Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken

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Kapitel 2: Seidenstücker bis zur Gründung des Buddhistischen Missionsvereins


von Ulrich Steinke

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Zitierweise / cite as:

Steinke, Ulrich: Karl Bernhard Seidenstücker (1876-1936) : Leben, Schaffen, Wirken. -- Kapitel 2: Seidenstücker bis zur Gründung des Buddhistischen Missionsvereins. -- Fassung vom 28. Juni 1996. -- URL: http://www.payer.de/steinke/steink02.htm. -- [Stichwort].

Letzte Überarbeitung: 28. Juni 1996

Anlaß: Magisterarbeit, Universität Tübingen, 1989

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2.0. Übersicht



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2.1. Prägende Kindheitserfahrungen


[Vita s. Anhang 2]

Seidenstücker wurde am 23.März 1876 in Gerbstedt (Mansfelder Seenkreis) im Nordwesten von Leipzig geboren als Sohn des Superintendenten und Oberpfarrers Karl Seidenstücker (gest.1920) und seiner im Jahre 1897 verstorbenen Gemahlin Luise. Er hatte eine ältere Stiefschwester.

In einem Aufsatz über Visionen und Phänomene erfahren wir einige Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend:

"Als ich acht Jahre alt war, lag ich sehr schwer krank an Scharlach und Diphterie und war von den Ärzten aufgegeben. Damals hatte ich eine Erscheinung, die weil sie so absonderlich und scharf ausgeprägt war, in meiner Erinnerung stets lebendig geblieben ist. Diese Erscheinung war eigentlich das Einzige, was bei meiner großen Apathie noch meine Aufmerksamkeit und mein Interesse erregte. An der rechten Seite meines Bettes, mehr am Kopfende, stand ein großer schwarzer Hund mit rotglühenden Augen. Das Gebilde stand tagelang unverändert und unbeweglich da, und so oft ich mich auf die rechte Seite legte, nahm ich es deutlich wahr..."
[Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921). -- S. 367].

Weiter berichtet Seidenstücker, wie er nur knapp dem Tode entronnen war:

"Ein ganz ähnlicher Fall hat sich im Elternhaus des Verfassers zugetragen. Hier wurde eines Tages infolge eines scheinbar gänzlich außerhalb des Kausalnexus liegenden Umstandes ein Kinderbett von der Stelle, wo es bisher gestanden hatte, weggerückt und fand am anderen Ende des Zimmers seine Aufstellung. In der folgenden Nacht stürzte die Decke gerade über der Stelle, von der das Bett abgerückt war, ein. Der Verfasser ist selbst Zeuge dieses Vorganges gewesen; er selbst war es nämlich, der auf diese Weise vor einem jähen Tode bewahrt wurde."
[Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921). -- S. 375 Fußnote].

Als Seidenstücker vierzehn Jahre alt war verunglückte ein Mitschüler tödlich.

"Als ich mich am Abend des Begräbnistages zu Bett gelegt hatte und in dem dunklen Zimmer etwa zwei Minuten vollständig wach gelegen hatte, stand plötzlich die Gestalt des Verstorbenen hell und deutlich vor mir neben dem Bett; die Erscheinung verharrte etwa eine halbe Minute in größter Deutlichkeit... So scharf ausgeprägt das Bild des Verstorbenen auch vor mir stand, so glaube ich doch fest, daß hier wiederum nur eine subjektiv-reale Vision vorgelegen hat, für deren Zustandekommen ja alle Bedingungen gegeben waren..."
[Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921). -- S. 452].

Im Alter von sechzehn Jahren wurde Seidenstücker nachts von einem Fieberdämonen aus einem "anscheinend traumlosen Schlaf" geweckt:

"Ich erwachte über eine geradezu fürchterliche Erscheinung. Eine in weiß gekleidete dämonische Gestalt mit totenbleichem Antlitz und wirrem strohgelbem Haar kam von der linken Seite an mein Bett herangeschwebt und bohrte ihre rotglühenden Augen unheilverkündend in die meinen. Ich erwachte, richtete mich hastig auf, die Gestalt aber blieb und schwebte in der beschriebenen Weise langsam an mir vorüber, bis sie dann auf der rechten Seite im Dunkel verschwand. Nach zwei Tagen erkrankte ich an einer sehr schweren eitrigen Mandelentzündung. Man beachte hier die Beziehungen der symbolischen Sprache zur Wirklichkeit: Die strohgelbe Farbe = Eiter, das rotglühende Auge = Fieber. So scheinen die jeweiligen Krankheitsdämonen, seien sie typisch oder spezifisch, in einzelnen Zügen ihrer Erscheinung zu der Krankheit, die sie anzeigen, in einer bestimmten Beziehung zu stehen, so z.B. der Fieberdämon, wie seiner in altindischen Beschwörungsliedern gedacht wird."
[Buddhistischer Weltspiegel 3 (1921). -- S. 368].


2.2. Seidenstücker's Ausbildung


Den ersten Gymnasialunterricht erteilte ihm sein Vater, von 1889 bis 1894 besuchte er das königliche Domgymnasium zu Halberstadt. Danach wurde er Alumnus des Königlichen Pädagogiums und Schüler der Lateinischen Hauptschule der fränkischen Stiftungen zu Halle an der Saale, wo er 1895 das Maturitätszeugnis unter Dispens von der mündlichen Prüfung bestand. Anschließend studierte er bis zum Sommersemester 1902 in Göttingen, Leipzig und Halle und wieder Leipzig. Nach den vier Semestern der Phil. in Göttingen faßte Seidenstücker den Entschluß Arzt zu werden, brach jedoch zum Bedauern seines Vaters nach fünf Semestern Medizin das Fach ab, da er die Tierexperimente und Vivisektionen nicht verkraften konnte. Er studierte weitere 8 Semester Philologie und Philosophie. Seidenstücker war für kurze Zeit Verbindungsstudent. Seine indologischen Lehrer waren Franz Kielhorn (1840-1908), Richard Pischel (1849-1908), Theodor V. H. Zachariae (1851-1934) und Ernst Windisch (1844-1918), wobei letzterer ihn nach eigenen Angaben am meisten lehrte.

[Aus dem Amtlichen Verzeichnis des Personals und der Studierendenen der Königl. Georg-August-Universität zu Göttingen geht hervor, daß Seidenstücker dort vom Wintersemester 1895/96 bis einschließlich Sommersemester 1897 Philologie studierte. Ordentlicher Professor für indische Philologie war Franz Kielhorn].

Nach Beendigung seines Studiums widmete er sich ganz der Verbreitung buddhistischer Ideen und einem eingehenden Pâli-Studium.


2.3. Erste schriftstellerische Arbeiten


1904 zog Karl Seidenstücker in die Inselstraße 23, einem theosophischen Sammelbecken in Leipzig. Sein direkter Etagennachbar war Hans Fändrich , der spätestens ab 1905 sowohl den Buddhistischen Verlag als auch die Theosophische Centralbuchhandlung betrieb. Ebenfalls nahe wohnten Arthur Weber und Anton Hartmann, die durch theosophische Veröffentlichungen bekannt wurden.

Karl Seidenstücker übersetzte zunächst buddhistische Bücher aus dem Englischen für den Theosophischen Verlag von Dr. Hugo Vollrath in Leipzig. Zumindest ein Teil der dort erschienenen anonymen Propaganda-Schriften dürfte von Seidenstücker bearbeitet worden sein, es erübrigt sich jedoch diesen nachzuforschen. Zu den nicht-anonymen Werken gehört die Übersetzung von "Mahâyâna", das S. Kuroda aus der Jôdo-Gemeinschaft der japanischen Missions-Gesellschaft Bukkyo-Gakkuwai 1893 anläßlich des Weltparlaments der Religionen verfaßt hatte. Im Vorwort stellte Seidenstücker klar:

"Alle diese Schriften sind, das sei hier ein für allemal bemerkt, weder für diejenigen geschrieben, die in der kindlichen Einfalt ihres Herzens sich mit der ihnen von Kindesbeinen an gereichten Kost begnügen, noch für diejenigen, welche in pharisäischem Hochmute und selbstischer Verblendung den Buddhismus eine Sekte schelten und deren Weltanschauung natürlich »viel umfassender« als die buddhistische ist. Wer vorurteilsfrei, ohne sein Inneres mit dogmatischem oder occultischem Ballast beladen zu haben, sich nach wahrer Erlösung, d.h. wirklicher Freiheit sehnt und nicht auf ein wonnevolles Wolkenkuckucksheim im Jenseits reflektiert, der wird die kleinen mahâyânistischen Schriften richtig lesen und in ihnen dasjenige finden, was er sucht. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, so ist jetzt endlich, endlich die Zeit gekommen, da die buddhistische Mission in Deutschland festen Fuß gefaßt hat und die Strahlen der Wahrheitssonne auch unserem Volke zu scheinen beginnen."
[Kuroda, S[hinsho]: Mahâyâna : Die Hauptlehren des nördlichen Buddhismus / autorisierte deutsche Ausgabe nach dem englisch-japanischen Orginale von K.B.Seidenstücker. -- Leipzig : Buddhistischer Missionsverlag, 1904. -- Vorwort, S. 7f.]

Nicht nur durch Übersetzungen, die durch Anmerkungen und Ergänzungen erweitert waren, auch mit der Herausgabe machte er sich vertraut; so veröffentlichte er als eines seiner ersten Werke "Bilder aus der buddhistischen Kulturwelt: Im Schatten von Shwe Dagon" [o.J.] von Bhikkhu Ânanda Metteyya. 1906 veröffentlichte Seidenstücker Nyânatiloka 's "Übersicht über das ethisch-philosophische System des Buddha in den Worten des Sutta-Pi.takam": "Das Wort des Buddha", in dem Nyânatiloka ohne jegliche Quellenangaben die vier edlen Wahrheiten und den achtfachen Pfad zusammenstellte. Seidenstücker schrieb die Vorrede und Einleitung nebst einer kleinen Bibliographie. F. Zimmermann , der sein (mittlerweile der Universitätsbibliothek Tübingen vermachtes) Exemplar mit zahlreichen Verbesserungen und Korrekturen gemäß den Preussischen Korrekturvorschriften versehen hatte, bemerkte:

"Die Vorrede ist im elendesten Zeitungsdeutsch geschrieben und macht dem Herausgeber keine Ehre".
[Signatur Fp 1019 der UB Tübingen, S. XX]

Bereits in der zweiten Auflage von 1923 (4.-12. Tausend) verzichtete der Schloß-Verlag auf Seidenstücker's Einführung und machte Literaturangaben.

Nyanatiloka: Das Wort des Buddha : eine Übersicht über das ethisch-philosophische System des Buddha, in den Worten des Sutta-Pitaka. -- München : Schloß, 1923. -- 110 S.

Die Neuauflagen ab 1952 enthalten Vorwort und Einleitung von Nyânatiloka selbst.


2.4. Seidenstücker als Bruno Freydank


Seidenstücker ebnete den Weg für die buddhistische Missionierung durch schärfste Kritik am Christentum, die er nur unter dem Pseudonym Bruno Freydank (siehe Anhang 2 ) zu veröffentlichen wagte.


2.4.1. "Buddha und Christus"


1903 erschien sein 200 Seiten starkes Buch "Buddha und Christus" in einer Auflage von 2000 Stück.

Freydank, Bruno: Buddha und Christus : Eine buddhistische Apologetik. -- Leipzig : Buddhistischer Missionsverlag, 1903. -- VIII, 187 S.

Das Buch ist in fünf Kapitel aufgeteilt, in denen er versucht, dem "irregeleiteten Publikum" auf populäre Weise die Grundzüge des Buddhismus darzustellen, wobei er sich bemüht, innerhalb der buddhistischen Richtungen eine vermittelnde Stellung einzunehmen. Daneben berücksichtigt er auch "die buddhistische Mystik alias esoterischer Buddhismus". [S. VI]

Im ersten Kapitel stimmt er den Entscheidungskampf zwischen Buddhismus und Christentum an, der auf geistigem Gebiet ausgefochten wird und nicht wie bisher "auf dem blutigen Felde". Obwohl eher der Mond auf die Erde fiele als daß ein Theologe seinen Irrtum einsähe, zählt er die "chronique scandaleuse" auf: die Blutschande der Töchter Lots, den Gauner Jakob, Totschläger Moses, Massenmörder Josua und Ehebrecher David. Dem stellt er Verse aus dem Dhammapada gegenüber, die die hohe Ethik des Buddhismus zeigen. Dem christlichen Fanatismus von Kaiser Karl dem Großen stellt er die Mildtätigkeit von Kaiser Asoka gegenüber (wobei das Massaker von Orissa unerwähnt bleibt). "Der Buddhismus hat niemals das Schwert gezückt" [S. 61]. Er stellt auch das harmonische Leben im Buddhismus dem "entarteten Brahmanismus in Indien" gegenüber [S.62], wobei er James Talboy Wheeler zitiert. Seidenstücker beendet das Kapitel mit Vergleichen. So wie der von einem Idioten nach der Sonne geworfene Kot auf diesen zurückfällt, und die Sonne weiterhin auf ihn scheint, so würde es den christlichen Schmähern ergehen.

Das zweite Kapitel ist aufgebaut als Fragen eines Durchschnittschristen an einen Buddhisten; dabei werden Buddha und Christus verglichen.

Das dritte Kapitel gibt einen Abriß über die buddhistische Lehre.

Im vierten Kapitel erklärt er buddhistische Symbole wie Svastika und Bodhi-Baum. Er zieht gehörig über die Missionare her, die von jedem halbwegs gebildeten Brahma-Priester in ihrer höchsteigenen Religion richtig unterwiesen werden könnten.

Im letzten Kapitel schließlich behauptet er, daß der Buddhismus schon tief ins Abendland eingedrungen sei. "Noch stehen wir am Anfange der freilich schon nach vielen Tausenden zählenden buddhistischen Bewegung...". [S. 155] Doch darauf kommt es ihm nicht an, deshalb schreibt er,

"Der Leser glaube nicht, daß ich (in den nachfolgenden Zeilen) mit statistischem Material aufwarten werde,... denn um eine Bewegung die nur quantitativ glänzen will, steht es gewöhnlich herzlich schlecht." [S. 155]

Vielmehr möchte er zeigen, daß der Buddhismus "eine weitverzweigte geistige Bewegung" ist, die auch in "ernst-christliche" Zweige vorgedrungen ist [S. 156].

Damit beginnt auf den letzten dreißig Seiten die Beschreibung der verschiedenen Buddhisten:

Und obwohl der Buddhismus mit allen Religionen das gleiche Schicksal teilt, "in weiten Strecken seines Gebietes entartet und erstarrt" zu sein, endet er sein Buch fettgedruckt: "Der Buddhismus ist die Religion der Zukunft."


2.4.2. Polemik gegen A.Bertholet


Freydank versäumte es nicht, gegen "Pastorenweisheiten" zu polemisieren und zitierte mehrmals einen "Theologie-Professor", hinter dessen Gebrüll nichts steckte. Im Anhang von Bertholet's Büchlein "Der Buddhismus und seine Bedeutung für unser Geistesleben", erfahren wir, daß es sich dabei um keinen geringeren als Alfred Bertholet (1868-1951) handelte. Dieser bemerkte nur:

"Ich habe keinen Grund, mich über den Inhalt der Schrift [von Freydank] hier zu verbreiten; denn was sie von buddhistischem Material beibringt, geht über das Bekannte nicht hinaus, und die Auswahl des christlichen wirft nur ein Licht auf die Art des Verfassers, die Waffen zu führen. Es ist doch keine Kunst, gegen eine Religion zu kämpfen dadurch, daß man ihr Wesen als Addition von Einzelposten darstellt, die zum grossen Teil ihre wahrhaften Bekenner nur als bedauerliche Auswüchse an ihr schmerzlich beklagen!"
[Bertholet, Alfred: Der Buddhismus und seine Bedeutung für unser Geistesleben. Tübingen und Leipzig : Mohr, 1904. -- S. 63f.]

Bertholet zitierte Nâgasena aus Milindapanhâ um klarzustellen, auf welcher Ebene er einen Dialog anstrebte.

"Daß Freydanks Schrift »sine ira« geschrieben sei, wird auch ein Unparteiischer nicht behaupten können, und das mag denn allerdings keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, daß gewisse buddhistisch sein wollende Abendländer in Buddha's Schule in der Tat noch Verschiedenes zu lernen hätten, zumal ehe sie sich an die verantwortungsvolle Aufgabe »buddhistischer Apologetik« hinan- wagen. Nicht, als wäre christliche Apologetik immer viel versöhnlicher; aber ich halte sie nur für wahrhaft christlich, soweit sie versöhnlich ist." [Bertholet, S. 65]

Fünfundzwanzig Jahre später rezensierte Karl Seidenstücker Bertholet's Buch "Buddhismus im Abendland der Gegenwart" in der Orientalischen Literaturzeitung und bewertete es als "auf vornehme Sachlichkeit abgestimmt". [[Rez] Bertholet, Alfred: Buddhismus im Abendland der Gegenwart. -- In: Orientalische Literaturzeitung 32.Jg. (1929) Nr.7 -- S.582-584]


2.4.3. Greuel der Christlichen Zivilisation


Kurze Zeit später erschien Bruno Freydank's zweites Buch, die "Greuel der Christlichen Zivilisation".

Freydank, Bruno: Die Greuel der christlichen Zivilisation : Briefe eines buddhistischen Lama aus Tibet / Hrsg. v. B. Freydank. -- Leipzig : Buddhistischer Missionsverlag, 1903. -- 204 S.
[In einer Anzeige hieß es, das Buch werfe auf "die ernste Frage an die Bewohner der occidentalen Kulturländer: »Völker Europas, wie ist es in Wahrheit um eure heiligsten Güter bestellt?!«" zit. aus: Freydank, Bruno: Kleiner buddhistischer Katechismus : ein Hilfsbüchlein zum ersten Studium des Buddhismus zusammengestellt. -- Leipzig : Buddhistischer Verlag, ca.1904. -- S. 32]

In Form von zwölf Briefen eines tibetischen Lamas wird der junge Seidenstücker nicht müde, die Greueltaten auf zweihundert Seiten anschwellen zu lassen. Im Nachwort klärt er die Leser auf, daß der Kunstgriff in Form von exotischen Briefen nötig war, um die Art der Darstellung dieser unerquicklichen Schilderungen zu beleben. Mag sein, aber an die Pfiffigkeit eines Papalagi oder Lukanga Mukara reicht er nicht hin.

Nachdem der Lama sich im ersten Kapitel die Zustimmung des Lesers durch die staunende Beschreibung von technischen Errungenschaften gesichert hat, holt er am Ende des Kapitels zum Schlag aus:

"Die christliche Zivilisation ... ist ein großes Grab, äußerlich reich geschmückt..., innerlich aber morsch und voll Moder und Totengebein.".[S. 16f.]

In den nächsten Kapiteln wird das Grab geöffnet und "der verwesende Leichnam der christlichen Zivilisation seines Plunders" [S. 17] entkleidet. Zunächst zitiert der Autor das fünfte Gebot (Du sollst nicht töten), das für ihn auch auf Tiere bezogen wird, um dann die Verstöße dagegen anzuführen (Viehschlächterei, Jagd etc.) die freilich aus dem falschen christlichen Verständnis herrühren, der Mensch sei der Herr der Schöpfung und Tiere nur Gegenstände und Ware. In den nächsten Kapiteln werden in steigender Grausamkeit beschrieben, wie Tiere in Schlachthäusern oder von zarten Mädchenhänden getötet werden und wie Tiere furchtbar unter Vivisektion leiden. Auf jeweils grausamere Beispiele folgt am Ende der Kapitel noch immer ein kurzes "Nachwort des Heraus- gebers", das die Marterliste fortsetzt. Dann kommen die "Äußerungen von Vivisektoren, denen das Gewissen schlägt oder zu schlagen scheint" bevor in der "Fachmännischen Verurteilung der Vivisektion" diese als nutzlos verurteilt wird.

Den notwendigen Folgeerscheinungen der Vivisektion ist das fünfte Kapitel gewidmet: Menschenversuche, vor allem an Waisenkindern und armen Frauen.

Dagegen erscheint der "Lustmord" im sechsten Kapitel fast wieder harmlos, dreht es sich doch hauptsächlich um Angeln, Stierkämpfe und Pferderennen in denen die Tiere zu Tode gehetzt werden, die Beispiele von Lynchjustiz an Negern bleiben auf die Staaten beschränkt.

Endlich geht Seidenstücker ein auf Cavaliersprügeleien und Duelle.

Diesen folgt ein Kapitel für den größten Fetisch des Weißen, "sein einziger Trost von der Wiege bis zur Bahre": den Alkohol [S. 140]. Tiefgreifender als die im physi- schen Körper sind die Schädigungen, die der Alkohol in der "metaphysischen Leiblichkeit (=Ätherkörper, Begierdenleib und Mentalkörper)" [S. 145] anrichtet.

Im neunten Kapitel wird schließlich die eheliche Monogamie als gut anerkannt, die Ehe jedoch als Schwindel und Unterdrückung der Frau entlarvt, welche Opfer des Heiratsmarkts und schließlich der Lustseuche wird, der europäischen Krankheit par excellence.

Der zehnte Brief möchte einen allgemeinen Überblick über die abendländischen Kulturverhältnisse geben, deshalb erläutert der Lama zunächst das Leben von tausenden unter dem Mikroskop in einem Wassertropfen beobachteten Wesen, die mit ungezähmten Lebenswillen und schnödester Selbstsucht den Existenzkampf führen. Dies ist dann auch "das Miniatur-Abbild von dem Leben und Treiben der »civili- sierten«, »christlichen« Völker", deren Schlechtigkeit nochmals ausführlich geschildert wird. Folge des allgemeinen Hasses und des Lebenskampfes ist die Todesfurcht, während des Leichenschmauses ersäuft man seinen Wehmut in Branntwein und hat keine Zeit übrig, das Verfaulen des Verstorbenen abzuwarten. Als logische Folge werden "weit mehr für tot Gehaltene lebendig begraben..., als die meisten Europäer ahnen." [S. 167]

Doch immer noch nicht genug, der Autor geht über zur "ansteckenden Seuche" der Selbstmordmanie.

All diese Schilderungen vom "Abgrund der Hölle", dem "Pandämonium der Bosheit" [S. 176]sind versetzt von Kassandra- Rufen und Drohungen vom "bleichen Gespenst der Katastrophe" [S. 177].

Falls der Leser damit noch immer nicht ins Zweifeln gekommen sein sollte, bleiben ihm noch ein weiteres Kapitel lang im historischen Abriß die Greuel vom heiligen Konstantin bis zu den seinerzeitigen Missionarsvergehen nicht erspart.

Da wirkt es schließlich fast erlösend, wenn der Lama im letzten Kapitel nach Eingangsmantra die edlen vier Wahrheiten einschließlich dem achtfachen Pfad verkündet.

Im Nachwort wird schließlich offenbart, daß alles aus Bruno Freydank's Feder floß. Dagegen wird kein Bezug genommen auf die 48-seitige anonyme Schrift "Buddhistische Mission", die entweder die Vorlage oder -- was ich für sicher halte -- das Probestück darstellte.

Buddhistische Mission : das »christliche« Barbarentum in Europa ; Aufruf an alle Erleucchteten und wahren Jünger des erhabenen Buddha, die noch im tiefen Abgrunde religiöser Unwissenheit versunkenen Barbaren und Heiden des Westens auf den Weg der Erlösung zu führen / von einem Lama. Mit einer Vorrede und Anmerkungen vom Verfasser der »Lotosblüten« [=Franz Hartmann]. -- Leipzig : Verlag von Wilhelm Friedrich, o.J. -- Preis 50Pf.

Sowohl der Aufbau als auch die Argumente und einzelne Ausdrücke gleichen sich zu sehr, als daß es Zufälligkeiten sein könnten.


2.4.4. Buddhistische Katechismen


Weiter veröffentlichte Freydank einen buddhistischen Katechismus.

Freydank, Bruno: Kleiner buddhistischer Katechismus : ein Hilfsbüchlein zum ersten Studium des Buddhismus zusammengestellt. -- Leipzig : Buddhistischer Verlag, ca.1904
4.Auflage 1904 überklebt mit Oskar Schloß. - 30 S.

Das erste Buch dieser Art überhaupt war Olcott's (1832-1907) Buddhistischer Katechismus gewesen, der 1881 auf Englisch erschien, bald in viele Sprachen übersetzt wurde und in Ceylon eine Rückbesinnung zum Buddhismus bewirkte. Die ursprüngliche Ausgabe hatte die Approbation von Mahâthera Sumangala, die dieser jedoch zurückzog, nachdem Olcott sein Buch stark erweitert und mit theosophischen Ideen durchsetzt hatte.

1887 übersetzte Dr. Hübbe-Schleiden die erweiterte Ausgabe ins Deutsche. Dies nun veranlaßte Friedrich Zimmermann (1852-1917), als Subhadra Bhikshu einen bereinigten Katechismus zu schreiben, der 1888 erschien und unter "Weglassung alles Beiwerks" nach Leben des Buddha, Lehre und Gemeinde gegliedert war. Meditation wurde kaum erwähnt und er konnte nicht umhin, von "unserem höchsten, wahren Selbst" zu sprechen.

Freydank's Katechismus erschien 1904, war wesentlich kürzer und beantwortete viele Fragen mit Versen aus Die Leuchte Asiens von E. Arnold. Als einziger ging Freydank weiter auf den Paticcasamuppâda und Meditation ein. Anatta übersetzte er als "wesenlos". Sein Werk erfuhr keine weitere Verbreitung. Aber es war Seidenstücker vergönnt, Olcott's (gest. 1907) Katechismus ab 1908 "revidiert, neu bearbeitet und stark erweitert" herauszugeben und Zimmermann 's (gest. 1917) Buch ab dem 12.Tausend (1921) "durchzusehen und mit einem zweiten Vorwort zu versehen".


Zu Olcott's Katechismus s. Payer, Alois: Materialien zum Neobuddhismus, Kapitel 5: Buddhismus und theosophische Bewegung. -- URL: http://www.payer.de/neobuddhismus/neobud05.htm

Zu Zimmermann's Katechismus s. Payer, Alois: Materialien zum Neobuddhismus, Kapitel 10: Die Entwicklung in Deutschland 1860-1890. -- URL: http://www.payer.de/neobuddhismus/neobud10.htm


2.4.5. Freydank schreibt weiter


Kurze Zeit später erschienen noch weitere Büchlein aus Freydank`s Feder, "Das grosse Narrenhaus »Europa«", das mittlerweile unauffindbar ist

Bruno Freydank: Das grosse Narrenhaus "Europa" / Betrachtungen eines Buddhisten über die abendländische Kultur.
Preis brosch. 1 Mk, geb. 2 Mk.
[Anzeige in einem Sammelband der Sächsischen Landesbibliothek Dresden (Kuroda: Mahâyâna; anonym: Râdscha-Yoga; Hartmann: Buddhistische Mission). -- S.31]

und das "Buddhistische Vergissmeinnicht".

Freydank, Bruno: Buddhistisches Vergissmeinnicht : Eine Sammlung buddhistischer Sprüche für alle Tage des Jahres. -- Leipzig : Buddhist. Verlag, 1905. -- 286 S. : Taschenformat
[Erschien später als: Benares-Bücherei ; Nr.10]

Dieses umfaßt einen Spruch für jeden Tag, hauptsächlich aus Dhammapada, Mahâvagga und Fo-sho-hing-tsan-king. Eingeleitet durch Seidenstücker's einziges Gedicht

"Vergiss mein nicht:

Vergissmeinnicht!
Der Meister hat's gesprochen
In altersgrauer Zeit;
Die Botschaft klingt:
»Die Fesseln sind zerbrochen,
Vernichtet ist das Leid!«
Drum jauchze, Mensch, und laß' die Weisheitssonne
Dein Herz erleuchten zu der größten Wonne;
Vernimm die Worte, die der Buddha spricht!
Vergiss sie nicht! //

Vergiss sie nicht!
Ob Dir in frohen Stunden
Der Himmel heiter lacht,
Ob Stürme toben, wenn das Glück entschwunden,
Ob um Dich dunkle Nacht.
Und wenn der Tod den bittren Kelch Dir reichet,
Wenn alles, alles um Dich her erbleichet --
Dann denk' der Worte, die der Buddha spricht!
Vergiss sie nicht!"


Zu Kapitel 3: Vereins- und Zeitschriftengründungen