Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen

1. Teil I: Heranführende Überlegungen


von Sabine Gudrun Klein-Schwind

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Klein-Schwind, Sabine Gudrun: Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen. -- 1. Teil I: Heranführende Überlegungen. -- Fassung vom 2006-10-11. -- URL: http://www.payer.de/schwind/schwind1.htm.

Erstmals publiziert: 2006-10-11

Überarbeitungen:

Anlass: Magisterarbeit im Fach Indologie an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Mai 2000

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Gesicht, mein Gesicht
wessen bist Du, für was für Dinge
bist Du Gesicht? Wie kannst Du Gesicht sein für so ein Innen
darin sich immerfort das Beginnen
mit dem Zerfließen zu etwas ballt

R.M. Rilke


Teil I: Heranführende Überlegungen


Dukkham eva hi na koci dukkhito
kārako na kiriyā va vijjati,
atthi nibbuti, na nibbuto pumā,
maggam atthi, gamako na vijjatī ti.1

"Das Leiden gibt es wohl, doch da ist niemand, der es erfährt.
Die Tat, die existiert, doch da ist niemand, der sie tut.
Wenngleich Befreiung existiert, so doch kein befreiter Mensch,
Wenngleich der Weg auch existiert, findet sich niemand, der ihn geht."1

1 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 16 S. 513;1-4.

Die buddhistische Konzeption von Individualität ist aufs engste verknüpft mit der Lehre von anattā2 bzw. anātman3. Die buddhistische Psychologie beruft sich auf die Einsichten, die Gotama bei seinem Erwachen, der Mahābodhi, zuteil geworden sind: Der Buddha nimmt für sich in Anspruch, objektive Gesetzmäßigkeiten erkannt zu haben, und leitet davon seine absolute Heilsgewissheit ab. Eine dieser objektiven Gesetzmäßigkeiten konstituiert sich im paṭicca-samuppāda, der Entstehung in Abhängigkeit. Der paṭicca-samuppāda ist sozusagen die positive Formulierung von anattā: während anattā ausdrückt, was das Individuum nicht ist, formuliert der paṭicca-samuppāda, wie Individualität funktioniert.
2 Vgl. Encyclopedia of Buddhism I, S. 567: "Etymologically, anattā consists of the negative prefix an plus attā (cp. Vedic Sanskrit ātman). There are two Pali forms of the word, namely, attā (instr. attanā) and atta (instr. attena). Neither form seems to be used in the plural in the Tipiṭaka."

3 Vgl. Encyclopedia of Buddhism I, S. 567: G.P. Malalasekera weist darauf hin, dass der Terminus anātman im buddhistischen Sanskrit eher ungebräuchlich ist: das von nirātman derivierte nairātmya wird in entsprechenden Kontexten bevorzugt verwendet.

Der Buddha hat sich jedoch nicht mit dieser positiven Formulierung begnügt; in der Regel wird mit der spezifisch buddhistischen Konzeption von Individualität in erster Linie anattā als der geläufigere Begriff assoziiert. Die terminologische Relevanz von anattā leitet sich zunächst ab vom kulturhistorischen Kontext, innerhalb dessen der Buddha die "neue" Persönlichkeitskonzeption darzustellen versuchte: Das religiöse und philosophische Umfeld des Buddha und der frühen buddhistischen Schulen definierte sich wesentlich über das attā- bzw. ātman-Konzept. Der ātman- Terminus findet sich bereits in den vedischen Hymnen, wobei Derivation und Semantik in diesen Kontexten nicht ohne weiteres vereindeutigt werden können: In der Regel wird es als Atem im Sinne von Lebenshauch aufgefasst, also als Vorform einer Seelenvorstellung; teilweise wird ātman hier synonym mit manas gebraucht. Der vedische prajāpati, verstanden als das Prinzip des Göttlichen schlechthin, auf das sich alle individuellen Götter zurückführen lassen, findet in der Philosophie der Upaniṣads seine Entsprechung in der brahman-Vorstellung. So verdichtet sich die spezifische Leistung der upaniṣadischen Literatur in der Kristallisierung des ātman-Begriffes als individuellem Korrelat zum unpersönlichen Absoluten, brahman. Die verschiedenen philosophischen Systeme profilierten sich entsprechend über die paradigmatische Ausdifferenzierung dieses "Einheitsmotivs" (Halbfass). Mit der Lehre von anattā wies der Buddha zum einen das upaniṣadische Postulat von einem Selbst oder einem spirituellen Substrat als ewige, unwandelbare höchste Realität zurück, den sogenannten sassata-vāda. Er verweigerte sich ebenso dem nihilistischen Reduktionismus des uccheda-vāda, der Individualität ausschließlich auf vergängliche Materie zurückführt. Die kulturhistorischen und philosophischen Konnotationen des anattā-Konzeptes sind in der indologischen bzw. buddhologischen Forschung bereits eingehend untersucht worden.4 Zusammenfassend sei lediglich gesagt, dass die im anattā-Begriff implizierte Zurückweisung auf die Vorstellung der Upaniṣads referiert.5 Im Vordergrund meiner Betrachtungen steht jedoch die psychologische (oder, um mit Jean Piaget zu sprechen, die genetisch-epistemologische) Dimension dieser "Kernlehre des ganzen Buddhismus " (Nyanatiloka).

4 Eine umfangreiche Auflistung relevanter Sekundärliteratur findet sich im Anhang zu L. Schmitthausens Artikel über Ātman in: Historisches Wörterbuch der Philosophie / Unter Mitwirkung von mehr als 700 Fachgelehrten hrsg. v. Joachim Ritter. - Basel: Schwabe & Co.; 1971. - Bd. 1: A-C S. 604f.

5Eine recht eigenwillige Interpretation der Lehre von anattā vertritt Kamaleswar Bhattacharya, der die buddhistische anattā-Lehre nicht als Leugnung, sondern als Bestätigung der upaniṣadischen ātman-Vorstellung ansieht. Vgl. Bhattacharya, Kamaleswar: L'Ātman-Brahman dans le Bouddhisme Ancien. Paris: École Francaise d'Extrême-Orient xc). Eine vergleichbare Sichtweise vertritt J. Pérez-Remón in Self and Non-Self in Early Buddhism, 1980. - Pérez-Remón, der in der Tradition von Caroline Rhys-Davids steht, parallelisiert hier die anattā-Doktrin mit Aussagen aus der Yoga- und Sāṃkhya-Tradition: Vgl. S. 155: "That the teaching of the doctrine of anattā can coexist with a firm profession of the reality of attā, or its equivalent, is proved, for instance, by explicit statements found in the Sāṅkhyakārikā." Auch in den Yoga-Sūtras (II,5) findet er Hinweise auf "pure and unadulterated Nikayan Buddhism", ebd. S. 156.

Die dieser Untersuchung zugrundeliegende Arbeitshypothese ist die Überlegung, dass das attā/ātman-Konzept symptomatisch ist für die Funktionsweise der kognitiven Strukturen, die die Integrationsprozesse des Individuums mit seiner Umwelt organisieren. Vor diesem Hintergrund wäre die ātman-Vorstellung der Upaniṣads ebenso wie die Seelen- und Selbstvorstellungen okzidentaler Prägung lediglich kulturhistorischer Ausdruck dieser spezifischen Funktionsweise des Geistes. Die Psychologie des frühen Buddhismus trägt dem außerordentlich differenziert Rechnung, dass die attā -Konzeptualisierung Produkt inhärenter bzw. zutiefst verinnerlichter Tendenzen des Bewusstseins ist, das weit über philosophische und religiöse Vorstellungen hinaus, gewissermaßen auf allen Ebenen der Interaktion, virulent wird. Der attā-Begriff, wie ich ihn in dieser Untersuchung gebrauche, referiert also auf einen kognitiven Mechanismus und nicht auf den spezifisch konnotierten ātman-Begriff der indischen Philosophie.

Wie auch Nyanatiloka betont, ist die Lehre von anattā die "einzig wirklich spezifisch buddhistische Lehre".6 Vielleicht sollte man ergänzen, dass auch die übrigen zentralen Lehrinhalte nur vor dem Hintergrund von anattā ihre spezifisch buddhistische Valenz entfalten. Die Vier Edlen Wahrheiten beispielsweise ließen sich -- zumindest vordergründig -- auch im Sinne eines attā-vāda interpretieren. Auch einige Exponenten des westlichen Neobuddhismus wie Georg Grimm7  und namhafte Buddhologen, so zum Beispiel Erich Frauwallner8 oder Caroline Rhys-Davids in späteren Forschungsjahren, versuchten durch philologische Raffinessen die Pāli-Texte doch im Sinne eines attā zu interpretieren. Eine vielzitierte Textstelle in diesem Zusammenhang ist Dhammapāda, Vers 160:

attā hi attano nātho ko hi nātho paro siyā?
attanā hi sudantena nāthaṃ labhati dullabham
"Wenn man nicht Herr seiner selbst ist, wer sonst sollte es sein?
Indem man sich selbst gut im Griff hat, hat man einen Herrn von seltener Güte."

Der Versanfang wird häufig mit "das Selbst ist der Herr des Selbst" übersetzt9, wobei die grammatikalische Tatsache verkannt wird, dass attā hier schlicht als Reflexivpronomen gebraucht wird.

6 Nyanatiloka: Buddhistisches Wörterbuch, 1989. - S.25.

7 Vgl. Grimm's großen Syllogismus:

zitiert in Payer, Neobuddhismus, 1996, Kap. 15: Buddhismus in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen. 15.4 Georg Grimm und die Altbuddhistische Gemeinde

8 Vgl. Frauwallner, 1994, S. 63: Sehr anschaulich ist in diesem Zusammenhang Frauwallners Aussage über die Lehre der Sarvāstivādin: "Der eigenartigste und folgenschwerste Gedanke im System der Sarvāstivādin ist die Leugnung einer Seele, eines Ich. Den Anstoß dazu hat letzten Endes der Buddha selbst gegeben. Gerade die Lehre von der Seele war ein Punkt, über den er beharrlich schwieg. Außerdem bildete es einen Hauptgegenstand seiner Predigt zu zeigen, dass die irdische Persönlichkeit nicht das Ich ist. Er wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass keine der fünf Gruppen (skandhāḥ), aus denen sich die irdische Persönlichkeit zusammensetzt, für das Ich gehalten werden darf. Ihm selbst lag es zwar fern, damit das Vorhandensein einer Seele überhaupt zu leugnen. Als man aber nach seinem Tode nicht mehr dem Meister selbst, sondern nur den von ihm überlieferten Worten gegenüberstand, begann die einseitige negative Formulierung seiner Aussagen sich auszuwirken, und man kam schließlich dazu, eine Leugnung der Seele aus ihnen herauszulesen."

9 Vgl. u.a. Radhakrishnan, 1997, S. 112: "The self is the lord of self".

In meiner Arbeit gehe ich also davon aus, dass die Tragweite eines Konzeptes wie anattā über die Leugnung eines beständigen Persönlichkeitskerns oder einer ewigen Seele hinausgeht. Wenn der Buddha die Persönlichkeit als anattā beschreibt, so heißt das nicht, dass er damit das Phänomen Individualität als solches leugnet; anattā steht lediglich für ein Persönlichkeitsmodell, das ohne die Rekurrenz auf attā auskommt -- einer wie auch immer gearteten beständigen, unbedingten, autonomen Instanz innerhalb oder außerhalb der Person. Anattā ist im Pāli-Buddhismus neben dukkha und anicca eines der drei Merkmale aller bedingt entstandenen Wirklichkeit: dukkha steht hier für Leiden und die zwangsläufige Frustration, die mit der Existenz einhergeht, anicca für die Unbeständigkeit der Phänomene. Darüberhinaus ist auch die nicht-bedingt entstandene Wirklichkeit, nibbāna, anattā. Die Leugnung einer beständigen Seele, eines Dauer besitzenden, Kontinuität gewährleistenden Persönlichkeitskerns ist in der Qualifikation anicca bereits enthalten. Die Lehre von anatta wird in der Forschung vorrangig als Leugnung eines intrapersonalen Persönlichkeitskerns diskutiert, wobei dem extrapersonalen Aspekt, den anattā unbedingt impliziert, weitaus weniger Beachtung geschenkt wird. Deshalb werde ich in der folgenden Untersuchung v.a. auch letzteren Aspekt genauer beleuchten, die Zurückweisung einer Instanz außerhalb, die als Träger des Persönlichkeitsgeschehens in Anspruch genommen werden könnte. In diesem Zusammenhang möchte ich auch die Klassifikation des Buddhismus als atheistische Religion sowie die "erlösungstechnische" Relevanz von  anattā ansprechen. Das Spezifische am buddhistischen Ansatz ist, dass hier die Kontinuität der Persönlichkeit von einer Vielzahl von Faktoren getragen wird -- die ihrerseits anattā sind. Die buddhistische Psychologie geht davon aus, dass die Funktionsweise dieser Persönlichkeitsmodule bestimmten definierbaren Gesetzmäßigkeiten unterliegt, von denen das Gesetz vom Karma die tragende Rolle spielt.

Mit dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, neben der -- gleichwohl unabdingbaren -- historisch-philologischen Herangehensweise einen buddhistischen Forschungsansatz zu entwickeln. Was nun bedeutet "buddhistischer Forschungsansatz"? Zunächst legitimiert sich dieser Anspruch in Berufung auf die Aufforderung des Buddha, die Empirie zum Kriterium für die Gültigkeit seiner Aussagen zu machen und den dhamma nicht unreflektiert zu übernehmen. Im Alagaddūpama-Sutta erklärt der Buddha mit Nachdruck, dass seine Lehre nur in dem Maße ihren Wert entfaltet, wie man bereit ist, sie mit Weisheit zu erforschen:

Idha bhikkhave ekacce moghapurisā dhammaṃ pariyāpuṇanti, suttaṃ geyyaṃ veyyākaraṇaṃ gāthaṃ udānaṃ itivuttakaṃ jātakaṃ abbhutadhammaṃ vedallaṃ; te taṃ dhammaṃ pariyāpuṇitvā tesaṃ dhammānaṃ paññāya atthaṃ na upaparikkhanti, tesaṃ te dhammā paññāya atthaṃ anupaparikkhataṃ na nijjhānaṃ khamanti, te upārambhānisaṃsā c' eva dhammaṃ pariyāpuṇanti itivādappamokkhānisaṃsā ca, yassa c' atthāya dhammaṃ pariyāpuṇanti tañ-c' assa atthaṃ nānubhonti, tesaṃ te dhammā duggahitā dīgharattaṃ ahitāya dukkhāya saṃvattanti, taṃ kissa hetu: duggahītattā bhikkhave dhammānaṃ.10

10 Majjhima-Nikāya I, S. 133;23-33.

"Da gibt es, Ihr Mönche, gewisse verblendete Personen, die die Prosatexte, die gemischten Texte in Prosa- und Versform, die Darlegungen, die Strophen, die feierlichen Aussprüche, die Zitate, die Wiedergeburtsgeschichten, die Wunderschilderungen und die gemischten katechetischen Prosatexte11  auswendig lernen ( pariyāpuṇanti), und es beim Auswendiglernen dieser neunfachen Lehre belassen und versäumen, die Bedeutung der Lehre mit Weisheit zu untersuchen. Und indem sie dies versäumen, begeistern sie sich auch nicht [wirklich] (na nijjhānaṃ khamanti) für diese Lehre, deren Bedeutung sie nicht mit Weisheit erforscht haben. Und sie eignen sich die Buddhalehre lediglich um des [vermeintlichen] Vorteils willen an, andere herabsetzen ( upārambhānisaṃsā) und schlau daherreden (itivādappamokkhānisaṃsā) zu können -- und das Ziel, das sie beim Auswendiglernen der Lehre [eigentlich] verfolgen, erreichen sie [auf diese Weise] nicht. Die Elemente der Lehre, die sie nicht wirklich verstanden haben (te dhammā duggahitā), gereichen ihnen lange Zeit zu Kummer und Leiden. Was ist die Ursache dafür? Die Tatsache, dass sie [gewisse] Elemente der Lehre nicht wirklich verstanden haben ( duggahītattā) , Ihr Mönche."

11 Es handelt sich hier um navaṅgabuddhasāsana, "die neunfache Buddhalehre" gemäß einer Unterteilung nach dem Kriterium der Textart und -intention.

Um die Buddhalehre zu verstehen, genügt es also keineswegs, lediglich die  dhamma-Literatur passiv zu rezipieren, selbst wenn man sie auswendig lernt. Es geht vielmehr darum, die "Bedeutung weise zu erforschen" . Oder um mit Martin Luther zu sprechen:

"Qui non intellegit res, non potest ex verbis sensum elicere."12

12 zitiert in: Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. - 2. Aufl. - Tübingen: J.C.B. Mohr (Paus Siebeck), 1965. Zweiter Teil: Ausweitung der Wahrheitsfrage auf das Verstehen in den Geisteswissenschaften, S. 162.

Buddhismusforschung ist in dem Maße authentisch -- sofern sie sich nicht erklärtermaßen auf philologische Fragestellungen beschränkt -- wie sie hermeneutisch vorgeht, d.h. buddhistische Methoden des Erkenntnisgewinns reflektiert. Auch für eine authentische philologische Buddhologie ist das Kriterium der Textintention entscheidend: Generell erfordert eine fruchtbare hermeneutische Auseinandersetzung mit einem Text die Berücksichtigung der Intention, die seiner Entstehung zugrundeliegt. Die Verschriftlichung des dhamma im Pāli-Kanon ist -- ebenso wie die Werke der Theravāda-Kommentatoren oder eines Śāntideva -- kein literarischer Selbstzweck. Vielmehr sollen die im dhamma formulierten heuristischen Instruktionen systematisch zu einer wirklichkeitsgemäßen Perspektive anleiten, zum Erkennen durch selbst Schauen, selbst Prüfen -- vipassanā.

Angewandt auf die dieser Arbeit zugrundeliegende Frageperspektive -- wie sie oben als Arbeitshypothese formuliert ist -- lässt sich dieser Anspruch methodologisch umsetzen mit einer komparatistischen Vorgehensweise: diese wiederum basiert auf einer synchronen Textinterpretation, dem "Verständnis des Textes aus sich selbst und zeitgleichem Material"13. Die Pāli-Texte, auf die hier rekurriert wird, und die darin formulierten Konzepte werden also nicht unter einer diachronen bzw. entstehungsgeschichtlichen Perspektive analysiert. Leider blieb vergleichende Buddhismusforschung bisher weitgehend der -- häufig esoterisch aufbereiteten -- "Populärbuddhologie" vorbehalten. Im folgenden werde ich die im Theravāda-Buddhismus entwickelten Ansätze zur Beschreibung von Individualität wissenschaftlichen Persönlichkeitsmodellen gegenüberstellen, und zwar insbesondere dem genetisch-epistemologischen Modell Jean Piagets und der neurobiologischen Konzeption nach Michael Gazzaniga und Joseph LeDoux (bzw. auch deren populärwissenschaftliche Ausdeutung durch Thomas Blakeslee).

13 Payer, Exegese 02, 1996, S. 3.

Insbesondere im Rahmen einer komparatistischen Untersuchung sind klar definierte terminologische Bezugspunkte und eine solide philologische Grundlage unerlässlich. Darüberhinaus legt eine synchrone Betrachtung Beschränkung hinsichtlich der verwendeten Quellen nahe: Ansonsten besteht die Gefahr, auf Basis einzelner aus dem Zusammenhang gerissener und möglicherweise ambiguer Textstellen willkürlich semantische Berührungspunkte zu konstruieren. Denn schon innerhalb des Pāli-Kanons stößt man bei der Auswertung der relevanten Stellen auf einige Inkonsistenzen: Diese sind vorwiegend kontextbedingt und können in der Regel auch durch kontextuelle Analyse aufgelöst werden; im Rahmen einer komparatistischen Annäherung an die Lehre von anattā (im gegebenen Umfang) würde sich dies jedoch vermutlich als problematisch erweisen. Mir ist durchaus bewusst, dass meine Interpretation der Pālitexte nicht die älteste rekonstruierbare Deutung repräsentiert -- zur Zeit ihrer Entstehung waren andere Parameter für ihre Rezeption und Interpretation vorgegeben. Ich beschränke mich also in meiner Darlegung auf die Theravāda-Scholastik -- das heißt den kanonischen Pāli-Buddhismus aus Sicht der Kommentatoren des 5. und 6.Jh. n.Chr. -- die hauptsächlich auf Grundlage von Buddhaghosas Visuddhi-Magga nachvollzogen werden soll.

Schließlich noch ein Wort zu meiner Übersetzungstechnik bzw. meinem Übersetzungsstil14: Die Wiedergabe der termini technici der Theravāda-Psychologie hebt sich teilweise deutlich ab von gängigen Übersetzungen und mag deshalb zunächst befremdlich anmuten. So gebe ich beispielsweise khandhā (Skt. skandhaḥ) nicht wie Frauwallner, Nyanatiloka usw. mit "Gruppen" wieder, sondern mit "funktionalen Systemen" bzw. "funktionalen Zentren". Diese Übersetzung legitimiert sich meines Erachtens dahingehend, dass die Bezeichnung "Fünf Gruppen" einem in der buddhistischen Psychologie nicht versierten Leser keinerlei Vorstellung davon vermittelt, was es mit der entsprechenden Konzeption auf sich hat. Außerdem gebietet die Entstehungszeit der Pālitexte keineswegs ein Festhalten an anachronistischen Übersetzungen: Da es ein Anliegen dieser Arbeit ist zu zeigen, dass es sich bei den Konzepten der Theravāda-Psychologie nicht um Anachronismen handelt, ist es nur konsequent, auch übersetzungstechnisch mit diesem Anspruch Schritt zu halten: Aus diesem Grund habe ich mich für eine sogenannte ethnographische bzw. soziolinguistische Übersetzung entschieden15 . Gleichwohl habe ich die Möglichkeit einer scholastischen Übersetzung der Visuddhi-Magga- und Abhidhamma-Stellen sorgfältig erwogen: Ich bin jedoch zu dem Schluss gekommen, dass der mit einer elaborierten scholastischen Übersetzung -- die diese Bezeichnung verdient, und die nicht nur in der Nachahmung des Pāli-Stils besteht -- verbundene Aufwand im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten ist16.

14 Ich habe bei meinen Übersetzungen ausschließlich die Textausgaben der Pali Text Society verwendet. Zur Zitierweise:

15 Vgl. Crystal, David (Hrsg.): The Cambridge Encyclopedia of Language. - 2nd ed.- Cambridge: University Press, 1997. - S. 345: Crystal definiert hier die ethnographische bzw. soziolinguistische Übersetzung dahingehend, dass sie sich "auf den kultischen Hintergrund des Verfassers und der Rezipienten" konzentriert.

16 Um zu einer Einschätzung dessen zu gelangen, was man sich unter einer scholastischen Übersetzung ins Deutsche vorzustellen hat, empfiehlt sich die Lektüre der deutschen Übersetzung der Theologia Naturalis: Summe einer philosophischen Gotteslehre / übers. von Walter Brugger S.J. - München: Joh. Berchman, 1979. - Walter Brugger hat hier einen für den deutschsprachigen Raum exemplarischen Versuch einer scholastischen Übersetzung unternommen.

Die einzelnen Kapitel dieser Arbeit habe ich mit "Beziehungsideen" überschrieben. Zunächst geht es um die Beziehungsideen des Theravāda-Buddhismus, also um die Konzeption von Individualität als ständig sich wandelndes Geflecht auf einander bezogener Einzelfaktoren. Die Erfahrung von Individualität als Ich-Identität ist aus dieser Perspektive lediglich eine Beziehungsidee -- durchaus auch in dem Sinne, dass das Erleben nicht der Realität entspricht. In welchem Sinne die Überlegungen in den komparatistischen Kapiteln als Beziehungsideen aufzufassen sind, überlasse ich der Phantasie der LeserInnen!

Mein Dank gilt:

Meine Dankbarkeit gilt S.H. Chhimed Rigdzin Rinpoche.


Zu: Teil II: Beziehungsideen I: Individualität im Theravāda: 1. Kapitel 1: Allgemeine Vorbemerkungen