woher werden Sie eine hinreichende Zahl Lehrer nehmen, um diese Dinge zu lehren, die keiner zu lehren das Recht und die Fähigkeit hat, wenn er nicht selbst das Beispiel davon gibt? Ist die Zahl der Menschen, die im Opfer und der Hingabe den höchsten Genuss finden, nicht ungemein gering? Diejenigen, die sich im Dienst einer großen Idee opfern, einer hohen Leidenschaft gehorchend und diese persönliche Leidenschaft befriedigend, außerhalb welcher das Leben selbst jeden Wert in ihren Augen verliert, diese denken gewöhnlich an ganz etwas anderes, als aus ihrer Handlung eine Lehre zu machen; diejenigen aber, die eine Lehre daraus machen, vergessen meist, sie in die Tat umzusetzen, aus dem einfachen Grunde, weil die Lehre das Leben, die lebendige Freiwilligkeit der Aktion tötet. Männer wie Mazzini, bei denen Lehre und Handlung eine bewunderungswürdige Einheit bilden, sind sehr seltene Ausnahmen. Im Christentum gab es auch große heilige Männer, die alles, was sie sagten, wirklich taten oder sich wenigstens leidenschaftlich bemühten, es zu tun, deren von Liebe überschäumende Herzen voll Verachtung für die Genüsse und Güter dieser Welt waren. Aber die ungeheure Mehrheit der katholischen, protestantischen Geistlichen, die berufsmäßig die Lehre der Keuschheit, Enthaltsamkeit und Entsagung predigten und predigen, widerrief allgemein ihre Lehre durch ihr Beispiel. Nicht grundlos, sondern nach mehrhundertjähriger Erfahrung bildeten sich bei den Völkern aller Länder Redensarten wie: ausschweifend wie ein Pfaffe, ein Feinschmecker wie ein Pfaffe, ehrgeizig wie ein Pfaffe, habgierig, selbstsüchtig und lüstern wie ein Pfaffe. Es steht also fest, dass die von der Kirche geweihten Lehrer der christlichen Tugenden, die Geistlichen, in ihrer ungeheuren Mehrheit das Gegenteil von dem taten, was sie predigten. Dieses Zahlenverhältnis schon, die Allgemeinheit der Tatsache, zeigt, dass die Schuld nicht den einzelnen zuzuschreiben ist, sondern der unmöglichen und in sich selbst widerspruchsvollen sozialen Lage zufällt, in der sich die einzelnen befinden. Die Lage der christlichen Geistlichen enthält einen doppelten Widerspruch. Zuerst den zwischen der Lehre der Abstinenz und Entsagung und den positiven Neigungen und Bedürfnissen der menschlichen Natur - Neigungen und Bedürfnisse, die in einigen, stets sehr seltenen individuellen Fällen beständig zurückgehalten, unterdrückt und selbst völlig vernichtet werden können durch den stetigen Einfluss einer mächtigen geistigen und moralischen ' Macht; die in gewissen Augenblicken kollektiver Überspannung gleichzeitig von sehr vielen Menschen vergessen oder vernachlässigt werden können; die aber so tief in der Menschennatur stecken, dass sie schließlich immer in ihre Rechte treten, so dass sie, wenn sie gehindert werden, sich auf regelmäßige und normale Weise zu äußern, zuletzt stets schädliche und ungeheuerliche Befriedigung suchen. Dies ist ein Naturgesetz, das also unausweichlich, unwiderstehlich ist und unter seinen verhängnisvollen Einfluss fallen unvermeidlich alle christlichen Geistlichen und besonders die der römisch-katholischen Kirche. Dieses Gesetz kann die Lehrer der Schule, das heißt die Priester der modernen Kirche, nicht treffen, es sei denn, dass man auch sie zwinge, christliche Abstinenz und Entsagung zu predigen. : Aber ein anderer Widerspruch ist beiden gemeinsam. Dieser liegt im Titel und der Stellung des Lehrers. Ein Lehrer als Herr, der befiehlt, unterdrückt und ausbeutet, ist eine sehr logische und ganz natürliche Persönlichkeit. Aber ein Lehrer, der sich den ihm nach seinem göttlichen oder menschlichen Vorrecht Untergebenen opfert, ist ein widerspruchsvolles und ganz unmögliches Wesen. Das ist die Heuchelei selbst, die der Papst so gut verkörpert, der sich den letzten Diener der Diener Gottes nennt — und nach Christi Beispiel, zum Zeichen dessen, einmal jährlich die Füße von zwölf römischen Bettlern wäscht — und gleichzeitig sich als Stellvertreter Gottes zum absoluten und unfehlbaren Herrn der Welt aufwirft. Brauche ich daran zu erinnern, dass die Priester aller Kirchen, weit entfernt, sich den ihnen anvertrauten Herden zu opfern, dieselben stets opferten ausbeuteten und im Herdenzustand erhielten, teils, um ihre eigenen persönlichen Leidenschaften zu befriedigen, teils, um der Allmacht der Kirche zu dienen? Dieselben Voraussetzungen und Ursachen bringen stets dieselben Wirkungen hervor. Ebenso wird es aber den göttlich erleuchteten und vom Staat bevorrechteten Lehrern der modernen Schule ergehen. Sie werden notwendigerweise, die einen unbewusst, die anderen mit voller Kenntnis der Sache, die Lehre vom Opfer des Volkes für die Macht des Staates und zum Nutzen der bevorzugten Klassen lehren. Muss man also allen Unterricht aus der Gesellschaft beseitigen und alle Schulen abschaffen? Nein, durchaus nicht, man muss mit vollen Händen Bildung in den Massen verbreiten und alle Kirchen, all diese dem Ruhm Gottes und der Versklavung der Menschen gewidmeten Tempel in ebensoviel Schulen menschlicher Befreiung verwandeln. Aber verständigen wir uns zuerst: Schulen im eigentlichen Sinn dürfen in einer normalen, auf die Gleichheit und die Achtung der menschlichen Freiheit gegründeten Gesellschaft nur für Kinder und nicht für Erwachsene da sein; damit sie Schulen der Befreiung und nicht der Knechtung werden, muss in ihnen vor allem die Fiktion von Gott, dem ewigen und absoluten Verknechter, beseitigt werden; Erziehung und Unterricht der Kinder müssten ganz auf die wissenschaftliche Entwicklung der Vernunft und nicht des Glaubens gegründet werden, auf die Entwicklung der persönlichen Würde und Unabhängigkeit, nicht auf die der Frömmigkeit und des Gehorsams, auf den Kult der Wahrheit und Gerechtigkeit um jeden Preis und vor allem auf die Achtung vor der Menschheit, welche in allem und jedem an Stelle der Verehrung Gottes treten muss. Das Autoritätsprinzip bildet bei der Kindererziehung den natürlichen Ausgangspunkt; es ist rechtmäßig, notwendig, wenn es auf Kinder in niedrigem Alter angewendet wird, deren Intelligenz noch in keiner Weise entwickelt ist. Da aber die Entwicklung jeder Sache, folglich auch die der Erziehung, die allmähliche Verneinung des Ausgangspunktes bildet, muss sich das Autoritätsprinzip gradweise mit dem Fortschritt der Erziehung und des Unterrichts der Kinder vermindern und ihrer wachsenden Freiheit Platz machen. Jede vernünftige Erziehung ist im Grunde nichts anderes als diese fortschreitende Opferung der Autorität zum Nutzen der Freiheit, da der Endzweck der Erziehung kein anderer sein soll als der, Menschen zu bilden, die frei sind und die Freiheit anderer achten und lieben. So muss der erste Schultag, wenn die Schule Kinder niedrigen Alters aufnimmt, die kaum einige Worte zu stammeln vermögen, der Tag der größten Autorität und beinahe vollständiger Abwesenheit der Freiheit sein, der letzte Schultag aber der der größten Freiheit und der absoluten Beseitigung jeder Spur des tierischen oder göttlichen Prinzips der Autorität. Das Autoritätsprinzip wird, auf Erwachsene oder Ältere angewendet, eine Ungeheuerlichkeit, eine scharfe Verneinung der Menschlichkeit, eine Quelle geistiger und moralischer Sklaverei und Verderbtheit. Unglücklicherweise ließen die väterlichen Regierungen die Volksmassen in so tiefer Unwissenheit dahin brüten, dass es notwendig werden wird, nicht nur für die Kinder des Volkes, sondern auch für das Volk selbst Schulen zu gründen. Aber aus diesen Schulen müssen die geringsten Anwendungen oder Äußerungen des Autoritätsprinzips unbedingt entfernt werden. Es werden nicht mehr Schulen sein, sondern Volksakademien, in denen nicht mehr von Schülern und Lehrern die Rede sein kann, in welche das Volk, wie es dies für nötig hält, frei kommt, freien Unterricht zu nehmen, und in denen es nach seiner eigenen Erfahrung seinerseits die Lehrer, die ihm unbekannte Kenntnisse bringen, in vielem unterweisen kann. Das wird also ein gegenseitiger Unterricht sein, ein Akt geistiger Brüderlichkeit zwischen der gebildeten Jugend und dem Volk. Die wahre Schule für das Volk und alle erwachsenen Leute ist das Leben. Die einzige große und allmächtige, gleichzeitig natürliche und vernünftige Autorität, die einzige, die wir achten können, wird die des kollektiven und öffentlichen Geistes einer auf die Gleichheit und Solidarität und die Freiheit und die gegenseitige menschliche Achtung all ihrer Mitglieder gegründeten Gesellschaft sein. Ja, das ist eine nicht göttliche, sondern eine ganz menschliche Autorität, vor der wir uns gern beugen, da wir sicher sind, dass sie die Menschen, statt sie zu knechten, befreien wird. Man kann sicher sein, dass sie tausendmal mächtiger sein wird als all die göttlichen, theologischen, metaphysischen, politischen und juristischen Autoritäten, die Kirche und Staat einsetzten, mächtiger als Strafgesetze, Kerkermeister und Henker. Die Macht des Kollektivgefühls oder der öffentlichen Meinung ist schon heute eine sehr ernste. Die zu Verbrechen Geneigten wagen selten, ihr zu trotzen, sie offen herauszufordern. Sie werden versuchen, sie zu täuschen, aber sich wohl hüten, sie anzutasten, außer wenn sie sich wenigstens von irgendeiner Minderheit gestützt fühlen. Kein Mensch, für wie mächtig er sich auch halten mag, wird je die Kraft haben, die einstimmige Verachtung der Gesellschaft auszuhalten; keiner kann leben, ohne sich nicht wenigstens von der Zustimmung und Achtung irgendeines Teils dieser Gesellschaft gehalten zu fühlen. Es muss jemand von einer ungeheuren und sehr aufrichtigen Überzeugung getrieben werden, um den Mut zu finden, gegen alle zu reden und zu handeln, und nie wird ein egoistischer, verdorbener und feiger Mann diesen Mut haben.

Nichts beweist besser die natürliche und unvermeidliche Solidarität, dieses alle Menschen verbindende Geselligkeitsgesetz, als dieser Umstand, den jeder von uns täglich an sich selbst und all seinen Bekannten beobachten kann. Wenn aber diese soziale Macht existiert, warum hat sie bis jetzt nicht genügt, die Menschen zu moralisieren, zu humanisieren? Die Antwort ist sehr einfach: weil diese Macht bis heute selbst nicht humanisiert wurde, und dies geschah nicht, weil das soziale Leben, dessen treuer Ausdruck sie immer ist, bekanntlich auf die Gottesverehrung und nicht auf die Achtung des Menschen gegründet ist, auf die Autorität und nicht auf die Freiheit, auf das Vorrecht und nicht auf die Gleichheit, auf die Ausbeutung und nicht auf die Brüderlichkeit der Menschen, auf Unrecht und Lüge und nicht auf Gerechtigkeit und Wahrheit. Ihr tatsächliches Wirken, das immer mit den humanitären Theorien, die sie bekennt, im Widerspruch steht, übte folglich beständig einen bösen und verderbenden, keinen moralischen Einfluss aus. Sie unterdrückt nicht Laster und Verbrechen, sie schafft sie. Ihre Autorität ist folglich eine göttliche, unmenschliche Autorität, ihr Einfluss ist schlecht und verhängnisvoll. Sollen beide wohltätig und menschlich gemacht werden? Entfesselt die soziale Revolution! Macht, dass alle Bedürfnisse wirklich solidarisch werden, ; dass die materiellen und sozialen Interessen eines jeden seinen menschlichen Pflichten gleich werden! Hierzu gibt es nur ein einziges Mittel: Zerstört alle Einrichtungen der Ungleichheit, gründet die wirtschaftliche und soziale Gleichheit aller, und auf dieser Grundlage wird sich die Freiheit, die Sittlichkeit und die solidarische Menschlichkeit aller erheben. Ich werde noch einmal auf diese Frage, die wichtigste des Sozialismus, zurückkommen."

37 Garibaldi

"Garibaldi, Giuseppe, berühmter Nationalheld der Italiener, geb. 4. Juli 1807 in Nizza als Sohn eines Seemanns, gest. 2. Juni 1882, ging früh zur See, beteiligte sich an dem Komplott Mazzinis von 1834 und musste daher nach Frankreich fliehen. In der Heimat zum Tode verurteilt, führte er eine Reihe von Jahren ein unstetes Leben, stand eine Zeitlang im Dienste des Beis von Tunis, dann in dem der südamerikanischen Republiken Rio Grande do Sul und Montevideo, zuletzt als Oberbefehlshaber der Marine von Montevideo und Chef einer italienischen Legion. In Südamerika verband er sich mit einer Brasilierin, Anita, die er aber, weil sie vermählt war, nicht rechtsgültig heiraten konnte. Im April 1848 schiffte Garibaldi sich nach Europa ein und betrat in Nizza sein Vaterland wieder, als die erste glückliche Periode des oberitalienischen Krieges beendet war. König Karl Albert wies seine Dienste ab, aber das Verteidigungskomitee in Mailand beauftragte ihn mit der Bildung eines Freiwilligenkorps; nach Ablauf des am 9. Aug. zwischen Karl Albert und Radetzky abgeschlossenen Waffenstillstandes leistete er den Österreichern tapfern Widerstand, musste sich aber endlich vor der Übermacht auf schweizerisches Gebiet zurückziehen. Darauf trat Garibaldi im Dezember 1848 in den Dienst der provisorischen Regierung Roms und nahm sein Hauptquartier erst zu Macerata, sodann zu Rieti. Im römischen Parlament stellte er 8. Febr. 1849 den Antrag auf Proklamierung der Republik, kehrte aber sodann zu seiner Legion zurück. Er brachte den Franzosen bei ihrem ersten Vorrücken gegen Rom eine Niederlage bei und nötigte durch seine Verteidigung der Stellung am Tor von San Pancrazio (2. Mai) den Marschall Oudinot zu einer förmlichen Belagerung der Stadt. Ebenso zeichnete er sich bei den erfolgreichen Angriffen auf die Neapolitaner bei Palestrina und Velletri (9. und 19. Mai) aus. Als die französische Übermacht sich 3. Juli Roms bemächtigte, trat Garibaldi mit dem Rest seiner Truppen ins Toskanische über, ward aber von den Österreichern verfolgt und entkam unter vielen Gefahren nach Piemont, doch ohne seine Anita, die während der abenteuerlichen Flucht gestorben war. Die sardinische Regierung zwang ihn zur Auswanderung; er lebte eine Zeitlang in Tanger und ging im Sommer 1850 nach New York; von hier begab er sich nach Südamerika, wo er eine Anstellung als Schiffskapitän fand.

Im Mai 1854 kehrte er nach Sardinien zurück und bezog nach einjährigem Aufenthalt in Nizza die von ihm zum Teil angekaufte Felseninsel Caprera, unweit der Nordostküste Sardiniens, wo er sich der Landwirtschaft widmete. Da Cavours Politik immer entschiedener auf eine Einigung Italiens hinarbeitete, trat Garibaldi im Juli 1856 dem Italienischen Nationalverein bei. Das Bündnis Piemonts mit Frankreich gegen Österreich erkannte auch er als geboten an, und Cavour, der ihn im Februar 1859 nach Turin berief, überwand die Abneigung Napoleons III. gegen Garibaldi und seine aus von allen Seiten herbeiströmenden Freiwilligen gebildeten Freischaren. Als sardinischer General überschritt Garibaldi mit seinen »Alpenjägern« 23. Mai 1859 den Ticino; zwar trug er einige Erfolge über den österreichischen General Urban davon, richtete aber nichts Bedeutendes aus. Nach dem Frieden von Villafranca folgte er einem im August von Toskana an ihn ergangenen Ruf zur Organisation der toskanischen Division, die damals in der Romagna stand, in der Absicht, den Aufstand in den Kirchenstaat und nach Neapel zu tragen; allein die politischen Verhältnisse gestatteten der piemontesischen Regierung nicht, ein solches Vorgehen zu erlauben. 1860 protestierte Garibaldi im Parlament zu Turin gegen die Abtretung Savoyens und Nizzas an Frankreich und legte hierauf 23. April sein Mandat nieder. Bald darauf stellte er sich an die Spitze der Expedition, die von Genua aus, von Cavour im geheimen begünstigt, der Insurrektion in Sizilien zu Hilfe eilte. Am 11. Mai 1860 landete er mit etwas über 1000 Mann bei Marsala, vermehrte sein Korps durch den Zuzug von Freiwilligen und übernahm die Diktatur über Sizilien im Namen Viktor Emanuels. Nachdem er 15. Mai den General Landi bei Calatafimi aus gut verteidigten Stellungen geworfen hatte, wandte er sich gegen Palermo, schritt 27. Mai zum Angriff und zwang 6. Juni die weit überlegenen königlichen Truppen zur Kapitulation. Garibaldi ernannte nun ein Ministerium und begann die militärische und administrative Reorganisation der Insel. Am 20. Juli schlug er den General Bosco bei Milazzo, der einige Tage darauf kapitulierte, 28. Juli wurde Messina mit Ausnahme der Zitadelle und einiger Forts von den königlichen Truppen übergeben. Darauf bereitete Garibaldi den Übergang auf das Festland von Neapel vor, 9. Aug. schickte er die erste Freischar hinüber, am 19. landete er selbst an der Südspitze von Kalabrien, nahm 20. Aug. Reggio, zog 7. Sept. in Neapel ein und begann am 19. den Angriff auf die von den Königlichen besetzte Volturnolinie, behauptete auch, wenn schon mit Mühe und nach heftigem Kampf, seine Stellung und schritt 8. Okt. zur Belagerung Capuas. Während er aber durch sein eigenmächtiges Vorgehen in immer schärfern Gegensatz zur Regierung Viktor Emanuels getreten war, konnte er doch ihre Mitwirkung zum vollständigen Siege nicht entbehren. So musste er, als die sardinische Armee ins neapolitanische Gebiet einrückte, dieser die Fortsetzung der Operationen überlassen; nachdem er 26. Okt. Viktor Emanuel in der Nähe von Teano als König von Italien begrüßt hatte und 7. Nov. mit ihm in Neapel eingezogen war, legte er die bisher geübte Gewalt nieder und schiffte sich am 9. nach Caprera ein; jede Auszeichnung, insbes. den Annunciatenorden, hatte er abgelehnt, die von ihm erbetene Ernennung zum Generalstatthalter von Neapel aber wegen des Vorbehalts, demnächst den Angriff gegen Rom zu eröffnen, nicht erhalten. Den Gedanken dieses Angriffs aber hielt Garibaldi unverbrüchlich fest. Ende Juni 1862 begab er sich nach Palermo und rief zum Zuge nach Rom auf. Obgleich die Regierung sich bestimmt gegen ihn erklärte, hatte er doch bald 3-4000 Freiwillige gesammelt und landete, nachdem er sich 19. Aug. Catanias bemächtigt hatte, am 24. in Kalabrien. Allein jetzt rückten die Regierungstruppen unter dem Oberst Pallavicini gegen ihn vor, und in dem Gefecht bei Aspromonte 29. Aug. wurde Garibaldi verwundet und gefangen genommen. Auf einem Regierungsdampfer nach La Spezia und von da in das Fort Varignano auf der Insel Palmeria gebracht, ward er 5. Okt. mit seinen Genossen amnestiert. Nachdem seine Wunde geheilt war, kehrte er 20. Dez. nach Caprera zurück.

Beim Ausbruch des Krieges 1866 stellte sich Garibaldi dem König Viktor Emanuel zur Verfügung und bildete eine Freiwilligenschar, die, ursprünglich auf 15,000 Mann berechnet, auf mehr als die doppelte Zahl anwuchs. Im Juni übernahm er in Como das Kommando, vollbrachte aber keine großen Taten. Seine Glanzperiode war überhaupt vorbei, und seine fernern Handlungen bewiesen, dass es ihm an politischer Einsicht und Besonnenheit wie an Selbständigkeit des Urteils fehlte. Obgleich der Regierung Viktor Emanuels durch die Septemberkonvention die Hände hinsichtlich einer Aktion gegen Rom gebunden waren, beabsichtigte Garibaldi doch auf eigne Faust sich dieser Stadt zu bemächtigen. Da sein Plan nicht verborgen blieb, ließ ihn die Regierung 24. Sept. 1867 in Asinalunga verhaften und nach Caprera zurückbringen. Indessen setzten Garibaldis Freunde das Werk fort, und er selbst entkam 14. Okt. in tollkühner Fahrt auf einer kleinen Barke durch die italienischen Kreuzer hindurch von Caprera und gelangte über Florenz in den Kirchenstaat. Hier errang er einige Vorteile; allein jetzt sandte Napoleon dem Papst ein Hilfskorps unter General Failly, und Garibaldi wurde bei Mentana 3. Nov. von päpstlichen und französischen Streitkräften vollständig geschlagen; am andern Morgen zogen sich seine Truppen auf italienisches Gebiet zurück und wurden entwaffnet. Auf der Fahrt nach Florenz wurde Garibaldi verhaftet und wiederum in das Fort Varignano gebracht, durfte aber Ende November 1867 nach Caprera zurückkehren. In seiner Zurückgezogenheit schrieb Garibaldi kirchenfeindliche Romane (»Clelia, ovvero il governo del monaco«, »Cantoni il volontario«, deutsch, Leipz. 1870). Die Proklamierung der französischen Republik im September 1870 entflammte seinen republikanischen Eifer so heftig, dass er mit seinen Söhnen Menotti und Ricciotti zu Gambetta eilte, von dem er Anfang Oktober das Kommando über die Freischaren auf dem südöstlichen Kriegsschauplatz erhielt. Er begann nun in der Bourgogne einen Guerillakrieg, ohne jedoch, von Alter und Krankheit gebeugt, irgend welche Erfolge zu erringen; es war ein Beweis seiner militärischen Unfähigkeit, dass er sich im Januar 1871 durch eine preußische Brigade in Dijon festhalten ließ und nichts tat, um Bourbaki gegen Manteuffel zu Hilfe zu kommen. Nach der Vernichtung der Bourbakischen Armee räumte Garibaldi 1. Febr. Dijon, und er wurde infolge dieses Missgeschicks von den Franzosen sehr schlecht behandelt. In der Nationalversammlung zu Bordeaux, in die er gewählt worden war, ward er so mit Beleidigungen überschüttet, dass er sein Mandat niederlegte und nach Caprera zurückkehrte, von wo aus er nach Erklärungen zugunsten der Pariser Kommune erließ, wie er auch jede antiklerikale oder radikale Bewegung, ferner die chauvinistischen Bestrebungen der Italia irredenta von seiner Insel aus mit einigen Phrasen zu begrüßen pflegte. Eine vom Parlament 1874 votierte Dotation von 100,000 Lire Rente lehnte er anfangs ab, nahm sie aber 1876 wegen der Verschwendung seiner Söhne an. Im italienischen Parlament, dem er zuletzt als Abgeordneter für Rom angehörte, wirkte er in seinen letzten Lebensjahren namentlich für die Regulierung des Tiber und die Bonifikation des sogen. Agro Romano. Durch körperliche Leiden sehr geschwächt, starb er auf Caprera und wurde unter großen Feierlichkeiten daselbst beigesetzt. - Schwärmerische Begeisterung für die nationale Sache, Tatkraft und Energie, persönliche Tapferkeit, Uneigennützigkeit und Redlichkeit des Strebens waren die Tugenden, die Garibaldi auszeichneten und zum Volkshelden machten. Dabei aber mangelten ihm die Fähigkeit ruhiger Erwägung der tatsächlichen Verhältnisse sowie jede tiefere politische Einsicht. - Von Anita hatte Garibaldi zwei Söhne, Menotti (geb. 1845; Teilnehmer an des Vaters Kriegszügen, General, seit 1871 Gutsbesitzer zu Velletri, gest. 22. Aug. 1903 in Rom) und Ricciotti (geb. 1847; ebenfalls an den kriegerischen Unternehmungen Giuseppes, besonders bei Dijon im Januar 1871, beteiligt, schrieb: »Souvenirs de la campagne de France 1870/71«, Nizza 1899), die sich als Mitglieder der italienischen Deputiertenkammer der Linken anschlossen, und eine an den General Canzio verheiratete Tochter Teresita. Anfang 1860 vermählte er sich mit einer Mailänderin, Contessa Raimondi, die ihn aber schmählich betrogen hatte; er trennte sich daher am Hochzeitstag von ihr, erkannte ihr Kind nicht an und erreichte 1879 die gerichtliche Ungültigkeitserklärung der Ehe. Er verheiratete sich darauf mit der frühern Amme seiner Enkelin, mit der er bisher in wilder Ehe gelebt, und die ihm zwei Kinder geboren hatte. Der Witwe und jedem der fünf Kinder bewilligte der Staat einen Jahrgehalt von je 10,000 Lire. Ihm selbst hat man in allen größern Städten Italiens Denkmäler errichtet; die berühmtesten sind die Reiterstandbilder auf dem Gianicolo in Rom (von Em. Gallori) und in Mailand (von Ett. Ximenes). Seine »Memorie autobiografiche« gab sein Sohn Menotti heraus (Flor. 1888); zahlreiche Briefe von ihm veröffentlichte Ximenes (»Epistolario di Garibaldi«, Mail. 1885, 2 Bde.)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

38 Murawjew

"Murawjew, Michail Nikolajewitsch, geb. 1795, gest. 11. Sept. 1866 auf seinem Gut Syrez bei Luga, machte die Feldzüge von 1812-1813 mit, wurde Generalgouverneur von Grodno, dann von Kursk, 1842 Oberdirektor des Feldmesserkorps, 1850 Mitglied des Reichsrats und regte, zum Vizepräsidenten der Russischen Geographischen Gesellschaft gewählt, eine wissenschaftliche Expedition nach Sibirien an. 1857 wurde er Minister der Reichsdomänen und Präsident des Verwaltungsrats der kaiserlichen Apanagen. Murawjew förderte die Landwirtschaft und stiftete die agronomische Akademie zu Petrowsk bei Moskau. Er war ein Gegner der Aufhebung der Leibeigenschaft. 1861 und 1862 trat Murawjew wegen seiner geringen Popularität von seinen Ämtern zurück. Als jedoch der polnische Aufstand sich bis nach Litauen verbreitete, schickte ihn der Kaiser 1863 als Generalgouverneur nach Wilna, wo er eine solche Grausamkeit entwickelte, dass er in ganz Europa verhasst wurde. Aber die Unterdrückung des Aufstandes gelang ihm, und er erhielt den Grafentitel. Vgl. Kropotow, Leben des Grafen Murawjew (Petersb. 1874); »Der Diktator von Wilna. Memoiren des Grafen M. N. M.« (a. d. Russ., Leipz. 1883). 1898 wurde M. in Wilna ein Standbild errichtet."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

39 Fetischismus

"Fetischismus, Verehrung roher, für beseelt geltender Kunstgebilde. Das Wort Fetisch, durch Guineafahrer mitgebracht und seit dem 17. u. 18. Jahrh. in den Formen Fitiso (in Happels »Wunderbarer Welt«, 1706) und Fetisso gebraucht, stammt von dem portugiesischen feitiço (»Zauber«) her, vom lateinischen facticius (»künstlich gemacht«) abzuleiten, womit die Portugiesen die Götzen der Neger am Senegal bezeichneten, die sie sehr treffend mit Amuletten verglichen. Seit dem Erscheinen von De Brosses »Culte des dieux fétiches« (Par. 1760) aber nannte man alle in den Naturreligionen vergötterten, sinnlich anschaulichen Gegenstände Fetische und versteht demnach unter F. eine niedere Kulturform (Animismus, s.d.), die an ein Wohnungnehmen übersinnlicher Wesen in dazu bereiteten Puppen u. dgl. sowie schützendes Wirken für den Besitzer dieser Gebilde glaubte. Die Fetische werden von Fetischmännern, d. h. Schamanen, gemacht, und die Hauptkunst besteht also in der Hineinlockung des Schutzgeistes. Findet der Inhaber, dass der Fetisch nicht den von ihm gehegten Erwartungen entspricht, so gibt er ihn zugunsten eines stärkern Fetisches wieder auf. Daher besitzt mancher Wilde Scharen von Fetischen, die er und seine Vorfahren gesammelt, von denen jeder irgend einen Dienst geleistet haben soll, und denen allen er seine Verehrung bezeigt. Die Fetische sind oft die unscheinbarsten Kleinigkeiten, wie mit Garn umwundene Nägel, rote Papageienfedern, Menschenhaare, ein Topf mit Erde, in der eine Hahnenfeder steckt, u. dgl. (vgl. Tafel »Afrikanische Kultur I«, Fig. 24 u. 25). Trotzdem ist in der Hütte eines Fetischanbeters der Tisch und das Lager für den Fetisch die Hauptsache. Auch werden ihm oft morgens und abends Opfer, in Milch, Tabak, Rum etc. bestehend, dargebracht; man spricht mit ihm wie mit einem Freund, stellt ihn als Wächter auf die Felder und ruft ihn in Zeiten der Gefahr laut und ernstlich an. Dem eigentlichen F. nahe verwandt ist die Verehrung von Tieren und Pflanzen, deren schädliche oder nützliche Wirkung der Naturmensch höhern sie beherrschenden und bewohnenden Geistern zuschreibt, welche die Neger Wongs nennen. Bei den nordamerikanischen Indianern wählt sich jeder ein ihm während der Pubertätszeremonien (s. Pubertät) im Traum erscheinendes Tier als Fetisch oder Totem (s.d.), das er hinfort niemals töten oder verspeisen darf, wie der Ägypter des Altertums das für seinen Distrikt geheiligte Tier. Dass sich auch in die monotheistischen Religionen, selbst in das Christentum, F. als Rest oder Rückfall eingeschlichen hat, ist bekannt. Vgl. Fr. Schultze, Der Fetischismus (Leipz. 1871); Roskoff, Das Religionswesen der niedersten Naturvölker (das. 1880); Bastian, Der Fetisch an der Küste Guineas (Berl. 1884); Baudin, Fétichisme et féticheurs (Lyon 1884); G. Wagner, Die heidnischen Kulturreligionen und der Fetischismus (Heidelb. 1899). - Im psychiatrischen Sinn ist Fetischismus ein abnormer Trieb bei sexualpathologisch veranlagten Menschen, der eine Art Umwandlung des Geschlechtstriebes vorstellt, insofern sich ein das Zustandekommen der geschlechtlichen Erregung ursprünglich nur unterstützender Vorgang schließlich zur Hauptsache umgestaltet und ohne Verbindung mit eigentlichem Geschlechtsverkehr Befriedigung herbeizuführen vermag. In der Regel sind Stiefel und Schuhe. Taschentücher und Zöpfe, und zwar meist ganz ohne Beziehung zu einer bestimmten Person, imstande, derartigen Leidenden eine höhere Befriedigung zu gewähren als eine lebende Person. Es werden infolgedessen und zwar oft in großer Menge derartige Gegenstände von den Fetischisten gestohlen, die meist dem männlichen Geschlecht angehören. "

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

40 Comte

"Comte (spr. kongt'), Isidore Marie Auguste François Xaver, der Begründer der sogen. positiven Philosophie, geb. 19. Jan. 1798 in Montpellier, gest. 5. Sept. 1857 in Paris, war Zögling der polytechnischen Schule in Montpellier, ging 1816 nach Paris, lernte Saint-Simon kennen, brach aber bald mit dessen Lehren, wurde 1820 Mitarbeiter am »Organisateur«, 1822 an dem neugegründeten Blatt »Le Producteur«. Von 1826 an hielt er Vorträge über sein System, denen eine Zeitlang A. v. Humboldt beiwohnte, wurde 1832 Repetent an der polytechnischen Schule und 1837 Examinator für die Ausnahmszöglinge. Als er 1843 zu letzterer Stelle nicht wieder ernannt worden war und dadurch sein Einkommen verlor, ermöglichte ihm eine Gesellschaft in England lebender Verehrer seiner Schriften, unter denen sich Stuart Mill und der Bankier und Geschichtschreiber George Grote befanden, durch eine ansehnliche Jahrespension die Fortsetzung seiner Arbeiten. Seit 1849 hielt er Vorlesungen über die Geschichte der Humanität, durch die er, von der Liebe zu Clotilde de Vaux begeistert, der Apostel einer Religion der Humanität zu werden hoffte; doch wurden diese Vorlesungen 1851 von der Regierung untersagt. Seine Lehre legte er zuerst in dem »Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société« (Par. 1822; neue Aufl., das. 1824 u. d. T.: »Système de philosophie positive«), dann in seinem Hauptwerk: »Cours de philosophie positive« (das. 1830-42, 6 Bde.; 5. Aufl. 1893), nieder. Einen populären Auszug hieraus lieferte Jules Rig: »La philosophie positive par A. Comte. Résumé« (Par. 1880, 2 Bde.; deutsch von v. Kirchmann, Heidelb. 1883-84, 2 Bde.). Die von ihm selbst so genannte »positive Philosophie« (daher seine in Frankreich, England, Belgien und andern Ländern zerstreuten Anhänger sich Positivisten nennen) ist eine Kombination von Empirismus, der aus seiner mathematischen Bildungsepoche stammte, und Sozialismus, den er Saint-Simon verdankte. In der Periode seiner religiösen Begeisterung, die er selbst als seine »subjektive« bezeichnete, schrieb er: »Système de politique positive, ou Traité de sociologie« (1852-54, 4 Bde.; neue Ausg. 1890 bis 1894); »Catéchisme positiviste« (3. Aufl. 1890; deutsch von Roschlau, Leipz. 1891); »Appel aux conservateurs« (1855) und »Synthèse subjective« (1856), deren Inhalt von einem Teil seiner Schüler, namentlich von dem bedeutendsten derselben, dem Akademiker Littré (s.d.), nicht als richtig angenommen worden ist. Der Letztgenannte hat u. d. T.t »A. Comte et la philosophie positive« (3. Aufl., Par. 1877) eine Biographie und Darstellung der Lehre Comtes herausgegeben, der 1866 eine andre Schrift: »Auguste Comte et Stuart Mill«, folgte. Vgl. auch Robinet, Notice sur l'oeuvre et sur la vie d'Auguste Comte (3. Aufl., Par. 1891); »Correspondance inédite d'Auguste Comte« (1993, Bd. 1). In England haben Miß Martineau (1853), Bridges (1865) und R. Congreve seine Schriften teilweise bearbeitet, Stuart Mill (»A. Comte and the positivism«, Lond. 1865; deutsch von Elise Gomperz, Leipz. 1874), Buckle, Lewes, Tylor, Caird (»The social philosophy and religion of Comte«, Glasgow 1885, 2. Aufl. 1893) u. a., in Amerika Carey ihn vielfach berücksichtigt. Seine Briefe an Mill erschienen u. d. T.: »Lettres d'A. Comte à John Stuart Mill 1841-1846« (Par. 1877). Auch in Italien und Deutschland hat er in neuerer Zeit vielfach Eingang gefunden. Vgl. Gruber, August Comte (Freiburg 1889); Derselbe, Der Positivismus vom Tode A. Comtes bis auf unsre Tage (in den »Stimmen aus Maria-Laach«, das. 1891); Lévy-Brühl, La philosophie d'A. Comte (Par. 1900; deutsch von Molenaar, Leipz. 1902).

Comtes »Philosophie positive« richtet sich in ihrem negativen Teil gegen jede Metaphysik, jede Einführung von Anfangs- oder Endursachen. Beide Enden der Dinge sind uns unzugänglich, nur die Mitte gehört uns. Der Atheist ist für den Positivisten nur eine Abart des Theologen, der Pantheismus nur eine Form des Atheismus. Theologie und Metaphysik, jeder Versuch, das Universum durch Ursachen zu erklären, die außer ihm sind, ist Transzendenz; Immanenz ist die Wissenschaft, die das Universum durch Ursachen erklärt, die in ihm sind. Seinem positiven Teil nach besteht der Positivismus in einer neuen Auffassung der Entwickelung des Menschengeistes und in einer neuen Anordnung der Wissenschaften. Jener zufolge durchläuft der denkende Geist notwendigerweise drei Stadien (trois états): das theologische, das metaphysische und das positive. Während des ersten werden die Naturerscheinungen durch übernatürliche Ursachen und persönliches Eingreifen von Göttern, während des zweiten durch abstrakte Ursachen, realisierte Abstrakta, erklärt; während des dritten begnügt man sich, den Zusammenhang der Phänomene zu konstatieren durch Beobachtung, durch das Experiment, kurz, jede Tatsache mit ihren vorangegangenen Bedingungen zu verknüpfen. Was sich nicht durch Experimente verifizieren lässt, gehört nicht in die Wissenschaft. Diese Methode hat die moderne Wissenschaft geschaffen und ist bestimmt, die Stelle der alten Metaphysik einzunehmen. Die Anordnung des Wissens, der im allgemeinen die Baconsche Einteilung der Wissenschaften zu Grunde liegt, und die er die »natürliche Hierarchie der Wissenschaften« nennt, geht vom Einfachen zum Zusammengesetzten. Die Grundlage von allem bildet die Mathematik; dann folgen die Astronomie, die Physik, die Chemie, die Biologie und die Soziologie, deren jede die Vorstufe und Voraussetzung der nächsten ausmacht. Auf die Gesellschaftswissenschaft legte Comte den Hauptwert, da sein ganzes Werk neben der Auffindung allgemeiner Gesetze eine Sozietätslehre auf positiver Grundlage zu schaffen bezweckte. Diese Wissenschaft ist nicht möglich ohne die Wissenschaft vom Leben, diese nicht ohne Chemie, die ihrerseits die Physik wie diese die Astronomie und diese die Mathematik zur Basis hat. Die Psychologie ist nur ein Teil der Physiologie (Phrenologie); die Moral beruht auf dem geselligen Trieb und weist Eigennutz und Selbstsucht zurück, indem sie an die Stelle des eignen Vorteils als Motiv des Handelns (Egoismus) den des »andern« (Altruismus) und das allgemeine Wohl über das jedes Einzelnen setzt. Comtes »Politique positive« aus seiner »subjektiven Periode« enthält das bis ins Detail ausgearbeitete Ideal der künftigen Organisation der menschlichen Gesellschaft, die dadurch charakteristisch ist, dass in derselben den »positiven« Philosophen (ähnlich wie den Wissenden in der Platonischen Republik) die herrschende Stellung eingeräumt und unter denselben ein Kultus des »großen Wesens«, d. h. der Menschheit, sowie eine Art Hierarchie mit einem Oberhaupt an der Spitze (ähnlich wie im katholischen Priestertum mit dem römischen Papst) eingerichtet wird, daher die »positive« Gesellschaft von Gegnern als »Katholizismus ohne Christentum« bezeichnet worden ist. Nach dem Muster derselben sind von Anhängern Comtes in England (Rich. Congreve, Bridges u. a.) Positivistengemeinden gegründet und an verschiedenen Orten Kirchen, z. B. in London, eröffnet worden, in denen »positivistischer« Gottesdienst abgehalten wird. In neuerer Zeit sind unter den Mitgliedern Spaltungen eingetreten, infolge deren ein Teil der (übrigens niemals zahlreich gewesenen) »Positivisten« sich der herrschenden Kirche genähert hat."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

41 Anmerkung von Bakunin:

"Die Wissenschaft, die das Erbgut aller wird, wird sich gewissermaßen dem unmittelbaren und wirklichen Leben jedes einzelnen vermählen. Sie wird an Nützlichkeit und Grazie gewinnen, was sie an Stolz, Ehrgeiz und doktrinärem Pedantismus verlieren wird. Dies wird gewiss nicht verhindern, dass Männer von Genie, die besser als die Mehrzahl ihrer Zeitgenossen für wissenschaftliche Spekulationen befähigt sind, sich ausschließlicher als andere der Pflege der Wissenschaften widmen und der Menschheit große Dienste leisten werden, ohne anderen sozialen Einfluss, den eine überlegene Intelligenz immer auf ihre Umgebung ausübt, und ohne eine andere Belohnung zu suchen als den hohen Genuss, den jeder hohe Geist in der Befriedigung einer edlen Leidenschaft findet."

42 Anmerkung von Bakunin:

"Man muss die allgemeine Erfahrung, auf die sich die ganze Wissenschaft gründet, wohl unterscheiden von dem allgemeinen Glauben, auf den die Idealisten ihren Glauben stützen wollen; erstere ist die wirkliche Feststellung wirklicher Tatsachen, letztere nur eine Vermutung von Tatsachen, die niemand gesehen hat und die folglich mit der Erfahrung aller in Widerspruch stehen."

43 Anmerkung von Bakunin:

"Ich weiß sehr wohl, dass man in den orientalischen theologischen und metaphysischen Systemen und besonders in denen Indiens, den Buddhismus einbegriffen, schon das Prinzip der Vernichtung der wirklichen Welt zum Nutzen des Ideals oder der absoluten Abstraktion findet. Aber es trägt hier noch nicht den Charakter freiwilliger und absichtlicher Verneinung, der dem Christentum eigen ist, weil zur Zeit der Entstehung jener Systeme die eigentlich menschliche Welt, die Welt des menschlichen Geistes und Willens, menschlicher Wissenschaft und Freiheit, sich noch nicht so entwickelt hatten, wie dies später in der griechisch-römischen Kultur der Fall war."

44 Vanini

"Vanini, Lucilio oder, wie er sich später auf dem Titel seiner Schriften nannte, Julius Cäsar, ital. Freidenker, geb. 1584 zu Taurisano in der Terra d'Otranto, gest. 19. Febr. 1619, bildete sich in Rom, Neapel und Padua zum Polyhistor, empfing die priesterliche Weihe, bereiste dann Deutschland und die Niederlande, hielt sich längere Zeit in Genf und Lyon auf, musste nach England flüchten (1614), kehrte aber dann nach Lyon zurück, wo er 1615 sein »Amphitheatrum aeternae providentiae« herausgab, dem 1616 zu Paris die Schrift »De admirandis naturae arcanis« folgte, die ihm eine Anklage wegen Atheismus zuzog. Er begab sich nach Toulouse (1617), wo er eine Zeitlang Unterricht erteilte, aber bald verhaftet (November 1618) und, von dem Parlament verurteilt, verbrannt wurde. Seine Schriften wurden von Rousselot (Par. 1842) ins Französische übersetzt."

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45 Hebertisten

"Hébert (spr. ebär), Jacques René, einer der berüchtigtsten Schreckensmänner der französischen Revolution, geb. 1755 in Alençon, gest. 24. März 1794, kam jung nach Paris, wo er sich als Bedienter und Billettkontrolleur seinen Unterhalt erwarb. Nicht ohne Geist, von gewinnendem Äußern, aber kynisch frivol, gehörte er seit Ausbruch der Revolution zu den radikalsten Mitgliedern des Jakobinerklubs. Seit 1789 redigierte er das durch ganz Frankreich verbreitete Blatt »Le Père Duchesne«, das in rohester Sprache das Volk zu blutigen Gewalttaten aufreizte, ward infolge der Ereignisse vom 10. Aug. 1792 Mitglied des revolutionären Gemeinderats und Substitut Chaumettes als Generalprokurator der Kommune und spielte bei den Septembermetzeleien eine hervorragende Rolle. Mit dem Maire Pache und andern Jakobinern stiftete er eine Verschwörung gegen die Girondisten an, ward deshalb 24. Mai 1793 verhaftet, aber vom Volk wieder befreit. Später stand er mit Chaumette an der Spitze der Hébertisten, jener Faktion, die alle Gewalt auf die Pariser Kommune übertragen wollte, die Abschaffung des Gottesdienstes und die Einführung des Kultus der Vernunft betrieb, sogar Danton und Robespierre der Verletzung der Freiheit und der Menschenrechte anklagte. Auf Veranlassung Robespierres ward er mit vielen seiner Anhänger guillotiniert."

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46 Danton

"Danton (spr. dangtong), Georges Jacques, einer der hervorragendsten Männer der französischen Revolution, geb. 28. Okt. 1759 in Arcis-sur-Aube, gest. 5. April 1794, beim Beginn der Revolution 1789 Advokat in Paris, vergeudete in grenzenloser Liederlichkeit seine geringen Einnahmen. Mirabeau aber erkannte in ihm eine bedeutende Stütze seiner Pläne. Dantons Gestalt war kolossal, seine Stimme von durchdringender Gewalt, das Gesicht hässlich, von Pockennarben zerrissen, aber doch imponierend, das kleine Auge stechend und kühn, seine Rede phantastisch und ergreifend. Er besaß eine rücksichtslose Energie und einen scharfen, praktischen Blick. Am 14. Juli 1789 begeisterte er die Massen zum Angriff auf die Bastille. Bald darauf klagte er im Sinne der Jakobiner 10. Nov. 1790 die Minister bei der Nationalversammlung an und stiftete mit Camille Desmoulins, Fabre d'Eglantine und Marat den Klub der Cordeliers, der den Klub der Jakobiner bald in politischem Fanatismus überbot. Mit dem Herzog von Orléans trat er in engere Verbindung und ward ein Genosse seiner wüsten Orgien. Die Erstürmung der Tuilerien und den Sturz des Königtums 10. Aug. 1792 bereitete er hauptsächlich vor, und nach dem Sieg des Pariser Pöbels setzte er seine Ernennung zum Justizminister durch. Das Vorrücken der feindlichen Heere in der Champagne und das Wiederauftauchen der royalistischen Partei in Paris gaben ihm den Vorwand zur Organisierung der Septembermorde. Danton ließ sich hierbei nicht von Grausamkeit und Blutdurst leiten, denn einzelnen, die ihn um Rettung anflehten, z. B. Dupont, Barnave, Lameth und dem Abbé Barthélemy, ließ er solche angedeihen, vielmehr wollte er durch die Bluttat den Royalisten Angst einjagen. Als der Konvent zusammentrat, legte Danton sein Ministerium nieder und begab sich 30. Nov. 1792 mit Lacroix nach Belgien, um das revolutionäre Element auch dort auszubreiten. Da seine Anerbietungen eines engern Bundes zur Bekämpfung der Pöbelherrschaft von den Girondisten mit Abscheu zurückgewiesen wurden, trug er zum Sturze der letztern bei, aber wünschte nicht deren Hinrichtung. Diese Mäßigung machte ihn verdächtig; obgleich er das Gesetz des Maximum (Brottaxe) sowie die Besoldung der Sansculotten noch durchsetzte, sank sein Ansehen täglich. Er begab sich nun nach seiner Heimat Arcis und heiratete. Im November 1793 kam er nach Paris zurück, entschlossen, dem widerlichen Treiben der Hébertisten ein Ende zu machen. Er vertraute auf die Mitwirkung Robespierres, doch dieser benutzte den Kampf zwischen den Dantonisten und den Hébertisten, um erst diese, dann jene zu stürzen. In der Nacht vom 31. März zum 1. April 1794 wurde Danton verhaftet. Am 3. April erschien er mit seinen Freunden Desmoulins, Westermann, Lacroix, Phélipeaux etc. vor dem Revolutionstribunal unter willkürlichen Anschuldigungen. Danton behandelte die Richter mit Verachtung und rief bei der Verkündigung des Todesurteils: »Man opfert uns einigen feigen Räubern, aber sie werden ihren Sieg nicht lange genießen; ich ziehe Robespierre nach. Der Feige! ich allein besaß die Macht, ihn zu retten.« Danton bestieg mit seinen Freunden das Schafott. Als das Volk an der Guillotine Beifall brüllte, rief er: »Schweig still, undankbares Volk!« Sein Geschick gab G. Büchner Stoff zu einem Drama. 1891 wurde ihm in Paris ein Standbild errichtet."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

47 Chateaubriand, Vicomte de, 1769-1848: Gegner der Aufklärung, der die (katholische) Religion als Bedingung der menschlichen Höherentwicklung ansieht.

48 Lamartine, Alphonse Marie Louis de (1790 - 1869), berühmter französischer Dichter, sentimentaler katholischer Religionsschwärmer.

49  Hugo, Victor Marie (1802 - 1885): berühmter französischer Dichter

50 Anmerkung von Bakunin:

"Ich halte es für nützlich, an eine übrigens wohlbekannte und durchaus glaubwürdige Anekdote zu erinnern, die ein sehr wertvolles Licht auf den persönlichen Charakter dieses Wiederaufwärmers der katholischen Glaubenslehre und auf die religiöse Aufrichtigkeit jener Zeit wirft. Chateaubriand brachte seinem Verleger ein gegen den Glauben gerichtetes Werk. Der Buchhändler bemerkte, der Atheismus sei nicht mehr Mode, das lesende Publikum wolle nichts mehr davon wissen und verlange im Gegenteil religiöse Werke. Chateaubriand entfernte sich, brachte ihm aber einige Monate später sein Werk: Der Geist des Christentums."

51 Bèranger. Zu Béranger siehe:

Antiklerikale Karikaturen und Satiren XIX: Grandville (1803 - 1847)  / kompiliert und hrsg. von Alois Payer. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/karikaturen19.htm. -- Zugriff am 2005-01-06

52 Courier

"Courier de Méré (spr. kurie), Paul Louis, franz. Schriftsteller, geb. 4. Jan. 1772 in Paris, gest. 10. März 1825, trat 1792 in die Armee ein, focht mit Auszeichnung in den italienischen Feldzügen (1792-97 und 1805), nahm aber nach der Schlacht bei Wagram 1809 seinen Abschied und ging nach Italien, um seine philologischen Forschungen, die er auch während seiner militärischen Laufbahn nicht aufgegeben hatte, fortzusetzen. Er entdeckte in Florenz ein vollständiges Exemplar des Romans »Daphnis und Chloë« von Longos, das er herausgab (1810). 1812 kehrte er nach Frankreich zurück, zog auf sein Landgut unweit Tours, immer philologisch tätig, zugleich wegen seiner politischen Flugschriften, in denen er mit kaustischem Witz den Adel und die katholische Geistlichkeit bekämpfte, gefürchtet. Doch wurde er von einem Diener ermordet. Der prickelnde Geist und die natürliche Anmut Couriers finden sich in all seinen Schriften, selbst in seinen Briefen wieder. Seine zahlreichen Flugschriften, auch »Le pamphlet des pamphlets« (1824), sind wahre Meisterwerke des französischen Stils. Unter den mehrfachen Ausgaben seiner Werke sind besonders die von 1830 (4 Bde., mit Einleitung von Armand Carrel) und von 1837 (4 Bde., neue Ausg. 1865) hervorzuheben."

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53 Nach seinem Erfinder benanntes Hinterlader-Gewehr


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