Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen

2. Teil II: Beziehungsideen I: Individualität im Theravāda

1. Kapitel 1: Allgemeine Vorbemerkungen


von Sabine Gudrun Klein-Schwind

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Zitierweise / cite as:

Klein-Schwind, Sabine Gudrun: Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen. -- 2. Teil II: Beziehungsideen I: Individualität im Theravāda. -- 1. Kapitel 1: Allgemeine Vorbemerkungen. -- Fassung vom 2006-10-11. -- URL: http://www.payer.de/schwind/schwind21.htm.

Erstmals publiziert: 2006-10-11

Überarbeitungen:

Anlass: Magisterarbeit im Fach Indologie an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Mai 2000

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0. Übersicht



1.1. Der Theravāda


Der Theravāda (Skt. Sthaviravāda, "die Lehre der Alten") ist die einzige überlebende Schulrichtung der  Śravakayāna-Schulen bzw. der prä-mahāyānistischen Schulen des frühen Buddhismus. Der Theravāda-Buddhismus ist heute die Nationalreligion der Singhalesen, der Mon, der Birmanen, der Thai und der Khmer und war bis zum Niedergang des Buddhismus in Indien um ca. 1.200 n. Chr. auch in Südindien beheimatet1. Bereits auf dem Konzil von Vesali kam es zu einer Spaltung der ursprünglichen Mönchsgemeinde2: Die orthodoxen bzw. konservativen bhikkhus, die sich einer Lockerung der Ordensregeln widersetzten und am  überlieferten Kodex festhielten, bezeichneten sich selbst als Theravādin in Abgrenzung zur reformwilligen Mehrheit3 der Mahāsāṅghikas als Vorläufer der Mahāyāna-Bewegung.  Nach der Tradition soll im 3. Jh. v. Chr. der Sohn (oder Neffe?)  des dharmarāja Aśoka, Mahinda,  die Lehren des  Buddha nach Sri Lanka gebracht haben, und zwar in der auf dem Konzil von Pāṭaliputta unter dem Vorsitz von Moggaliputta Tissa verbindlich redigierten Fassung. Hier wurde vermutlich auch -- mit der Einbeziehung des Kathāvatthu als erstem scholastischen Werk -- der Grundstein für das Abhidhamma-piṭaka gelegt. Zweihundert Jahre später wurde in Sri Lanka auf Geheiß des Königs Vaṭṭagāmaṇi Abhaya ihre Verschriftlichung beschlossen.4 Das bis heute überlieferte Pāli-tipitaka als die älteste vollständig erhaltene Fassung der buddhistischen Lehre repräsentiert die kanonische Grundlage des Theravāda. Ihr scholastisches Profil bezieht diese Schulrichtung zunächst aus dem Abhidhamma: Die Theravāda Version ist neben dem Abhidharma der Sarvāstivādin die wohl bedeutendste. Sie definiert sich jedoch hauptsächlich über die umfangreiche nachkanonische Literatur, namentlich das Milindapañha und eine Reihe bedeutender Kommentarwerke aus dem 5. und 6. Jh. n. Chr.: In diesem Zeitraum sind zu sämtlichen kanonischen Texten Kommentare in Pāli verfasst worden. Diese Kommentare sind größtenteils Rezensionen älterer singhalesischer  Kommentare, in die Elemente aus jüngeren Perioden des indischen Buddhismus assimiliert wurden. Aufgrund der scholastischen Kohärenz, die durch diese Serie großer Kommentare gegeben war,  verschloss sich der Theravāda fortan dem Einfluss des indischen Buddhismus -- dessen Entwicklung sich gleichwohl noch über Jahrhunderte hinweg fortsetzen sollte.

1 Bechert; von Simson: Einführung in die Indologie, 1993. - S. 120.

2 Willemen; Dessein; Cox: Savāstivāda, 1998. - S. 39f.:  "Since, according to the Southern sources, a schism occured immediately after the Second Synod ... it is not considered a problem that the Northern sources do not mention a Third Synod: the fact that none of the accounts on the Third Synod includes information about the Mahāsāṃghika schism, seems to indicate that the Third Synod was exclusively Sthaviravāda (Theravāda), and was, therefore, included in Sthaviravāda texts only."

3 Vgl. Willemen; Dessein; Cox: Sarvāstivāda, 1998. - S. 41ff.

4 Vgl. Schumann, 1995, S. 58

Als wohl berühmetester Kommentator und Exponent der Theravāda-Scholastik muss Buddhaghosa gelten5: Sein Hauptwerk, der Visuddhi-Magga, stellt ebenfalls eine Pāli-Rezension eines älteren singhalesischen Kommentars dar, Upatissas Vimutti-Magga6, der nur noch in chinesischer Übersetzung erhalten ist. Buddhaghosas Visuddhi-Magga ist eine systematische Darlegung der Theravāda-Scholastik bzw. der kanonischen Buddhalehre aus Sicht der Theravādin.

5 Über das Leben Buddhaghosas ist kaum etwas bekannt, als einzige Informationsquelle dienen Mahāvaṃsa und die nigamanas seiner Kommentare, wobei die Angaben sich z.T. widersprechen. Vgl. von Hinüber: Handbook of Pali-Literature, 1996. - S. 102f.: "According to Mhv [Mahāvaṃsa], Buddhaghosa was a contemporary of King Mahānāma (AD 409-431/349-371). This is not confirmed by the evidence of the nigamanas." Dieses Datum wird jedoch indirekt gestützt durch die Tatsache, dass Buddhaghosa im ersten Teil des Mahāvaṃsa, der mit König Mahāsena (AD 334-362/274-302) endet, keine Erwähnung findet.

6 Vgl. Bapat, P.V.: Vimuttimagga and Visuddhimagga: A Comparative Study, 1937.

Der Nachvollzug der spezifischen Theravāda-Konzeption von Individualität muss sich also auf die Kommentarliteratur bzw. auf deren Auslegung der relevanten kanonischen Texte, d.h. vor allem des Abhidhamma. Ergänzend zum  Visuddhi-Magga  als Haupt-Textgrundlage dieser Unteruchung habe ich den  Kommentar zur Dhammasaṅgaṇī, die Atthasālinī, die ebenfalls Buddhaghosa zugeschrieben wird, als Quelle ausgewählt.  Sofern die Fragestellung dies erforderlich macht,  werde ich außerdem die entsprechenden Stellen aus dem Sutta- bzw. Abhidhammapitaka, auf die in den Kommentaren referiert wird,  heranziehen.


1.2. Der Abhidhamma


1.2.1. Zu Stellenwert und Aufbau


Abhidhammikabhikkhū yeva kira dhammakathikā nāma, avasesā dhammaṃ kathentā pi na dhammakathikā. Kasmā? Te hi dhammaṃ kathentā kammantaraṃ vipākantaraṃ rūpārūpaparicchedaṃ dhammantaraṃ āloḷetvā kathenti. Abhidhammikā dhammantaraṃ na āloḷenti, tasmā abhidhammiko bhikkhu dhammaṃ kathetu vā no vā pucchitakāle pana pañhaṃ kathessatī ti.7

7 Atthasālinī, S. 29;12-18.

"In der Tat ist allein der im Abhidhamma geschulte Mönch ein Dhammalehrer, die übrigen, selbst wenn sie die Buddhalehre predigen, sind keine Dhammalehrer. Wie kommt das? Jene bringen nämlich die verschiedenen Arten von Karma und karmischen Resultaten, den Unterschied zwischen Korporealem und Geistigem und die elementaren Gegebenheiten (dhamma) durcheinander, wenn sie die Buddhalehre predigen. Die im Abhidhamma geschulten Mönche verwechseln die verschiedenen elementaren Gegebenheiten nicht; der im Abhidhamma geschulte Mönch mag nun die Buddhalehre predigen oder nicht, wann immer er befragt wird, wird er die Frage (korrekt) beantworten."

Wichtigste kanonische Quelle für die theoretische buddhistische Psychologie ist der Abhidhamma bzw. Abhidharma. In der Atthasālinī gibt Buddhaghosa einige allgemeine Erklärungen zum Stellenwert des Abhidhamma im Kanon ab: der Abhidhamma ist für ihn Buddhawort; die in Ceylon gelehrte Abhidhammatradition führt er auf eine ununterbrochene Übertragungslinie direkt auf den Buddha zurück.8 Der Abhidhamma ist die jüngste Abteilung des Pāli-Kanons, nach den Chroniken Dīpavaṃsa und Mahāvaṃsa wurde er auf den ersten beiden Konzilen nicht rezitiert9. Möglicherweise waren zur Zeit des zweiten Konzils bereits Ansätze zum Abhidhamma vorhanden, von denen sich die Mahāsāṃghikas erklärtermaßen distanzierten und die von den orthodoxen Theravādin und den Sarvāstivādin zu den jeweiligen Abhidhamma- bzw. Abhidharma-Versionen ausgestaltet wurden10. Die Begriffsreihen (mātikā) an verschiedenen Stellen des Pāli-Kanon11, an denen wesentliche Lehrinhalte in Kürze zusammengefaßt sind, können als Keimzellen des Abhidhamma betrachtet werden12 ; so werden die Bezeichnungen mātikā und abhidhamma im Kanon wiederholt synonym gebraucht13. Buddhaghosa erläutert in Atthasālinī 2,13-3,20 die Bezeichnung abhidhamma im Sinne einer Anhebung des Niveaus der als dhamma geltenden Lehrinhalte14. Zwei Bücher innerhalb des Abhidhamma sind im Hinblick auf die Frage nach der personalen Identität bzw. Individualität besonders wichtig: die Dhammasaṅgaṇi und der Paṭṭhāna. Die mātikā der Dhammasaṅgaṇi konstituiert sich in Begriffsreihen, die in 100 Dyaden und 22 Triaden gegliedert sind.

"... the mātikā is an outline of an universal system of classification comprising the whole analytical teaching of the Buddha."15

8 Atthasālinī,  S. 32;12-25. Vgl. Norman: Pāli literature, 1982. - S. 98.

9 Im Mahāvaṃsa-Bericht  über das zweite Konzil ist jedoch von tipiṭaka die Rede.  In Übereinstimmung mit der Mehrheit der Quellen gehen die Theravādin  davon aus, dass der Abhidhamma auf dem Ersten Konzil in Rājagaha kompiliert und von Ānanda rezitiert wurde. Vgl. Norman: Pāli literature, 1982. - S. 96.

10 Zwar gliedern sich sowohl der Theravāda-Abhidhamma als auch die Sanskrit-Version der Sarvāstivādin  in sieben Abteilungen, die sich jedoch in keiner Weise entsprechen, vgl. B.C. Law: History of Pāli Literature, 1983. - Vol.I S. 336ff. und Lamotte: Histoire du Bouddhisme, 1976. - S. 198: "Si lon peut dire, en gros, que les diverses écoles bouddhiques utilisèrent un
Sūtrapiṭaka identique et des Vinayapiṭaka assez semblables, il faut reconnaître que, pour autant qu' elles disposèrent d'un Abhidharmapiṭaka, elles se l'étaient constitué elles-mêmes. Il n'y a plus qu' un vague lien de similitude entre les multiples Abhidharma qui nous sont parvenus." Die sieben Abteilungen des Theravāda-Abhidhamma sind: 1. Dhammasaṅgaṇi, 2. Vibhaṅga, 3. Dhātukathā, 4. Puggalapaññatti, 5. Kathāvatthu, 6. Yamaka, 7. Paṭṭhāna. Diese Einteilung wird u.a. in Atthasālini 3;5 dargelegt. Vgl. von Hinüber: Handbook of Pali-Literature, 1996. - S. 66.

11 Und auch des in Sanskrit verfaßten Kanon der Sarvāstivādin, vgl. Frauwallner:  Abhidharma-Studien II: Die kanonischen Abhidharma-Werke. - In: Wiener Zeitschrift für die Kunde Süd- und Ostasiens VIII, 1964. - S. 61ff. Vgl. auch Schlingloff, Dieter: Dogmatische Begriffsreihen im älteren Buddhismus: Ia Dasottarasūtra ix-x. - Berlin: Akademie-Verlag, 1962. - (Sanskrittexte aus den Turfanfunden; iva).

12 Vgl. Frauwallner:  Abhidharma-Studien III: Der Abhidharma der anderen Schulen.  - In: Wiener Zeitschrift für die Kunde Süd- und Ostasiens XV, 1971.  - S. 70: "Der älteste Abhidharma bestand aus Listen (mātṛkāḥ), die auswendig gelernt wurden und zu denen mündlich Erklärungen gegeben wurden, ähnlich den brahmanischen Sūtren. Und wie diese im Laufe der Zeit umgeformt wurden und erst eine feste Form erhielten, als ihr Wortlaut durch schriftliche Kommentare festgehalten war ... so müssen wir uns den Verlauf der Dinge auch im buddhistischen Abhidharma vorstellen." Eine detaillierte Darstellung hierzu gibt Frauwallner in: Abhidharma-Studien II: Die kanonischen Abhidharma-Werke.  - In: Wiener Zeitschrift für die Kunde Süd- und Ostasiens VIII, 1964. - S. 60ff.

13 Vgl. Norman: Pāli literature, 1982. - S. 96 f.

14 Vgl. von Hinüber: Handbook of Pali-Literature, 1996.- S. 64 und Norman: Pāli literature, 1982. -  S.99.

15 Norman: Pāli literature, 1982. - S. 99.

Während die Dhammasaṅgaṇī, die "Auflistung der Koeffizienten", Ergebnis eines vornehmlich analytischen procedere ist,  wird der synthetischen Betrachtungsweise im zweiten und siebten Buch des Abhidhamma Rechnung getragen:  im  Vibhaṅga, der "Klassifizierung"  der Koeffizienten16 und in der "Abhandlung über die Genese der Phänomene" , dem Paṭṭhāna (auch  Mahāpakaraṇa, "große Abhandlung"  genannt). Der  Paṭṭhāna  ist das Ergebnis einer multifaktoriellen Betrachtung des paṭicca-samuppāda. Der Paṭṭhāna greift die mātikā der Dhammasaṅgaṇi auf und beleuchtet sie unter Anwendung der 24 paccayas17. Während der  Paṭṭhāna lediglich die Bedingungszusammenhänge zwischen den einzelnen cittas untersucht, beleuchtet der  Vibhaṅga die Gesetzmäßigkeiten der Affinität der Koeffizienten innerhalb eines citta. Zwar formuliert die  Dhammasaṅgaṇi nicht explizit die verschiedenen Formen der Abhängigkeitsbeziehung zwischen den Koeffizienten,  der Tatsache der Bedingtheit als solcher wird jedoch schon allein dadurch Rechnung getragen, dass die Analyse von der Phänomenalität der Objekte der Erscheinungswelt (und des wahrnehmenden Subjekts) ausgeht. Buddhaghosas Kommentar zur Dhammasaṅgaṇi, die Atthasālinī lässt sich nicht ohne weiteres datieren bzw. in die Werkchronologie einordnen. Im Mahāvaṃsa heißt es, dass Buddhaghosa den Kommentar im nordindischen Gayā verfasst habe, ehe er nach Anurādhapūra ging (Mhv. xxxvii, Vers 225). Im Hinblick auf das Werk in seiner überlieferten Form erweist sich das jedoch als nicht haltbar: Buddhaghosa zitiert aus dem Visuddhi-Magga  und aus der Samantapasādika, also aus Werken, die er mit Sicherheit erst nach seiner Ankunft in Ceylon verfasst hat. Eine weitere Theorie über die Entstehung des Kommentars beruft sich auf Dhammakittis Saddhammasaṅgaha und postuliert zwei Versionen der Atthasālinī: Demzufolge wäre eine erste Version tatsächlich in Gayā entstanden, welche Buddhaghosa in Ceylon auf Grundlage eines singhalesischen Kommentars (der Mahāpaccari) überarbeitet hat.18

16 Auch zum Vibhaṅga hat Buddhaghosa einen Kommentar verfasst, die Sammohavinodanī. Dieser wird jedoch in dieser Arbeit nicht zugrundegelegt, da Buddhaghosa selbst in diesem Kommentar der Atthasālinī eine Vorrangstellung einräumt. Darüberhinaus sind viele der in der Sammohavinodanī behandelten Themen auch im Visuddhi-Magga kommentiert, vgl. Law: Buddhaghosa, 1946. - S. 88. -  Die dieser Studie zugrundeliegende Frageperspektive ist also mit dem Visuddhi-Magga und der Atthasālinī hinreichend abgedeckt.

17 Norman: Pāli literature, 1982. - S. 106.

18 In übereinstimmung mit einigen anderen Autoren - so z.B. Bapat - äußert  von Hinüber aufgrund werkchronologischer und inhaltlich-struktureller  Unstimmigkeiten Zweifel an Buddhaghosas Verfasserschaft. Auch  Norman problematisiert die Frage, ob Buddhaghosa tatsächlich der Autor der Atthasālinī ist, wobei er v.a. die inhaltlichen Diskrepanzen zwischen dem Visuddhi-Magga und der Atthasālinī kritisch hinterfragt: In einer Reihe von Punkten differierten die Interpretationen von Visuddhi-Magga und Atthasālinī, an anderen Stellen würden gar unterschiedliche Positionen vertreten, so sind z.B. einige im Visuddhi-Magga repräsentierte Sichtweisen in der Atthasālinī lediglich als mögliche Alternativen aufgeführt. Norman argumentiert jedoch für Buddhaghosa als Verfasser des Dhammasaṅgaṇi-Kommentares: es gelte als gesichert, dass die Sammohavinodanī Buddhaghosas Werk ist, und die zahlreichen Verweise in diesem  Kommentar zum Vibhaṅga auf die Atthasālinī als vorrangigem Werk legten nahe, dass Buddhaghosa auch Autor des letzteren sei. Ferner versucht Norman die genannten inhaltlichen Inkonsistenzen unter werkchronologischen Gesichtspunkten aufzulösen: Er hält es für denkbar, dass Buddhaghosa eine erste Version der Atthasālinī nach der Fertigstellung des Visuddhi-Magga überarbeitet und einige im Visuddhi-Magga dargestellten Sichtweisen eingebaut hat, ohne die ursprüngliche Konzeption der Atthasālinī grundsätzlich zu ändern. Vgl. Norman: Pāli literature, 1982. - S. 124. Bimala Churn Law geht davon aus, dass Buddhaghosa Autor der Atthasālinī ist ohne dies weiter zu hinterfragen. Vgl. Law: History of Pāli Literature, 1983. - Vol. I S. 472f. Ich schließe mich in dieser Frage Normans Theorie an.


1.2.2. Axiome der Abhidhamma-Psychologie


Nyanaponika hat --  im Rahmen seiner Erklärung der verschiedenen Bedeutungen des Begriffes samaya -- aus der  Atthasālinī  drei Axiome als solche kristallisiert,  die er für sehr bedeutsam hält19

19Ich führe hier die entsprechenden Stellen mit meiner eigenen Übersetzung an.:

"These terse sentences represent three fundamental principles of Buddhist philosophy which well deserve to be taken out of the mass of expository detail where they easily escape the attention due to them. Next to the fact of Change (aniccatā), these three axioms, implying the principle of conditionality  (idapaccayatā), are the main support of the fundamental Buddhist doctrine of Impersonality resp. Unsubstantiality (anattatā)."20

20 Vgl. Nyanaponika: Studies, 1949. -  S.  4.

In der Tat sind diese Aussagen ganz wesentlich für das Verständnis der Theravāda-Hinsichten in Bezug auf die Abhidhamma-Psychologie. Darüberhinaus erweisen sie sich als außerordentlich erhellend im Hinblick auf die Vielschichtigkeit und Komplexität des Persönlichkeitsmodells, das hinter der Qualifikation anattā steht.

1.

Etesu hi samavāyasaṅkhāto samayo anekahetuto vuttiṃ dīpeti tena ekakāraṇavādo paṭisedhito hoti.21

21 Atthasālinī S. 59;28-30. (Hervorhebung von mir, S. Schwind).

"Denn von diesen [verschiedenen Bedeutungen] wird samaya in der Bedeutung von Koinzidenz (samavāyasaṅkhāto samayo) als Multikausalität erklärt, auf diese Weise wird die Behauptung der Monokausalität zurückgewiesen."

Das zweite Axiom gebe ich im Kontext der Definition, in der es formuliert ist, wieder:

2.

Samūhasaṅkhāto pana samayo anekesaṃ sahuppattiṃ dīpeti. Phassādīnaṃ hi dhammānaṃ puñjo samūho ti vutto, tasmin ca uppajjamānaṃ cittaṃ saha tehi dhammehi uppajjatī ti anekesaṃ sahuppatti dīpitā. Evaṃ dīpentena cānena  ekass' eva dhammassa uppatti paṭisedhitā hoti.22

22 Atthasālinī, S. 61;9-14. (Hervorhebung von mir, S. Schwind)

"In der Bedeutung von "gehäuftem Auftreten" (samūhasaṅkhāto) wiederum wird samaya als Zusammenentstehen von mehreren [Gegebenheiten] gleichzeitig erklärt. Denn das massive Auftreten (puñjo) von Gegebenheiten wie Sinneseindruck [und die damit verbundenen Bewusstseinsmomente] wird als "gehäuftes Auftreten"  (samūho) bezeichnet, und hier ist es das im Entstehen begriffene Bewusstseinsmoment, das zusammen mit eben diesen Gegebenheiten entsteht, was als "Zusammenentstehen mehrerer [Gegebenheiten]"  erklärt wird. Und indem man dies auf besagte Weise so erklärt, wird das Entstehen einzelner Gegebenheiten für sich (ekass' eva dhammassa uppatti) zurückgewiesen. So wird samaya in der Bedeutung von "gehäuftem Auftreten"  definiert (attho dīpito hoti)."

3.

dhammānam savasavattitābhimāno paṭisedhito hoti, ayaṃ hetusaṅkhātena samayena attho dīpito hoti.23

23 Atthasālinī, S. 61;19-20. (Hervorhebung von mir, S. Schwind)

"Und durch diese Erklärung [von samaya in der Bedeutung von hetu] wird die Überzeugung widerlegt, dass sich die Gegebenheiten nach eigenem Willen organisieren."

Diese Axiome zeigen, dass die Theravādin das Persönlichkeits- bzw. Bewusstseinskontinuum nicht als lineare Abfolge von Ursache und Wirkung verstehen: vielmehr handelt es sich um ein äußerst komplexes, aber detailliert beschreibbares Bedingungsgeflecht, das aufgrund spezifizierbarer Mechanismen Bedingtheiten zeitigt, die ihrerseits wiederum als Bedingungen fungieren.


Zu: 2. Kapitel 2: Die Persönlichkeitsmodelle des Theravāda