Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen

2. Teil II: Beziehungsideen I: Individualität im Theravāda

2. Kapitel 2: Die Persönlichkeitsmodelle des Theravāda


von Sabine Gudrun Klein-Schwind

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Zitierweise / cite as:

Klein-Schwind, Sabine Gudrun: Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen. -- 2. Teil II: Beziehungsideen I: Individualität im Theravāda. -- 2. Kapitel 2: Die Persönlichkeitsmodelle des Theravāda. -- Fassung vom 2006-10-11. -- URL: http://www.payer.de/schwind/schwind22.htm.

Erstmals publiziert: 2006-10-11

Überarbeitungen:

Anlass: Magisterarbeit im Fach Indologie an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Mai 2000

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0. Übersicht



Nāhaṃ kvacani kassaci kiñcana tasmiṃ, na ca mama kvacani kismiñci kiñcanat' atthi1

1Buddhaghosa zitiert M106 in Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 21, S. 653;35-654;1. Nyanatiloka weist auf die verschiedenen Lesarten der Stelle hin, vgl. Nyanatiloka: Weg zu Reinheit.- S. 941 Anm. 30.

"Weder bin ich irgendwo in Bezug auf irgendjemanden irgendetwas, noch ist irgendwo in irgendeiner Weise irgendetwas mein."

2.1. Erläuterung der Untersuchungsperspektive


Die verschiedenen  Modelle, in denen die Theravāda-Konzeption von Individualität repräsentiert ist — das funktionale khandha-Modell,  das "gestaltpsychologische" nāma-rūpa-Modell, die Kategorisierung nach āyatanas und dhātus und schließlich der paṭicca-saṃuppāda —finden sich im Visuddhi-Magga im Kapitel über den "Boden der Weisheit".  In diesem Kapitel unternimmt Buddhaghosa eine multifaktorielle Analyse dieser Modelle in Anlehnung an den Abhidhamma. Die folgenden Ausführungen stützen sich hauptsächlich auf das genannte Kapitel, wobei gegebenenfalls auch die kommentierten Abhidhamma-Passagen und Erläuterungen aus der Dhammasaṅgaṇi herangezogen werden sollen. Mein Anliegen hierbei ist nicht eine detaillierte Wiedergabe des betreffenden Kapitels; vielmehr werde ich einen allgemeinen Überblick über die einzelnen Persönlichkeitsmodelle und ihren Stellenwert im Theravāda-Lehrgebäude geben. Auf diese Weise soll ein konsistenter scholastischer Rahmen philologisch erarbeitet werden, in den die Analyse einzelner frageperspektivisch besonders relevanter Aspekte eingeordnet werden kann.  So werde ich beispielsweise beim khandha-Modell auf das viññāṇa-kkhandha und das sankhāra-kkhandha sehr ausführlich eingehen; zum einen, weil  eine differenzierte Analyse dieser Bereiche für das Verständnis des gesamten  khandha-Modells und des paṭicca-samuppāda unerlässlich ist, zum anderen ist sie unabdingbare Voraussetzung für die komparatistischen Überlegungen in den folgenden Kapiteln. Entsprechend werde ich den paṭicca-samuppāda zunächst im Zusammenhang darstellen, wobei diejenigen nidānas eingehender betrachtet werden sollen, die im Kontext der komparatistischen Untersuchungen eine besondere Rolle spielen. Die paccayas, die jeweils an den nidāna-Schnittstellen zur Geltung kommen, werde ich diskutieren, sofern dies unter frageperspektivischen Gesichtspunkten einen Erkenntnisgewinn bedeutet oder im Hinblick auf die Konsistenz der Darstellung notwendig erscheint. 


2.2. Die khandhas als funktionale Systeme


2.2.1. Vorbemerkungen


In den einleitenden Bemerkungen zum dritten Teil des Visuddhi-Magga erklärt Buddhaghosa, dass damit begonnen werden muss, durch Hinterfragen und Studieren eine intellektuelle Grundlage für paññā zu erwerben. Im Visuddhi-Magga sind der Diskussion über paññā die Kapitel über sīla und samādhi vorangestellt: für die systematische Entfaltung von  paññā, wie sie hier dargelegt ist, werden eine stabile, ethisch einwandfreie Grundhaltung und die Fähigkeit zur geistigen Sammlung unbedingt vorausgesetzt. Diese Form des Erkennens, pajānana, ist mittelbar das Resultat der Entfaltung des Edlen Achtfachen Pfades bzw. des Lernens nach der satipaṭṭhāna-Methode.  Paññā kann nicht unmittelbar hervorgebracht werden, diese Form der Erkenntnis entsteht als karmisches Resultat einer erlernten Sichtweise. Im Gegensatz zu vijānana ist pajānana also nicht jedem zugänglich.  Außerdem ist die Einsichtsfähigkeit im Bereich von viññāṇa von Individuum zu Individuum verschieden. Zwar bedeutet die viññāṇa-Einsicht in anattā (oder dukkha und anicca) nicht zwangsläufig eine Annäherung an paññā; umgekehrt wird aber eine gewisse viññāṇa-Kapazität als erlösungsnotwendig vorausgesetzt: dhamma-vicaya, das intellektuelle Verständnis der Buddhalehre ist eines der Sieben Elemente des Erwachens, bojjhanga. Die bedingt entstandenen Dinge als Gegenstand des Erkennens bilden nur den "Boden" für  paññā. Damit der mit einem karmisch heilsamen Bewusstseinsmoment verbundene Hellblick stattfinden kann, müssen außerdem die Zwei und die Fünf Reinheiten entfaltet werden.2 Der Boden für paññā wird durch vijānana bereitet. Diese intellektuelle Auseinandersetzung soll dem Entfalten der Reinheiten vorausgehen:

2 Vgl. Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 443;11-19.

Tasmā tesu bhūmisu tesu maggesu uggahaparipucchāvasena ñāṇaparicayaṃ katvā mūlabhūtā dve visuddhiyo sampādetvā sarīrabhūtā pañcavisuddhiyo sampādentena bhāvetabbā.3

3 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 443;16-19.

"Wenn man sich nun mit diesen Ebenen und Pfaden durch Begreifen und Erörtern intellektuell vertraut gemacht hat (ñāṇaparicayaṃ katvā) und dann die beiden fundamentalen (mūlabhūtā) Reinheiten entwickelt hat, sollte man die Fünf das Corpus repräsentierenden Reinheiten entfalten, indem man sie systematisch entwickelt (sampādentena)."

Buddhaghosa beginnt seine Darstellung des Bodens der Weisheit mit den Fünf khandhas:

Die khandhas sind nicht als klar umrissene Persönlichkeitsanteile zu verstehen, die als solche in Erscheinung treten, sondern als Etiketten für verschiedene Kategorien korporealer und mentaler Koeffizienten. Diese Kategorien entsprechen einer Klassifizierung dieser Koeffizienten nach ihren Funktionen. Die Persönlichkeitskontinuum ist aus Sicht des Theravāda eine Abfolge von Bewusstseinsmomenten, cittas, von denen jedes einzelne nur von infinitesimal kurzer Dauer ist4 .  In einem citta manifestieren sich niemals allekhandhas gleichzeitig, noch die Gesamtheit der Koeffizienten eines khandha. Die Koeffizienten aus der funktionalen Kategorie des sankhāra-kkhandha zeichnen sich dahingehend aus, dass hier Konstellationen aus mehreren Faktoren in einem Bewusstseinsmoment virulent werden können. Im Unterschied dazu können die Koeffizienten, die den übrigen vier funktionalen Kategorien zugeordnet sind, immer nur einzeln in einem citta vorhanden sein. Wenn im Visuddhi-Magga gesagt wird, die Person ist nicht mehr und nicht weniger als die Fünf khandhas, so bedeutet das genau genommen:  Zu einem gegebenen Zeitpunkt ist ein Individuum nichts anderes, als die im aktuellen Bewusstseinsmoment, citta, repräsentierte Konstellation einzelner korporealer und mentaler Koeffizienten, die man in fünf funktionale Kategorien einteilen kann. Das khandha-Modell ergibt sich also aus der Analyse der korporealen und mentalen Elemente, die sich in einer kontinuierlichen Abfolge ephemerer wechselnder Konstellationen zu dem verbinden, was als Persönlichkeit wahrgenommen wird. Mit den khandha-, āyatana- und dhātu-Einteilungen wird das Material katalogisiert, auf Grundlage dessen sich der paṭicca-samuppāda vollzieht. Es handelt sich um eine Bestandsaufnahme der paramattha-dhammā, der Elemente, die die reale Grundlage der Persönlichkeit bilden — eine Bestandsaufnahme mit Modellcharakter, wohlgemerkt. Im Gegensatz zum paṭicca-samuppāda und den Vier Edlen Wahrheiten, die in der Theravāda-Scholastik als objektive Gesetzmäßigkeiten gelten, die nur mit der mahābodhi erkannt werden können — also Gegenstand von paññā sind — gehören die khandhas nicht in diese Kategorie. So entsprechen die Beschreibungen der "24 Arten der abhängigen Körperlichkeit"  dem Stand des anatomischen Wissens, wie es zur Zeit Buddhaghosas zugänglich war. Während der paṭicca-samuppāda in den überlieferten Varianten - ich beschränke mich auf die im Visuddhi-Magga dargelegte Version - nicht historisch relativiert werden kann, weil er einer Kategorie der Erkenntnis angehört, die den Anspruch erhebt, überhistorische Gesetzmäßigkeiten zu formulieren, können die khandhas, da sie zu einem beträchtlichen Teil von vijānana gespeist werden, durchaus entsprechend dem heutigen Stand der Forschung "aktualisiert"  werden. Buddhaghosa erklärt nachdrücklich, dass es nur fünf Gruppen gibt, "nicht mehr und nicht weniger":

4 Zur Frage der Ephemerität der dhammas vgl. Alexander von Rospatts Untersuchung zum kṣanikavāda: The Buddhist Doctrine of Momentariness, 1995.

Kasmā pana Bhagavatā pañc' eva khandhā vuttā anūnā, anadhikā ti. Sabbasankhatasabhāgekasangahato attattaniyagāhavatthussa etaparamato aññesañ ca tadavarodhato. Anekappabhedesu hi sankhatadhammesu sabhāgavasena sangayhamānesu rūpaṃ pi rūpasabhāgekasangahavasena eko khandho hoti.5

5Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 478;10-16.

"Warum nun hat der Buddha genau fünf Funktionale Systeme gelehrt, nicht mehr und nicht weniger? Weil damit sämtliche Gestaltphänomene in ihrer Gesamtheit einheitlich erfasst sind, weil  das Selbstkonzept (attā) und die davon abgeleiteten Vorstellungen (attaniya) auf [diese Fünf Funktionalen Systeme] als reale Grundlage (vatthu) reduziert werden können (etaparamato) und weil andere [denkbare Systeme] hier damit abgehandelt sind (tad-avarodhato)."

Die Fünf Gruppen bedürfen nach Buddhaghosa also keiner Ergänzung, und zwar deshalb, weil sich mit dieser funktionalen Einteilung alle gestalteten Gegebenheiten erfassen  und sich zu einem kohärenten Ganzen, nämlich dem Individuum verbinden lassen. Oder andersherum ausgedrückt: Das Individuum lässt sich durch diese Systematisierung schlüssig und differenziert als solches beschreiben, ohne dass auf ein Substrat, einen Wesenskern rekurriert werden muss, der als "Grundlage für diese Wahnidee von einem Ich"  in Frage kommt. Auch Nyanaponika erklärt mit Nachdruck, dass die Fünf khandhas "abstrakte Klassifikationen"  darstellen, dass sie aber als solche keinerlei Wirklichkeit besitzen:

"Auf einem großen Missverständnis ferner beruht es, dass man im allgemeinen die Fünf Gruppen als kompakt,  ja oft geradezu als mehr oder weniger dauernde Entitäten auffasst, wo hingegen sie doch als Gruppen überhaupt keine Wirklichkeit besitzen und selbst ihre Repräsentanten nur ein momentanes, schnell dahinschwindendes Dasein haben [...] Sie sind für das Bewusstsein genau das, was Gestalt, Röte, Weichheit und Süßigkeit für den Apfel sind und besitzen durchaus nicht mehr Wirklichkeit als diese Dinge."6

6 Nyantiloka: Weg zur Reinheit. - S. 920 Anm. 114.

Um die khandhas richtig zu verstehen, nämlich als abstrakte Kategorien zur Beschreibung von Persönlichkeitsfaktoren unterschiedlicher Wertigkeit, die sich nach ihrer Funktion sinnvoll zu verschiedenen Systemen gruppieren lassen, muss die Differenzierung des Abhidhamma herangezogen werden, die zeigt:

"[...] even an infinitesimally brief moment of consciousness is actually an intricate net of relations, the erroneous belief in a static world is destroyed in its roots."7

7Nyanaponika: Studies, 1949. -  S.   5.

Der paṭicca-samuppāda hingegen formuliert die Gesetzmäßigkeiten, auf denen die Kontinuität basiert, und gleichzeitig die kognitiven Mechanismen, die dieses Kontinuum als stabiles Selbstkonzept in Erscheinung treten lassen:

"How, then, is the illusion produced of a stable, material world and of the perdurable personalities living in it? It is in order to explain this that the Buddha taught the doctrine of  paṭicca-samuppāda (dependent origination or conditional causation). [...] Every element (dhamma), though appearing only for a single instant (khaṇa) is a "dependently-originating element" . [...] The relationship is one of "consecution"  rather than of causation. There is no destruction of one thing and no creation of another, no influx of one substance into the other. There is only a constant, uninterrupted, infinitely graduated change."8

8 G.P. Malalasekera in Encyclopedia of Buddhism I, S. 572.


2.2.2. Rūpa-kkhandha


Ajjhattikarūpaṃ asubhato passanto kabaḷinkārāhāraṃ parijānāti, asubhe: subhan ti vipallāsaṃ pajahati, kāmoghaṃ uttarati, kāmayogena visaṃyujjati, kāmāsavena anāsavo hoti, abhijjhā-kāyaganthaṃ bhindati, kāmūpādānaṃ na upādiyati.9

9 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 480;1-5.

"Indem man die eigene Körperlichkeit als unrein erschaut, erkennt man (sie) klar als materielle Nahrung, man entledigt sich der verdrehten Wahrnehmung des Unreinen als rein, man überquert die Flut des sinnlichen Verlangens, macht sich frei von diesem Joch, die Einströmungen10  des sinnlichen Verlangens sind versiegt, man durchschneidet die Körperfessel durch Begierde, das Greifen aus sinnlichem Verlangen regt sich nicht mehr."

10 Zum Begriff āsava vgl. Nyanatiloka: Buddhistisches Wörterbuch, 1989. - S. 37: "Āsava,  "Strömungen, Einströmungen" (von ā-savati, fließen, hinzufließen), ist eine bildliche Bezeichnung für die häufig erwähnten 4 Triebe: (1) Sinnlichkeitstrieb (kāmāsava), (2) Daseinstrieb (bhavāsava), (3) Ansichtstrieb (diṭṭhāsava), (4) Unwissenheitstrieb (avijjāsava)."

Tattha yaṃ kiñci sītādīhi ruppanalakkhaṇaṃ dhammajātaṃ, sabban taṃ ekato katvā rūpakkhandho ti veditabbaṃ.11

11 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 443;28-29. 

 "Unter dem Begriff des "funktionalen Zentrums der Körperlichkeit"  sind all solche aus den dhammas enstandene (Phänomene) zusammengefasst, die dadurch gekennzeichnet  sind, dass sie durch (äußere Faktoren) wie Kälte usw. beeinträchtigt werden."

Ferner wird rūpa eingeteilt in die vier Grundelemente 

und in die 24 Arten "abhängig entstandener Körperlichkeit" (upādā-rūpaṃ  catuvīsatividhaṃ):12

12 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 444;1-6.

  1. cakkhu Auge,
  2. sotaṃ Gehör,
  3. ghānaṃ Geruchsinn,
  4. jivhā Geschmacksinn,
  5. kāyo Somatosensorisches Organ,
  6. rūpaṃ Optische Objekte,
  7. saddo Akustische Objekte,
  8. gandho Geruchsobjekte,
  9. raso Geschmacksobjekte,
  10. itthindriyaṃ Weiblichkeit,
  11. purisindriyaṃ Männlichkeit,
  12. jīvitindriyaṃ Vitalität,
  13. hadayavatthu Physische Grundlage des Gemüts,
  14. kāyaviññatti Körperausdruck,
  15. vacīviññatti Sprachlicher Ausdruck,
  16. ākāsadhātu Raumdimension,
  17. rūpassa lahutā Physische Beweglichkeit,
  18. rūpassa mudutā Physische  Geschmeidigkeit,
  19. rūpassa kammaññatā Physische Fitness,
  20. rūpassa upacayo Körperliches Wachstum,
  21. rūpassa santati  Physische Kontinuität.
  22. rūpassa jaratā Physisches Altern,
  23. rūpassa aniccatā Physische Unbeständigkeit,
  24. kabaḷinkāro āhāro Stoffliche Nahrung.

Körperlichkeit wird betrachtet als Komplex von Funktionen, der nicht autonom zu existieren vermag, sondern in einen größeren Bedingungszusammenhang eingebunden ist. Der Organismus wird nicht als etwas von der Lebensgrundlage Getrenntes beschrieben. Die Konzeption von upāda-rūpa trägt also einem Grundsatz der Abhidhamma-Philosophie Rechnung, den Nyanaponika folgendermaßen formuliert:

"A complete description of a thing requires, besides its analysis, also a statement of its relations to other things."13

13 Nyanaponika: Studies, 1949. -  S. 3.

Zusammenfassend gesprochen beschreibt rūpa verschiedene Aspekte der korporealen Grundlage von Persönlichkeit und deren Schnittstellen mit der Umwelt (Sinnesorgane, Raum- und Zeitdimension etc.).


2.2.3. Viññāṇa-kkhandha


 Viññāṇaṃ aniccato passanto viññāṇāhāraṃ parijānāti, anicce: niccan ti vipallāsaṃ pajahati, avijjoghaṃ uttarati, avijjāyogena visaṃyujjati, avijjāsavena anāsavo hoti, sīlabbataparāmāsa-kāyaganthaṃ bhindati, diṭṭhūpādānaṃ ma upādiyati.14

14 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 480;16-20.

 "Indem man das Bewusstsein als unbeständig erschaut, erkennt man (es) klar als geistige Nahrung, man entledigt sich der verdrehten Wahrnehmung des Unbeständigen als beständig, man überquert die Flut der Unwissenheit, macht sich frei von deren Joch, die Einströmung der Unwissenheit ist versiegt, man durchschneidet die Körperfessel des Irregeleitetseins durch moralische und rituelle Konventionen, Greifen aus Unwissenheit regt sich nicht mehr."

Buddhagosas Darlegung des viññāṇa-kkhandha soll im folgenden besonders ausführlich besprochen werden. Buddhaghosa beginnt seine Diskussion der nāma-kkhandhas, der vier Kategorien mentaler Koeffizienten, mit viññāṇa:

Tattha yasmā viññāṇakkhandhe viññate, itare suviññeyyā honti, tasmā viññāṇakkhandhaṃ ādiṃ katvā vaṇṇanaṃ karissāma.15

15Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 452;20-22. 

 "Sobald man das funktionale System des Bewusstseins verstanden hat, sind die übrigen leicht zu verstehen. Aus diesem Grund werde ich meine Erklärung mit dem funktionalen System des Bewusstseins beginnen."

Citta und mano führt er als synonyme Begriffe an. Zunächst wird Bewusstsein nach seiner karmischen Wertigkeit klassifiziert:


2.2.3.1. Kusala-viññāṇa: heilsames Bewusstsein


Hier wiederum werden vier Arten unterschieden:

  1. Im Bereich der Sinnensphäre (kāmāvacara) entstehendes heilsames Bewusstsein

    Die Kriterien Freude (somanassa), Teilnahmslosigkeit oder Indifferenz (upekkhā), Wissen (ñāṇa) und Vorbereitung (sankhāra) führen zur Unterscheidung von acht Unterarten:
     
    1. von Freude begleitet (somanassasahagata), wissentlich (ñāṇasampayutta), spontan (asankhāra)
    2. von Freude begleitet, wissentlich, überlegt (sasankhāra)
    3. von Freude begleitet, unwissentlich (ñāṇavippayutta), spontan,
    4. von Freude begleitet, unwissentlich, überlegt,
    5. teilnahmslos (upekkhāsahagata), wissentlich, spontan,
    6. teilnahmslos, wissentlich, überlegt
    7. teilnahmslos, unwissentlich, spontan
    8. teilnahmslos, unwissentlich, überlegt.

    "Freude" bezeichnet hier das Glücksgefühl, mit der eine konstruktive Handlung wie das Geben von Almosen o.ä. ausgeführt wird, während "Teilnahmslosigkeit" für die Abwesenheit dieses Glücksgefühls steht: Man handelt konstruktiv bzw. heilsam, aber ohne innere Anteilnahme.
    "spontan" steht für das situationsbedingte heilsame Handeln, "überlegt" hingegen handelt man dann, wenn der Handlung Erwägungen vorausgehen oder wenn sie auf jemandes Aufforderung hin geschieht. Das Kriterium "Wissen" entscheidet darüber, ob man sich der karmischen Qualität seines Handelns bewusst ist oder nicht.

    Weiter unterscheidet man  in Anlehnung an die Neun jhānas oder Vertiefungsstufen:
     

  2. Das im Feinkörperlichen Bereich entstehende heilsame Bewusstsein (rūpāvacara)
    Unter diese Kategorie fällt das mit den Fünf jhanangas der Feinkörperlichen Sphäre verbundene heilsame Bewusstsein:
    1. die mit konzeptgebundenem Denken (vitakka), diskursivem Denken (vicāra), Euphorie (pīti), Wohlbehagen (sukha) und Sammlung (samādhi) einhergehende Erste Vertiefung,
    2. die Zweite Vertiefung, bei der man das konzeptgebundene Denken hinter sich gelassen hat (atikkantavitakka),
    3. die Dritte Vertiefung, bei der man das diskursive Denken hinter sich gelassen hat (atikkantavicāra),
    4. die euphorische (virattapītika) Vierte Vertiefung, und schließlich
    5. die mit Gleichmut und Sammlung verbundene Fünfte Vertiefung, die jenseits von Wohlbehagen ist (atthangatasukha)
       
  3. Das im Unkörperlichen Bereich (arūpāvacara) entstehende heilsame Bewusstsein

    Die vierfache Einteilung hier erfolgt in Anlehnung an die Vier Unkörperlichen Zustände, gemeint ist also das heilsame  Bewusstsein, das mit dem jeweiligen Zustand einhergeht:
    1. geht einher mit der Vertiefung des Raumunendlichkeitsgebietes  (ākāsānañcāyatanajjhānena sampayutta),
    2. geht einher mit der Vertiefung des Bewusstseinsunendlichkeitsgebietes (viññāṇañcāyatanajjhānena sampayutta),
    3. geht einher mit der Vertiefung des Nichtsheitsgebietes (ākiñcaññāyatanajjhānena sampayutta, und
    4. geht einher mit der Vertiefung der Weder-Wahrnehmung-noch-nicht-Wahrnehmung (nevasaññā-nāsaññāyatanajjhanenasampayutta).
       
  4. Das überweltliche (lokuttara) heilsame Bewusstsein

    Das  überweltliche heilsame Bewusstsein tritt bei den vier Klassen von Erlösten (arya-puggala)  auf und wird entsprechend differenziert:
    1. das heilsame Bewusstsein des  des Stromeingetretenen (sotāpanna),
    2. das heilsame Bewusstsein des Einmalwiederkehrers  (sakadāgāmī),
    3. das heilsame Bewusstsein des Niewiederkehrers (anāgāmī),
    4. das heilsame Bewusstsein des Vollständig Erlösten (arahat).

2.2.3.2. Akusala-viññāṇa: unheilsames Bewusstsein


Unheilsames Bewusstsein kann nach Buddhaghosa lediglich im Bereich der Sinnesspäre entstehen. Insgesamt werden zwölf Arten von karmisch unheilsamem Bewusstsein aufgeführt.  Zunächst wird nach der Wurzel bzw. dem Affekt differenziert, der das unheilsame Bewusstsein hervorbringt:


2.2.3.2.1. lobha


Hier werden auf Grundlage der Kriterien

acht Arten unterschieden 16 :

16 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 454;4-8.

  1. mit Genugtuung (somanassasahagata), überzeugt (diṭṭhigatasampayutta), im Affekt (asankhāra),
  2. mit Genugtuung), überzeugt, geplant (sasankhāra),
  3. mit Genugtuung, überzeugt, im Affekt,
  4. mit Genugtuung, unreflektiert (diṭṭhigatavippayutta), geplant,
  5. teilnahmslos (upekkhāsahagata), überzeugt, im Affekt,
  6. teilnahmslos, überzeugt, geplant,
  7. teilnahmslos, unreflektiert, im Affekt,
  8. teilnahmslos, unreflektiert, geplant.
Yadā hi: natthi kāmesu ādīnavo ti ādinā nayena micchādiṭṭhiṃ purakkhatvā haṭṭhatuṭṭho kāme vā paribhuñjati diṭṭhamangalādīni vā sārato pacceti sabhāvatikkhen' eva anussāhitena cittena, tadā paṭhamaṃ akusalacittaṃ uppajjati.17

17Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 454;8-12.

"Die erste Art von karmisch destruktivem Bewusstseinsmoment wird dann wirksam, wenn[jemand] eine irrige Ansicht pflegt, etwa in der Art: "In sinnlichem Vergnügen ist nichts Verwerfliches", und dann voller Genugtuung sich sinnlichem Vergnügen hingibt oder den glückverheißenden äußeren Anschein [der Phänomene] (diṭṭhamaṅgalādīni) usw. für deren wahres Wesen hält und sich daran klammert18  und zwar (eva) mit klarem Bewusstsein (sabhāvatikkhena) und ohne erst angespornt worden zu sein.''

18 pacceti referiert sowohl auf die irrige Wahrnehmung als auch auf das sich-Klammern: Vgl. PTS Dictionary S. 508: [...] to come onto, to come back to, fig. fall back on, realise, find one's hold in".

Freude bzw. Genugtuung als Kriterium muss nicht weiter erläutert werden, Teilnahmslosigkeit äußert sich als Mangel an Genugtuung bei einer schädlichen Handlung. Ferner kann schädliches Handeln aus einer verkehrten Ansicht resultieren, oder aber völlig unreflektiert stattfinden, was sich auf die karmische Wertigkeit des damit verbundenen Bewusstseins auswirkt.  Aus Sicht des Kommentators macht es außerdem einen Unterschied, ob vorsätzlich gehandelt wird oder spontan, aus eigenem Antrieb. 


2.2.3.2.2. dosa


Das in Aversion wurzelnde Bewusstsein ist entweder

  1. durch Trübsal (domanassa) oder
  2. durch Widerwillen (paṭigha)

charakterisiert. Die karmische Wertigkeit dieser Art von negativem Bewusstsein leitet sich ebenfalls vom sankhāra-Kriterium ab, entscheidend ist dabei ob es bei

  1. einer vorsätzlich begangenen Handlung oder
  2. einer im Affekt  begangenen Handlung

auftritt.


2.2.3.2.3. moha


Die Bewusstseinszustände

  1. Unentschlossenheit, charakterisiert durch Teilnahmslosigkeit und von Zweifel begleitet (vicikicchāsampayutta) und
  2. Zerstreutheit, charakterisiert durch Nervosität (uddhaccasampayutta)

repräsentieren die zwei Arten des in Verblendung wurzelnden unheilsamen
Bewusstseins. 


2.2.3.3. Avyākata-viññāṇa: karmisch wirkungsloses Bewusstsein


Avyākataṃ jātibhedato duvidhaṃ: vipākaṃ, kiriyañ ca.19

19 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 454.

 "Es werden zwei Arten von karmisch wirkungslosem Bewusstsein unterschieden: karmageneriert (vipāka) oder rein funktionell (kiriya)."

Die Unterscheidung kusala, akusala, avyākata beziehen sich auf die karmische Wirksamkeit der jeweiligen Bewusstseinsklasse, nicht auf die Qualität der Erfahrung bzw. darauf, wie der betreffende Bewusstseinszustand sich manifestiert: so kann avyākata viññāṇa  sahetuka sein, mit karmisch heilsamen Wurzeln einhergehen.  avyākata-viññāṇa kann zwar — aber muss nicht — karmisch bedingt sein,  ist jedoch nicht karmisch wirksam. In diese Kategorie fallen auch die Bewusstseinsfaktoren, die beim Prozess der Sinneswahrnehmung eine Rolle spielen.


2.2.3.3.1. Kamma-vipāka: karmageneriert


Auch das karmagenerierte neutrale Bewusstsein kann sich in den vier avācāras manifestieren, wobei es im sinnlichen Bereich sowohl als durch heilsames als auch durch unheilsames Karma bewirkt auftreten kann, in den übrigen Bereichen lediglich als Resultat heilsamen Karmas.


2.2.3.3.1.1. kāmāvacara


  1. kusala
     
    1. ahetuka: wurzelfrei

      Darunter fällt jegliches Bewusstsein, das nicht mit den karmisch konstruktiven Wurzeln wie
      Freigebigkeit, Liebe und Weisheit einhergeht. Das sind zunächst die den fünf Sinnesorganen zugeordneten Bewusstseinsarten:
       
      1. cakkhu-viññāṇa
      2. sota-viññāṇā
      3. gandha-viññāṇa
      4. jivha-viññāṇa
      5. kāya-viññāṇa

        Weiter fallen in diese Kategorie:
      6. mano-dhātu, das die (das Sinnenobjekt) rezipierende Funktion (sampaṭicchana) zuständige Bewusstseinselement,
      7. euphorisches mano-viññāṇa-dhātu, die euphorische Bewusstseinsgrundlage der kognitiven Fähigkeit des  "Abscannens" (santīraṇa) und des Registrierens (tad-ārammaṇa) der Objekte:
         
        Etāsu hi ekā ekantam-iṭṭhārammaṇapavatti-sabbhāvato somanassasampayuttā hutvā santīraṇa-tadārammaṇavasena pañcadvāre c' eva javanāvasāne ca pavattanato dviṭṭhānā hoti.20

        20 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 455;15-18. 

         "Insofern sie [die euphorische Bewusstseinsgrundlage der kognitiven Fähigkeit des  Evaluierens]ausschließlich in Verbindung mit tendenziell wünscheswerten Objekten virulent wird bzw. gemeinsam mit solchen auftritt, geht sie mit Euphorie  einher und wird an zwei Stellen durch Evaluieren (bzw. Abscannen) und Registrieren aktiv, sowohl [bei Eingang des Reizes] an den fünf Sinnestoren als auch nach Erlöschen der Impulsivmomente."S

         

      8. emotional neutrales mano-viññāṇa-dhātu, die emotional neutrale Bewusstseinsgrundlage der kognitiven Fähigkeit des Evaluierens und  Registrierens  der Objekte. Die von Indifferenz begleitete Bewusstseinsgrundlage der kognitiven Fähigkeit des Abscannens und Registrierens wird an fünf Punkten des Wahrnehmungsvorgangs aktiv, nämlich insofern sie sich manifestiert und aktiv wird bei tendenziell indifferenten (iṭṭha-majjhatta) Objekten, beim Abscannen, Registrieren, als Verbindungsbewusstsein, als Unterbewusstsein und
        als Sterbebewusstsein.

      Die genannten acht Klassen von ahetuka-vipāka viññāṇa unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Objekt-Sensitivität: Während die den fünf Sinnen zugehörigen Bewusstseinsarten objektspezifisch (niyata) sind, also ausschließlich für Objekte des betreffenden Sinnes sensitiv, ist das Geistbewusstsein oder kognitive Bewusstsein (mano-viññāṇa) nicht objektspezifisch und sensitiv für alle fünf Kategorien von Objekten.  Während kāya-viññāṇa mit Wohlgefühl einhergeht, sind die übrigen Formen von Sinnesbewusstsein emotional neutral bzw. gehen mit Indifferenz einher.
       

    2. sahetuka: wurzelbegleitet

       Wurzelbegleitetes Bewusstsein geht einher mit karmisch wirksamen Wurzeln Freigebigkeit, Liebe und Weisheit. Die achtfache Einteilung entspricht der des kusala-viññāṇa.  Das Kriterium der "Vorbereitung" ist dahingehend zu verstehen, dass "vorbereitete" Bewusstseinsmomente karmisches Resultat vorbereiteter konstruktiver Bewusstseinszustände (kusala viññāṇa) sind, die als "spontan" qualifizierten hingegen karmisch zurückführbar sind auf "spontanes" konstruktives Bewusstsein.
      Die Bewusstseinszustände, die unter sahetuka-vipāka-viññāṇa fallen, sind nämlich nicht mit Karma generierender Aktivität verbunden — sie sind ja avyākata, karmisch wirkungslos.
       
  2. akusala 

    "Insofern sie [die euphorische Bewusstseinsgrundlage der kognitiven Fähigkeit des  Evaluierens]ausschließlich in Verbindung mit tendenziell wünscheswerten Objekten virulent wird bzw. gemeinsam mit solchen auftritt, geht sie mit Euphorie  einher und wird an zwei Stellen durch Evaluieren (bzw. Abscannen) und Registrieren aktiv, sowohl [bei Eingang des Reizes] an den fünf Sinnestoren als auch nach Erlöschen der Impulsivmomente."

     kevalaṃ hi akusalavipākaṃ ahetukam eva.21

    21 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 456;3.

     "Jegliches durch destruktives Karma generierte [Bewusstsein] ist grundsätzlich wurzelfrei."

    Die siebenfache Klassifizierung ist mit der des akusala-viññāṇa identisch abgesehen davon, dass die euphorische oder emotional neutrale Bewusstseinsgrundlage der kognitiven Fähigkeiten
    des Evaluierens und Registrierens wegfällt. Entsprechend ändert sich auch die Differenzierung der emotionalen Qualität dieser Bewusstseinszustände und ihrer Objekte: Sie gehen entweder mit Schmerz einher oder sind emotional neutral, wobei kāya-viññāṇa grundsätzlich schmerzhaft ist.

Insgesamt gibt es also im kāmāvācāra-Bereich 23 Arten karmagenerierten Bewusstseins: 16 durch konstruktives bzw. heilsames Karma generierte und sieben durch destruktives Karma generierteBewusstseinszustände.


2.2.3.3.1.2. rūpāvacara


Die fünffache Einteilung hier entspricht der für kusala-viññāṇa im selben Bereich. Als kusala-viññāṇa jedoch haben diese fünf Arten karmische Bedeutung: Sie treten auf im javana-vīthi, der Sequenz von Impulsmomenten während der Vertiefungen und reifen heran zu den Bewusstseinsmomenten, die in der selben Sphäre als vipāka erfahren werden, d.h. als paṭisandhi-Bewusstsein usw.


2.2.3.3.1.3. arūpāvacara


Ebenso verhalten sich die vier Arten kusala-viññāṇa und vipāka-viññāṇa des Unkörperlichen Bereichs zueinander.


2.2.3.3.1.4. lokuttara


Die vier Arten konstruktiven Bewusstseins, die mit den vier Pfaden der Erlösung einhergehen haben als Frucht die vier Arten vipāka-viññāṇa der vier Stufen der Erlösung, die sich im Pfadprozess (magga-vīthi) und bei Fruchterreichung manifestieren.

Insgesamt gibt es also 36 Arten karmagenerierten Bewusstseins in den vier Bereichen.


2.2.3.3.2. Kiriya: funktionsspezifisch


Funktionsspezifisches Bewusstsein tritt nur im sinnlichen, im feinkörperlichen und im unkörperlichen Erfahrungsbereich auf.


2.2.3.3.2.1. kāmāvacara


Auch das funktionsspezifische Bewusstsein tritt hier sowohl ahetuka, wurzelfrei als auch sahetuka, wurzelbegleitet auf.

  1. ahetuka: wurzelfrei

    Als wurzelfrei gilt das Bewusstseinselement (mano-dhātu) und die Bewusstseinsgrundlage der Kognition (mano-viññāṇa-dhātu).
     
    Tattha cakkhuviññāṇādipurecararūpādivijānanalakkhaṇā manodhātu, āvajjanarasā, rūpādi-abhimukhabhāvapaccupaṭṭhānā, bhavangavicchedapadaṭṭhānā. Sā uppekkhā yuttā va hoti.22

    22 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 457;32-35.

     "In dieser Funktion ist das Bewusstseinselement dadurch gekennzeichnet, dass es den Sinnesbewusstseinsarten wie Sehbewusstsein usw. vorausgeht und die Sinnesbewusstseinsobjekte wie die visuellen Anreize usw. erkennt, sein spezifisches Wesen besteht im Aufmerken, es tritt in Erscheinung im Zustand der Ausrichtung auf [Anreize wie] Form usw., es basiert auf der Unterbrechung des Unterbewusstseins. Es ist grundsätzlich teilnahmslos."

    Die zwei Arten von funktionsspezifischen Bewusstseinsgrundlagen der Kognition unterscheiden sich von den karmagenerierten dadurch,  dass sie unabhängig sind von der Qualität der Objekte (während die emotionale Qualität des jeweiligen karmagenerierten Pendant untrennbar ist von der Qualität der Objekte, die ebenfalls karmisch determiniert ist). Die gewöhnliche funktionsspezifische Bewusstseinsgrundlage der Kognition, sādhāraṇa mano-viññāṇa-dhātu ist nicht emotional gefärbt, sondern vielmehr gefühlsmäßig neutral und in ihrem  Auftreten  nicht gekoppelt an Objekte einer bestimmten Güteklasse,  z.B. erwünscht, neutral etc. Sie beschränkt sich auf das Registrieren (voṭṭhapana) an den fünf Sinnestoren (pancadvāra), Aufmerken (āvajjana) an der Geistespforte (manodvāra) ohne emotionale Reaktion.

     ahetukavipākamanoviññāṇadhātu-bhavangānam aññatarāpagamapadaṭṭhānā23

    23 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 457;3-5.

    "Seine Grundlage besteht im Verschwinden entweder der wurzelfreien karmagenerierten
    Bewusstseinsgrundlage der Kognition oder des Unterbewusstseins." 

    Das ungewöhnliche, asādhāraṇā mano-viññāṇa-dhātu hingegen ist euphorisch (somanassasahagatā) und den Arahats, den vollständig Erlösten vorbehalten, "... bei denen es ohne erkennbaren Anlass Lächeln hervorruft" (kiccavasena arahataṃ anuḷāresu vatthūsu hasituppādanarasā)24

    24 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 457;6-7.
     

  2. sahetuka: wurzelbegleitet

    Die Einteilung des von den Wurzeln konstruktiven Karmas begleiteten funktionsspezifischen
    Bewusstseins entspricht wieder der des kusala-viññāṇa. Diese Bewusstseinskategorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie nur bei vollständig Erlösten virulent wird.

2.2.3.3.2.2. rūpāvacara


Die Klassifizierung des wurzelbegleiteten funktionsspezifischen Bewusstseins im Feinkörperlichen Bereich  verhält sich zu der des kusala-viññāṇa in den betreffenden Bereichen wie bei kāmāvacāra.


2.2.3.3.2.3. arūpāvacāra


Die Klassifizierung des wurzelbegleiteten funktionsspezifischen Bewusstseins im Unkörperlichen Bereich  verhält sich zu der des kusala-viññāṇa in den betreffenden Bereichen wie bei kāmāvacāra.

Zu avacāra als Kriterium:

avacāra könnte man sinngemäß als "Erfahrungsbereich" übersetzen. Die Zuordnung der Bewusstseinsarten zu den avacāras spielt eine Rolle für die künftige Daseinform. Extrem vereinfacht dargestellt könnte man sagen: kamma und vipāka ereignen sich im selben Erfahrungsbereich, avacāra. So reift beispielsweise karmisch heilsames Bewusstsein, das in der Feinkörperlichen Sphäre erzeugt wird, auch zum entsprechenden vipāka in der Feinkörperlichen Sphäre heran, d.h. es führt zu einer Wiedergeburt in diesem Bereich. Natürlich wird im Laufe der individuellen Existenz in einer immensen Zahl von Bewusstseinsmomenten unterschiedlicher Wertigkeit und von unterschiedlichem karmischen Gewicht (und ggf. auf verschiedenen avacāras) kamma produziert, und somit wird die künftige Daseinsform von einer Vielzahl von Determinanten bestimmt und kamma und vipāka avacāra lassen sich nicht ohne weiteres "gegenüberstellen".


2.2.3.3.2.4. Die 14 Bewusstseinsfunktionen: viññāṇa-kicca


In diesem Abschnitt nun klassifiziert der Kommentar die beschriebenen 89 Arten von Bewusstsein nach ihrer Funktion bzw. der Gelegenheit, bei der sie wirksam werden:

  1. paṭisandhi: Wiedergeburt(smoment)

    Wörtlich übersetzt bedeutet paṭisandhi soviel wie "erneutes Sich-Verbinden", nämlich mit dem "Anfang eines neuen Daseins". Die gängige Übersetzung "Wiedergeburt" ist in Kontext der Theravāda-Dogmatik problematisch, weil es nichts gibt, das wiedergeboren werden könnte: Bestimmte Klassen von Bewusstsein fungieren als Determinanten in diesem Prozess, das heißt sie leisten paṭisandhi, die Kontinuität bzw. den Übergang zwischen den Geburten.  Es werden hier 19 Klassen von
    Bewusstsein unterschieden25 :

    25 Vgl. Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 458;19-21.

    1. die neun karmagewirkten Bewusstseinszustände der Feinkörperlichen und der Unkörperlichen Sphäre (fallen unter avyākata viññāṇa): Bei einer Wiedergeburt im Feinkörperlichen oder Unkörperlichen Bereich wird einer dieser Bewusstseinszustände im Empfängnismoment virulent.
    2. die acht affektbegleiteten durch heilsames Karma gewirkten Zustände der Sinnensphäre (fallen unter avyākata viññāṇa): Bei einer Wiedergeburt im menschlichen Bereich oder bestimmten Götterbereichen wird zum Zeitpunkt der Empfängnis einer dieser Bewusstseinszustände virulent.
    3. mano-viññāṇa-dhātu: ahetuka: die affektfreie karmagewirkte kognitive Grundlage des Bewusstseins.
    4. mano-viññāṇa-dhātu: akusala-vipāka, ahetuka : die durch unheilsames Karma gewirkte affektfreie kognitive Grundlage des Bewusstseins ist bei der Geburt in den niederen Bereichen (Tiere, Geister, Höllen) wirksam.
       
  2. bhavaṅga: unterbewusster Daseinsstrom

    Die jeweilige Bewusstseinskategorie, die Daseinsform bestimmt, wirkt während der gesamten Dauer dieser Existenz im Unterbewusstsein weiter und gewährleistet so deren Kontinuität. Sobald das entsprechende Bewusstseinsmoment seine Funktion als paṭisandhi-viññāṇa erfüllt hat, tritt die selbe Klasse von Bewusstsein als bhavaṅga, Unterbewusstsein auf:
     
    paṭisandhiviññāṇe pana niruddhe, taṃ taṃ paṭisandhiviññāṇaṃ-anubandhamānaṃ tassa tass' eva kammassa vipākabhūtaṃ tasmin tasmiṃ yeva ārammaṇe tādisam eva bhavangaviññāṇaṃ nāma pavattati. Puna pi tādisan ti evaṃ asati, santānavinivattake aññasmiṃ cittuppāde, nadīsotaṃ viya, supinam apassato niddokkamanakālādisu apatimāṇasankhyam pi pavattati yevā ti evaṃ tesaṃ yeva viññāṇaṃ bhavangavasenā pi pavatti veditabbā.26

    26 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 458

    "Sobald nun wiederum das Kontinuitätsbewusstsein erloschen ist, entsteht das sogenannte Unterbewusstsein, das direkt auf (die jeweilige Kategorie von) Kontinuitätsbewusstsein folgt, und als Resultat eines bestimmten Karma entspricht es qualitativ dieser karmischen Grundlage. Letzteres ist jedoch dann nicht mehr der Fall, sobald ein anderweitig bedingtes Bewusstseinsmoment auftaucht, dass das Bewusstseinskontinuum wie den Lauf eines Flusses umlenkt.  Angefangen vom Zeitpunkt des ersten Aufsteigens setzt  sich dieser schlafähnliche Zustand (supinam) unendlich fort, ohne etwas zu registrieren (apassato), in dieser Weise hat man sich die Abfolge der Bewusstseinsmomente in der Funktion als Unterbewusstsein vorzustellen."

    Ein und dieselbe Bewusstseinsklasse ist also für die Grundzüge der jeweiligen Existenz verantwortlich: abgesehen von der Daseinsform prägt sie auch den Charakter eines Wesens.

    Ekasantānasmiṃ hi phalaṃ uppajjamānaṃ tattha ekanta-ekattanānattānaṃ paṭisiddhattā aññassā ti vā aññato ti vā na hoti. Etassa ca pan' atthassa bījānaṃ abhisankhāro sādhako. Ambabījādīnam hi abhisankhāresu katesu tassa bījassa santāne laddhapaccayā kālantare phalaviseso uppajjamāno, na aññabījānaṃ, nā pi aññābhisankhārapaccayā uppajjati, na ca tāni bījāni abhisankhārā phalaṭṭhānaṃ pāpuṇāti; evaṃ sampadam idaṃ veditabbaṃ.27

    27 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 555

     "Die in einem bestimmten Bewusstseinskontinuum entstehende karmische Frucht wird  nicht von einem anderen erfahren (Genitiv: aññassa) und wurde nicht von einem anderen gesät (Ablativ: aññato): Diese Aussagen stehen für die Extreme der Identität und der Heterogenität (ekanta-ekatta-nānatta), die hier zurückzuweisen sind. Das (Beispiel des) Aussäens von Samen macht deutlich, was hier gemeint ist. Nehmen wir beispielsweise Mangosamen: sobald die Aussaat vorgenommen wurde, entsteht durch die Bedingungen, die im Verlauf des kontinuierlichen Heranreifens (santāne) des entsprechenden Samens aktiviert werden, eine ganz bestimmte Frucht: sie entsteht nicht aus anderen Samen, auch nicht aus den mit der Aussaat anderer Samen geschaffenen Bedingungen, aber  ebensowenig erreichen diese Mangosamen selbst bzw. deren Aussaat den Zustand (ṭhānaṃ) der Frucht. Genauso muss man sich den Zusammenhang vorstellen."

    Die selben 19 Kategorien, die als Determinanten (paṭisandhi) sowie als Träger der Kontinuität (bhavaṅga) der verschiedenen Daseinsformen fungieren, können auch als Sterbewusstsein auftreten. Das Sterbebewusstsein wiederum ist entscheidend für das paṭisandhi-viññāṇa, hier wirkt sich auch der Bewusstseinsgegenstand im Sterbemoment aus: Bestimmte Objekte haben im Hinblick auf die künftige Existenz Symbolcharakter in dem Sinne, dass sie die bewusstseinsmäßige Affinität zu einer bestimmten Daseinsform beeinflussen können.Tiere in der Gegenwart eines Sterbenden z.B. können als gati-nimmita, Erkennungszeichen für eine Existenz als Tier fungieren; die mit Genugtuung verbundene Vergegenwärtigung einer Tat, die der Sterbende zu Lebzeiten ausgeführt hat, gilt als kamma-nimmita.

    Die geschilderten Bewusstseinsstadien kommen in dieser Form weder im Sutta- noch im Abhidhamma-Pitaka vor. Von den einzelnen Bewusstseinsfunktionen werden lediglich javana und bhavaṅga im Abhidhamma genannt. Die zugrundeliegende Vorstellung vom Wahrnehmungsvorgang  als Sequenz funktionsspezifischer Bewusstseinsmomente lässt sich jedoch auch im Paṭṭhāna28  nachvollziehen.

    28 Paṭṭhāna, S.2f.
     

  3. āvajjana: Aufmerken

    Durch das Geist-Element, mano-dhātu, sowie das von Indifferenz begleitete wurzelfreie kognitive Grundlage des Bewusstseins, ahetuka mano viññāṇa dhātu, geschieht das Aufmerken als erste Stufe im Prozess der Sinneswahrnehmung.

    In diesen Funktionen treten zehn Klassen von karmisch wirkungslosem karmagewirktem Bewusstseinsklassen auf: die fünf Klassen mit tendenziell erwünschten bzw. erwünscht-gleichgültigen Objekten aufgrund von heilsamem Karma und die fünf Klassen mit tendenziell unerwünschten und unerwünscht-gleichgültigen Objekten durch unheilsames Karma29 .

    29 Vgl. Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 458;26-29.
     

  4. sampaṭicchana: Rezipieren

    Als mentale Rezeptoren des Sinnensobjektes fungieren die zwei Klassen von mano-dhātu. Die karmische Wertigkeit des betreffenden Sinnesobjektes bzw. der Kategorie des Sinnesbewusstseins bestimmt auch darüber, welches mano-dhātu aktiv wird: kusala-vipāka oder akusala-vipāka.
     
  5. dassana: Sehen
     
  6. savana: Hören
     
  7. ghāyana: Riechen
     
  8. sāyana: Schmecken
     
  9. phusana: Somatosensorik
     
  10. santīraṇa: Evaluieren

    Abhängig von der Wertigkeit des als sampaṭicchana-citta fungierenden mano-dhātu tritt das mano-viññāṇa-dhātu der selben Klasse als santīrana-citta auf. An dieser Stelle des Wahrnehmungsprozesses findet das Evaluieren oder Abscannen des Objektes auf seine Qualität, also angenehm, unangenehm usw. statt. Beim durch heilsames Karma gewirkten Bewusstseinselement gibt es je nach Qualität des Sinnesobjektes zwei Möglichkeiten:
     
    1. erwünschtes Objekt: die von Freude begleitete karmagenerierte wurzelbegleitete kognitive Bewusstseinsgrundlage vipākahetukamano-viññāṇa-dhātu, somanassasahagatā30

      30 Vgl. Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 459;8-10.
       

    2. erwünscht-gleichgültiges Objekt: die von Indifferenz begleitete karmagenerierte wurzelfreie kognitive Bewusstseinsgrundlage (kiriyāhetukamanoviññāṇa-dhātu, upekkhāsahagatā).31

      31 Vgl. Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 459;13-14.
       

  11. voṭṭhāpana: Feststellen

    In der Funktion des voṭṭhāpana-citta tritt lediglich das von Indifferenz begleitete funktionelle wurzelfreie  mano-dhātu auf.
     
  12. javana: Impulssequenz

    In diesem "Stadium" wird der Bewusstseinsprozess karmisch aufgeladen: Die als javana-cittas auftretenden Bewusstseinsmomente haben den Stellenwert von kamma-cetanā, d.h. sie gehen mit Wollen bzw. Intention einher, das für das Generieren von Karma verantwortlich ist. In den vorausgehenden Stadien ist ausschließlich avyākata-viññāṇa, karmisch wirkungsloses Bewusstsein virulent. Erst auf Ebene von  javana tritt auch karmisch produktives Bewusstsein auf den Plan: d.h. karmisch konstruktive oder destruktive Bewusstseinsmomente aus dem kāmāvacāra-Bereich. Lediglich bei verwirklichter vollständiger Erlösung, arahatta, sind die javana-cittas  karmisch wirkungsloses, rein funktionelles Bewusstsein, nämlich eine der acht Arten des manoviññāṇa-dhātu bzw. das außergewöhnliche (asādhārana)-manoviññāṇa-dhātu.

    Wird der Bewusstseinsprozess über das mano-dvāra, das intellektuelle Tor, ausgelöst - wenn es sich um ein geistiges Objekt handelt - dann folgen die Impulsivmomente unmittelbar auf das Aufmerken (āvajjana) am manodvāra, die anderen Funktionen werden nicht aktiviert.  Sechs oder sieben solcher Impulsivmomente folgen aufeinander; ist der Bewusstseinsvorgang in eine der Vier Vertiefungen oder die Erlangung einer der Vier Stufen der Erlösung eingebunden, dann ist das vierte javana-citta der sogenannte gotrabhū oder Reifemoment, auf das unmittelbar der jeweilige Grad der Versenkung bzw. der Erlösung eintritt.

    Insgesamt können 55 Bewusstseinsarten als Impulsivmomente fungieren. Interessant ist, dass schon karmisch aufgeladene cittas auftreten, also kamma erzeugt wird, ehe das Objekt als solches bewusst realisiert wird, denn das geschieht erst auf der nächsten Stufe mit
     

  13. tad-ārammaṇa: Registrieren

    Hier wird deutlich, dass die Theravāda-Scholastik nicht davon ausgeht, dass der Wahrnehmungsvorgang eine objektive Angelegenheit ist: Erklärtermaßen ist es nicht nur rein funktionelles Bewusstsein, kiriya viññāṇa, das den Wahrnehmungsprozess leistet, sondern karmagenerierte und karmisch produktive Bewusstseinsklassen.  Im Gegensatz zu verschiedenen anderen buddhistischen Schulrichtungen sind die Theravādin Realisten: sie betrachten die  dhammas als reale Grundlage der Welt der Phänomene. Buddhaghosas Darstellung des Bewusstseinsvorgangs zeigt jedoch, dass die äußere Wirklichkeit und das erfahrende Bewusstsein nicht als etwas unabhängig voneinander Existierendes betrachtet werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Wertigkeit der in den verschiedenen Bewusstseinsfunktionen des Wahrnehmungsvorganges auftretenden cittas mit der Qualität der Sinnesobjekte korreliert: das durch konstruktives Karma generierte cakkhu-viññāṇa, Sehbewusstsein, tritt auf mit tendenziell erwünschten Sehobjekten, das durch destruktives Karma generierte mit tendenziell frustrierenden Objekten. Diese karmagenerierte Kapazität des jeweiligen Sinnesbewusstseins bzw. des Intellekts grenzt die (emotionale) Bandbreite der entsprechenden Erfahrung von vornherein ein: beispielsweise wird vorherrschendes kusala kāya-viññāṇa die Erfahrung von extremem Schmerz weitgehend ausschließen, akusala kāya-viññāṇa in hohem Maße mit somatischen Frustrationen einhergehen. Man könnte die verschiedenen avacaras dahingehend interpretieren, dass sich in ihnen das objektive Korrelat der jeweiligen Qualität von karmageneriertem Sinnesbewusstsein (und Intellekt) zu Erfahrungsbereichen verdichtet. Das bedeutet, dass sich die Kosmologie von der karmisch determinierten Bewusstseinsqualität ableitet. Jedenfalls ist die emotionale Qualität der sinnlichen und intellektuellen Wahrnehmung - also tendenziell angenehm oder tendenziell frustrierend - schon mit der Daseinsform von vorneherein ein gutes Stück weit festgelegt, wenn auch nicht vollständig determiniert.
     
  14. Sterben, Tod

2.2.4. Vedanā-kkhandha: das funktionale System der Empfindung


 Vedanaṃ dukkhato passanto phassāhāraṃ parijānāti, dukkhe: sukhan ti vipallāsan pajahati, bhavogham uttarati, bhavayogena visaṃyujjati, bhavāsavena anāsavo hoti, vyāpāda-kāyaganthaṃ bhindati, sīlabbatūpādānaṃ na upādiyati.32

32 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S.480;6-10.

 "Indem man die Empfindung als leidhaft erschaut, erkennt man (sie) klar als durch den Bewusstseinseindruck genährt, man entledigt sich der verdrehten Wahrnehmung des Leidhaften als beglückend,  man überquert die Flut des Werdens, macht sich frei von dessen Joch, die Einströmung des Seinwollens ist versiegt, man durchschneidet die Körperfessel des Übelwollens, Greifen  nach moralischen und rituellen Konventionen regt sich nicht mehr."
Yaṃ kiñci vedayitalakkhaṇaṃ sabban taṃ ekato katvā vedanākkhandho veditabbo ti, etthā pi vedayitalakkhaṇam nāma vedanā ti.33

33 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 460;22-24.

"Unter dem Begriff des "funktionalen Zentrums der Empfindung" ist all das zusammengefasst, was durch (die Funktion des) Empfinden(s) ausgezeichnet ist, wobei hier die Funktion des Empfindens mit Empfindung identisch ist."

Es gibt in Anlehnung an die sechs Sinne (manas, der Geist, wird ebenfalls zu den Sinnen gerechnet) sechs Arten von Empfindung. Die Qualität sowie die karmische Wertigkeit einer Empfindung, also eines Koeffizienten aus dem vedanā-kkhandha, leitet sich von der Kategorie
des damit verbundenen Bewusstseins ab: Entsprechend erfolgt eine Einteilung in kusala, akusala und avyākata vedanā, also konstruktive bzw. heilsame, unheilsame und karmisch wirkungslose Empfindung. Weiter wird Empfindung nach der Qualität der Erfahrung klassifiziert:

  1. körperliches Wohlgefühl, sukha
  2. körperliches Schmerzgefühl, dukkha
  3. geistiges Wohlgefühl, somanassa
  4. geistiger Schmerz, domanassa
  5. Gleichmut, upekkhā

Diese Gefühlszustände werden wiederum den verschiedenen Erfahrungsbereichen, āvacaras, zugeordnet und entsprechend weiter unterteilt.

Ferner kategorisiert der Kommentar die Koeffizienten aus diesem System nach temporalen Kriterien (vergangen, gegenwärtig, zukünftig) und unter verschiedenen Gesichtspunkten als grob oder subtil. Diese Klassifikationen sind im Hinblick auf die dieser Arbeit zugrundeliegende Frageperspektive nicht relevant und werden hier deshalb nicht diskutiert.


2.2.5. Saññā-kkhandha: das funktionale System der konzeptualisierenden Wahrnehmung


 Saññaṃ, sankhāre ca anattato passanto manosañcetanāhāraṃ parijānāti, anattani: attā ti vipallāsaṃ pajahati, diṭṭhoghaṃ uttarati, diṭṭhiyogena visaṃyujjati, diṭṭhāsavena anāsavo hoti, idaṃ-saccābhinivesa-kayaganthaṃ bhindati, attavādūpādānaṃ na upādiyati.34

34 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 480;11-15.

 "Indem man die konzeptualisierende Wahrnehmung und die gestaltwirksamen Koeffizienten  als frei von einem Selbst erschaut, erkennt man (sie) klar als kognitive Nahrung, man entledigt sich der verdrehten Wahrnehmung eines Selbst, wo keines zu finden ist,  man überquert die Flut der spekulativen Sichtweisen, macht sich frei von deren Joch, die Einströmung der spekulativen Sichtweisen ist versiegt, man durchschneidet die Körperfessel der Neigung zur Aufstellung von Wahrheiten,  Greifen im Sinne der Behauptung eines Selbst regt sich nicht mehr."
Yaṃ kiñci sañjānanalakkhaṇaṃ sabban taṃ ekato katvā saññākkhandho veditabbo ti, etthā pi sañjānanalakkhaṇaṃ saññā va.35

35 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 461;29-31.

"Unter dem Begriff des "funktionalen System der konzeptualisierenden Wahrnehmung" ist all  das zusammengefasst, was sich durch (die Funktion des) Erfassens auszeichnet."

Auch die karmische Wertigkeit von saññā leitet sich vom damit verbundenen Bewusstseinszustand ab und ist somit entweder heilsam, unheilsam oder karmisch wirkungslos. Umgekehrt wiederum gibt es kein Bewusstsein, das nicht mit konzeptualisierender Wahrnehmung verbunden wäre.

Buddhaghosa sagt über saññā:

 Tad-ev' etan ti puna sañjānanapaccayanimittakaraṇarasā, dāru-ādisu tacchakādayo viya; yathā gahitanimittavasena abhinivesakaraṇapaccupaṭṭhānā, hatthidassaka-andhā viya; yathā upaṭṭhitavisayapadaṭṭhānā, tiṇapurisakesu migapotakānam: purisā! ti uppannasaññā viyā ti.36 

36 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga, S. 462;6-10.

 "Ihr spezifisches Wesen wiederum ist das Wiedererkennen [im Sinne von] "Das ist es!" bedingt durch  Markieren, wie es etwa bei einem Zimmermann  usw. im Hinblick auf seine Holzstücke oder ähnliches  [der Fall ist]. Sie tritt in der Weise in Erscheinung (paccupaṭṭhānā), dass sie  sich auf die Markierungen, wie sie einmal vorgenommen hat, ausrichtet (abhinivesakaraṇa) vergleichbar Blinden, die einen Elefanten erkennen. Ihr unmittelbarer Auslöser sind die Phänomene, wie sie [tatsächlich] auftreten, wie etwa in jungen Rehen bei Vogelscheuchen die Wahrnehmung "ein Mensch!" entsteht."

Das Zitat macht deutlich, dass es sich aus Theravāda-Sicht bei saññā nicht um "reine" Wahrnehmung handelt, die ihren Gegenstand lediglich abbildet, sondern um konzeptualisierende Wahrnehmung, die immer wieder auf bereits vorhandene Kategorien zurückgreift. Wahrnehmung geschieht nicht vor dem Hintergrund einer tabula rasa. Vielmehr wird das potentielle Wahrnehmungsobjekt - denn nicht jedes Objekt findet "Eingang" in die panca-dvāra bzw. das mano-dvāra - nach "Merkzeichen" abgescannt, die dann kognitiv zu einer Gestalt verbunden werden. Die Gestalt, die Ergebnis des Wahrnehmungsvorgangs ist, muss nicht kongruent sein mit der tatsächlichen Gestalt des Objekts (so eine solche existiert). Um auf  Buddhaghosas Beispiel vom Blinden und dem Elefanten zurückzukommen: der Blinde tastet den Rüssel und die ledrige Haut und nimmt so das Ojekt als Elefanten war; der wahrgenommene Elefant ist jedoch sicherlich nicht identisch mit dem realen Elefanten.

Die Klassifizierung von saññā ist identisch mit der von viññāṇa.


2.2.6. Sankhāra-kkhandha: Das funktionale System der gestaltwirksamen Koeffizienten


Yaṃ kiñci abhisankharaṇalakkhaṇaṃ sabban taṃ ekatvo katvā sankhārakkhandho veditabbo ti ettha abhisankharaṇalakkhaṇaṃ nāma rāsikaraṇalakkhaṇaṃ.37

37 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 462

 "Unter dem Begriff des "funktionalen Zentrums der gestaltwirksamen Koeffizienten" ist all das zusammengefasst, was durch (die Funktion des) Gestaltens gekennzeichnet ist. In dieser Definition bedeutet "durch (die Funktion des) Gestaltens gekennzeichnet" das selbe wie "durch das Bilden von Systemen gekennzeichnet.""

Der Kommentar behandelt das funktionale System der gestaltwirksamen Koeffizienten in der selben Ausführlichkeit wie das viññāṇa-kkhandha. Als terminus technicus hat der Begriff sankhāra im Theravāda-Buddhismus verschiedene spezifische Konnotationen.38  Als zweites nidāna des paṭicca-samuppāda  fungiert sankhāra als Verbalnomen39, das die Tätigkeit der Karmaproduktion aufgrund von cetanā, Intentionalität oder Wollen, bezeichnet. Weiter ist sankhāra eine Bezeichnung für die Totalität der der bedingt entstandenen Wirklichkeit40, also aller dhammas außer nibbāṇa.41 Das sankhāra-kkhandha als funktionale Kategorie umfasst die mentalen Koeffzienten, die als Charakteristika der verschiedenen Bewusstseinszustände (konstruktiv bzw. heilsam, destruktiv, von Freude begleitet etc.) fungieren. Das bedeutet: ob ein bestimmtes Bewusstseinsmoment karmisch wirksam wird und auf welche Weise das geschieht, hängt von den gestaltwirksamen Koeffizienten ab, die mit dem jeweiligen Bewusstseinszustand einhergehen.

38 Die Schwierigkeit der Wiedergabe des sankhāra-Begriffes in westliche Sprachen diskutiert L. Kapani in La Notion des Saṃskāra Vol. I, 1992. - Vgl. S. 172: "saṃskāra est sans doute, avec dharma, l'un des vocables bouddhisques les plus difficiles à traduire dans les langues occidentales. Il n'a pas d'équivalent."

39 Vgl. Kapani: La Notion des Saṃskāra Vol. I, 1992.- S. 174.

40 Vgl. Kapani: La Notion des Saṃskāra Vol. I, 1992.- S. 174: Kapani problematisiert hier außerdem die Verwendung von saṃskāra im Hinblick auf die zusammengesetzten Gebenheiten, wo eigentlich die Verwendung des Partizips saṃskṛta zu erwarten wäre.

41 Vgl. L. Kapani: La Notion des Saṃskāra Vol. I, 1992. - S. 174.

Buddhaghosa zitiert aus dem Saṃyutta-nikāya:

sankhataṃ abhisankharontī ti kho bhikkhave, tasmā sankhārā ti vuccantī ti.42

42 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 14, S. 462

 "Weil sie das Gestaltete gestalten, ihr Mönche, darum nennt man sie gestaltwirksame Koeffizienten."

Das Gestaltete ist die bedingt entstandene, also karmaproduzierte Wirklichkeit, und die sankhāras sind die "Designer" dieser Wirklichkeit. Sie geben sowohl dem aktuellen (karmisch wirksamen) Bewusstseinszustand seine Gestalt - ob er von Freude begleitet, vorbereitet, von diskursivem Denken verbunden etc. ist - als auch dem Bewusstseinsmoment, das (gegebenenfalls) als vipāka heranreift.  Man könnte  sagen, die sankhāras sind die Faktoren, die für die Gestalt der bewussten Erfahrung (im weiten Sinne) verantwortlich sind. In der Theravāda-Scholastik werden 50 solcher Koeffizienten aufgezählt, angefangen von Faktoren, die ganz elementare Aspekte der Erfahrung gewährleisten wie  jīvita, Lebensfähigkeit über allgemeine Funktionen wie viriya, Tatkraft bis hin zu Qualitäten und Affekten, die nur in konstruktiven bzw. destruktiven Bewusstseinsmomenten vorkommen.

Anhand dieser 50 Faktoren lässt sich das gesamte Spektrum an möglichen Bewusstseinszuständen bis hin zur Erlösung — entsprechend qualifiziert als alobha, adosa, amoha — differenziert beschreiben.


2.2.7. Abschließende Überlegungen zu den khandhas


Zu Beginn wurde das viññāṇa-kkhandha als Grundlage der anderen khandhas bezeichnet: dies hat sich bei der Besprechung der khandhas als zutreffend erwiesen. Das viññāṇa-kkhandha "beherrscht" die anderen khandhas insofern, dass es die karmische Wertigkeit ihrer Koeffizienten qualifiziert.

Der Kommentar erläutert die khandhas unter dem Gesichtspunkt der Entfaltung von paññā. Entsprechend soll die Betrachtung (anupassanā) der einzelnen khandhas einhergehen mit einer Analyse der Faktoren, die die Daseinskontinuität "speisen". Folgende Faktoren werden mit den
einzelnen  khandhas asoziiert:

  1. die Art der Nahrung, āhāra
  2. eines der drei Daseinsmerkmale, tilakkhana (nur bei den nāma-kkhandhas),
  3. ein bestimmter Aspekt der Verblendung, moha,
  4. einer der vier Triebe, āsava und
  5. eine der zehn Fesseln, saṃyojana.

Eine genauere Betrachtung des Wagengleichnisses im Milindapañha lässt interessante Rückschlüsse ziehen im Hinblick auf den Stellenwert der khandhas im Theravāda-Lehrgebäude:

"Sace tvaṃ mahārāja rathenāgato 'si, rathaṃ me ārocehi.
Kin nu kho mahārāja īsā ratho?" ti.
"Na hi bhante" ti.
"Akkho ratho?" ti.
"Na hi bhante" ti.
"Cakkāni ratho?" ti.
"Na hi bhante" ti.
"Rathapañjaraṃ ratho?" ti.
"Na hi bhante" ti.
"Rathadaṇḍako ratho?" ti.
"Na hi bhante" ti.
"Yugaṃ ratho?" ti.
"Na hi bhante" ti.
"Ratharasmiyo ratho?" ti.
"Na hi bhante" ti.
"Patodalaṭṭhi ratho? ti.
"Na hi bhante" ti.
"Kinnu kho mahārāja īsāakkhacakkarathapañjararathadaṇḍayugarasmipatodalaṭṭhi ratho?" ti.
"Na hi bhante" ti.
"Kim pana mahārāja aññatra īsāakkhacakkarathapañjararathadaṇḍayugarasmipatodā ratho?" ti.
"Na hi bhante" ti.

"Tam ahaṃ mahārāja pucchanto pucchanto na passāmi rathaṃ. Saddo yeva nu kho mahārāja ratho? Ko pan' ettha ratho? Alikaṃ tvaṃ mahārāja bhāsasi musāvādaṃ. Natthi ratho. Tvaṃ 'si mahārāja sakalajambudīpe aggarājā. Kassa pana tvaṃ bhāyitvā musā bhāsasi. Suṇantu me bhontā pañcasatā Yonakā asītisahassā ca bhikkhu. Ayaṃ Milindo rājā evam āha 'rathenāhaṃ āgato 'smī' ti. Sace tvaṃ mahārāja rathenāgato 'si, rathaṃ me ārocehī ti vutto samāno rathaṃ na sampādeti. Kallan nu kho tad abhinanditun?" ti.

Evaṃ vutte pañcasatā Yonakā āyasmato Nāgasenassa sādhukāraṃ datvā, Milindaṃ rājānaṃ etad avocuṃ: "Idāni kho tvaṃ mahārāja sakkonto bhāsassu" ti.

Atha kho Milindo rājā āyasmantaṃ Nāgasenaṃ etad avoca : "Nāhaṃ bhante Nāgasena musā bhaṇāmi, īsañ ca paṭicca akkhañ ca paṭicca cakkāni ca paṭicca rathapañjarañ ca paṭicca rathadaṇḍakañ ca paṭicca ratho ti saṅkhā samaññā paññatti vohāro nāmamattaṃ pavattatī" ti.

"Sādhu kho tvaṃ mahārāja rathaṃ jānāsi evam eva kho mahārāja mayham pi kese ca paṭicca lome ca paṭicca -pe- mathaluṅgañ ca paṭicca rūpañ ca paṭicca vedanañ ca paṭicca saññañ ca paṭicca saṅkhāre ca paṭicca viññāṇañ ca paṭicca Nāgaseno ti saṅkhā samaññā paññatti vohāro nāmamattaṃ pavattati. Paramatthato pan' etha puggalo nūpalabbhati.42a

42a Milindapañha, S. 27f.

 "Wenn du, Großkönig mit dem Wagen gekommen bist, erkläre mit den Wagen: Ist die Deichsel der Wagen? Nein, Ehrwürdiger. Ist die Radachse der Wagen? Nein, Ehrwürdiger. Sind die Räder der Wagen?  Nein, Ehrwürdiger. Ist das Gehäuse der Wagen?  Nein, Ehrwürdiger. Ist der Fahnenmasten der Wagen?  Nein, Ehrwürdiger. Ist das Geschirr der Wagen?  Nein, Ehrwürdiger. Sind die Zügel der Wagen?  Nein, Ehrwürdiger. Ist der Treibstock der Wagen?  Nein, Ehrwürdiger. Sind also, Großkönig, Deichsel, Radachse, Räder, Gehäuse, Fahnenmasten, Geschirr, Zügel und Treibstock [zusammen] der Wagen?  Nein, Ehrwürdiger. [...]

Da sagte der Großkönig Menandros zum ehrwürdigen Nāgasena dies: [...] Sowohl basierend auf  der Deichsel als auch basierend auf der Radachse als auch basierend auf den Rädern als auch basierend auf dem Gehäuse als auch basierend auf dem Fahnenmasten als auch basierend auf dem Geschirr als auch basierend auf den Zügeln als auch basierend auf dem Treibstock ergibt sich der Begriff, die Benennung, das Konzept, die gebräuchliche Bezeichnung, der Name "Wagen".

Gut hast du den Wagen verstanden, Großkönig. Genau so, Großkönig, ergibt sich basierend auf meinem Kopfhaar, meiner Körperbehaarung, meinen Nägeln, meinen Zähnen, meiner Haut, meinem Fleisch, meinen Muskeln, meinen Knochen, meinem Knochenmark, meinen Nieren, meinem Herz,meiner Leber, meinem Brustfell, meiner Milz, meiner Lunge, meinen Eingeweiden, meinem Gedärm, meinem Magen, meinen Fäkalien, meiner Galle, meinem Schleim, meinem Eiter, meinem Blut, Schweiß, Fett, Tränen, Lymphe, Speichel, Rotz, Gelenkschmiere, Urin, dem Gehirn im Schädel, basierend auf dem Korporealen, auf der Empfindung, der konzeptualisierenden Wahrnehmung, den gestaltwirksamen Koeffizienten und dem Bewusstsein der Begriff, die Benennung, das Konzept, die gebräuchliche Bezeichnung, der Name "Nāgasena". Vom absoluten Standpunkt aus wiederum  ist
hier keine Persönlichkeit zu finden."

Ebenso wie man den Wagen heute nicht mehr in Begriffen wie Fahnenmasten und Gehäuse, sondern sehr viel differenzierter und modernen Verhältnissen angepasst beschreiben würde als Motor, Karosserie, Stoßdämpfer etc. und dennoch problemlos die im Milindapaṇhā zugrundeliegende Idee übernehmen kann, sollte man auch auf Seite der Persönlichkeit verfahren: Eine Fixierung auf Details ist unangebracht, vielmehr ist auch hier eine Aktualisierung in Anpassung an zeitgemäße Gegebenheiten notwendig. In Bezug auf das Bild vom Wagen geschieht dies gleichsam automatisch, auch was die Körperbestandteile angeht, würde man es nicht als Verfälschung der buddhistischen Lehre ansehen, die Bestandsaufnahme zu ergänzen und zu aktualisieren. Die Art und Weise, wie Nāgasena hier auf das khandha-Modell rekurriert, um einem einsichtsfähigen Laien  eine Vorstellung von anattā zu vermitteln, ist sehr aussagekräftig in Bezug auf den erkenntnistheoretischen Stellenwert dieses Persönlichkeitsmodells. Nāgasena parallelisiert  die Darstellung der Zusammengesetztheit der Person mit der des Wagens.— Der Wagen wird analysiert in Rekurrenz auf allgemein zugängliches Weltwissen — wenngleich die Analyse-Perspektive freilich spezifisch ist und nicht der alltagspragmatischen Wahrnehmung entspricht. Um den ontologischen Status der Persönlichkeit zu analysieren wiederum wechselt Nāgasena nun keineswegs die Ebene bzw. das Niveau der Erklärung, um etwa eine komplexe scholastische Darstellung zu geben. Vielmehr  schließt sich  Nāgasenas Aufzählung der khandhas übergangslos an die der 32 Körperbestandteile an. Die Vorstellung vom Wagen und die Aufzählung der Körperbestandteile reflektieren das damalige Weltbild — und dennoch würde man Nāgasenas Gleichnis wegen des Fahnenmastens nicht als Anachronismus bezeichnen.— In der selben Weise spiegeln die fünf khandhas in dieser Form  die zur Zeit des frühen Buddhismus gegebenen Möglichkeiten einer funktionalen Beschreibung des Individuums. Ebenso wie man heute andere Methoden zu einer differenzierten Bestandsaufnahme anatomischer Gegebenheiten hat, hat man im Zeitalter der Neuroforschung andere Methoden, das khandha-Modell als Modell der zentralen, das Individuum konstituierenden Funktionen zu definieren.

Im Folgenden soll zu zeigen versucht werden, dass es einer Aktualisierung ebenso gut standhält wie das Gleichnis vom Wagen oder das anatomische Modell von den 32 Körperbestandteilen. Erst eine solche Aktualisierung, die anachronistische Details vom zugrundeliegenden Ansatz scheidet — in dem sich die eigentliche Leistung des khandha-Modells konstituiert — ermöglicht eine angemessene Beurteilung der buddhistischen Sichtweise. Andernfalls müssen die buddhistischen Methoden des Erkenntnisgewinns mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen kollidieren — bei der hier angedeuteten Herangehensweise müssen sie das keineswegs, ganz im Gegenteil. Und es ist in der Tat erstaunlich, zu welchen Einsichten der frühe Buddhismus gekommen ist — diese stehen in keinem Verhältnis zu den Methoden des  Erkenntnisgewinns, die in der Mitte des vorchristlichen Jahrtausends zur Verfügung standen: Eine vergleichbar differenzierte Beschreibung von Individualität nach ihren Funktionen wurde in der westlichen Psychologie erst mit der Neuroforschung der 80er Jahren erreicht.


2.3. Āyatanas und dhātus


Der Identitätspsychologe Karl Haußer bezeichnet eine Denkweise, in der Selbst und Außenwelt, Selbst-Bewusstsein und gegenständliches Bewusstsein, Selbstkonzept und Umweltkonzept geschieden werden, als "für eine Identitätstheorie unangemessen", weil "das eigentlich Identitätsrelevante in deren Relation liegt."43 Eine vergleichbare Sichtweise scheinen auch die Theravādin zu vertreten: Wie am khandha-Modell deutlich wird, impliziert die Beschreibung von Individualität im Theravāda auch eine Beschreibung der kognitiven Prozesse, durch die das Individuum mit seiner Umwelt in Beziehung tritt. Das Bewusstseinskontinuum als Träger des Individualitätsprozesses setzt sich fort durch die kognitive Interaktion mit der Umwelt (upādāna-paccayā bhava). Persönlichkeit kann aus Theravāda-Sicht nicht beschrieben werden ohne Einbeziehung dieser Interaktionsvorgänge. Die Differenzierung nach āyatanas44, subjektiven und objektiven Grundlagen der Sinneswahrnehmung, und dhātus, Elementen der Sinneswahrnehmung45 repräsentiert eine Bestandsaufnahme ihrer subjektiven und objektiven Grundlagen bzw. des jeweils wirksamen Bewusstseins. Die allgemeine Gattungsbezeichnung für die Koeffizienten, die in diesen drei Paradigmen erfasst sind (khandha, āytāna, dhātu) ist dhamma. Die Theravāda-Scholastik nimmt für sich in Anspruch, mit diesen Modellen nicht nur Individualität, sondern die gesamte bedingt entstandene Wirklichkeit erschöpfend beschreiben zu können: Sie sind sämtlich daraufhin ausgerichtet, durch eine Analyse der zugrundeliegenden Koeffizienten Individualität auf die phänomenologische Ebene zu überführen. Doch damit nicht genug, denn: sabbe dhammā anattā, auch diesen Koeffizienten eignet keine inhärente Eigennatur. Die Theravādin gehen jedoch nicht soweit, eine Phänomenalität der dhammas zu postulieren — dies geschieht erst mit der Analyse des svabhava bzw. Einführung des śūnyatā-Begriffes als philosophische Kategorie durch Nāgārjuna und seine Madhyamika-Schule. Hierauf kann jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden.

43 Haußer: Identitätspsychologie, 1995. - S. 

 44 Das PTS Dictionary führt für āytana als terminus technicus folgende Übersetzungsmöglichkeiten an: "[...] sphere of perception or sense in general, object of thought, sense-organ and -object, relation, order" und zitiert außerdem Rhys-Davids, C. und Aung, S.Z. (Hrsg.): Compendium of Philosophy, 1910. - S. 183:  "āyatana cannot be rendered by a single English word to cover both sense-organs [...] and sense objects."

45 Vgl. Nyanatiloka: Buddhistisches Wörterbuch, 1989. - S. 63: "Dhātu, Elemente, nennt man die letzten Bestandteile oder Glieder eines Ganzen. [...] Die Bedingungen für die geistigen Vorgänge bildenden 18 Elemente sind:

  1. Sehorgan
  2. Hörorgan
  3. Riechorgan
  4. Schmeckorgan
  5. Körperorgan
  6. Sehobjekt
  7. Hörobjekt
  8. Riechobjekt
  9. Schmeckobjekt
  10. Körpereindruck
  11. Sehbewusstsein
  12. Hörbewusstsein
  13. Riechbewusstsein
  14. Schmeckbewusstsein
  15. Körperbewusstsein
  16. Geist-Element (mano-dhātu)
  17. Geist-Objekt (dhamma-dhātu)
  18. Geistbewusstseins-Element (manoviññāṇa-dhātu)."

2.4. Nāma-rūpa


Von den Einzelfunktionen, die das Persönlichkeitsgeschehen leisten, sind in den  khandhas diejenigen zusammengefasst, die unmittelbar aufeinander bezogen sind: Zunächst wird zwischen korporealem Aspekt, rūpa, und den mentalen Anteilen, nāma, unterschieden. Während in den Sutten das khandha-Modell bevorzugt gebraucht wird, rekurriert der Abhidhamma vorzugsweise auf die Unterscheidung von rūpa, citta und cetasika. Zwar ist der cetasika-Begriff auch in den Sutten gebräuchlich, jedoch nicht als terminus technicus für Geistesfaktor oder mentaler Koeffizient, wie dies im Visuddhi-Magga der Fall ist.

Die Unterscheidung zwischen nāma und rūpa46  wird jedoch nicht im dualistischen Sinne einer Körper-Geist-Dichotomie vollzogen,  wie sie sich häufig im Zusammenhang mit dem Glauben an eine vom Körper wesentlich verschiedene  Seele ergibt. Der Buddha lehnt sowohl die Sichtweise der Upaniṣads eines vom materiellen Körper unabhängig funktionsfähigen, unwandelbaren Bewusstseins — das in den jüngeren Upaniṣads mit dem ātman identifiziert wurde47 — ab als auch die der materialistischen Schulen, die Bewusstsein nur als Epiphänomen betrachteten.  Tatsächlich können sich aus Theravāda-Sicht beim Menschen die nāma-kkhandhas ohne Anbindung an rūpa nicht entfalten.

46 Max Walleser hat  die Vielschichtigkeit des Begriffes rūpa und die in der Dhammasaṅgaṇi getroffene komplexe Differenzierung analysiert in: "Die philosophische Grundlage des älteren Buddhismus". - Heidelberg: Carl Winter, 1925. - S. 104ff.

 47 vgl. u.a. Muṇdaka Up. 2.2.2

Der Neurobiologe Antonio Damasio geht soweit zu behaupten, dass eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen "Bewusstsein" ohne Berücksichtigung neurophysiologischer Sachverhalte bereits einem Bekenntnis zum Körper-Geist-Dualismus gleichkommt.

"Whatever questions one may have about who we are and why we are as we are, it is certain that we are complex living organisms with a body proper ("body" for short) and a nervous system ("brain" for short)."

In gewissem Sinne kann man für die Theravāda-Psychologie in Anspruch nehmen, dass sie - im Rahmen der gegebenen erkenntnistechnischen Möglichkeiten - neurophysiologische Tatsachen durchaus berücksichtigt hat. Dennoch wäre es vermessen, nāma-rūpam gleichzusetzen mit einer Körper-Gehirn Beschreibung des Organismus. Ebensowenig können die in buddhistischen Modellen formulierten Einzelheiten der Wechselbeziehung (paccaya) den komplexen neurophysiologischen Beschreibungen der Integration von zentralem Nervensystem und Körper gegenübergestellt werden. Das Entscheidende ist jedoch, dass in der buddhistischen Psychologie überhaupt von einer Wechselbeziehung ausgegangen wird.  Bewusstsein ist in der Psychologie des Theravāda nicht nur ein Begleitphänomen der physischen Gegebenheiten, aber es ist auch nicht alles bewusst. Die Darstellung von Individualität als anattā beschreibt einen mittleren Weg zwischen Materialismus und Idealismus.

Was in Bezug auf die khandhas gesagt worden ist, gilt auch für die gestaltpsychologische Formulierung der buddhistischen Persönlichkeitstheorie, nāma-rūpam: ob das analytische Messer an exakt der richtigen Stelle ansetzt, ist eher unerheblich. Sie legitimiert sich jedoch unter funktionellen Gesichtspunkten: Ausschlaggebend ist die zugrundeliegende Perspektive einer grundsätzlich realistischen Weltanschauung, innerhalb derer ein beachtlicher Spielraum für konstruktivistische Elemente gegeben bleibt.  rūpa bezeichnet die materielle Grundlage der Wirklichkeit, und die nāma-khandhas machen deutlich, dass das nicht alles ist. Mit rūpa allein findet Wirklichkeit noch nicht statt.


2.5. Paṭicca-samuppāda


Gambhīro cāyaṃ Ānanda paṭicca-samuppādo gambhīrāvabhāso ca.48

48 Mahānidāna-Sutta, Dīgha-Nikāya I, S. 55


2.5.1. Vorbemerkungen


Das khandha-Modell ist Ergebnis einer analytischen Betrachtung des Individuums. Die khandhas repräsentieren fünf funktionsspezifische Systeme, deren synthetisches Zusammenwirken sich als Individualität manifestiert. Eigentlich ist es unpräzise - um nicht zu sagen unzulässig - beim paṭicca-samuppāda von einem "Persönlichkeitsmodell" zu sprechen - die Doktrin vom Bedingten Entstehen hat einen völlig anderen Stellenwert in der Theravāda-Scholastik als die von den khandhas: er wird zu den "pubbe ananussutesu dhammesu"49  gerechnet als eine Lehre, die ohne Parallele ist, die noch nie zuvor gelehrt worden ist. Der paṭicca-samuppāda wiederum beschreibt, wie diese Synthese funktioniert, wie sich die Koeffizienten aus den einzelnen Systemen zu dem Gestaltzusammenhang organisieren, der als individuelle Existenz in Erscheinung tritt. Während das khandha-Modell dem analytischen Denken, vijānana, zugänglich ist, bleibt die Einsicht in den synthetischen Zusammenhang zwischen den khandhas, in den paṭicca-samuppāda, der Weisheit, paññā, vorbehalten.

49 Saṃyutta-nikāya II, p.10

Denn selbst, wenn wir in der Lage sind, die hochdifferenzierte Analyse des Bewusstseins, der kognitiven Koeffizienten, der konzeptualisierenden Wahrnehmung usw. nachzuvollziehen, werden wir doch weiterhin "in Gestalten denken", unsere Erfahrung in Gestalten strukturieren.  Um diesen kognitiven Mechanismus zu kippen, ist eine rein intellektuelle Einsicht in die Phänomenalität der individuellen Existenz sowie der Objektwelt unzureichend. Damit paññā entstehen kann, müssen zwar laut Kommentar gewisse intellektuelle Voraussetzungen geschaffen, der "Boden der Weisheit" (paññābhūmi) bereitet werden. Für Buddhaghosa geht Weisheit jedoch  weit darüber hinaus: Sie ist die höchste Stufe des im Kommentar beschriebenen Weges der  Bewusstseinsläuterung, entsprechend orientiert sich der Aufbau des gesamten Werkes an den Sieben Stufen der Reinheit (visuddhi). Der paṭicca-samuppāda beschreibt Individualität als unablässige Folge (santāna) wechselnder ephemerer Konstellationen von Koeffizienten aus den Fünf khandhas. Sowohl die Affinität zwischen den Koeffizienten, die sich zum jeweiligen kognitiven Moment (citta) verbinden, als auch die Abfolge dieser Konstellationen lässt sich auf bestimmte Gesetzmäßigkeiten zurückführen. Der paṭicca-samuppāda ist nicht linear vorzustellen, vielmehr beleuchtet er zwei Dimensionen des Bewusstseinskontinuums: zum einen den Bedingungszusammenhang innerhalb eines citta - sozusagen  im Querschnitt  - zum anderen die Abhängigkeitsbeziehungen innerhalb der Sequenz der einzelnen cittas. Buddhaghosa erläutert im Visuddhi-Magga auch die Frage, warum unterschiedliche Versionen des  paṭicca-samuppāda existieren:

Bhagavato hi vallihārakānaṃ catunnaṃ purisānaṃ valligahaṇaṃ viya ādito vā majjhato vā paṭṭhāya yāva pariosānaṃ, tathā pariosānato vā majjhato vā paṭṭhāya yāva ādī ti catubiddhā paṭiccasamuppādadesanā. [...] Kasmā pan' evaṃ desetī ti? Paṭiccasamuppādassa samantabhaddakattā sayañ ca desanāvilāsappattattā. Samantabhaddako hi paṭiccasamuppādo. Tato tato ñāyappaṭivedhāya saṃvattati yeva. Desanāvilāsappatto ca Bhagavā catuvesārajjapaṭisambhidāyogena50   catubbidhagambhīrabhāvappattiyā ca, so desanāvilāsappattattā nānānayeh' eva dhammaṃ deseti. Visesato pan' assa yā ādito paṭṭhāya anulomadesanā, sā pavattikāraṇavibhāgasammūḷhaṃ veneyyajanaṃ samanupassato yathā sakehi kāraṇehi pavattisandassanatthaṃ uppattikkamasandassanatthañ ca pavattā ti viññatabbā. Yā pariyosānato paṭṭhāya paṭilomadesanā, sā:—kicchaṃvatā 'yaṃ loko āpanno jāyati ca jīyati ca mīyati ca cavati ca uppajjati cā ti ādinā nayena kicchāpannaṃ lokaṃ anuvilokayato pubbabhāgapaṭivedhānusārena tassa tassa jarāmaraṇādikassa dukkhassa attanā adhigarakāraṇasandassanatthaṃ. Yā majjhato paṭṭhāya yāva ādi pavattā, sā āhāranidānavavatthāpanānusārena yāva ātītaṃ addhānaṃ atiharitvā puna atītaddhato pabhuti hetuphalapaṭipāṭisandassanatthaṃ. Yā pana majjhato paṭṭhāya yāva pariyosānaṃ pavattā, sā paccuppanne addhāne anāgataddhahetusamuṭṭhānato pabhuti anāgataddhasandassanatthaṃ. Tāsu yā pavattikāraṇasammūḷhassa veneyya janassa yathāsakehi kāraṇehi pavattisandassanatthaṃ uppattikkamasandassanatthañ ca ādito paṭṭhāya anulomadesanā vuttā, sā idha nikkhittā ti vedittabbā.51

51 Buddhaghosa:
Visuddhi-Magga 17, S. 523,111-15 und S. 524;14-S. 525;3.

"Buddhas Darlegung des paṭicca-samuppāda in vier Versionen (catubbidhā) ist vergleichbar mit vier Personen, die Schlingpflanzen ausreißen, [ von denen jeder auf seine Art] das Gewächs anpackt: vom Anfang oder von der Mitte bis zum [anderen] Ende, oder vom [anderen] Ende oder von der Mitte zum Anfang. [...] Warum hat der Buddha in dieser Weise gelehrt?  Aufgrund der Tatsache, dass der paṭicca-samuppāda auf der ganzen Linie segensreich ist und dem Buddha selbst die Souveränität der Darlegung eignet. Der paṭicca-samuppāda ist nämlich segensreich auf der ganzen Linie, insofern er, gleich von welchem Ausgangspunkt (tato tato) [man ihn betrachtet], zum wirklichkeitsgemäßen Durchschauen (ñāyappaṭivedhāya) anleitet. Und der Buddha als souveräner Lehrer (desanāvilāsappatto ca Bhagavā), der mit den Vier Aspekten des vollkommenen Selbstvertrauens und den Vier Zweigen der intellektuellen Analyse begabt ist und die Vier Tiefen Zustände entfaltet hat,  verwendet bei der Darlegung  seiner Lehre (dhamma) unterschiedliche Ansätze (nānānayehi),  da ihm [wie gesagt]  Souveränität in  der Darlegung zueigen ist (desanāvilāsappattattā). Was Details angeht, hat man sich folgendes bewusst zu machen (viññatabbā): Wenn Er mit Leuten konfrontiert war (assa [...] samanupassato), die verwirrt waren von der Kategorisierung der Ursachen des Daseinsprozesses (pavattikāraṇavibhāgasammūḷhaṃ) und die für eine entsprechende Belehrung reif waren (veneyyajanaṃ), erläuterte Er [die Entstehung in Abhängigkeit] vorwärts, vom Anfang ausgehend, um den Daseinsprozess aus immanenten Ursachen (sakehi kāraṇehi) und die Ordnung des Entstehens [der Phänomene] aufzuzeigen. [Hingegen] wenn Er [die Entstehung in Abhängigkeit] mit Blick auf (anuvilokayato) die dem Elend anheim gefallene Welt lehrte, —- etwa in der folgenden Weise [kontemplierend]: "In der Tat ist diese Welt dem Elend verfallen, man wird geboren, altert, stirbt und geht von einer Existenz in die nächste über" — dann in der umgekehrten Variante, vom Ende ausgehend: mit der Absicht aufzuzeigen, dass man  selbst die Ursachen für irgendwelche Leiden  wie Altern, Sterben usw. schafft, ganz so  wie Er [diese Zusammenhänge] zu einem früheren Zeitpunkt durchschaut hatte (pubbabhāgapaṭivedhānusārena). Die Version, die [die Entstehung in Abhängigkeit rückwärts] von der Mitte ausgehend zum Anfang hin lehrt, indem sie in Übereinstimmung mit der Analyse der Nährstoffe und der nidānas [die Zusammenhänge] bis in die Vergangenheit zurückverfolgt (atiharitvā) und von der Vergangenheit her die Reihenfolge von karmischer Ursache und karmischem Ergebnis beleuchten soll (hetuphalapaṭipāṭisandassanatthaṃ). Die Version schließlich, die in der Mitte ansetzend [vorwärts] zum Ende hin [die Entstehung in Abhängigkeit] lehrt, soll [umgekehrt] die Zukunft von ihrem Ursprung her beleuchten, der in den karmischen Ursachen für künftige [karmische Ergebnisse] liegt (anāgataddhahetusamuṭṭhānato pabhuti). Man beachte, dass hier die Version, die  [die Entstehung in Abhängigkeit] vom Anfang ausgehend vorwärts  lehrt, zugrundegelegt ist, also die Version, die sich an Menschen [richtet], die angesichts der Ursachen des Daseinsprozesses verwirrt und für entsprechende Belehrung reif sind."

50 Vgl. PTS Dictionary,  S. 650 zu vesārajja: "[...] (the Buddha's or an Arahant's) perfect self-confidence (which is of four kinds) [...] The four are given in full at M 1.71 sq., viz. highest knowledge, khīṇāsava state, recognition of the obstacles, recognition and preaching of the way to salvation." und S. 400 zu paṭisambhidā: "[...] Always referred to as "the four branches of logical analysis" (catasso or catupaṭisambhidā), viz. attha° analysis of meanings 'in extension'; dhamma° or reasons, conditions, of causal relations; nirutti° of [meanings 'in intension' as given in] definitions, paṭibhāna° or intellect to which things knowable by the foregoing processes are presented [...]"

Im folgenden werde ich — in Anlehnung an den Visuddhi-Magga — ausschließlich auf die wohl geläufigste Variante des paṭicca-samuppāda eingehen, also die zwölfgliedrige Variante mit avijjā als Ausgangspunkt. Hier repräsentieren die Glieder 3 bis 10 die Episode, in der Individualität Gültigkeit hat im Sinne eines Bedingungskomplexes, dessen Grenzwerte sich in jāti und maraṇa konstituieren.

Der paṭicca-samuppāda beschreibt die Gesetzmäßigkeiten der synthetischen Prozesse, die die Kontinuität der (individuellen) Existenz leisten.  Darüberhinaus ist im paṭicca-samuppāda dargelegt, wie diese Kontinuität kognitiv Gestalt annimmt als Ich, als Selbst in Abgrenzung zu Nicht-Ich, nicht-zu-mir-Gehörigem. Die im paṭicca-samuppāda formulierten Gesetzmäßigkeiten52  greifen also auf zwei Ebenen:  sie erklären die synthetischen Prozesse, die die reale Grundlage des Phänomens Individualität darstellen, paramattha-sacca, und die Prozesse der Identifikation und der Konzeptualisierung, die die sammutti-Erfahrung erzeugen (wobei beide Mechanismen ineinander greifen).

52 Imasmiṃ sati idaṃ hoti
imassuppādā idaṃ uppajjati
imasmiṃ asati idaṃ na hoti
imassa nirodhā idaṃ nirujjhati .
Vgl. Saṃyutta-Nikāya II, S. 28f., S. 70; Majjhima-Nikāya I, S. 262f.


2.5.2. Die paccayas


Paccayo ti ettha pana ayaṃ vacanattho: paṭicca etasmā etī ti paccayo, appaccakkhāya naṃ vattatī ti attho. Yo hi dhammo yaṃ dhammaṃ appaccakkhāya tiṭṭhati vā uppajjati vā, so tassa paccayo ti vuttaṃ hoti.53

53 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S.532;25-28.

"Bedingung oder paccaya bedeutet hier folgendes: weil davon bedingt etwas [zustande-]kommt, heißt es paccaya; Als "Bedingung" einer Gegegebenheit (tassa paccayo) bezeichnet man nämlich einen Koeffizienten (yo hi dhammo), der vorhanden sein oder entstehen muss, damit diese erstere Gegebenheit nicht vergeht (yaṃ dhammaṃ appaccakkhāya)."

Es handelt sich also beim paṭicca-samuppāda nicht um eine lineare Abfolge der einzelnen ursächlichen Prinzipien, nidānas54 5, nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip, er ist vielmehr als ein vielschichtiges, mehrdimensionales Geflecht von Bedingungen vorzustellen. Die Abfolge der nidānas leitet sich von der Priorität des an den jeweiligen Schnittstellen bezeichneten Bedingungszusammenhangs über andere mögliche Bedingungen ab: Das bedeutet, avijjā und sankhāra, taṇhā und upādāna usw. stehen in einer unmittelbaren Abhängigkeitsbeziehung, werden jedoch auch von anderen nidānas mittelbar bedingt und umgekehrt. Der Kommentar nennt 24 solcher Bedingungen,  die ich im folgenden kurz erläutern möchte.

4 Das PTS Dictionary gibt als kontextrelevante  Übersetzungsmöglichkeiten für nidāna: "[...] tying down to; ground (lit. or fig.), foundation, occasion; source, origin, cause; reason, reference, subject [...]." Das Buddhist Hybrid Sanskrit Dictionary S. 295 verweist auf Synonyme: "[...] cause, underlying and determining factor; may be associated with virtual synonyms hetu, pratyaya, nimitta [...]".

  1. hetu-paccaya (=mūla): Bedingung im Sinne einer unmittelbaren Ursache (=Wurzel)
     
     Iti mūlaṭṭhena hetu, upakārakaṭṭhena paccayo ti sankhepato mūlaṭṭhena upakārako dhammo hetupaccayo.55

    55 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 533;4-6.

    "Unmittelbare Ursache hat hier die Bedeutung von Wurzel, Bedingung die Bedeutung von unterstützendem Faktor. So zusammengefasst ist als Wurzel fungierende unterstützende Gegebenheit eine Bedingung im Sinne einer unmittelbaren Ursache." 

    Als Bedingungen in diesem Sinne fungieren die fundamentalen Tendenzen Gier bzw. Affinität, lobha, Hass oder Aversion, dosa und Verblendung, moha bzw. deren Gegenteil Großzügigkeit, alobha, Liebe, adosa und Weisheit oder Unverblendung, amoha. Buddhaghosa zitiert hier Paṭṭhāna:
     

     Hetū hetusampayuttakānaṃ dhammānaṃ taṃ samuṭṭhānānañ ca rūpānaṃ hetupaccayena paccayo ti.56

    56 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 533;11-12.

     "Eine unmittelbare Ursache ist für die damit einhergehenden [mentalen] Koeffizienten und die daraus hervorgehenden materiellen Gegebenheiten eine Bedingung im Sinne einer unmittelbaren Ursache."


     

  2. ārammaṇa-paccaya: Bedingung im Sinne von Objekt

    Die Objektgrundlage eines Vorganges oder einer Handlung gilt als Bedingung im Sinne von
    Objekt:
     
     Yaṃ yaṃ dhammaṃ ārabbha ye ye dhammā uppajjanti cittacetasikā dhammā, te te dhammā tesaṃ tesaṃ dhammānaṃ ārammaṇapaccayena paccayo ti.57

    57 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 533;28-30.

     "Als Bedingung im Sinne von Objekt für [bestimmte] Gegebenheiten gilt jeweils die Gegebenheit, auf welche unmittelbar bezogen diese [erstgenannten] Gegebenheiten — so Bewusstsein und die bewusstseinsbegleitenden Koeffizienten — entstehen."

     

  3. adhipati-paccaya: Bedingung im Sinne von Dominanz

    Als Bedingungen in diesem Sinne sind im Kommentar die Vier iddhi-pādas, Wege zu außergewöhnlicher Macht ausgewiesen, von denen jeweils nur eine das jeweilige Bewusstseinsmoment dominieren kann: chanda, starke Ambition, viriya, energisches Angehen, citta, Geistesgegenwart, und vimaṃsā, das Erwägen einer gegebenen Situation.
     
  4. anantara-paccaya und 
  5. samanantara-paccaya: Bedingung im Sinne von Angrenzung bzw. Unmittelbarkeit

    Das Bewusstseinsmoment, das im Anschluss an sein eigenes Verlöschen ein anderes Bewusstseinsmoment entstehen lässt, gilt als dessen anantara- bzw. samanantara-paccaya. Buddhaghosa setzt diese beiden Bedingungen bedeutungsmäßig gleich. Gegen eine Unterscheidung im Hinblick auf kausale bzw. zeitliche Angrenzung, die offensichtlich von einigen anderen Gelehrten getroffen wurde, spricht er sich aus. 
     
  6. saha-jāta-paccaya: Bedingung im Sinne von gemeinsamem Entstehen

    Zwei oder mehrere Gegebenheiten bedingen sich im Sinne von gemeinsamem Entstehen, wenn mit dem Entstehen einer Gegebenheit zwangsläufig auch die Entstehung der anderen eingergeht, so fungiert z.B. jedes der vier nāma-kkhandhas in Bezug auf die jeweils anderen als saha-jāta-paccaya.
     
  7. aññamañña-paccaya: mutuelle Bedingung

    Gegebenheiten, die sich gegenseitig bedingen und aufrechterhalten, fallen unter diese Kategorie, so die Vier Elemente (mahābhūtā) und die Vier nicht-korporealen funktionalen Zentren (nāma-kkhandha)58

    58Vgl. Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 535;21-23.
     

  8. nissaya-paccaya: Bedingung im Sinne von Grundlage

    Die fünf Sinnesorgane und die anatomische Grundlage der Kognition (manāyatana) fungieren im Hinblick auf die Sechs Arten von Bewusstsein als nissaya-paccaya. Gegebenheiten, die sich gegenseitig (aññamañña) oder im Sinne von gemeinsame Entstehen (sahajāta) bedingen, gelten ebenfalls als nissaya-paccaya.
     
  9. upanissaya-paccaya: Bedingung im Sinne von auslösendem Impuls
     
     Yathā pana bhuso āyāso upāyāso, evam bhuso nissayo upanissayo.59

    59 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 536;2-3

    "Ebenso wie starker Kummer Verzweiflung genannt wird,  nennt man eine starke Grundlagenbedingung auslösenden Impuls." 

    Der auslösende Impuls kann auf drei Arten stattfinden:

  10. purejāta-paccaya: Präzedenz-Bedingung

    Hierunter fallen solche Gegebenheiten, die zu einem früheren Zeitpunkt entstanden sind und eine notwendige Voraussetzung für etwas später Entstehendes darstellen, so die fünf Sinnesorgane und die anatomische Grundlage der Kognition, ohne die später Bewusstsein und mentale Koeffizienten nicht stattfinden könnten.
     
  11. pacchājāta-paccaya: Rückwirkende Bedingung

    Gebenheiten dieser Kategorie bilden das Gegenstück zur purejāta-paccaya: Entsprechend werden Bewusstsein und mentale Koeffizienten als zur Aufrechterhaltung ihrer physischen Grundlagen notwendige Bedingungen angesehen, obwohl sie zu einem späteren Zeitpunkt entstehen.
     
  12. āsevanā-paccaya: Bedingung im Sinne von Verstärkung
     
     Āsevanaṭṭhena anantarānaṃ paguṇabalavabhāvāya upakārako dhammo āsevanapaccayo, ganthādisu purimābhiyogo viya.60

    60 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 538;3-5

     "Als Bedingung im Sinne von Verstärkung fungiert eine Gegebenheit, die eine angrenzende Gegebenheit dahingehend unterstützt, dass sie deren wachsende Effizienz (paguṇabalavabhāvāya) bewirkt: dies lässt sich mit [dem Übungseffekt] vergleichen, den vorangegangene  Bemühungen (purimābhiyogo) bei [gewohnheitsmäßig betriebenen Tätigkeiten] wie dem Studium der Texte haben."

    Diese Bedingungsart findet Anwendung auf die Impulsivmomente (javana): jeder Impulsivmoment prägt in seiner  jeweiligen Qualität (konstruktiv, destruktiv oder funktionsspezifisch) die nachfolgenden.
     

  13. kamma-paccaya: karmische Bedingung

    Die Summe der cetanās aus der vorangegangenen Existenz (nānakhaṇikā cetanā) ist in Bezug auf die aktuelle Daseinsform Bedingung im Sinne von Karma: sowohl die nāma-kkhandhas als auch die karmagenerierten physischen Faktoren (Sinnesorgane usw.) sind als vipāka dieser cetanās aufzufassen. Weiter wirkt cetanā als karmische Bedingung für die mentalen Koeffizienten, mit denen es sich in einem citta verbindet (im Sinne von Affinität) und die daraus resultierende Handlung (die jedoch kein vipāka-Resultat des jeweiligen cetanā darstellt). 
     
  14. vipāka-paccaya: Bedingung im Sinne von karmischen Resultat

    Hier ist das Gegenstück zur kamma-paccaya formuliert.
    Nirussāhasantabhāvena nirussāhasantabhāvāya upakārako vipākadhammo vipākapaccayo.61

    61 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 538;18-19.

     "Eine karmagenerierter Koeffizient (vipākadhammo), der, indem er selbst inaktiv und träge ist, dasselbe bei [einer anderen Gegebenheit]  bewirkt, gilt als Bedingung im Sinne von karmischem Resultat."

     

  15. āhāra-paccaya: nährende Bedingung

    Als nährende Bedingung für das Korporeale gilt die stoffliche Nahrung, die mentalen Systeme  werden gespeist von Bewusstseinseindruck, phassa, kognitive Intention, mano-sañcetanā, und Bewusstsein, viññāṇa.
     
  16. indriya-paccaya: Bedingung im Sinne von Potential

    Bedingungen dieser Kategorie sind repräsentiert durch 20 (im Kanon werden 22 Arten unterschieden) Ausdrucksformen von physischem und kognitivem Potential:
    1. Die Sinnesorgane und die Kognition: Bedingung für die unkörperlichen Gegebenheiten.
    2. (7. Weiblichkeit und
    3. 8.  Männlichkeit werden nicht zu den paccayas gerechnet.)
    4. Vitalität (jīvita): Bedingung für physische und mentale Gegebenheiten.
    5. Die fünf Arten von Emotion (vedanā): Bedingung für die damit einhergehenden mentalen Koeffizienten und die gegebenenfalls daraus resultierenden körperlichen Handlungen.
    6. Die fünf mentalen Kräfte (bala), nämlich
      1. saddhā, Vertrauen,
      2. viriya, energisches Angehen,
      3. sati, Achtsamkeit,
      4. samādhi, Sammlung, und
      5. paññā, Weisheit.

      Bedingung für die damit einhergehenden mentalen Koeffizienten und die gegebenfalls daraus resultierenden körperlichen Handlungen.

    7. Die drei Arten oder Stufen überweltlichen Potentials: das Potential der Heilsgewissheit (anaññātañassāmītindriya), das gnostische Potential (aññindriya), das Potential dessen, der Weisheit erlangt hat (aññātāvindriya)62 fungieren ebenfalls als Bedingung für die damit einhergehenden mentalen Koeffizienten und die gegebenenfalls daraus resultierenden körperlichen Handlungen.

      62 Vgl. Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 16, S. 492;30-36.
       

  17. jhāna-paccaya: Bedingung im Sinne konzentrierter Gemütszustände

    Unter diese Kategorie fallen Sieben mit Konzentration einhergehende Gemütszustände, die in
    heilsamen oder unheilsamen Bewusstseinsmomenten als Bedingung virulent sind: nämlich
    1. Denken, vitakka,
    2. Diskursives Denken bzw. Reflexion, vicāra,
    3. Euphorie, pīti,
    4. Glücksgefühl, sukha,
    5. Kummer, domanassa
    6. Indifferenz, upekkhā und
    7. Sammlung, samādhi als dominierender Aspekt. 
  18. magga-paccaya: Bedingung im Sinne von Ausweg63
     
     Yato tato vā niyyānaṭṭhena upakārakāni kusalādibhedāni  dvādasa maggangāni maggapaccayo.64

    64 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 539;20-21.

     "Die zwölf möglichen heilsamen, unheilsamen oder karmisch wirkungslosen Strategien, die aus irgendeinem gegebenen [Zustand] herausführen, werden als Bedingung im Sinne von  Ausweg bezeichnet."

    Diese Zwölf Pfadglieder beeinflussen andere heilsame und unheilsame Gegebenheiten in der Weise, dass sie aus dem bestehenden Zustand herausführen:

    1. ñāṇa,
    2. vitakka,
    3. sammā-vācā,
    4. sammā-kammanta, rechtes Handeln,
    5. sammā-ājiva, rechter Lebenerwerb,
    6. viriya,
    7. sati,
    8. samādhi,
    9. micchā-diṭṭhi, falsche Ansicht,
    10. micchā-vācā,
    11. micchā-kammanta und
    12. micchā-ājiva.
       

    63 Ich halte mich hier an Nyanatilokas Übersetzung "Ausweg", übernehme jedoch nicht die Übersetzung "Pfadglieder" für maggaṅgāni: im Hinblick auf die Gefahr der Verwechslung mit den Gliedern des Edlen Achtfachen Pfades übersetze ich  "mögliche Strategien". Vgl. Nyantiloka: Weg zur Reinheit 17, S. 632.
     

  19. sampayutta-paccaya: Bedingung im Sinne von Gekoppeltsein

    Die vier nāma-kkhandhas sind als Bedingung im Sinne von Gekoppeltsein auf einander bezogen.
     
  20. vipayutta-paccaya: Bedingung im Sinne von Isoliertheit

    Diese Bedingung ist auf die physischen Gegebenheiten in Bezug auf die mentalen Gegebenheiten anzuwenden und umgekehrt, d.h. nāma und rūpa bedingen sich im Sinne von Isoliertheit.
     
  21. atthi-paccaya: Bedingung im Sinne von Vorhandensein

    Eine Gegebenheit bedingt eine andere durch ihr Vorhandensein
     
  22. natthi-paccaya: Bedingung im Sinne von Abwesenheit

    Eine Gegebenheit bedingt eine andere durch ihre Abwesenheit.
     
  23. vigata-paccaya: Bedingung im Sinne von Erloschensein

    Diese Bedingung fällt bedeutungsmäßig mit natthi-paccaya zusammen.
     
  24. avigata-paccaya: Bedingung im Sinne von Nicht-Abwesenheit

    Diese Bedingung ist identisch mit atthi-paccaya.

2.5.3. Avijjā-paccayā sankhāra


Avijjā, Unwissenheit, wird zunächst als Ignoranz hinsichtlich der Vier Edlen Wahrheiten definiert. Nicht um die Realität des Leidens, seiner Entstehung und der Möglichkeit seiner Aufhebung zu wissen bedeutet, dem Leiden ausgeliefert zu sein: insofern könnte man avijjā als generalisierte erlernte Hilflosigkeit bezeichnen. Weiter steht avijjā für Ignoranz in Bezug auf das Eingebundensein der aktuellen Existenz in einen größeren Zusammenhang — also frühere und zukünftige Existenzen — und hinsichtlich der Gesetzmäßigkeiten dieser Kontinuität, den paṭicca-samuppāda.

Sankhāra bezeichnet das karmische Potential, das Geburt bewirkt und das bestimmt, welche Gestalt das Bewusstseinskontinuum annimmt: in sankhāra verdichtet sich die Gesamtheit der karmisch produktiven Bewusstseinsmomente (die durch konstruktive und destruktive Koeffizienten entsprechend qualifizierten cetanās) zur jeweiligen Daseinsform. Der Kommentar unterscheidet drei Kategorien:

  1. Destruktive karmische Ressourcen: das lediglich im sinnlichen Bereich erzeugte, niedrige Daseinsformen generierende apuññābhisankhāra,
     
  2. konstruktive karmische Ressourcen: das im sinnlichen und feinkörperlichen Bereich zu erzeugende und entsprechende Daseinsformen generierende puññābhisankhāra,
     
  3. sogenannte unerschütterliche Ressourcen: das durch stabile geistige Sammlung im Unkörperlichen Bereich erzeugte und die entsprechende Daseinsform als Gott generierende aneñjābhisankhāra.

Nicht unter sankhāra fallen die karmisch wirkungslosen avyākata-cittas und die erlösungswirksamen lokuttara kusala-cittas, da diese Bewusstseinsmomente keine karmischen Ressourcen für eine neuerliche Geburt darstellen. 

An der Schnittstelle von avijjā und sankhāra sind die folgenden paccayas virulent: Avijjā kann puññābhisankhāra, konstruktive karmische Ressourcen, als Objekt (ārammaṇa) und als auslösender Impuls (upanissaya) bedingen. Apuññābhisankhāra, destruktive karmische Ressourcen, werden auf vielfältige Weise von avijjā bedingt: im Sinne von Objekt (ārammaṇa), von auslösendem Impuls (upanissaya), auf Ebene der javanas im Sinne von Angrenzung (anantara) bzw. Unmittelbarkeit (samanantara), Verstärkung (āsevanā), natthi bzw. vigata (Abwesenheit bzw. Erloschensein), bei der Ausführung unheilsamer Handlungen fungiert sie als Wurzelbedingung (hetu) und Bedingung im Sinne von gemeinsamem Entstehen (sahajāta), Gegenseitigkeit (aññamañña), Grundlage (nissaya), Gekoppeltsein (sampayutta), Vorhandensein (atthi) bzw. Nicht-Abwesenheit (avigata).


2.5.4. Sankhāra-paccayā viññāṇaṃ


 Laddhapaccayam iti dhammamattam etaṃ bhavantaram upeti, nā'ssa tato sankanti na tato hetuṃ vinā hoti. Iti h'etaṃ laddhapaccayaṃ rūpārūpadhammamattaṃ uppajjamānaṃ bhavantaram upetī ti vuccati, na satto, na jīvo, tassa ca nā pi atītabhavato idha sankanti atthi, nā pi tato hetuṃ vinā idha pātubhāvo.65

65 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga17, S. 553;34-554;2.

 "Das, was in ein andere Existenz übergeht, sind nichts anderes als die Gegebenheiten, bei denen [bestimmte] Bedingungen wirksam sind (laddhapaccayam). Weder handelt es sich um jemandes Übergang von irgendwoher [nach irgendwohin], noch um etwas Unbedingtes (hetuṃ vinā). Wenn es hier heißt, dass die nach [bestimmten] Bedingungen organisierten (laddhapaccayam)  Gegebenheiten [je nach Existenzform] mit oder ohne Körper in eine andere Existenz übergehen, so gibt es weder ein Wesen, noch ein individuelles Substrat oder dessen Übergang aus einer  früheren Existenz, und dieses in-Erscheinung-treten (pātubhāvo)66 ist auch keineswegs etwas Unbedingtes."

66 pātubhāvo ist hier meines Erachtens so allgemein gefasst wie in der PTS Pāli Tipiṭakaṃ Concordance Vol.III, S. 250, also im Sinne von "appearance, manifestation".

Viññāṇa, Bewusstsein als nidāna ist nicht identisch mit dem khandha viññāṇa: Logischerweise sind lediglich die durch konstruktives und destruktives Karma gewirkten Bewusstseinsarten durch sankhāra bedingt. Für all diese karmagenerierten Bewusstseinsklassen, zu denen auch das geburtenübergreifende Kontinuitätsbewusstsein zählt, fungieren die drei Arten von sankhāra als Bedingung im Sinne von Karma, kamma paccaya, was in diesem Kontext gleichbedeutend ist mit upanissaya-paccaya, auslösendem Impuls:

 Purimā purimā kusalā dhammā pacchimānaṃ pacchimānaṃ kusalānamṃ dhammānaṃ upanissayapaccayena paccayo. Purimā purimā akusalā dhammā pacchimānaṃ akusalānaṃ dhammānaṃ upanissayapaccayena paccayo.67

67 Tīkapaṭṭhāna I, S. 4; vgl. Nyanatiloka:Guide, 1957. - S. 163.

 "Die jeweils frühere heilsame Gegebenheit fungiert im Hinblick auf die jeweils spätere heilsame Gegebenheit als Bedingung im Sinne von auslösendem Impuls. Entsprechend fungiert die jeweils frühere unheilsame Gegebenheit im Hinblick auf die jeweils spätere unheilsame Gegebenheit als Bedingung im Sinne von auslösendem Impuls."

Es sind also die karmischen Ressourcen, die den auslösenden Impuls dafür geben, dass im Empfängnismoment das Bewusstsein in den Mutterschoß eintritt (paṭisandhi-viññāṇa): auf diese Weise leisten sie die Kontinuität zwischen den Geburten. Das unmittelbar nach Verlöschen des paṭisandhi-cittas auftretende bhavaṅga-viññāṇa, das Unterbewusstsein als Träger der wesentlichen Merkmale der neuen Daseinsform wird vom selben Potential gespeist.


2.5.5. Viññāṇa-paccayā nāma-rūpaṃ


"Atthi idappaccayā nāma-rūpan ti?" iti puṭṭhena satā Ānanda "Atthī ti" 'ssa vacanīyaṃ.
"Kim paccayā nāma-rūpan ti?" iti ce vadeyya, "Viññāṇa-paccayā nāma-rūpan ti" icc assa vacanīyaṃ.
"Atthi idappaccayā viññāṇan ti?"  iti puṭṭhena satā Ānanda "Atthī ti" 'ssa vacanīyaṃ.
"Kim
paccayā viññāṇan ti?" iti ce vadeyya, "Nāmarūpa-paccayā viññāṇan ti" icc assa vacanīyaṃ.
"Iti kho  Ānanda nāmarūpa-paccayā viññāṇaṃ, viññāṇa-paccayā nāma-rūpaṃ, nāmarūpa-paccayā phasso, phassa-paccayā vedanā. vedanā-paccayā upādānaṃ, upādāna-paccayā bhavo, bhava-paccayā jāti, jati-paccayā jarā-maraṇaṃ, jarā-maraṇa-  paccayā soka-parideva-dukkha-domanassupāysā sambhavanti."68

 68 Mahānidāna-Sutta, Dīgha-Nikāya I, S. 56f.

Im Mahānidāna-Sutta wird die wechselseitige Bedingtheit zwischen den nidānas viññāṇa und nāma-rūpa explizit  formuliert. Das überrascht nicht weiter, wenn man die spezifischen paccayas beleuchtet, die an dieser Schnittstelle zum Tragen kommen: Viññāṇa ist für nāma — das hier auf die drei übrigen mentalen khandhas referiert — eine Bedingung im Sinne von gemeinsamem Entstehen (sahajāta-paccaya), von wechselseitiger Abhängigkeit (aññamañña-paccaya), von Gekoppeltsein (sampayutta-paccaya), von Vorhandensein (atthi-paccaya bzw. avigata-paccaya) und von kognitivem Potential (indriya-paccaya). Rūpa, das Korporeale, ist im Gegensatz zu nāma nur im Empfängnismoment von viññāṇa  bedingt, und zwar wie folgt: im Sinne von gleichzeitigem Entstehen,  Isoliertheit (vipayutta paccaya), Vorhandensein bzw. nicht Erloschensein, weiter im Sinne von Nahrung (āhāra-paccaya), als Potential und als karmisches Resultat. Für saḷ-āyatana, die physischen Grundlagen der Sinneswahrnehmung und den Sitz der Kognition als eine Ausprägung von rūpa ist viññāṇa im Empfängnismoment außerdem eine Bedingung im Sinne wechselseitiger Abhängigkeit. Die Tatsache, dass diese Schnittstelle bereits saḷ-āyatana impliziert, erklärt auch, warum es in der oben angeführten Mahānidāna-Version des paṭicca-samuppāda nicht gesondert aufgeführt wird.

An dieser Stelle wird sehr gut deutlich, dass die nidānas im paṭicca-samuppāda nicht in linearer Abfolge bzw. nicht kausal aufeinander bezogen sind.


2.5.6. Nāma-rūpa-paccayā saḷ-āyatana


Buddhaghosa unternimmt eine ausgesprochen differenzierte Analyse der Bedingungen, die zwischen nāma-rūpa und saḷ-āyatana wirksam sind: hier sollen nur diejenigen paccayas besprochen werden, die für das Verständnis dessen, was sich an dieser Schnittstelle ereignet, relevant sind. Saḷ-āyatana bezeichnet wie gesagt die physischen Grundlagen der Sinneswahrnehmung und den Sitz der Kognition, manāyatana, der jedoch nicht verwechselt werden darf mit der physischen Grundlage der Kognition. Letztere wird hier — wiederum zusammen mit den Sinnesorganen — rūpa zugerechnet, das außerdem auf die vier Elemente und die physische Vitalität, einem Aspekt von jīvitindiriya, referiert. Im Kontext des paṭicca-samuppāda  schließt nāma viññāṇa wie gesagt nicht ein: Bewusstsein wird an dieser Schnittstelle durch manāyatana repräsentiert, welches sämtliche Bewusstseinsklassen — auch die nicht-karmagenerierten — miteinschließt, also mit dem viññāṇa-nidāna nicht identisch ist. Alle drei nāma-kkhandhas fungieren für manāyatana — vom Zeitpunkt der Empfängnis ab während der Dauer der individuellen Existenz — als Bedingungen im Sinne von gemeinsamem Entstehen, wechselseitiger Abhängigkeit, Grundlage (nissaya-paccaya), Gekoppeltsein, karmischem Resultat und Vorhandensein bzw. Nicht-Erloschensein.  Um weitere Bedingungen zu spezifizieren,  müssen die drei nāma-kkhandhas bzw. einzelne gestaltwirksame Koeffizienten des sankhāra-kkhandha gesondert betrachtet werden. So wirkt bzw. cetanā und phassa als Bewusstseinsnahrung (āhāra-paccaya), Gier, Hass bzw. Gierlosigkeit und Hasslosigkeit als Wurzelbedingungen (hetu-paccaya).

Rūpa wiederum bedingt manāyatana als dessen physische Grundlage. Die Bedingungsmodalitäten, die hier angeführt werden — gemeinsames Entstehen, wechselseitige Abhängigkeit, Vorhandensein, Grundlage und Isoliertheit — beleuchten das Verhältnis von Physischem und Bewusstsein aus Sicht des Theravāda. Interessant ist, dass der spezifizierte
Bedingungszusammenhang nur sehr eingeschränkt Gültigkeit hat: Während manāyatana für die gesamte Dauer der jeweiligen Existenz von nāma bedingt bleibt, hat  rūpa, die physische Grundlage, lediglich  zum Zeitpunkt der Empfängnis eine Funktion. (Dasselbe gilt für viññāṇa bezogen auf rūpa.) Dennoch kann nicht von einer Körper-Geist-Dichotomie im strengen Sinne die Rede sein, da Physis und Mentales einander existentiell bedingen, wenngleich dies auf den Augenblick beschränkt bleibt, wo sie in einer neuen Daseinsform erstmals in Erscheinung treten.

Auch die physischen Grundlagen der Sinneswahrnehmung werden nur zum Zeitpunkt der Empfängnis von rūpa bedingt.


2.5.7. Saḷ-āyatana-paccayā phasso


Die Sechs Arten von Sinneseindruck leiten sich vom jeweiligen sensitiven Sinnesorgan bzw. dem Intellekt ab. Die Fünf physischen Grundlagen des Sinneswahrnehmung fungieren für die entsprechenden Sinnesbewusstseinseindrücke als Bedingungen im Sinne der Präzedenz, der Grundlage, des Potentials, der Isoliertheit und des Vorhandenseins. Die zentrale Matrix des Bewusstseins umfasst die Fünf Arten von Sinnesbewusstsein, die aufgrund der jeweiligen Sinnesbewusstseinseindrücke entstehen: hier besteht ein Bedingungszusammenhang im Sinne von Karma-Genese, Grundlage, wechselseitiger Abhängigkeit, Potential, Vorhandensein, Gekoppeltsein und gleichzeitigem Entstehen.

Die Fünf äußeren Anreize der Sinneswahrnehmung sind für den jeweiligen Sinnesbewusstseinseindruck eine Bedingung im Sinne von Objekt, Präzedenz und Vorhandensein, den intellektuellen Bewusstseinseindruck bedingen sie — ebenso wie der Intellekt-spezifische äußere  Anreiz — lediglich als Objekt (wie bereits erwähnt, ist die physische Grundlage der intellektuellen Wahrnehmung für alle Anreize sensitiv).


2.5.8. Phassa-paccayā vedanā


Die Ausdifferenzierung  des vedanā-nidāna entspricht entspricht der des vedanā-kkhandha. Die Fünf Arten von Sinnesbewusstseinseindruck bedingt das jeweils auftretende Gefühl im Sinne von gleichzeitigem Entstehen, wechselseitiger Abhängigkeit, Grundlage, als karmisches Resultat, Nahrung, durch Gekoppeltsein und durch Vorhandensein.

An dieser Stelle untersucht der Kommentar auch die Abhängigkeitsbeziehung zwischen mit den einzelnen Stadien des Bewusstseinsprozesses einhergehender Empfindung und den Fünf Arten von Sinnesbewusstseinseindruck aufgrund von physischen Anreizen: Bewusstseinsarten in der Funktion des Abscannens und des Realisierens werden von phassa zwangsläufig ausgelöst (upanissaya-paccaya). Bewusstseinszustände, die registrierend wirksam sind, bedingt phassa im Sinne des Angrenzens.

Im Hinblick auf die Empfindung, die die verschiedenen Stadien eines Bewusstseinsprozesses begleitet, der durch intellektuellen Anreiz ausgelöst wird, kommen folgende
Bedingungen zum Tragen:


2.5.9. Vedanā-paccayā taṇhā


Ebenso wie vedanā definiert sich taṇhā sechsfach über den jeweiligen auslösenden Anreiz. Die Anreize können laut Kommentar Drei Arten von taṇhā bewirken:

Sämtliche Arten von vedanā in Verbindung mit den jeweiligen karmagenerierten Bewusstseinsarten fungieren hier als Auslöser.


2.5.10.Taṇhā-paccayā upādānaṃ


2.5.10.1. Die Achillesferse des Bedingten Entstehens


Die Schnittstelle der nidānas taṇhā, Gier, und upādāna, Greifen, könnte man als "Achillesferse" des paṭicca-samuppāda bezeichnen, die Stelle, an der das Bedingte Entstehen aufgebrochen werden kann. An allen anderen Schnittstellen kommt es unwillkürlich zum Einrasten des entsprechenden nächsten nidāna, ein Eingreifen ist nicht möglich: So bedingt avijjā unweigerlich sankhāra, und wenn es zu jāti, Geburt, gekommen ist, lassen sich jarā-maraṇaṃ, Alter und Sterben, nicht willentlich aufhalten. Wenn die karmischen Voraussetzungen für entsprechend konstruktive cetanas gegeben sind, dann kann die Verbindung zwischen taṇhā und upādāna erlösungswirksam manipuliert werden. Das bedeutet konkret, dass Gier als solche realisiert wird um upādāna, den Zugriff auf das betreffende Objekt willkürlich zu vermeiden. Es müssen also cittas zwischengeschaltet werden, in denen sich cetanā mit dem sati-sankhāra verbindet. Es versteht sich von selbst, dass es sich hier nicht um eine einmalige Angelegenheit handelt, vielmehr geht es darum, taṇhā in einem Maße zu reduzieren, dass upādāna als elementarer kognitiver Mechanismus außer Kraft gesetzt wird. Um die besondere Bedeutung der taṇhā-upādāna-Schnittstelle nachvollziehen zu können, ist es notwendig, sich die Tragweite der beiden Begriffe bewusst zu machen. Die Theravāda-Scholastik unterscheidet — wie gesagt — drei Arten von taṇhā: kāma-taṇhā, bhava-taṇhā und vibhava-taṇhā. Bhava-taṇhā, die "Gier nach Werden" bezeichnet nicht nur das Hängen an der Existenz und eine grundsätzliche Erwartungshaltung, sondern darüberhinaus eine dem Daseinskontinuum immanente elementare Tendenz: In der Terminologie des Theravāda könnte man das Potential, das hinter Zellwachstum und der Verschaltung von Neuronen steht, als bhava-taṇhā bezeichnen. Um bei diesem Bild zu bleiben: Der Unterschied zwischen Zellwachstum und Zellwucherung veranschaulicht das Verhältnis zwischen den Begriffen bhava-taṇhā und vibhava-taṇhā als Ausdruck davon, dass dieses werden-Wollen und werden-Müssen sich schließlich selbst verschlingt, in Destruktivität mündet. Bhava-taṇhā ist das elementare Daseinsprinzip schlechthin: es gibt keine Alternative zum Werden, wir können uns der Verschaltung der Neuronen, dem Zellwachstum, der Herausbildung der kognitiven Strukturen, dem Greifen ebensowenig verwehren wie Altern und Sterben. Auch upādāna bezeichnet nicht nur das konkrete Ergreifen begehrter Sinnesobjekte, sondern sehr subtile Mechanismen, auf denen weite Teile unserer kognitiven Entwicklung beruhen und ohne die Lernen nicht möglich wäre.

Wir organisieren unsere Erfahrung in Gestalten und definieren uns im Hinblick auf diese Gestalten im Sinne von Affinität und Aversion (taṇhā). Sobald wir nun aus dieser Affinität oder Aversion irgendwelche Ambitionen ableiten, verfestigen wir diese Gestalten, wir greifen: in dem Moment, in dem taṇhā handlungsrelevant wird, setzt upādāna ein.

Der Kommentar unterscheidet vier Arten von  upādāna:

  1. item kāmūpādāna, das sinnlich motivierte Greifen,
  2. diṭṭhūpādāna, das Beharren auf spekulativen (falschen) Ansichten,
  3. sīlabbatūpādāna, das Festhalten an Moral und Ritual als heilswirksam,
  4. attā-vādūpādāna, das Anhängen an die Vorstellung von einem Ich oder Selbst.

Entsprechend ist beim Stromeintritt, wenn die Erlösung verwirklicht ist, upādāna weitgehend unwirksam geworden: Sīlabbatūpādāna ist vollständig überwunden, während mit sakkāya-diṭṭhi sowohl diṭṭhūpādāna als auch attāvādūpādāna zwar nicht vollständig aufgehoben, aber in einem Maße geschwächt sind, dass sie den sotāpanna nicht mehr an den Daseinskreislauf zu fesseln vermögen. Rudimentäres kāmūpādāna wird auf der nächsten Stufe der Erlösung als sakkadāgāmin vollständig gelöscht, während rudimentäres diṭṭhūpādāna und attāvādūpādāna noch weiter wirksam bleiben bis zur vollständigen Erlösung: sie leiten sich ab von avijjā, das erst der Arahat überwindet. Hier wird deutlich, dass das Gefesseltsein an den saṃsāra durch die Zehn saṃyojanas eigentlich im Greifen als weitgehend unwillkürlicher Aktivität besteht.

Dennoch werden bereits beim Stromeintritt durch die Schwächung von upādāna bhava und die daran anknüpfenden nidānas sozusagen "abgekoppelt",  der für das Bedingte Entstehen entscheidende Mechanismus an der upādāna-bhava Schnittstelle ist durchbrochen. 


2.5.10.2. Exkurs: Der Buddhistische Erlösungsweg


Im Vinaya, der das Zusammenleben der Mönche regelt und ihre Rolle in der Gesellschaft bis in Einzelheiten festlegt, wird Rollenidentität sehr stark gewichtet. Der Mönch löst sich nicht aus gesellschaftlichen Bezügen; vielmehr verzichtet er mit Eintritt in den Mönchsstand auf jeden Freiraum bei der Gestaltung der Rollenidentität. Der im Vinaya formulierte "Rollenzwang" bedeutet eine Entlastung:  Mit Eintritt in den Mönchs- oder Nonnenstand ist man von der "lebenslangen hermeneutischen Anstrengung" (Dreitzel) der Aufrechterhaltung persönlicher Identität befreit.69

69 In diesem Zusammenhang sollte man den Stellenwert von māna im Theravāda-Buddhismus bedenken: māna, die soziale Feldabhängigkeit ist ganz wesentlich für die soziale Dimension von Individualität in der buddhistischen Terminologie. Mit Überschreiten der Selbst-Konzeptualisierung auf Ebene von sakkāya-diṭṭhi ist māna, das ständige Befangensein im sozialen Vergleich, noch nicht überwunden — erst mit Erlangung der Arhatschaft kommt dieser Identitätsmechanismus zum Stillstand. Das bedeutet, dass māna eine besonders hartnäckige Form der Selbstkonzeptualisierung darstellt und somit eine wichtige Funktion für das Überleben haben muss — die angesichts des Gesetzes der natürlichen Selektion nach dem survival-of-the-fittest-Prinzip unschwer nachvollziehbar ist.

Die verbreitete Ansicht, der Buddhismus sei ursprünglich eine reine Mönchsreligion gewesen, wird häufig dahingehend missdeutet, dass das Beschreiten des Erlösungsweges zwangsläufig mit Entsagung und Weltabgewandtheit einhergeht.

Diese Interpretation des vom Buddha eingerichteten Mönchsstandes verkennt zum einen die Tatsache, dass der buddhistische Orden keineswegs außerhalb der Gesellschaft angesiedelt, sondern in die Gesellschaft integriert war. Vielmehr mussten die Mönche zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes eine enge Anbindung an die Gesellschaft aufrechterhalten, diese wiederum war nur durch eine besondere Dienstleistung gewährleistet: Der Almosengang der Mönche ist kein Erbetteln von Speisen, der Erhalt von Almosen ist in jedem Fall an das Erbringen dieser Dienstleistung gekoppelt, nämlich an den anumodanā-Segensspruch.

Tatsächlich ist der Lebenstil der Mönche insofern asketisch, dass lediglich die Grundbedürfnisse befriedigt werden und so die Angriffsfläche für den Zugriff auf die Welt, upādāna, weitestgehend eingeschränkt wird. Die Reglementierung des Lebensstils auf Grundlage des  Vinaya befreit den Mönch davon, Sorge tragen zu müssen für Lebensunterhalt, Auskommen der Familie etc. sowie von der Notwendigkeit, ständig Entscheidungen treffen zu müssen, um eigene  Interessen oder die Interessen derer, für die man verantwortlich ist, zu vertreten. Es ist überlebensnotwendig, Interessen zu formulieren und zu vertreten — um diese zu behaupten wiederum müssen situationsbedingt Entscheidungen getroffen und Strategien zu ihrer Durchsetzung entwickelt werden: upādāna muss aktiviert werden.  Die Interessen des bhikkhu bzw. der bhikkhuṇī sind von vorneherein klar definiert, ebenso die Strategien zur Durchsetzung dieser Interessen unter verschiedenen Umständen. Dies bedeutet eine  wesentliche  Entlastung für den bhikkhu oder die bhikkhuṇī. Um die Funktion des buddhistischen Ordens bzw. des Vinaya richtig  zu verstehen, muss man die Funktion von upādāna verstehen: upādāna, das Zugreifen auf die Welt, die Anhaftung ist überlebensnotwendig
(upādāna-paccayā bhava!). Für bhikkhus und bhikkhuṇīs übernimmt der Vinaya weitgehend die Funktion von upādāna. Die eigentliche Gefahr stellen nicht irgendwelche "Versuchungen", Sinnesgenüsse oder ein ausschweifendes Leben dar, vor denen ein asketisches Leben schützen soll; es geht um etwas ganz Elementares, um das Dilemma, das sich mit den nidānas upādāna und bhava auffaltet.  Eine Funktion des Zölibats ist somit die Freiheit von Verantwortung für diejenigen, die von einem abhängig sind.

Die Funktion des Vinaya ist, die Kontrollillusion zu untergraben. Dies geschieht zunächst, indem man Selbstbestimmung (in solchen Belangen, die von einer Instanz außerhalb regulierbar bzw. kontrollierbar sind) an den Vinaya als Kontrollinstanz abgibt und den Zugriff auf die Welt von Vinaya-definierten Handlungsmotiven anstelle von upādāna strukturiert wird. Freilich sind nicht sämtliche Handlungsmotive und alle Ebenen des Zugriffs auf die Wirklichkeit dem Vinaya als kontrollierende und reglementierende Instanz zugänglich.

Der Orden ist vom Buddha eingerichtet worden (im Zwischenraum zwischen den nidānas taṇhā und upādāna), um mildernde Umstände für das Beschreiten des Erlösungsweges zu schaffen; der buddhistische Orden ist sozusagen die Institutionalisierung günstiger Bedingungen. Die Tatsache, dass er eigentlich eine "Einrichtung für Schwache" (Payer) ist, d.h. für solche, die einer konsequenten Praxis des Pfades in der Welt nicht gewachsen sind, darf keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass für das Beschreiten des Erlösungsweges als solches eine gewisse persönliche Reife unabdingbare Voraussetzung ist; dass ein gewisses Maß an Souveränität in der Lebensbewältigung gegeben sein muss.  Solange man nicht imstande ist, das Leben in der Welt zu meistern, d.h. solange man nicht ausreichend upādāna-fähig ist, ist  ein Sich-Herauslösen aus den Verstrickungen mit der Welt nicht möglich. Denn: um Defizite der Lebensbewältigung zu meistern, muss der Umgang mit upādāna erlernt werden, ein Schritt, der nicht übergangen werden kann.


2.5.11. Upādāna-paccaya bhava


Ein Aspekt von avijjā ist die Ignoranz in Bezug auf das Bedingte Entstehen. Entscheidend für das Verständnis dessen, wie dieses Bedingte Entstehen funktioniert — und somit für das Verständnis von anattā — ist der zwischen den nidānas upādāna und bhava bestehende Bedingungszusammenhang. bhava, "Werden" als terminus technicus beschreibt den Mechanismus, der der Daseinskontinuität zugrundeliegt, der das Sich-Fortsetzen der Existenz  gewährleistet: von citta zu citta innerhalb der individuellen Existenz, von cuti zu paṭisandhi zwischen den Geburten. bhava umfasst sowohl kammabhava,  das genetische Potential des Karma als aktiven oder "gestalterischen" Aspekt des Daseinsprozesses, als auch uppatti-bhava, das Entstehen als reaktiven oder phänomenalen Aspekt.70  kamma-bhava ist synonym mit cetanā, Intention, bzw. den übrigen sankhāras, mit denen sich cetanā im jeweiligen Bewusstseinsmoment karmisch wirksam verbindet:

70 Vgl. Nyanatiloka: Guide, 1957. -  S. 169.

 Yā kāci vā pana cetanā bhavo, sampayuttā āy hanā sankhārā nāma71

71 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 580;3-4, zitiert in EoBIV S. 93.

 "Jedes Moment der Intention (cetanā) ist genetisches Potential (bhavo), die Verbindungen, die es [mit anderen gestaltwirksamen Koeffizienten] eingeht (sampayuttā), werden als karmische Ressourcen (sankhārā) bezeichnet."

Wie bereits an anderer Stelle erläutert, ist cetanā nicht als Wollen im Sinne autonomer, unbedingter Entscheidung zu verstehen: Vielmehr ist auch cetanā bedingt, und an dieser Stelle ist die Trennung zwischen kamma- und uppatti-bhava aufgehoben. Der Buddha setzt Karma und cetanā gleich:

Cetanāham bhikkhave kammaṃ vadāmi.72

72 Aṅguttara-Nikāya VI, S. 63. -  zitiert in Nyanatiloka:Buddhistisches Wörterbuch, 1989. - S.  99f. 

Anders ausgedrückt: Kamma-bhava repräsentiert zwar die aktive Seite der Existenz, es handelt sich jedoch um unwillkürliche — oder präziser ausgedrückt bedingt willkürliche — Aktivität.73 Dennoch ist mit diesem Aspekt von bhava, ein — wenn auch begrenzter — Spielraum für Kontrolle gegeben: hier können die Bedingungen gesetzt werden, den Daseinsstrom in eine bestimmte Richtung zu lenken.

73 Unwillkürliche Aktivität findet sich bei avyākata-cittas, karmisch wirkungslosen Bewusstseinszustīnden, also da, wo cetanā nicht im Spiel ist.

Das Bild, das Michael Gazzaniga in Bezug auf die Modifikationsfähigkeit genetisch festgelegter
neuronaler Strukturen gebraucht, lässt sich auch sinnvoll auf kamma-bhava anwenden:

"Die Schwerkraft lässt Wasser abwärts fließen, doch kann man das Wasser von einem scheinbar vorbestimmten Kurs ablenken, indem man einen Fels an eine genau kalkulierte Stelle legt."74

74 Gazzaniga: Gehirn, 1989. - S.  27f.

Auf eben diese Weise funktioniert der Buddhistische Erlösungsweg (wenn auch mittels cetanā eher viele kleine Steine als ein großer Fels gesetzt werden müssen ...): Es werden zwar mittelbar, aber sehr gezielt Bedingungen geschaffen dafür, den Daseinsstrom vom "vorbestimmten Kurs abzulenken" — tatsächlich ist das eine ziemlich genaue Übersetzung des Prädikats paṭisotagāmi, wie der Buddha den dhamma bezeichnet.75 Entsprechend ist die erste Stufe der Erlösung der Stromeintritt: der Daseinstrom ist definitiv umgelenkt, und diese neue Fließrichtung ist unumkehrbar. Vollkommen freie Entscheidungen sind Illusion und entspringen dem Kontrollwahn, moha, als einem wesentlichen Symptom von avijjā. Am Wahrnehmungsvorgang wird außerdem deutlich, wie unwillkürlich — im sprichwörtlichen Sinne — upadāna geschieht: Der karmisch wirksame Impuls zum Greifen, kamma-cetanā, taucht auf, ehe das Objekt bewusst realisiert wird, d.h. die javana-cittas gehen dem tad-ārammana citta voraus. Wir greifen — und produzieren kamma — ehe uns bewusst ist, wonach wir greifen. 

75 Vgl. Rahula: What the Buddha taught, 1959. - S. 52.

Tatsächlich könnte man das real vorhandene Kontrollvermögen aus Theravāda-Sicht auf diesen einen Koeffizienten, cetanā, reduzieren. cetanā ist die reale Grundlage unseres Kontrollvermögens, die wir aufgrund von moha zur Illusion von einem unbedingten, autonomen Selbst, attā, aufplustern. Cetanā ist einer von 50 karmisch produktiven Koeffizienten, aber bei weitem der bedeutendste: ohne cetanā wäre das Gesetz von Karma gleichbedeutend mit Determinismus. Uppatti-bhava hingegen steht für die Summe aller vipāka-viññāṇas, die cetanā produziert: Cetanā steht zwar für das karmische Potential schlechthin, ist aber als solches neutral. Erst in Verbindung mit anderen sankhāras erhält es eine karmische Wertigkeit, also kusala, akusala, aneñja usw. Cetanā führt in jedem Fall zu uppatti, ungeachtet der karmischen Qualität der vipāka-cittas, zu denen es mit anderen sankhāras amalgamisiert. Die Art und Qualität von upatti im allgemeinen und im speziellen — also der Geburt bzw. der Daseinsform — wird durch diese anderen sankhāras quasi "modelliert".76

76 Dieser Ausdruck kommt der wörtlichen Bedeutung von sankhāra tatsīchlich sehr nahe.


2.5.11.1. Exkurs: Aham issaro: anattā und Kontrollillusion


 Hoti kho so, bhikkhave, samayo yaṃ kadāci karahaci dīghassa adhuno accayena ayaṃ loko vivaṭṭati. Vivaṭṭamāne loke suññaṃ Brahma-vimānaṃ pātu-bhavati. Ath'aññataro satto āyukkhayā vā puññakkhayā vā Ābhassara-kāyā cavitvā suññaṃ Brahma-vimānaṃ upapajjati. So tattha hoti manomayo pīti-bhakkho sayaṃ-pabho antalikkha-caro subhaṭṭhāyī, cīraṃ dīghaṃ addhānaṃ tiṭṭhati. Tassa tattha ekakassa dīgha-rattaṃ nibbusitattā, anabhirati paritassanā uppajjati:  "Aho vata aññe pi sattā itthattaṃ āgaccheyyun" ti. Atha aññatare pi sattā āyukkhayā  vā puññakkhayā vā Ābhassara-kāyā cavitvā Brahma-vimānaṃ upapajjanti tassa sattassa sahavyataṃ. Te pi tattha honti manomayā pīti-bhakkhā sayaṃ-pabhā antalikkha-carā subhaṭṭhāyino, cīraṃ dīghaṃ addhānaṃ tiṭṭhanti. Tatra, bhikkhave, yo so satto paṭhamaṃ upapanno tassa evaṃ hoti: "Aham asmi Brahmā Mahā-brahmā abhibhū anabhibhūto aññad-atthu-daso vasavattī issaro kattā nimmātā seṭṭho sañjitā vasī pitā bhūta-bhavyānaṃ. Mayā ime sattā nimmitā. Taṃ kissa hetu? Mamaṃ hi pubbe etad ahosi:  Aho vata aññe pi sattā itthattaṃ āgaccheyun 'ti. Iti mamañ ca mano-paṇidhi, ime ca sattā itthattaṃ āgatā" ti.77

77 Dīgha-Nikāya I, S. 17;23 - S. 18;12

 "Es gibt also, Mönche, irgendwann einen Zeitpunkt, nach langen Zeitperioden, wo sich diese Welt entwickelt. Und in der in Entwicklung begriffenen Welt erscheint ein leerer Brahmapalast. Dann fällt ein Wesen, weil seine Lebenszeit verbraucht ist oder weil sein Verdienst verbraucht ist, aus der Versammlung der Strahlenden Gottheiten ab und wird im leeren Brahmapalast wiedergeboren. Dieses [Wesen] existiert dort geistförmig, sich von Wonne ernährend, Lichtstrahlen aussendend, durch den Luftraum wandelnd, im Glanz verweilend, sehr lange Zeit hat es Bestand. Da kommen nach langer Zeit in jenem Wesen Unruhe, Unzufriedenheit und Furcht auf: "Ach, träten doch noch andere Wesen ins Dasein ein!" Und es fallen nun, weil ihre Lebenszeit verbraucht ist oder weil ihr Verdienst verbraucht ist, auch andere Wesen aus der Versammlung der Strahlenden Gottheiten ab und werden im Brahmapalast in Gesellschaft dieses Wesens wiedergeboren. Und auch diese Wesen existieren dort geistförmig, sich von Wonne ernährend, Lichtstrahlen aussendend, durch den Luftraum wandelnd, im Glanz verweilend, sehr lange Zeit haben sie Bestand."

(Fortsetzung Übersetzung siehe Tabelle)

 "Ihr Mönche, da kommt dem Wesen, das zuerst entstanden ist, folgendes in den Sinn: "Ich bin Brahma, der Große Brahma, der Mächtige, der Allermächtigste, der Alldurchdringende, der Gewaltigste, der Herr, der Macher, der Schöpfer, der Höchste, der Ordner, der Beherrscher, der Vater des Vergangenen und des Zukünftigen. Ich habe diese Wesen erschaffen. Warum ist das so? Erst kam mir folgendes in den Sinn: Ach, träten doch noch andere Wesen ins Dasein. Das war mein Herzenswunsch, und diese Wesen sind ins Dasein eingetreten."  "Sobald es wirklich selbständig läuft, wird die Welt zur größeren Arena, und das Kind schafft eine größere physische Distanz zur Mutter. Sein Narzissmus hat den Höhepunkt erreicht. Es ist imstande [...] Gegenstände allein aufzuheben, sie zu befühlen, zu erschmecken [...]. Es ist allmächtig, beinahe machttrunken, blind gegenüber den eigenen Grenzen, ständig in Hochstimmung angesichts seiner Entdeckungen und seiner Entlassung auf der begrenzenden Welt der Mutter."77a

77a Masterson: Suche nach dem wahren Selbst. - S. 49

Das Festhalten an einer Identität ist nach buddhistischer Auffassung gekoppelt mit einer wesentlichen Fehleinschätzung der Möglichkeiten der Wirklichkeitsgestaltung und führt so zu einem unangemessenen, Leid erzeugenden Zugriff (upādāna) auf den Teil der phänomenalen Welt, der als "nicht ich" bzw. "nicht mit mir identisch" verstanden wird. Darüberhinaus besteht durchaus ein Zusammenhang zwischen Gier, Bedürftigkeit, haben-Wollen und der dumpfen (avijjā) Ahnung, kein Selbst zu sein. In der Identitätspsychologie wird dies als "Kontrollüberzeugung" bzw. "Kontrollillusion"
beschrieben. Unter "Kontrollüberzeugung" versteht man "[...] die generalisierte subjektive Erklärbarkeit, Vorhersehbarkeit und Beeinflussbarkeit, jeweils dimensional gedacht einschließlich des Gegenteils."78  Kontrollillusion definiert sich als "[...] eine persönliche Beeinflussungserwartung, die unangemessen hoch über der objektiven Beeinflussungswahrscheinlichkeit liegt."79

78 Haußer: Identitätspsychologie, 1995. -  S. 42.

79 Haußer: Identitätspsychologie, 1995. -  S. 56.

Wenn der Buddha anattā als eines der drei Merkmale aller bedingt entstandenen Wirklichkeit (neben dukkha und anicca) bezeichnet, stellt er fest, dass Kontrollüberzeugung und Kontrollillusion eine wesentliche Rolle dabei spielen, wie wir Wirklichkeit erfahren und gestalten. Die hohe Gewichtung der Kontrollillusion ist kennzeichnend für die buddhistische Psychologie. Anattā geht weit über die Leugnung einer "ewigen Seele" oder eines beständigen Persönlichkeitskerns hinaus, das ist mit anicca bereits ausgedrückt. Anattā bezieht sich vielmehr auf die Tatsache, dass wir in der Illusion handeln, selbst nicca zu sein bzw. die Erfahrungswelt als nicca anzusehen und unser Handeln entsprechend zu organisieren.  Anattā als Merkmal bedingt entstandener Wirklichkeit besagt zum einen, dass das Individuum, das  selbst Ausdruck des bedingten Entstehens, des paṭicca-samuppāda ist, von vorneherein mit dieser Kontrollüberzeugung an die Wirklichkeit herantritt. Zum anderen behauptet der Buddha mit der Lehre von anattā, dass "Kontrollüberzeugung" als Identität konstituierendes Merkmal Illusion ist — und zwar durchaus im oben definierten Sinne der Unverhältnismäßigkeit der Beeinflussungserwartung (avijjā und moha) angesichts der objektiven Beeinflussungswahrscheinlichkeit. Das heißt, der Buddha negiert mit anattā nicht grundsätzlich jede Beeinflussungsmöglichkeit — damit würde er den dhamma widerlegen. Die unrealistische persönliche Beeinflussungs- bzw. Kontrollillusion ist ein Ausdruck der Unkenntnis von anicca, (bzw. der Ignoranz in Bezug auf anicca), ein Ausdruck von avijjā als Verdrängungsleistung.


2.5.12. Bhava-paccayā jāti


bhava bedingt jāti, die Geburt als auslösender Impuls und im Sinne von Karma.

kathaṃ pan' etaṃ jānitabbaṃ: bhavo jātiyā paccayo ti.80

80 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 575 

 "Woher aber soll man wissen, dass Geburt durch das genetische Potential des Karma (kammabhava) bedingt ist?"

In Buddhaghosas Antwort auf diese Frage (Übersetzung siehe Tabelle unten) steht kamma für eine Variable, nach der die Gleichung bhava-paccayā jāti nicht aufgelöst werden kann - kamma ist eine Bezeichnung für eine "black box".

Bāhirapaccayasamatte pi hīna-paṇītatādivisesadassanato. Bāhirānaṃ hi janakajananīsukkasonitāhārādīnaṃ paccayānaṃ samatte pi sattānam yamakānam pi sataṃ hīna-paṇītatādiviseso dissati; so ca na ahetuko, sabbadā ca sabbesañ ca abhāvato. Na kammabhavato aññahetuko tad-abhinibbattakasattānaṃ ajjhattasantāne aññassa kāraṇassa abhāvato ti kammabhavahetuko va.81

81 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 575f. 

 Auch in der Neuropsychologie befindet sich an dieser Stelle eine solche "black box": Hier ist von "genetischer Kontrolle" die Rede, wenn die Gesetzmäßigkeiten der neuralen Selbstorganisation auf vorgeburtliche Bedingungen zurückgeführt werden sollen. Auch die Neurowissenschaftler sind jedoch noch nicht in der Lage, die Gleichung vollständig aufzulösen.

 "Weil man selbst bei identischen äußeren Bedingungen individuelle Unterschiede beobachten kann, so z.B. [hinsichtlich des Status] von niedrigem sozialem Rang oder angesehen. Selbst wenn äußere Bedingungen wie die Erzeuger, Samen, Blut, Nahrung usw. identisch sind, ist doch sogar bei Zwillingen Individualität (viseso) zu beobachten; die [Individualität] wiederum muss auf eine Ursache zurückzuführen sein, weil sie nicht jederzeit bei jedermann [in der jeweiligen Form] vorhanden ist. Abgesehen vom genetischen Potential des Karma (kammabhava) ist kein anderer Grund [denkbar], da im Persönlichkeitskontinuum (ajjhattasantāne) der Wesen, die aufgrund von Karma wiedergeboren werden (tad-abhinibbattaka) keine andere Ursache vorhanden ist. Weil sich das so verhält,  ist [die Individualität] auf das genetische Potential des Karma zurückzuführen."

81 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 575f. 

 "Wichtig ist auch, sich darüber klar zu sein, dass ein sich entwickelndes biologisches System wie das Nervensystem zwar unter strenger genetischer Kontrolle steht, dass
diese Kontrolle jedoch keineswegs vollkommen ist. [...] Vergleicht man die Gehirne von Geschwistern oder gar die von eineiigen Zwillingen post mortem, so entdeckt man selbst in solchen Fällen starke Unterschiede in der Morphologie. Die Variationen in der Mikrostruktur der Zellkontakte sind überwältigend. Und wenn schon die Gehirne naher Verwandter so unterschiedlich sind, kann man sich unschwer vorstellen, wie groß die
Variationsbreite in der übrigen Bevölkerung ist. Natürlich besitzt jeder eine  linke und eine rechte Hemisphäre (Hirnhälfte), ein Zwischenhirn und einen visuellen Teil im Kortex, doch die Proportion der Zellmengen in jedem dieser Systeme und die Art, wie sie miteinander verbunden sind, sind von Mensch zu Mensch verschieden."81a

81a Gazzaniga: Gehirn, 1989. - S.  27f.


2.5.13. Jāti-paccayā jarā-maraṇaṃ-soka-parideva-dukkha-domanass'upāyāsa


2.5.13.1. Das Bedingte Entstehen des Leidens


 Yasmā ca asati jātiyā, jarāmaraṇaṃ nāma sokādayo va dhammā na honti, jātiyā pana sati, jarāmaraṇañ c'eva jarāmaraṇasankhātadukkhadhammaphuṭṭhassa ca bālajanassa jarāmaraṇābhisambandhā vā tena tena dukkhadhammena phuṭṭhassa anabhisambandhā vā, sokādayo ca dhammā honti, tasmā ayam pi jāti  jarāmaraṇassa ceva sokādīnañ ca paccayo hotī ti veditabbā.82

82 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 17, S. 576;6-12.

 "Wenn es keine Geburt gibt, existieren auch Gegebenheiten wie Altern und Sterben oder Kummer usw. nicht. Sobald es hingegen  zu Geburt kommt, gibt es grundsätzlich auch Altern und Sterben: die törichten Leute, die von den Altern und Sterben zugeschriebenen leidvollen  Gegebenheiten (sankhātadukkhadhammā) heimgesucht werden — und zwar gleichermaßen von diversen unmittelbar mit Altern und Sterben verbundenen  leidhaften  Gegebenheiten als auch von solchen, die die nicht unmittelbar damit verbunden sind — erfahren Gegebenheiten wie Kummer usw. Insofern ist es die Geburt, die als Bedingung für Altern, Sterben und leidvolle Gegebenheiten wie Kummer gilt. "

2.5.13.2. Exkurs: Zum Umgang mit Leiden im Buddhismus


"Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und (worauf du dich) verlässest, das ist eigentlich dein Gott."83

Martin Luther

83  Martin Luther's Kommentar zum ersten Gebot im Großen Katechismus. In: Luther, Martin <1483 - 1546>: [Werke] D. Martin Luthers Werke. - Kritische Gesamtausgabe. -- Weimar : Böhlau. -- Bd. 31, Abt. 1. -- 1913. - Herr A. Payer wies in seinen Lehrveranstaltungen wiederholt auf diese Stelle hin, die als erweiterte Definition von Theismus gelten kann.

Die Problematisierung von personaler Identität als Ursache von Leiden ist keine Besonderheit des Buddhismus; lediglich die anattā-Lehre als philosophisches Destillat solcher Überlegungen muss als spezifisch buddhistisch gelten. Aber auch ungeachtet seiner moralischen Bedenklichkeit ist das Ich nicht nur den Buddhisten suspekt geworden; und so wird das scheinbar Naheliegendste, die persönliche Identität, unter allen möglichen Vorzeichen preisgegeben. Arthur Koestler84 führt diese Tendenz auf sogenannte integrative oder partizipatorische Affekte zurück.85  Das Wirksamwerden solcher Impulse zeigt sich in der Bereitwilligkeit, mit der ein Individuum als autonomes Subjekt abdankt, um sich einer Über-Identität einzuverleiben. Auch das Phänomen des Theismus, das in den meisten Religionen anzutreffen ist — und beim Theismus im Sinne Luthers ist es unwesentlich, "woran du dein Herz hängst"  — lässt sich in diesem Sinne deuten: als eine Spiegelung des Bedürfnisses nach integrativer (Auf-)lösung der Begrenztheit, die mit der Erfahrung personaler Identität respective Individualität einhergehen und als Bestreben von Individuen, sich einzubinden in eine höhere Identität. So suchen beispielsweise die Mystiker verschiedener Kulturen erklärtermaßen Befreiung im Verschmelzen der persönlichen Identität mit einer transzendenten, absolut verstandenen Entität. Wie bereits gezeigt wurde, ist der Spielraum für individuelles Wollen innerhalb der als anattā qualifizierten Theravāda-Konzeption von Individualität sehr präzise definiert — er ist identisch mit cetanā, dem gestaltwirksamen Koeffizienten, der für die Erzeugung von Karma verantwortlich ist. Aus Theravāda-Sicht ist persönliche Freiheit oder Kontrollvermögen zwar durchaus vorhanden, aber in begrenztem Maße.  Sich der Begrenztheit persönlicher Autonomie in vollem Umfang bewusst zu werden, wäre gleichbedeutend mit der Einsicht in anattā. Wenngleich wir aufgrund von moha das Ausmaß dieser Begrenztheit nicht realisieren, aufgrund der Konfrontation mit dukkha erfahren wir persönliche Autonomie doch zumindest als begrenzt87  Diese  Erfahrung von Begrenztheit wiederum erzeugt Furcht88: die Erfahrung von Furcht ist die Kehrseite der partizipatorischen Affekte, und das Ausmaß der Furcht rechtfertigt die Setzung einer absoluten Entität. Die partizipatorischen Affekte sind Ausdruck des Greifens nach Halt —   upādāna bedeutet lediglich, dass wir nach etwas anderem greifen, um unserer selbst, d.h. eines attā, habhaft zu werden.

 84 Herr A. Payer hat mich in   diesem Zusammenhang auf Arthur Koestler hingewiesen; mündliche Mitteilung im Herbst 1998.

85 Vgl.   Koestler: Göttliche Funke, 1966. - S. 46f. und S. 280ff.

87 Dieser Zusammenhang zwischen dukkha und anattā bzw. die Tatsache, dass wir die Wirklichkeit nur bedingt unseren Wünschen entsprechend zu gestalten vermögen, wird übrigens schon in der Ersten Edlen Wahrheit formuliert:   appiyehi saṃpayogo dukkho, piyehi vippayogo dukkho. Yaṃ piccham na labhati tam pi dukkham.  Hier wird durchaus auch die Frage nach der persönlichen Autonomie gestellt.

88 Vgl. unten Teil III, 3.5: Phassa-paccayā vedanā: Die Neurobiologie der Furcht.

Die Erfahrung der relativen Ohnmacht verlangt außerdem nach einem Deutungsmuster, das die Defizite der individuellen Realität bewältigen hilft. In (theistischen) Religionen kann ein solches Deutungsmuster gefunden, persönliche Existenz zurückgeführt werden auf ein umfassenderes Sein: In der Identifikation mit diesem Absoluten wird sinnstiftende Rechtfertigung für die eigene Begrenztheit und schließlich Erlösung gesucht.  So wird also die Sinnfrage über die partizipatorischen Tendenzen abgewickelt; mit der Rückführbarkeit  persönlicher Existenz auf ein Absolutes soll die eigene Identität absolut gesetzt, also attā werden.

Vor dem Hintergrund dieser erweiterten Konzeption von anattā89  lässt sich Theismus dahingehend interpretieren, dass für die ultimate reality, auf die hin eine Religion sich ausrichtet, ein attā postuliert wird — und sei es in noch so subtilen, von anthropomorphen Göttlichkeitsvorstellungen weit entfernten Konzepten wie der brahman-Vorstellung. Auch das Theodizee-Problem, die Frage nach der Vereinbarkeit des Leidens mit einem all-guten Gott, das die theistischen Weltreligionen nur spekulativ zu beantworten vermögen, könnte vor diesem Hintergrund als Erfahrungshinweis von anattā gewertet werden: Aus buddhistischer Sicht gibt es weder  eine absolute Instanz, die steuernd und allwissend die Erfahrungswelt und die Realität des Leidens sinnstiftend transzendiert, noch verbirgt sich ein tieferer Sinn hinter der Realität des Leidens90. In diesem Sinn ist der frühe Buddhismus durchaus "paṭisotagāmi", wie der Buddha über seine Lehre sagt: Es geht uns buchstäblich gegen den Strich. Der buddhistische Erlösungsweg erfordert, dass gerade  jene Faktoren, die wir gerne an eine übergeordnete Instanz abgeben würden, uns verschärft zu Bewusstsein gebracht werden. Erlösung soll eben dadurch erreicht werden, dass wir uns klarsichtig, vipassanā, mit der Bedingtheit und der Begrenztheit unserer persönlichen Existenz konfrontieren.

89 "Erweitert" in dem Sinne, dass auch der extrapersonale Aspekt und die Frage nach der Autonomie   mitberücksichtigt sind.

 90 Vgl. Kehrer: Religionssoziologie, 1988. - S. 38: Im Kontext der Handlungs- und Gesellschaftstheorie von Talcott Parsons formuliert Kehrer diesen Sachverhalt wie folgt: "..das soziale System der Gesellschaft wird auf das extra-soziale System `Kultur` bezogen und so legitimiert. [...] Aber auch dieser Bezug auf das kulturelle System stabilisiert die gesellschaftliche Ordnung nur unvollkommen, denn die Probleme, die mit der Theodizee-Frage verbunden sind, bleiben bestehen: unverdientes Leiden, früher Tod, Sinnlosigkeit. Deshalb erfolgt die Legitimation noch einmal auf höherer Stufe, die außerhalb des Handlungsbereiches liegt: auf der Ebene der letzten Wirklichkeit (`ultimate reality`)."

Das Beschreiten des buddhistischen Erlösungsweges, wie er in der Pāli-Überlieferung angelegt ist, verlangt ein hohes Maß an  Resignation: Der Buddha mildert nicht ab, er macht die Resignation sogar ein Stück weit zur Methode. Aber er gibt mit den     brahmavihāras Methoden an die Hand, mit dieser Resignation umzugehen, die Verhältnismäßigkeiten zu wahren. Diese Resignation als treibender Impuls auf dem buddhistischen Erlösungsweg ist den partizipatorischen oder integrativen Affekten völlig entgegengesetzt. Mit dem Bodhisattvaideal im jüngeren Buddhismus wird die Methode zum Umgang mit dieser Resignation modifiziert: Das Prinzip der upayakauśālya könnte als Versuch gewertet werden, den partizipatorischen Tendenzen — vorläufig — einen gewissen Spielraum zu lassen, um den Erlösungsweg einer breiteren Masse zugänglich zu machen.

Der zweite zentrale Begriff, der ebenfalls in wohl allen   Erlösungsreligionen auftaucht, ist der der Seele: Seele kann in   theistischen Religionen als intrapersonale Entsprechung zur   Wesenheit Gottes aufgefasst werden. In der Seelenvorstellung   verdichtet sich das Phänomen persönlicher Identität. Im   Seelenbegriff findet Individualität ihre höchste Ausprägung und   wird gleichzeitig jeglicher Akzidentien entledigt.

  Günther Kehrer beschreibt die Funktion von Religion für die Gesellschaft als eine Integration im Sinne von Identität und Stabilität gewährleistende.91 Dies lässt sich sinnvoll übertragen auf die Funktion, die Religion für das Individuum hat, auch wenn  Integration sich hier in umgekehrter Richtung vollzieht. Ferner vermögen religiöse Systeme nach Kehrer "einen Legitimationshorizont für Handeln bereitzustellen"92.

91  Kehrer: Religionssoziologie, 1988. - S. 60.

92 Kehrer: Religionssoziologie, 1988. - S. 60.

Somit deckt Religion die mit der Erfahrung persönlicher Identität entstehenden Bedürfnisse nach Sinnstiftung und Legitimation der  persönlichen Existenz ab, indem sie eine integrative Lösung der Identitätsproblematik im doppelten Sinn zur Verfügung stellt:

Dies unterscheidet den Theravāda-Buddhismus als Erlösungsreligion grundsätzlich von anderen Hochreligionen, die versuchen, den   leidverursachenden Mechanismus des Haftens an einem Ich dadurch zu brechen, dass Individualität in einer Über-Indentität   verkörpernden Instanz aufzuheben versucht wird. Durch die Tatsache, dass hier die Dynamik des Erlösungsgeschehens nicht integrativ  ausgerichtet ist, qualifiziert sich der Buddhismus als atheistische Religion im umfassenden Sinne.

Der integrative Ansatz hingegen zeugt von einem Persönlichkeits-Konzept, das nur einen Teilaspekt dessen abdeckt, was der Pāli-Begriff attā bezeichnet. Die Verlagerung des "Integrationszentrums", wie Hans-Peter Dreitzel die Ich-Identität bezeichnet93, außerhalb des Bereiches, in dem es für gewöhnlich angesiedelt bzw. mit dem es als kongruent empfunden wird, ist aus buddhistischer Sicht eher unerheblich: Die Tatsache, dass ein Individuum so den Ursprung seiner Handlungsmotive in eine Instanz verlegt hat, die nicht "mit ihm identisch" ist, bedeutet keineswegs, dass Gier, Hass und Verblendung als das Handeln steuernde Impulse außer Kraft gesetzt würden. — Mit der Verdienstübertragung an "Gott und Vaterland" auf dem Kriegsdenkmal vermag der gestorbene Soldat die karmische  Zuständigkeit für seine Kriegsaktivitäten nicht abzugeben. Ebensowenig versiegen aus buddhistischer Sicht mit dem Märtyrertod   diejenigen Ressourcen, aus denen sich der Bewusstseinsstrom speist: Das Handeln des Märtyrers als einer Person, die sich den  integrativen Ansatz radikal zu eigen gemacht hat, ist nach wie vor von Bedürfnissen (taṇhā) bestimmt — und sei es nur das   Bedürfnis, das eigene Interesse mit dem übergeordnet verstandenen Interesse zur Deckung zu bringen. Ungeachtet der Herkunft der Handlungsmotive entspringen die das Handeln regulierenden Faktoren weiterhin ausschließlich dem Bewusstseinskontinuum; so die  kilesas, die den Zugriff auf die Wirklichkeit (upādāna) karmisch aufladen. Somit ist die Über-Individualität repräsentierende Größe für ein   Individuum ein Alibi im sprichwörtlichen Sinne: Der Mechanismus, den es zu durchbrechen gilt, wird "anderswo", an einer anderen Stelle ausgelöst, bleibt aber grundsätzlich derselbe.  Deshalb sind die Götter für das Streben nach Erlösung so wenig zugänglich, weil sie optimale Bedingungen zur Aufrechterhaltung der Kontrollillusion und somit für avijjā haben. Bei den Höllenwesen hingegen fehlt das für das Beschreiten des Erlösungsweges notwendige Mindestmaß an Kontrollillusion.

93 Dreitzel: Das gesellschaftliche Leiden, 1972. -  S. 239.


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