Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen

3. Teil III: Beziehungsideen II: Neurobiologische Ansätze

1. Kapitel 1: Vorbemerkungen


von Sabine Gudrun Klein-Schwind

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Zitierweise / cite as:

Klein-Schwind, Sabine Gudrun: Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen. -- 3. Teil III: Beziehungsideen II: Neurobiologische Ansätze. -- 1. Kapitel 1: Vorbemerkungen. -- Fassung vom 2006-10-11. -- URL: http://www.payer.de/schwind/schwind31.htm.

Erstmals publiziert: 2006-10-11

Überarbeitungen:

Anlass: Magisterarbeit im Fach Indologie an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Mai 2000

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0. Übersicht



1.1. Erläuterung der Untersuchungsperspektive


Die analytische Persönlichkeitsbeschreibung des frühen Buddhismus lässt sich gewinnbringend zu einigen naturwissenschaftlichen Persönlichkeitstheorien in Beziehung setzen. Neuere Ergebnisse der Hirnforschung bzw. Neurobiologie sind durchaus dazu angetan, den Ansatz der buddhistischen Psychologie grundsätzlich zu stützen. Im 20.Jh. kann sich vipassanā durchaus auch naturwissenschaftlicher Methoden bedienen.


Abb.: Thomas Blakeslee
[Bildquelle: http://www.attitudefactor.com/blakesle.htm. -- Zugriff am 2006-10-08]

Meine Darlegung der neuropsychologischen Beschreibung von Individualität ist inspiriert von Thomas R. Blakeslees Abhandlung "Beyond the Conscious Mind".1 "Beyond the Conscious Mind" ist als populärwissenschaftliches Werk zu kategorisieren: Blakeslee rekapituliert den aktuellen Forschungsstand der Neurobiologie in einer Form, die für Nicht-Spezialisten nachvollziehbar ist, wobei er deutlich macht, dass einige der grundlegenden Erkenntnisse der Erfahrung durchaus zugänglich sind. Da in Blakeslees Darstellung die Erfahrungsbezogenheit im Vordergrund steht, sind die neurophysiologischen Sachverhalte entsprechend knapp geschildert, deshalb werde ich auf weitere neurobiologische Publikationen rekurrieren: Damit eine konsistente Darstellung des ausgewählten neurowissenschaftlichen Ansatzes gewährleistet ist, werde ich mich an die Autoren halten, auf die sich Blakeslee explizit bezieht, bzw. an solche, die in deren unmittelbarem Umfeld forschen, namentlich Michael Gazzaniga, Joseph LeDoux (und punktuell Antonio Damasio).

1 A. Payer hat mich im Dezember 1998 (mündliche Mitteilung) auf Blakeslees Buch als anattā-kompatibles Modell aufmerksam gemacht.

Im Rahmen einer geisteswissenschaftlichen Arbeit kann es selbstverständlich nicht geleistet werden, den aktuellen Forschungsstand der Neuropsychologie vollständig zu rekapitulieren. Um so wichtiger ist es, mich ausschließlich an Publikationen solcher Autoren zu halten, deren Forschungsergebnisse experimentell fundiert sind2. Dies ist bei Michael Gazzaniga und Joseph LeDoux ebenso wie bei Roger Sperry, in dessen Tradition sie mit ihrem neurobiologischen Ansatz stehen, in hohem Maße gewährleistet. Die Rezipierbarkeit ihrer Abhandlungen für einen naturwissenschaftlichen Laien ist vor allem deshalb gegeben, weil sie nicht nur die theoretischen Prämissen, sondern auch die experimentelle Genese ihrer Erkenntnisse ausgesprochen anschaulich und detailliert belegen. Von beiden Autoren habe ich sowohl neurobiologische Fachliteratur als auch tendenziell populärwissenschaftliche Veröffentlichungen studiert, wobei auch letztere von der Konzeption her keineswegs "unwissenschaftlich" sind: Indem sie auch einige Grundlagen neurobiologischen Wissens vermitteln, führen sie systematisch an die komplexe Materie heran und geben so auch dem interessierten Laien die Gelegenheit, die Tragweite der formulierten Erkenntnisse -- zumindest andeutungsweise -- zu ermessen.

2 Dies gilt übrigens auch Jean Piaget, dessen genetisch-epistemologischer Ansatz in Teil iv behandelt werden wird.

Zunächst möchte ich jedoch einige Seiten Thomas Blakeslees Modell widmen: Es eignet sich als Einstieg in die komparatistischen Betrachtungen von daher sehr gut, dass es einige Konzepte, die sich bei Gazzaniga und LeDoux lediglich andeuten, "weiterdenkt" und durch Heranziehung von allgemein zugänglichen Erfahrungswerten anschaulich macht. In Kapitel 3 werde ich auf die eigentlichen komparatistischen Überlegungen zu sprechen kommen: d.h. konkret, dass die neurowissenschaftlichen Prämissen dieses Modells, wie sie bei Gazzaniga und LeDoux formuliert sind, auf buddhistische Vorstellungen angewendet werden sollen. Blakeslee unternimmt in "Beyond the Conscious Mind" den Versuch, die Erkenntnisse der Hirnforschung auf die Psychologie der Individualität zu übertragen, wobei die Vorstellung von der eigenen Individualität, das Selbstkonzept, im Zentrum der Betrachtungen steht. Um Blakeslees Aussagen richtig bewerten zu können, ist es erforderlich, zunächst kurz auf den forschungsgeschichtlichen Kontext seiner Theorie einzugehen: Aus diesem Grund sollen zunächst die entscheidenden Stationen in der jüngeren Entwicklung der Hirnforschung nachvollzogen werden.


1.2. Wenn die linke nicht weiß, was die rechte tut ...



Abb.: Roger Wolcott Sperry (1913 - 1994)
[Bildquelle. Wikipedia]

Einen Durchbruch in der Geschichte der Hirnforschung erreicht Roger Sperry mit seinen Experimenten an Split-Brain-Patienten, Personen, deren Hirnhälften chirurgisch getrennt worden waren, um sie von schwerer Epilepsie zu kurieren. Die Split-Brain-Experimente legten zunächst nahe, dass, wenn die Nervenverbindungen zwischen den beiden Hemisphären durchtrennt sind, diese nicht länger zu kommunizieren vermögen.


Abb.: Michael Gazzaniga
[Bildquelle: http://www.dartmouth.edu/~news/releases/2005/02/01.html.. -- Zugriff am 2006-10-08]

In den 70ern führte Michael Gazzaniga, ein Schüler Sperry`s, die Split-Brain-Forschung weiter. Bei diesen Experimenten wurde so vorgegangen, dass die Gehirnhälften gezielt einzeln stimuliert wurden um herauszufinden, ob die jeweils andere Hemisphäre den Stimulus erkennt. Beispielsweise wird für gewöhnlich die Sprachfähigkeit bzw. verbale Funktionen der linken Hemisphäre zugeordnet, d.h. eine Person kann nur Dinge sprachlich ausdrücken, von denen die linke Gehirnhälfte "weiß". Wenn nun der rechten Hirnhälfte ein Stimulus präsentiert wird, der der linken vorenthalten bleibt, vermag die Versuchsperson den Stimulus nicht verbal auszudrücken, sie kann nicht sagen, um was es sich handelt. Andererseits jedoch kann die rechte Hemisphäre non-verbal signalisieren, dass sie den Stimulus erkannt hat; so z.B. durch Ergreifen des entsprechenden Bildes zu dem Begriff, der auf die rechte Hemisphäre projeziert wird, mit der linken Hand, von der Tastinformationen der rechten Hirnhälfte zugeleitet werden (umgekehrt werden Tastinformationen von der rechten Hand der linken Hemisphäre zugeleitet). "One Brain - two minds", bringt Gazzaniga seine Erkenntnisse in einem gleichnamigen Essay auf den Punkt: die linke Hemisphäre weiß buchstäblich nicht, was die rechte tut.


Abb.: Joseph LeDoux (geb. 1949)
[Bildquelle: http://www.nyu.edu/public.affairs/releases/detail/882. -- Zugriff am 2006-10-08]

Außer verbalen Funktionen wird der linken Gehirnhälfte auch die emotionale Bewertung von Reizen zugeordnet. Joseph LeDoux3 führte zusammen mit Michael Gazzaniga entsprechende Versuche an Split-Brain-Patienten durch. LeDoux berichtet von Experimenten mit einem Patienten, der -- für Split-Brain-Patienten untypischerweise -- in der Lage war, in beiden Gehirnhälften Worte zu lesen, wobei er wie andere Patienten ausschließlich mit der linken Hemisphäre die Stimuli sprachlich benennen konnte. An diesem Patienten wies LeDoux nach, dass die linke Hemisphäre in der Lage ist, auf Reize, die sie nicht erkennt bzw. die ihr nicht präsentiert werden, emotional zu reagieren: Worte, die auf P.S. 'linke Hemisphäre projeziert wurden, konnte der Patient benennen und emotional qualifizieren. Worte hingegen, die seine rechte Hirnhälfte zu lesen bekam, konnte er zwar nicht benennen, aber nach wie vor emotional beurteilen: "Mom" als "gut" und "Teufel" als "schlecht". So konnten beim Patienten bewusste Emotionen hervorgerufen werden durch Stimuli, die dieser nicht bewusst wahrgenommen hat. Le Doux erklärt diese Dissoziation durch eine Art Gabelungseffekt: Der Weg, den der Reiz nimmt, nachdem der Stimulus, d.h. im Fall von P.S. das Wort, das der rechten Hemisphäre präsentiert wird, gabelt sich: Die rechte Hemisphäre identifiziert den Stimulus, aber diese Information kann aufgrund der durchtrennten Nervenbahnen nicht der linken übermittelt werden. Diese erste begriffliche Identifikation des Stimulus ist nicht alles: Der Stimulus wird weitergetragen in die Bereiche der rechten Hemisphäre, die seinen emotionalen Gehalt auswerten. Offensichtlich erreicht diese Infomation trotz der durchtrennten neuronalen Verbindungen die linke Gehirnhälfte, wo sie als bewusste Emotion wahrgenommen und verbalisiert werden kann. Die zentralen neuralen Bahnen, auf denen die affektive Signifikanz äußerer Stimuli weitergegeben bzw. verarbeitet wird, sind nicht die selben, auf denen die objektiven Merkmale des Stimulus verarbeitet werden. Das bedeutet, dass voneinander verschiedene Verarbeitungsfunktionen, die durch unterschiedliche neurale Systeme erfolgen, die affektive und die kognitive Reizverarbeitung leisten. Somit liefern die durch die Split-Brain-Experimente gewonnenen Erkenntnisse sozusagen das hirnphysiologische Korrelat zur grundlegenden psychologischen Dichotomie zwischen Fühlen und Denken, Emotion und Kognition.4 Die Versuche von Gazzaniga und LeDoux zeigen, dass eine chirurgische Trennung der Gehirnhälften nicht die Übermittlung aller Informationen zwischen den Hemisphären verhindert.

3 Vgl. Le Doux: Brain, 1996; und: Le Doux, Joseph: Cognition and Emotion: Processing Functions and Brain Systems. In: Handbook of Cognitive Neuroscience. Edited by Michael S. Gazzaniga. New York: Plenum Press, 1984. pp. 357- 368.

4 Vgl. Le Doux: Brain, 1996. - S. 15.

1981 erhielt Sperry den Nobelpreis für seine Erkenntnisse im Bereich der Hirnforschung. Michael Gazzaniga entwickelte Sperrys Modell der dezentralen Gehirnorganisation weiter und kam zu dem Schluss, dass die Gehirnleistung sich nicht auf zwei Hemisphären, sondern auf eine Vielzahl unabhängiger, spezialisierter Module verteilt.


Zu 3. Teil III: Beziehungsideen II: Neurobiologische Ansätze: 2. Kapitel 2: Thomas Blakeslee: Selbstmodul und Selbstkonzept