Der Stationsberg (1890)

von

Oskar Panizza


Herausgegeben von Alois Payer (payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Der Stationsberg.  -- 1890. -- Fassung vom 2005-01-14. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/panizza07.htm 

Erstmals publiziert: 2005-01-14

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library


Erstmals erschienen in:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Dämmrungsstücke : vier Erzählungen. -- Leipzig, W. Friedrich, [1890]. -- 303 S. ; 19 cm. -- S. 36 - 50.

Da Panizzas eigenwillige Orthographie in keinerlei Erkenntnisfortschritt bringt, habe ich sie — unter Wahrung des Lautbestandes — durch die moderne Orthographie ersetzt.


Zu Oskar Panizza siehe die Einleitung zu:

Panizza, Oskar <1853 - 1921 >: Die Wallfahrt nach Andechs.  -- 1894. -- Fassung vom 2005-01-07. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/panizza01.htm 


Der Stationsberg

..... Die Nacht, in der sich Alles seltsam verändert, Menschen müd und leblos wie versteinern, und Steingebilde zu phantastischem Leben erwachen.
Lenau

Eines Abends kam ich spät ermüdet in ein unterfränkisches Dorf, dessen Name mir entfallen ist. Es mochte wohl am Fuße der Rhön gelegen sein, deren bergige Ausläufer in undeutlichen Umrissen am Horizont zu erkennen waren. Doch war es so regnerisch-trüb, und bei der vorgeschrittenen Zeit so dunkel, dass von einer eigentlichen Orientierung des Orts, wie weit das Dorf in die Berge vorgeschoben sei, keine Rede sein konnte. Wir mochten wohl um die Zeit zwischen Gründonnerstag und Ostern sein. Das Dorf, wusste ich, war berühmt durch seine Prozessionen. — Kein Mensch war auf der Gasse. Mehrmals war ich die breiten Straßen auf und ab gewandert in der Suche nach einer Herberge, und allmählich war es stockfinster geworden. Als Beleuchtung für das ganze, nicht unansehnliche, Dorf dienten drei Öl-Lampen, in Laternen eingeschlossen, die, an Schnüren aufgehangen, quer über die Straße von Haus zu Haus hinübergebunden waren, und deren Scharnierwerk bei dem leichten Süd-West-Wind ein kreischendes, ächzendes Geräusch hervorbrachte. Sonst war Alles still. Keine zehn Leute hätte man in diesem großen Dorfe vermutet. Beim Schein der Laternen entdeckte ich endlich ein kleines Gasthaus: »Zu den heißen Tränen der Magdalena«. Ich klopfte und erhielt Einlass. Der Wirt, ein kleiner, freundlicher Mann, bedauerte, da für die Festtage Alles überfüllt sei. — Ich war missmutig und enttäuscht. — Ein kleines, hoch oben gelegenes Dachstübchen, meinte er, mit schlechtem Bett, sei Alles, was er mir bieten könne. — Ich erklärte mit Allem zufrieden zu sein. Und da ich müde war, ließ ich mir sogleich hinaufleuchten; es war ein kleines Dachzimmerchen mit tief bis in die Mitte sich hereinlegendem Gebälk; ein winziges Oberlicht-Fenster, gerade groß genug, um den Kopf bequem durchstecken zu können, befand sich über dem Bett, das gegen das Dach zu postiert war; ohne mich weiter im Zimmer umzusehen, löschte ich sogleich das Licht aus und begab mich zu Bett, wo ich auch alsbald einschlief.

Wie lang ich geschlafen, kann ich nicht sagen. Es war mitten in der Nacht, als ich plötzlich durch einen starken Stoß erwachte, der gleichzeitig einem fürchterlichen Traum ein Ende machte. Das Oberlicht-Fenster meines Zimmers war durch den Wind aufgefahren; ich fuhr erschrocken aus den Kissen, setzte mich im Bett auf, dessen Kopfteil sich direkt unter dem Fenster befand, und erblickte ein merkwürdiges, fesselndes und schreckliches Schauspiel, welches ich anfangs geneigt war für einen zweiten Traum zu halten: In die schmale Fensteröffnung, durch die knapp ein Kopf hätte durchgehen können, ragte nur ein Stück Himmel, und von unten her die dunkeln Umrisse eines Bergrückens, auf dessen Kamm sich eine lange Reihe glitzernder Funken auf und ab bewegten. Die Luft war mild und feucht; die schweren Wolken des vorhergehenden Abends hatten sich verschoben; nur oben am Rand meines Fenster-Rahmens hing noch ein schmaler Saum schwarzen Gewölks; dann kam ein Stück ganz reinen, trotz der Nacht fast blau erscheinenden Himmels mit funkelnden Sternen; irgend eine Beleuchtungsquelle, der Mond, mir unsichtbar, vielleicht hinter dem schwarzen Wolkensaum, oder über dem Dach, musste die ganze Skizze mit hellem Licht übergießen; so scharf trat Alles hervor; durch die Mitte des Bildes lief dann der dunkle Bergrücken, der, wie ich jetzt bemerkte, durch Tannen gebildet war, und über den die Menge glitzernder, hüpfender Lichter in langsamer aber stetiger Bewegung hinwegzog. Unten schloss der Fensterrahmen mitten durch den Berg das Bild ab. —

Ich starrte erschreckt auf das merkwürdige Schauspiel. Es war, als hätten sich sämtliche Irrlichter von zehn Meilen im Umkreis dort ihr Stelldichein gegeben. Allmählich jedoch schärften sich meine Sinne und ich gewahrte, dass die Lichter Kerzen waren; und unter den Kerzen gingen dichte Haufen kleiner schwarzer Menschen, die langsam und mühevoll den Berg hinaufkeuchten. Wie Karawanen von dunklen Ameisen, die jedes ein Fünkchen am Kopf angebunden haben, zog es ruckweise vorwärts, und wenn der Wind günstig zu mir herüberwehte, dann hörte man in feierlich-klagendem Ton immer die gleichen Worte »Bitt' für uns! — Bitt' für uns!« Ich starrte wie gelähmt auf den gespenstig-wunderbaren Vorgang.

Mein kleiner Fensterrahmen erschien mir wie die Rampe eines Miniatur-Theaters, über dessen Bildfläche kleine, feststehende Figürchen gezogen werden. Aber dann sah ich wieder, dass der Vorgang in der Natur spielte, und der Horizont ein unermesslicher war; der Mond, und kein Theaterlicht, goss breite Lichtwellen auf die Szene, und die kühle Brise der Nacht schlug an meine Wangen. — Ruck für Ruck verfolgte ich die vorwärtskriechenden Ameisen-Knäuel schwarzer Menschen; oft wurde wie auf Kommando Halt gemacht, als gälte es die Verrichtung irgend eines wichtigen Geschäfts, und dann ging es wieder gleichmäßig vorwärts, als beseelte ein einziger, unausgesprochener Instinkt die ganzen Haufen. Und jedesmal, wenn der Wind herüberwehte, klang es monoton und flehend: »Bitt' für uns! — Bitt' für uns!« und wenn der Wind quer herüberkam, dann klang es breit, dialektisch gefärbt: »Bett' für uns! — Bett' für uns!«

»Wer bitt' für uns?« rief ich; »Bitt' für wen? Wer seid Ihr? Was macht Ihr da droben?! — Bin ich in Liliput, wo kleine Nussknacker-Gestalten winzige Lichter mit beiden Händen in die Höhe heben, und springen und hüpfen und quieksen. Bitt' für uns! Bitt' für uns!?« — Inzwischen aber wurde ich immer mehr wach; meine Sinne begannen sich zu konzentrieren; ich wusste recht gut, ich war nicht in Liliput; aber die Sache musste doch erklärt werden; wer war das kleine, schwarze, fremdartige Volk, dem die deutsche Sprache nicht unbekannt zu sein schien? Als Resultat meiner nun schon helleren Beobachtung bemerkte ich jetzt, dass über den ganzen Bergkamm verteilt in unregelmäßigen Zwischenräumen, und von den Bäumen halb versteckt, kleine Steinhäuschen standen, aus denen dichtgepfercht kleine weiße Figuren herausgestikulierten und Gesichter schnitten; vor jedem dieser Häuschen hielten die kerzentragenden, schwarzen Menschen immer in größerer Zahl, sprachen und bewegten die Hände hastig gegen die weißen Figuren, die auf ihre Weise zu antworten schienen. Was, beim Himmel, machen die da droben, dachte ich mir. Spielen die Theater? Und die eine Hälfte hat sich weiß angezogen und ist in Häuschen versteckt, und die andere Hälfte ist schwarz angezogen und weil sie schwarz angezogen ist, bekommt sie als Kompensation, oder als weiteres Unterscheidungs-Merkmal, ein Licht in die Hand!? Und nun stürmen sie aufeinander los und bekämpfen sich! — Ich schaute mich unwillkürlich um, als wenn hinter mir ein Erklärer stünde, wie man oft auf Jahrmarkts-Panoramen findet, der zu mir spräche: Das bedeutet das! und das bedeutet das! — Aber es war Niemand da. Im ganzen Haus herrschte eine atemlose Stille. Vielleicht, dachte ich mir, bin ich der einzige Mensch wach, und der einzige Beobachter eines unerhörten beispiellosen Naturvorgangs; das weiße und schwarze Ameisenvolk da droben ist irgend ein Bergvölklein, in der Gegend unbekannt, das an einem bestimmten Tag im Jahr aus dem Berge kriecht und seine geheimnisvollen, den Menschen nachgeäfften Feier und Spiele treibt. — »Bitt' für uns! Bitt' für uns!« wehte immer wieder der Wind herüber. — Ich wurde immer aufmerksamer. Meine Sinne erwachten mehr und mehr. Ich versuchte den Anfang dieses nächtlichen Auszuges zu entdecken und bemerkte zu meiner Linken auf halber Höhe des Berges ein Häuschen, in dem wie altertümlich angezogene Soldaten einen Menschen an einem weißen Strick hinter sich herschleppten. Dieser Mensch war ebenfalls weiß, wie Alles Übrige im Häuschen, und hatte einen schmerzlichen, tiefleidenden Ausdruck im Gesicht. Andere Soldaten waren damit beschäftigt, gegen die schwarze den Berg heraufziehende Menge, die vor dem Häuschen dicht gedrängt stand, heraus zu lachen und ekelhafte Grimmassen zu schneiden. Aber doch nicht so, dass die Schwarzen dies notwendigerweise auf sich beziehen mussten. Es schien vielmehr, als wenn bei allem gegensätzlichen Verhältnis zwischen beiden Parteien die Vorgänge im Häuschen selbst ein für sich abgeschlossenes Ganzes bildeten. — Was für eine seltsame Komödie! rief ich innerlich. Es scheint, hier spielen die Einen den Andern vor. Oder spielen sie miteinander? — Wer schaut dann zu? — Ist Alles gegenseitig abgekartet, und man verstellt sich, und fällt nicht aus der Rolle? Aber für wen wird dann gespielt? Und warum da droben auf dem Berge? Warum nicht im Theater? — Bei manchen der Häuschen konnte ich das Innere gar nicht sehen, das wie mit schwarzen Schatten ausgefüllt schien. Manchmal aber fiel der plötzliche Lichtstrahl einiger der Kerzenträger in das dunkle Innere und ich sah dann, wie ein weißer Kopf herausguckte, der einem andern, ebenfalls weißen Kopf, in's Gesicht spie. — Was für schreckliche und sonderbare Dinge, sprach ich zu mir selbst, gehen da droben vor; ich besann mich lebhaft, ob ich jemals ähnliches in meinem Leben gesehen. — Eine schwarze, festgekeilte Gruppe lag eben vor diesem Häuschen auf den Knieen, — einige mit Wachslichtchen in der Hand, — und gestikulierten in eifriger Weise hinauf zu den zwei Köpfen, von denen ich bei dem stets wechselnden Spiel von Licht und Schatten durch die Kerzen nicht sagen konnte, ob sie sich bewegten, wem sie angehörten, was sie vorstellten; oft schien es bei dem grellen Lichtreflex, als hätten sie ein schwarzes rundes Loch mitten im Mund; sicher schien nur so viel, dass der eine Kopf dem andern immer ins Gesicht spuckte, und dass der eine Kopf ein martialisches, höhnisches, fast niederträchtiges Gepräge hatte und einen Soldaten-Helm trug, während der andere der weiße Mensch war, dem wir schon in einem früheren Häuschen begegnet, der weiße Mensch mit seinem gekränkten, traurigen Gesicht. — Unter den knieenden schwarzen Gruppen schien es manchmal zu Meinungsverschiedenheiten, zu Partei-Ergreifungen für den einen oder andern Kopf zu kommen, und oft sah ich, drehten sich auch unter den Knieenden zwei Köpfe wie zwei schwarze Silhouetten um, und schauten sich direkt in's Gesicht, und dabei hob jeder einen Arm gegen das Häuschen hinauf, als stritten sie sich. — Aber Alles ging so schnell und gleichzeitig, so marionettenhaft vor sich, dass ich auf den Gedanken kam: Vielleicht bewegen sich auch die Leute vor dem Häuschen unter einem gewissen Zwang, wie Gliederpuppen, und sind keine Menschen. — Aber was, frug ich mich immer wieder, bedeutet das Ganze? — Ich wachte, so viel war sicher; ich durfte also die Vorgänge da droben mit meinen fünf Sinnen prüfen. — Ist der Vorgang in den Häuschen ein wirklicher, frug ich mich, ein ernsthaft stattfindender, also so, wie die Menschen in ihren gebauten Häusern sich bewegen, wie sie essen, lachen und sich unterhalten, — nicht zum Spaß essen, sondern wirklich ernsthaft essen? — Oder ist, was in den Häuschen vorgeht, nur ein bildlicher Vorgang, eine Allegorie, ein Spaß? — Sind die weißen Menschen Schauspieler? — Die sich mit weißer Zinkfarbe angestrichen? — Oder vielleicht sind die Figuren starr und tot? — Aus Gips?

Während dieser Betrachtungen schweifte mein Blick etwas höher den Berg hinan, immer der schwarzen Menge folgend, und ich bemerkte in einem der nächsten Häuschen, wo die Tannen nicht den Zublick verwehrten, eine weiße junge Frau, die ein weißes Taschentuch heraushängte, wie man ein Wäschestück aufhängt; auf dem Taschentuch war ein Gesicht gezeichnet; oder, es schien, als ob das Taschentuch ein Loch hätte, und eine der weißen Figuren steckte seinen Kopf durch. — Was soll nun das wieder heißen? rief ich. Ist das symbolisch? Soll das heißen: Seht solche Köpfe habt Ihr! — Das weiße Gesicht auf dem Wäschestück war entsetzlich traurig, aber ganz platt gedrückt. Zu meiner Verwunderung bezog die Menge vor dem Häuschen die Andeutung der jungen, weißen Frau nicht auf sich, sondern starrte lautlos auf den weißen Kopf. — Ich bemerkte wohl, das Taschentuchgesicht hatte Ähnlichkeit mit dem malträtierten weißen Menschen in den früheren Häuschen. Aber was sollte ich mir denken, als ich denselben weißen Menschen im gleichen Häuschen hinter der jungen Frau in hockender Stellung über die Szene laufen sah!? Und mit dem gleichen Gesicht, das schon einmal auf dem Taschentuch war, herausschauend! — Was für eine Komödie! rief ich immer wieder. Wie possierlich und traurig ist das Alles zu gleicher Zeit! Die Häuschen hatten so viel Ähnlichkeit mit den Puppentheatern auf unsern Jahrmärkten, wo die neugierige Menge dichtgedrängt davorsteht und lacht und weint. Und nun kam mir folgende phantastische Vorspiegelung: Ich dachte mir, der tiefdunkelblaue Sternenhimmel da droben ist ein blauer Vorhang, der senkrecht auf dem Bergeskamm aufsitzt, und die Häuschen sind herausgeschobene Kulissen, Stationen, kleine, giebelförmige Miniaturtheater, und hinter dem Vorhang stehen große gewaltige Riesen, Götter, allmächtige Schauspieler, oder wer nur immer, kurz, Größere als wir Menschen sind, die durch die Häuschen mit uns Menschen, oder denen da droben, kommunizieren, und aus dem Hintergrund der Häuschen ihre Riesenfinger herausstrecken; und an jedem Finger haben sie eine weiße Puppe, und mit diesem Puppenspiel und Theaterwerk ergötzen sie uns, und rühren uns zu Tränen, und beschäftigen uns, oder die da droben, während ihrer Lebenszeit.

Aber ein Vorgang in einem der folgenden Häuschen riss mich plötzlich aus meinen Träumereien, und belehrte mich, dass ich nicht träume, sondern wache, denn diesmal ging die Sache nicht still und lautlos ab, wie bisher. — Das Häuschen lag knapp vor der Spitze des Berges. Offenbar hatte ich einige Häuschen mit dem Aug' überschlagen, da sie hinter Tannen versteckt waren; denn der Vorgang stand außer Zusammenhang mit dem Vorhergehendem: Da wurde demselben weißen Menschen, dem wir schon früher begegnet, die Kleider vom Leibe gerissen; eine von den weißen Puppen hieb ihm mit einem Prügel auf den Kopf, auf welch' letzterem ein eigentümlicher Kranz befestigt war; derart, dass ihm das weiße Blut über die Wangen lief; ein Anderer ballte ihm mit kniffiger Miene die beiden Fäuste so nah' vor dem Gesicht, dass man glauben konnte, im nächsten Moment erwürge oder erschlage er ihn; eine große Menge weißgepuderter Menschen lachte außerdem aus dem Häuschen heraus, so zahlreich, dass sie Alle in der Lünette nicht Platz hatten; und Einige, wie um ihre höhnische Freude über den Vorgang denen draußen nicht entgehen zu lassen, streckten seitlich, da wo der Stein schon abschneidet, wenigstens noch ihre grinsenden Köpfe heraus. — Also ist hinten ein Theaterraum! sagte ich zu mir selbst, und einzelne der weißen Figuren laufen vielleicht hinter den Häuschen unbemerkt den Berg hinauf, um in einem späteren Bild als Statist wieder mitwirken zu können! — Die schwarzen Marionetten vor dem Häuschen waren außer sich vor Wut und Verzweiflung über die Behandlung, die dem weißen Menschen angedieh; in ganzen Gruppen, zu sechst oder siebent, mit sechs, sieben Händen starr hindeutend, die Augen glotzig, mit käsigen Mienen, verschlangen sie den Vorgang; Einige ältere Frauen hoben Jüngere, ihre Mündel und Nichtchen, hinauf, um das Schreckliche zu betrachten; Andere liefen wie besessen auf und ab, weil sie den richtigen Platz nicht finden konnten. Ich konnte es nicht hören, aber offenbar schluchzten und weinten Viele in entsetzlicher Weise. Trotzdem war der Vorgang oben im Häuschen nicht in Bewegung, nicht sich abspielend, sondern starr und fest, wie gefroren.

Also haben wir es hier mit lebenden Bildern zu tun! rief ich, und die weißen Leute oben in den Häuschen halten ruhig still und spielen ausdrucksvoll, und das Ganze ist ein wirkungsvolles Drama in verschiedenen Aufzügen! — Aber warum gebärden sich dann die Leute draußen wie toll, wenn sie das Theaterstück kennen, und schauen nicht ruhig und gemessen zu? — Ein neuer Vorgang stürzte mich in neue Zweifel: In einem früheren, meiner Beachtung bisher entgangenen Häuschen saß die weiße, junge Frau, von der ich oben sprach; und in ihrem Schoß lag der weiße, junge Mensch, den wir auch schon kennen, anscheinend schlafend; die schwarze Menge war schon voraus den Berg hinan gekrochen; der Platz war also leer; vor diesem Häuschen stürzte sich plötzlich ein Weib mit einem dicken Bauch und karierter Schürze, das sich anscheinend verspätet hatte, hin, und mit schwitzendem Gesicht und flehender Gebärde, wie in einem Ausbruch von Wut und Verzweiflung, schrie sie was in's Häuschen hinauf, was ich aber bei der wechselnden Windrichtung nur teilweise verstehen konnte und etwa klang: »Benedeite!... Blutige!... Mutter!... schaff' mir mein' dicken Bauch ab!... Ich kann jetzt kein Kind brauchen!.... Hast ja meiner Schwäg'rin auch g'holfen!...« und dabei streckte sie die schwieligen, mageren Arbeitshände zu der schönen, weißen, jungen Frau hinauf, die eine Krone auf dem Haupt hatte. Diese aber kümmerte sich nicht im Geringsten um das Weib, sondern lächelte stillvergnügt vor sich hin. — Voll Erschütterung blickte ich auf die Szene. Ein tiefer Gegensatz, sagte ich zu mir, besteht zwischen den Weißen und Schwarzen. Das ist kein Theaterstück mehr! Die Weißen sind die Stärkeren, und das Ganze ist von Seite der letzteren nur eine gnadenvoll gewährte Vorführung um Gelegenheit zum Sich-Aussprechen zu geben. — Inzwischen war der Zug auf der Spitze des Berges angelangt. — Wenn die bisherigen Vorgänge während des Aufstiegs wahrhaftig an Grauenhaftem, Possierlichem und Unauslegbarem gerade genug geboten hatten, so sollte dies Alles mit dem Erklimmen der Bergspitze erst seinen Gipfel erreichen: Da standen drei kolossale weiße Balken, die hoch in die Luft hinein starrten; und an den Balken waren hoch oben drei weiße Menschen festgeknebelt; die Arme am Querbalken schräg hinausgereckt; und am mittleren Balken hing wieder jener weiße, malträtierte, junge Mensch, den wir von früher kennen; die Häuschen waren hier verschwunden; die ganze Szene, die an Schauderosität wie Massen-Umfang für jedes Häuschen zu groß gewesen, war hier, gleichsam dem Häuschen entrissen, mitten auf das Plateau des Berges in die Wirklichkeit und mitten unter die Schwarzen hineingestellt. Diese umstanden glotzend und verwundert die grauenhafte Szene. Alles schien hier Halt zu machen, und durch das allmählige Nachrücken der Späteren im Zuge wuchs die Menge der Schwarzen in's Enorme. Und droben hingen die drei weißen Menschen. Alles Beiwerk war verschwunden. Die grinsenden weißen Gesichter und unflätigen Soldatenköpfe der früheren Häuschen waren zurückgeblieben. Der Kontrast dieser drei aufgehängten weißen Menschen und der riesigen Übermacht der Schwarzen war von ungeheurer Wirkung. Schließlich, dachte ich mir, ist das Ganze doch furchtbarer Ernst; ein kolossales Stück wird dort oben tragiert; keine abgekartete Sache, sondern eine entsetzliche, blutige Handlung, deren Ausgang man noch nicht kennt. — Ich durchforschte die Ansammlung der Schwarzen und bemerkte, wie Alles sich um drei langgeröckte, dickbäuchige, bebrillte Menschen konzentrierte, die noch gestickte Schärpen und goldflimmernde Mantillen über ihren Röcken trugen, und eben große Folianten aufschlugen, in denen sie beim Schein der Kerzen eifrig lasen und dazwischen immer hinauf zu den drei weißen Menschen an den Balken glotzten. — Kein Zweifel, wir waren hier an einen der Haupt-Momente der ganzen Tragödie gekommen. Aber, was war die Bedeutung? — Waren die drei Dickbäuche die Repräsentanten der Schwarzen? Und die drei weißen ausgemergelten Menschen an den Balken die Vertreter der Weißen? Handelte es sich um einen Kampf der Fetten mit den Mageren? Wo war aber der Rest der Weißen? Offenbar fehlten zwischen dieser Szene auf der Spitze des Berges und dem letzten Häuschen mehrere Mittelglieder. Aber die Tannen versperrten dort jede Aussicht. — Hatte inzwischen ein Kampf stattgefunden; und die Schwarzen hatten einige von den Weißen gepackt und erdrosselt und hier als Siegeszeichen aufgehängt, während die Übrigen in die Wälder zerstoben? — Aber das Verhalten der drei Weißen unter sich gab mir neue Bedenken. Während nämlich der mittlere, arme, traurige Mensch ruhig und resigniert, mit gesenktem Kopf am Balken hing, streckte der auf seiner linken Seite zu meiner größten Verwunderung die Zunge heraus, die weiß und gipsern war wie der ganze Mensch, reckte dem in der Mitte in höchst despektierlicher Weise das Gesäß hin und schien überhaupt der ganzen tragischen Szene nicht die geringste Beachtung zu schenken, indem er mit der größten Gleichgültigkeit über den Wald hinblickte, in einer Richtung, in der, wie ich später gewahr wurde, ein Wirtshaus lag. — Den dritten weißen Mann konnte ich nicht sehen, weil die Kerzenträger sich so hinter einen der dickbäuchigen Sachwalter der Schwarzen gestellt hatten, dass dieser einen mächtigen Schattenkegel auf den dritten Balken warf, wobei der weiße Mensch daran und noch ein großer Teil des dahinterliegenden Waldes verfinstert wurde. — »Bitt' für uns! Bitt' für uns!« brachte jetzt wieder der Wind zu mir herüber. — Ja, »bitt' für uns!« dachte ich mir, — »bitt'« für wen? Wer soll denn für Euch bitten? Was fehlt Euch denn? Seid Ihr krank? Jetzt habt Ihr die Weißen erst aufgehängt, jetzt sollen sie für Euch bitten! Könnt Ihr ohne die Weißen nicht existieren? Seid Ihr ein Doppel-Geschlecht, wobei Weiße und Schwarze die äußersten Qualitäten ein und desselben Ichs bezeichnen, die sich bekriegen und doch immer wieder vereinigen müssen? Oder, was soll denn die ganze Komödie da droben? — Der eine der Dickbäuche fing jetzt in schnarrendem Ton aus dem Folianten zu lesen an. Ich war zu weit entfernt um es zu verstehen; aber es war eine fremde Sprache. Die Schwarzen hatten sich jetzt allmählig insgesamt vor den drei weißen Menschen an den drei Balken versammelt; und da die ganze weinerliche Szene mit den drei weißen Figuren immer jenseits der Schwarzen von meinem Standpunkt aus sich abspielte, die Schwarzen also zwischen mir und den drei Balken sich befanden, so sah ich in dem Fall nichts wie schwarze Buckel. — Alles blickte wie fasziniert auf das weiße Antlitz des armen Menschen am mittleren Balken, auf das der Hauptstrom der Kerzenlichter fiel. Oft atemlose Stille, als wartete man auf eine Antwort, — vielleicht von einem der weißen Menschen oben. Von Zeit zu Zeit streckte sich eine Hand blitzartig aus der Masse gegen den mittleren Balken zu aus. Alle Köpfe folgten dann der angedeuteten Richtung. Der bebrillte glatzige Kopf des Dick-Bauchs hörte dann auf einen Moment mit dem Lesen auf und glotzte ebenfalls hinauf. Ich strengte meine Sehkraft an, so gut ich konnte, ob vielleicht von oben, von dem weißen Menschen am mittleren Balken, etwas erfolge, ein freundliches Lächeln, oder ein spöttisches Zucken, eine vielsagende Nick-Bewegung wie von dem Komtur im Friedhof im »Don Juan«, oder ein trauriges Kopfschütteln. Aber nichts! — Und der Folianten-Träger las weiter. Und die Menge wimmerte leis mit. — Wie zufällig und ermüdet von der trostlosen Szene schweifte mein Blick noch einmal den Berg hinab, den die Menge heraufgekommen war. Die weißen Puppen waren tief in ihren Häuschen versteckt, und da die Kerzen-Beleuchtung fehlte, so konnte man über ihr ferneres Thun und Treiben wenig erkennen; nur hie und da blitzte eine weiße Hand heraus; oder ein gestikulierender Kopf wurde sichtbar. Der ganze Weg war jetzt vollständig leer; aber plötzlich hielt ich inne: ein kleines, blondes Mädchen, das ich anfangs hinter den Tannen versteckt nicht bemerkt hatte, sprang lustig und leichtfüßig den Berg herauf. Offenbar stand es mit der ihm voranziehenden Menge außerhalb jedes Zusammenhangs, und verstand von dem sich abspielenden Vorgang und seinen Leidenschaften und Exzentrizitäten so wenig wie ich; vielmehr schien es die weißen Figuren, die ihm nicht entgingen, wie wirkliche Puppen zu behandeln, und sich in seiner mädchenhaften Weise mit ihnen zu beschäftigen. Die Kleine mochte vielleicht vierzehn Jahre zählen und hatte große blonde Zöpfe. Vor dem Häuschen, wo das Weib mit der karierten Schürze so jämmerlich geschrieen hatte, kniete sie hin und breitete ihre Arme aus; dann zog sie ein rotes Herzchen aus der Tasche und schenkte es der schönen, weißen, jungen Frau im Häuschen, die eine Krone auf dem Haupte hatte; machte allerlei Knickse und Verbeugungen, band ihre Zöpfe mit den Fingern der weißen Frau zusammen, und brach dann in ein lautes Gelächter aus. Endlich sprang sie weiter, den Berg hinauf, unter allerlei sonderbaren Gesten, wie es ganz junge Mädchen machen, die sich unbeachtet wissen; gab den Tannenzweigen die Hand, sprach zum Mond hinauf, und machte vor den Rosenhecken Komplimente.

Aber ein furchtbares Gekreisch brachte meine Aufmerksamkeit zum Gipfel des Berges zurück. Dicht unterhalb der drei Balken, in einem ähnlichen Häuschen, wie die oben beschriebenen, aber geräumiger, und von ebener Erde aus zugänglich, lag der weiße Mensch längshingestreckt, wie tot, im Bett; der Mund offen, die gipserne Zunge nachlässig heraushängend, ganz nackt, nur um die Hüfte ein weiß und blau kariertes Tuch. Die Schwarzen, die sich inzwischen von der Drei-Balken-Szene zurückgezogen, und besonders die Weiber unter ihnen, drängten in dicken Knäueln in dieses Häuschen; einzelne mit Kerzen, schauten mit wehmütigen Gebärden auf den weißen Mann, von dem ich nicht sicher werden konnte, ob er sich verstelle, oder ob er tot war; auch konnte ich nicht konstatieren, ob der weiße Mensch oben noch am Balken hing, da alle Kerzen sich hier zu der Bettszene zurückgezogen hatten; ob es sich etwa bezüglich des weißen Menschen um ein Unterschiebsel handle, oder ob die Weißen über mehrere Schauspieler in dieser Rolle verfügten. Jedenfalls machte der weiße Mann im Bett nicht die geringste Bewegung, als die Vordersten unter den Schwarzen ihn mit Küssen bedeckten, Speichel auf seine Hände und Füße schmierten und ihn dabei ganz mit Wachs volltropften. Und eine unter ihnen, ein mageres, hässliches Weib, nur mit einem einzigen dünnen Rock bekleidet, warf sich in ihrer ganzen Länge auf ihn, ohne dass er zerbrach, woraus ich soviel schloss, dass er jedenfalls nicht von Gips war; sie umklammerte ihn heftig, rieb ihr runzliches, beulenbedecktes Gesicht gegen seine Wangen, und rief in einem fort eine kreischende Phrase, die ich aber nicht verstehen konnte, weil der Wind konträr ging; um so sicherer war jedoch der Effekt auf die Umstehenden, die nach kurzem Erstaunen wie wütend auf die Obenliegende sich stürzten, wie mir schien, nicht aus Entrüstung, sondern aus Neid, wegen des gelungenen Coups, der der Mageren, Dünnbekleideten gelungen war; denn stets da, wo es gelang sie wegzureißen, drängten sich andere Gesichter, Backen und schwitzende Hälse hin, um den weißen Mann zu berühren; und, merkwürdig, als man nun endlich die Spindeldürre weggezerrt hatte, warfen sich Andere, Schwerfälligere und Dickere, die keine Aussicht hatten, bis zum weißen Mann vorzudringen, wiederum auf sie, um selbe an jenen Stellen, wo sie mit dem weißen Dortliegenden in so unflätige Berührung gekommen war, abzuküssen und abzulecken; als handelte es sich um ein Gift, um einen Impfstoff, der von dem kalkigen Menschen ausging, und von Lippe zu Lippe übertragbar war. Gegen dieses Verfahren wehrte sich aber die so gewaltsam Entfernte mit Händen und Füßen; eine schreckliche Balgerei entstand in dem engen Häuschen, die Alte drängte heraus, andere drängten hinein, um zu dem weißen Mann zu gelangen; wie es bei solchen Gelegenheiten geht, Einzelne, mit eingepferchten Armen, wurden mit dem ganzen Körper emporgehoben und stiegen mit kirschrotem Gesicht, wie rote Bengallichter, aus der schwarzen, wühlenden Masse langsam aber sicher in die Höhe; Andere, die den einen Arm mit dem rettenden Wachslicht frei bekommen und in die Höhe hielten, träufelten nun im Gewühl das Wachs auf die verzweifelt nach oben blickenden Kirschgesichter, auf die Halskrausen und die daraus hervorquellenden Kröpfe. Leider konnte ich nur das Bild als solches, die Formen und Bewegungen sehen; von den Lauten des Schmatzens, Küssens, Leckens, Abglitschens, Fluchens, — von dem eigentlichen Inhalt der Szene, was sie mit dem weißen, nackten Mann sprachen, was sie von ihm wollten, — entging mir Alles. Endlich erbrach sich förmlich das mit den schwarzen Menschen gefüllte Häuschen; eine Öffnung entstand, wie ein Krater, und heraus flog das dürre Weib und auf den platten steinernen Boden hin; ihr dünner Rock war teils zerrissen im Kampf, teils hinaufgeschlagen; man sah, dass sie keine Hosen anhatte, und die mageren, schlottrigen Beine steckten in schmutzigblauen Strümpfen, die mit kittgelben Bändeln befestigt waren. So lag sie am Boden, wo sich kein Mensch mehr um sie kümmerte.

Ich war noch damit beschäftigt mir die Bedeutung dieser merkwürdigen Szene zurechtzulegen, insonderheit mich zu fragen, welches die Rolle sei, die dieser weiße Mann den ganzen Berg herauf gespielt hatte: erst lässt er sich in's Gesicht spucken, dann liegt er stillvergnügt im Schoße einer jungen Frau, darauf hängt er sich an einen Balken und hält Zwiegespräche mit den Schwarzen ab, ob er herabsteigen soll, um sich endlich in's Bett zu legen und von den alten Weibern umarmen zu lassen: ist er krank, oder ein Simulant, oder ein Schauspieler? — als eine plötzliche Bewegung, die auf der Spitze des Berges begann, mich an dem weiteren Verfolgen meiner Betrachtungen hinderte: Die ganze enorme Menge der Schwarzen, sowohl Die, welche, wie ich jetzt erst sah, den Gipfel des Berges, wo die drei Balken standen, gar nicht verlassen hatten, als auch Jene, welche, vorzugsweise Weiber, etwas unterhalb in dem offenen Schlafzimmer des weißen Mannes die Balg-Szene aufgeführt hatten, stürzten sich, wie auf ein gemeinsam verabredetes Zeichen, wie auf einen Signal-Pfiff, der aber nicht erscholl, in wilder Flucht, laufen was laufen konnte, die andere Seite des Berges hinab, die glücklicherweise weniger steil verlief als der Aufstieg, da sonst der Sturz Einzelner und Drüberfallen der Nachfolgenden unausbleiblich gewesen wäre. — Alles lief in wilder Hast durcheinander; Kerzen und kleine Büchelchen in Goldschnitt wurden weggeworfen; Weiber hoben die Röcke empor, um besser laufen zu können; und vornen dran, nicht am wenigsten geschickt im Vorwärtskommen, galoppierten die drei Dickbäuche mit ihren gestickten Mantillen. — Ich glaubte schon, die Schwarzen hätten eine endgültige Niederlage erlitten, und die Weißen, in Verfolgung ihres Sieges durch Nachsetzen des Feindes, kämen aus den Häuschen gesprungen, und eilten mit Spießen und Stangen, und unter Anführung des armen, weißen Menschen in wilder Hast hinterdrein. Aber Alles blieb ruhig und still; und in Verfolgung der Richtung, die die Schwarzen eingeschlagen hatten, entdeckte ich auf halbem Abhang des Berges ein — Wirtshaus. Dieses Wort, dieser sättigende Begriff, brach auf einmal, wie einfallendes Tageslicht, ernüchternd in die phantastischen Ereignisse dieser Nacht. Ich begann an der Sonderexistenz der weißen und schwarzen Rasse zu zweifeln. Ein Gejohle drang aus den erleuchteten Fenstern der Schenke, welche die Schwarzen im Sturm eingenommen hatten, als berieten sie drinnen über die erlittene Niederlage, und eine etwaige Neuaufnahme des Feldzugs. Bald belehrte mich das Erklingen von Fideln und dumpfes Aufstampfen auf den Boden, dass getanzt wurde. Das Wirtshaus lag, bei dem eigentümlichen Winkel, den der Grat des Berges beschrieb, näher am Dorf und bei mir, als der bewaldete Berg-Rücken, auf dem sich alle bisherigen Szenen abgespielt hatten; auf diese Weise konnte ich Menschen und Stimmen leichter beobachten und vernehmen, als im Verlauf der Nacht, wo nur ein günstiger Windstoß mir die oder jene Phrase zugebracht hatte. Ein Fenster von der Schenke flog jetzt auf; dieser geringfügige Umstand begünstigte mich in der Möglichkeit der Orientierung wesentlich; aus einem wie aus nächster Nähe zu mir herüberdringenden Durcheinander von Gläserklirren, Lachen, Schreien, Tanzweisen von einer miserablen Trompete angeführt, Stampfen und Fluchen war zunächst nichts Bestimmtes zu unterscheiden; das plötzliche Aufschreien einiger weiblicher Kehlen belehrte mich mehr, als ich durch den dem Fenster entströmenden Dampf beobachten konnte, dass mit den Weibsleuten Unfug getrieben wurde; endlich aber ließ sich eine tiefe, versoffene Mannsstimme durch Tumult mit der Aufforderung vernehmen: »Lasst uns Kegel schieben!« — Eine ruhigere Stimme, vermutlich die des Wirts, schien zu antworten, es seien keine Kugeln da, oder ähnliches. — »Haut den Luthrischen die Köpf' ab!« ließ sich wieder die erste Stimme vernehmen. Diese Aufforderung schien wie ein elektrischer Funke die Masse der Schwarzen zu berühren. »Haut den Luthrischen die Köpf' ab!« antwortete ein Echo von Dutzenden von Stimmen. Alles sprang von den Sitzen auf und drängte nach dem Ausgang. Wie eine plötzliche Aufrüttelung, der Einen aus einem tiefen Traume aufweckt, brachte mich dieser Kampfesruf in die nüchternste Wirklichkeit zurück. — Voll Angst flog mein Auge noch einmal über den Kamm des Berges zurück. Er war ganz leer; hinten machte sich in einem hellen Saum die anbrechende Morgendämmerung geltend; die Tannen waren nun lichter und man übersah Alles besser; die Häuschen standen nackt und verlassen da, und in ihnen die weißen Figuren starr und regungslos in ihren verzwickten Stellungen, wie weggeworfene Puppen aus gefrornem Gips; pfeilgerade starrten die drei Balken auf der Höhe in die Luft, und an ihnen die drei vertrackten weißen Gestalten; die zwei äußeren mit verkrümmten Gliedmaßen, als suchten sie sich loszureißen; aber zu meiner größten Verwunderung entdeckte ich, wie an dem mittleren Balken, an dem der arme weiße Mensch mit langgestrecktem Körper hing, das blonde Mädchen, welches inzwischen die Spitze des Berges erreicht hatte, emporgeklettert war; sie hatte bereits den Querbalken erreicht; ihre lichten Zöpfe flatterten hoch im Morgenwinde empor, und während sie sich fest an den Stamm anklammerte, küsste sie den weißen Menschen, dem sie schmeichelnd den Hals umfasste, auf den Mund. Voll Entsetzen wandte ich mich ab. — Unten stürmte der schwarze Haufe den letzten Bergesabhang, der von der Schenke direkt ins Dorf führte, herunter. »Haut den Luthrischen die Köpf' ab!« schrie es wild durcheinander. Ich erkannte sie jetzt. Es waren Menschen wie ich auch. Aber alle frühere Ordnung und ihr zielbewusstes Vorgehen von oben schien verloren. Kreuze und Fahnen schwankten hin und her, wie von Betrunkenen getragen. Kleine Knaben, die Weihrauchkessel über den Buckel geworfen, galoppierten voraus. Hinten keuchten schwerfällig die in Gold und Seide gekleideten dicken Anführer, mit gerötetem Gesicht, dem Einen die Brille aus dem Ohr gerissen. Mit zerknittertem Busentuch kamen die Weiber schimpfend und lärmend hinterdrein. »Haut den Luthrischen die Köpf' runter!« erscholl es immer näher und deutlicher. Es war, als hätten sie oben gegen die Weißen verloren und suchten jetzt nach einem Objekt ihrer Rache. Halb mit Entsetzen, halb voll Mitleid blickte ich auf den Zug. Ich war Lutheraner; aber nicht die Sorge um meinen Kopf beschäftigte mich. Ein Gefühl, halb Schauer von all' dem Gesehnen, halb Erschütterung durch den plötzlichen Wechsel aus der nächtlichen Vision in die morgenkalte Wirklichkeit, packte mich wie ein Schwindel. Ich wollte mein Gesicht mit den Händen bedecken, um nichts mehr sehen zu müssen, konnte mich aber nicht aufrecht halten, und schluchzend fiel ich in die Kissen des Bettes zurück.


Erläuterung: Die ganze Szene spielt sich auf einem Stationsberg ab, d.h. einem Berg, auf dessen Aufwärtsweg die Stationen des Kreuzwegs aufgestellt sind.

"Der Kreuzweg im Katholizismus ist das fromm betrachtende Nachschreiten des Leidensweges Christi vom Haus des Pilatus bis zum Hl. Grab. Alle biblisch und durch die (speziell franziskanische) Tradition überlieferten Gedenkstätten dieses Weges erscheinen erst einzeln in der Verehrung in Jerusalem, früh durch eingemauerte Steine bezeichnet. Ein zusammenhängender Passionsweg mit Andacht ist im Abendland vor dem 15. Jh. nicht nachweisbar. Die Stationen (statio = Rast der Pilger) sind erst im 18. Jh. in der heutigen Reihenfolge und Zahl (14) festgelegt. Zur Geschichte der Kreuzwegandacht vgl. LThK VI, 261 ff. Die Franziskaner, seit dem 14. Jh. ohne den militärischen Schutz der Kreuzritter Hüter des Hl. Grabes ( Kustodie), haben noch heute das Privileg der Errichtung von Kreuzwegen in der ganzen kath. Kirche, auch im Freien, oft an Berghängen hinauf zum Kalvarienberg. Über die Bedingungen der Errichtung (Vollmacht der Franziskaner und des Bischofs der Diözese; Form: 14 Holzkreuze, Weihe, Ablässe) vgl. Anler.

Der Kreuzweg ist die einzige Andacht, die mehrmals am Tag mit gültigen Ablässen verrichtet werden kann, unter der Bedingung, die »Meditatio Passionis« (je nach Vermögen der Beter kürzer oder länger) mit der körperlichen Bewegung von einer Station zur anderen zu verbinden. Bei öffentlicher Kreuzwegandacht genügt das Vorbeten und Schreiten des Priesters mit 2 Ministranten. - Bildliche Darstellung der 14 Stationen in Malerei und Plastik ist nicht nötig, aber von altersher üblich, im Abendland zuerst vielleicht als Bildstöcke an den Wegen zu Kalvarienbergen (vgl. Kramer) und Friedhöfen (z. B. A. Kraffts 7 Stationen vom Anfang des 16. Jh.s in Nürnberg, die mit einer Heiliggrabkapelle auf dem Johannisfriedhof enden). Alle 14 Stationen hat J. P. Wagner Ende des 18. Jh.s auf dem Wege zum Würzburger »Käppele« dargestellt. Über bildliche Darstellungen des Kreuzweges bis in die Neuzeit vgl. LThK VI, 263 ff.

Heute ist die Beziehung des Andachtswesens zur Liturgie des Gottesdienstes (: V B, 1 f.) durch die Instructio vom 3.9.1958 geregelt (AAS 50, 1958, 631 ff.): Andachten, die nicht in den von Rom approbierten liturgischen Büchern stehen, sind »fromme Übungen«, gehören aber, wenn sie im öffentlichen Gottesdienst geschehen, der »liturgischen Ordnung« im weiteren Sinne an. Pius XII. wies ihnen in der Enzyklika Mediator Dei besondere Bedeutung zu, wohl um die Volksfrömmigkeit gegenüber der liturgischen Reformbewegung nicht zu benachteiligen. Dennoch scheint die Kreuzwegandacht nicht mehr so beliebt, vermutlich, weil sie den Auferstehungsgedanken nicht mit einschließt."

[Quelle: Liselotte Wiesinger (1917 - ). -- In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG3). -- Bd. 4. -- 1960. -- Sp. 54]

Ein Kreuzweg hat vierzehn Stationen. Auf einige davon wird in Panizzas Text   — absichtlich nicht in der rechten Reihenfolge — angespielt. Die 14 Stationen sind:

  1. Station: Jesus vor Pilatus

  2. Station: Jesus ergreift die Kreuzeslast

  3. Station: Jesus fällt zum ersten Mal mit dem Kreuz zu Boden

  4. Station: Jesus begegnet seiner Mutter

  5. Station: Simon, der Bauer, hilft Jesus das Kreuz zu tragen

  6. Station: Veronika reicht Jesus das Schweißtuch

  7. Station: Jesus fällt zum zweiten Mal unter der Kreuzeslast

  8. Station: Jesus vermahnt die klagende Frau am Weg

  9. Station: Jesus fällt zum dritten Mal

  10. Station: Sie reißen Jesus das Kleid vom Leibe

  11. Station: Jesus wird ans Kreuz genagelt

  12. Station: Der Jesus stirbt am Kreuz

  13. Station: Die Mutter Jesu nimmt den toten Sohn zu sich (Pieta)

  14. Station: Der Leichnam Jesu wird ins Grab gelegt

Abbildungen zweier vollständiger Kreuzwege:

Payer, Alois <1878 - 1969>: Kreuzweg in der Liebfrauenkirche Zürich : Abbildungen der 1924 geschaffenen bildhauerischen Darstellung der 14 Stationen. -- Fassung vom 5. Mai 1999.  -- URL: http://www.payer.de/bildhauerpayer/liebfrauen.htm

Payer, Alois <1878 - 1969>: Der Einsiedler Kreuzweg : Abbildungen der 1930 bis 1939 geschaffenen steinbildhauerischen Darstellung der 14 Stationen. -- Fassung vom 1. Mai 1999.  -- URL: http://www.payer.de/bildhauerpayer/einskreuz.htm

Beringer, Franz: Die Ablässe, ihr Wesen und Gebrauch. -- 14., vom hl. Offizium gutgeheißene Aufl., nach den neustesn Entscheidungen und Bewilligungen / bearbeitet von Josef Hilgers. -- Paderborn : Schöningh. -- 1. Bd. -- 1915. -- S. 358 - 383 nennt alle Bedingungen, die erfüllt sein müssen, dass eine Kreuzwegandacht die damit verbundenen Ablässe erbringt. Die wichtigste Bedingung sind 14 Holzkreuzchen, wenn sie nicht aus Holz sind, ist die Kreuzwegandacht ungültig, "so dass z.B. Kreuze von Eisen, in deren hohlen Rückseite hölzerne Kreuze angebracht sind, die aber von den Besuchern der Kreuzweges nicht geshen werden, keineswegs genügen. — Die hölzernen Kreuze können vergoldet, versilbert oder sonst mit Metall auf andere Weise verzieret werden, wenn nur diese Einfassungen oder Verzierungen nicht so übermäßig sind, dass die Kreuze eher von Metall oder anderem Stoff als aus Holz gefertigt erscheinen. (Ausnahmsweise erlaubte z.B. der Papst dem Bischof von Valence am 18. Sept. 1880, dass er bei einem in Romans schon seit dem Jahre 1515 bestehenden und von Leo X. mit Ablässen begnadigten Kreuzwege die  ursprünglichen Kreuze von Eisen und Stein unbeschadet der Ablässe beibehalten könne. Act. S. Sed. XIII, 319 sqq.)" [a.a.O., S. 368]


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