[Bildquelle: McKay Savage/Flickr. -- CC-BY 2.0]

"Buddhismus ist keine Vereinigung von Menschen, die im Stechschritt zum Nirvana marschieren"
(D. Kantowsky)

Eine Einführung in Buddhismus

Gastvortrag an den Universitäten Tübingen und Würzburg am 2020-06-16

von

Alois Payer


Zitierweise:

Payer, Alois <1944 - >: "Buddhismus ist keine Vereinigung von Menschen, die im Stechschritt zum Nirvana marschieren" (D. Kantowsky) : eine Einführung in Buddhismus. -- URL: http://www.payer.de/einzel/stechschritt.htm

Erstveröffentlichung: 2020-06-17

Überarbeitungen:

Copyright: Creative Commons Lizenz - Verfasserangabe - Weitergabe unter gleichen Bedingungen (CC-BY-SA 3.0)

Beim Vortrag über https://zoom.us/ habe ich PowerPoint Folien benutzt. Im Folgenden Text sind diese durch rot umrandete Kästchen wiedergegeben.


Zuerst liebe Grüße Urbi et Orbi, den Zuschauern in der schönen Stadt Tübingen und im ganzen Erdkreis wie Würzburg usw.

Lassen Sie mich bitte auf gut buddhistische Weise in der Palisprache mit dem Dank an den beginnen, dem wir das Thema dieser Veranstaltung verdanken:

Namo tassa bhagavato arahato sammāsambuddhassa ("Verehrung dem Ehrwürdigen, Heiligen, Vollkommen Erwachten") (3 mal)

Erwarten sie bitte nicht, dass ich ihnen jetzt das erzähle, was Sie anderswo leicht und besser nachlesen können.

Als Einführung empfehle ich Ihnen die Bücher von Hans Wolfgang Schumann <1928 - 2019>:

z.B.:

Schumann, Hans Wolfgang  <1928 - 2019>: Buddhismus : Stifter, Schulen und Systeme. -- ca. 255 S. -- verschiedene Ausgaben und Auflagen seit 1976


Abb.: Einbandtitel einer der vielen Ausgaben
[Fair use]

Auch bei Tüpfli können sie einiges finden, das sie sonst nicht oder nur schwer finden:

tueplogo.gif (1491 Byte)
Tüpflis Global Village Library
Abteilung Buddhismus

 http://www.payer.de/budlink.htm

Erwarten Sie bitte auch nicht, dass ich sie vom Buddhismus überzeugen, oder Sie sogar zu Buddhisten bekehren will.

Ich will Ihnen nur die nötige Empathie, das nötige Einfühlungsvermögen vermitteln, dass Sie das, was sie über Buddhismus lesen, hören oder sehen, besser verstehen können.

Verstehen ist nämlich etwas anderes als Wissen. Beweis ist der Buddhologe mit dem wohl enzyklopädischsten Wissen über Buddhismus, das je ein Europäer hatte:


Abb.: Étienne Lamotte
[Fair use]

 

Der katholische Priester Étienne Lamotte (1903 - 1983): Er hatte ein beneidenswertes Wissen und überragende Sprachkenntnisse, leistete als Übersetzer Einmaliges für die Buddhologie. Verstanden hat er aber - wie ich aus sicherer Quelle weiß - Buddhas Lehre nie. Deswegen ist er auch nie über das Wiederkäuen alter formulierter Texte hinausgekommen.

"Schriftgelehrte" wie ich vergessen leicht, dass hinter unseren Texten lebendige Menschen stehen. Um Menschen zu verstehen, müssen wir Empathie haben, Einfühlungsvermögen. Dies ist etwas anderes als Sympathie. Auch menschenwürdige Ablehnung setzt Empathie voraus.

Im Zentrum von Buddhas Lehre steht der Mensch, vor allem der leidende Mensch.

Buddha ging es um das Heil, nicht um das Heilige.

Es ging ihm um den Menschen, nicht um ein Mysterium tremendum et fascinosum - um ein Geheimnis, das Furcht, Zittern und Entzücken auslöst

Ausgangspunkt des Buddhismus ist die

Erfahrung von Leiden, konkret

  • von Alter, Krankheit und Tod,

  • Zusammentreffen und Zusammensein mit etwas, was man nicht mag, etwas Unangenehmen, Widerwärtigen,

  • Getrenntsein und Getrenntwerden von dem, was man mag,

  • und die Frustration, wenn man etwas erreichen oder haben möchte und es nicht bekommt.

 

 Das ist der Ausgangspunkt. Diese Erfahrungen sind uns in diesen Zeiten der Coronapanik sehr erlebbar und sichtbar.

Dazu behauptete Buddha, dass er eine Lösung dafür haben, nämlich Einsicht in die Bedingungen von Leiden und dieAufhebung dieser Bedingungen. Wenn etwas schon existiert, kann man nichts dagegen tun. Man kann nur etwas, was in der Zukunft sein könnte, vermeiden, indem man die Bedingungen dafür nicht setzt.

Bedingung für Leiden ist das Sich-Selbst-Durchsetzen, die Selbstverwirklichung, die Gier, eben all das, was unsere Welt im Gange hält.

Diese Selbstverwirklichung, dieses Sich-Selbst-Durchsetzen wird durch

Selbst-Losigkeit

überwunden. Selbstlosigkeit als solche ist nichts Außergewöhnliches. Wie viele sind doch selbstlos für Gott, Kaiser und Vaterland gefallen! Wie viele haben selbstlos für irgend etwas sich gegenseitig die Köpfe eingehauen und ihren eigenen Kopf hingehalten!


Abb.: "Gefallen für Gott, Kaiser und Vaterland", Wien, Praterstraße, Kirche, 2018
[Bildquelle: GuentherZ/Wikimedia. -- CC-BY-SA 3.0]

Das Entscheidende an der buddhistischen Sicht von Selbstlosigkeit ist, dass

die Selbstlosigkeit nicht in ein höheres Selbst, eine höhere Einheit integriert wird

auch nicht in den Buddhismus, in Buddhas Willen oder dergleichen. Das ist schwierig. Natürlich kann ich auch im Namen des Buddhismus etwas machen, z.B. Andersdenkende verfolgen; dabei bin ich ganz selbstlos. Aber das wäre genau das Verkehrte. Gemeint ist eine Selbstlosigkeit ohne Integration in eine höhere Einheit, in der man dann zwar selbst selbstlos ist, die aber als solche alles andere als selbstlos ist.

Buddhismus ist nach meinem Verständnis eine Anleitung, den Weg zu dieser Art von nichtintegrativer Selbst-Losigkeit zu gehen.

Dazu muss man Gesetzmäßigkeiten, Regelmäßigkeiten kennen. So wie man, um einen elektrischen Apparat zu bauen, eine Ahnung von den Gesetzmäßigkeiten der Elektrizität haben muss, so muss man, um den Weg zur Befreiung vom Leiden durch Selbstlosigkeit, Gierlosigkeit gehen zu können, die Gesetzmäßigkeiten des Entstehens von Leid, von Gier und von Selbstdurchsetzung kennen.

Anders ausgedrückt:

"Martin Luther (1483 - 1546) hat seinem Großen Katechismus (1529) in der Auslegung des Ersten Gebotes Aussagen darüber gemacht hat, wie wir unser Herz an Abergötter hängen, wozu jeder Buddhist sagen muss, dass er es auch nicht besser ausdrücken kann. Der Unterschied zwischen Luther und Buddha ist, dass es für Luther neben den vielen Abergöttern, als da sind Geld, Kunst, Macht usw., auch den einen Gott gibt, an den man sein Herz zu recht hängen kann. Für Buddha dagegen gibt es nur Abergötter, auch jeder Gott ist ein Abergott. Das Überwinden der Abgötterei ist das Zentrum des Buddhismus. Hohlheit, ein zentraler Begriff im Großen Fahrzeug des Buddhismus, bedeutet nichts anders als Überwinden der Abgötterei, Abwendung von den vielen Göttern, die wir uns machen, an die wir unser Herz hängen, dann zutiefst enttäuscht werden, und uns so Leid schaffen.

Zurück zu den Gesetzmäßigkeiten des Entstehens von Leid, von Gier, Selbstdurchsetzung, Abgötterei:

Die erste Stufe dieser Gesetzmäßigkeiten ist das, was man als

Karma

bezeichnet. Karma bedeutet ja nicht, dass meine Frau einmal Kleopatra war, ich der Löwe der Kleopatra (und dass wir dann beide in "Asterix und Kleopatra" verfilmt wurden). Karma heißt, dass wir zu sehen lernen, wie oft wir uns selbst Leiden schaffen. Wir drücken das ja auch in unserer Sprache aus: "Ich rege mich über etwas auf." Mich regt nichts auf, aber ich rege mich darüber auf. Das verdirbt mir meine ganze Laune, macht mich grantig und bereitet mir eine Menge Leid. "Ich bin frustriert." Warum? Weil ich mir selbst irgendwelche Flöhe in den Kopf gesetzt habe. Diese Einsicht nenne ich Karma-Sicht. Das ist etwas ganz anderes als Karma-Ideologie. Wir machen die Karmasicht, die Anleitung, Leiden zu vermindern, kaputt, wenn wir daraus eine Ideologie machen und sagen, auch wenn wir gar keinen Zusammenhang sehen: "Das wird schon irgendwie Karma sein." Das ist Blödsinn. Das ist schädlich. Das ist Quatsch. Karma ist aber kein Quatsch: es ist eine Sichtweise, die uns eine wichtige Ursache von Leiden erfahrbar erkennen lässt.

Bevor ich mit diesem Gedankengang fortfahre: etwas zur

Methode buddhistischer Anleitung

Buddhistische Unterweisung besteht nicht darin, dass man den Leuten die vier edlen Wahrheiten um die Ohren knallt. Nach einer Überlieferung, die von allen Richtungen des Buddhismus gut bezeugt wird, ereignete sich wenige Monate vor dem Lebensende des historischen Buddha Gautama folgende Begebenheit:

König Ajātasattu von Magadha, schon seit vielen Jahren ein begeisterter Anhänger des Buddha, will einen Angriffs- und Eroberungskrieg gegen eine benachbarte Föderation von zwei Republiken führen. Er schickt darum seinen Minister zum Buddha, damit dieser Buddhas Rat hole. Stellen Sie sich das einmal vor! Und wie reagiert nun der Buddha? Buddha ist nicht entsetzt und sagt nicht: "Ja mei, jetzt hat dieser Depp noch immer nichts vom Buddhismus verstanden!" Buddha hebt auch nicht den Zeigefinger und sagt nicht: "Du! Du! Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, und vor allem sollst du nicht gierig sein!" Nichts von alledem. Nein, der Buddha weist darauf hin, dass bei dieser Republiken-Föderation bestimmte politische und andere Sitten herrschen, die es unmöglich machen, dass Angriffs- und Eroberungskriege gegen sie Erfolg haben. Buddha schließt sinngemäß so: "So lange diese Konföderation ein einig Volk von Schweizern ist, so lange ist ein Krieg gegen sie aussichtslos."

Was können wir aus dieser Story lernen?

Nun dazu, worauf Sie hoffentlich schon warten: Was tun?

Dazu gibt es zwei Komplexe:

Die Lockerungsübungen dienen der Auflockerung der Fesseln durch unsere ganze Selbstsucht, Selbstdurchsetzung,

Selbstlosigkeit im Sinne des Buddhismus bedeutet ja -- wie wir schon gehört haben -- nicht Integration in eine höhere Einheit, wie das All, Gott, Gottes Wille, die Menschheit, die Evolution usw.

Die erste Lockerungsübung ist

Freigebigkeit

 und zwar ganz normale materielle Freigebigkeit. Wir können schon bei kleinen Kindern beobachten, wie wichtig Freigebigkeit zur Überwindung der Egozentrik ist.

Natürlich hat die Betonung der Freigebigkeit im Buddhismus auch einen Hintergedanken: der buddhistische Orden ist von der Freigebigkeit der Laien abhängig. Da der buddhistische Orden immer schon aus Menschen wie du und ich bestand, hat dieses aufs eigene Überleben bezogene Motiv immer auch eine Rolle bei der Empfehlung von Freigebigkeit gespielt.

Aber das ist nicht alles: Freigebigkeit, bei der die richtige Einstellung entscheidend ist, ist Ausdruck von

 

Nichtgier und Nichthass

Freigebigkeit ist so eine Lockerungsübung, um sein Festhalten, sein Anhaften, seine Gier, seine Aggression zu vermindern. Der Geber erfährt unmittelbar die Vorzüge der Freigebigkeit: er wird seiner Mitwelt lieb und angenehm, Menschen und Tiere mögen ihn, er kann selbstsicher, ohne Befangenheit auftreten, er ist eine angesehene Person. Das ist Karma. Freigebigkeit ist eine sehr wichtige Lockerungsübung, wir dürfen sie nicht unterschätzen und sie beiseite legen, um angeblich zu den zentraleren Punkten des Buddhismus vorzudringen. Doch Freigebigkeit ist nicht genug!

Die zweite Lockerungsübung sind die

Trainingspunkte der Sittlichkeit

Man kann die ganze buddhistische Laienethik als Form der Freigebigkeit zusammenfassen: als die

freigebige Gabe der Angstlosigkeit und Furchtlosigkeit

Kurz zusammengefasst lautet die gesamte buddhistische Ethik so:

Ich trainiere ein solches Verhalten, dass meine Mitwelt vor mir möglichst keine von mir verursachte Angst und Furcht haben muss


Abb.: Geste des Gebens der Furchtlosigkeit: "Hab keine Angst!" -- Abhaya-Mudrā, Thailand, 2006
[Bildquelle: Steve Evans/Wikimedia. -- CC-BY 2.0]

Das ist die ganze buddhistische Ethik. Und Sie sehen: es ist eine reine Sozialethik.

Allerdings klingt diese Formulierung sehr abstrakt. Jemand, der im harten Erwerbsleben steht, hat nicht die Zeit, sich die Anwendungen dieses Prinzips im Einzelnen zu überlegen. Deshalb ist die buddhistische Laienethik in fünf Übungspunkten spezifiziert.   Im einzelnen bedeutet dieses ethische Prinzip also:

  1. ich trainiere ein solches Verhalten, dass meine Mitwelt von mir keine Verletzung ihrer körperlichen Unversehrtheit befürchten muss -- das ist der erste Übungspunkt der Sittlichkeit: Enthaltung vom Töten von Lebewesen
  2. ich trainiere ein solches Verhalten, dass meine Mitwelt von mir nicht Verletzung von Besitz und Eigentum, von Hab und Gut befürchten muss -- das ist der zweite Übungspunkt der Sittlichkeit: Enthaltung von Diebstahl
  3. ich trainiere ein solches Verhalten, dass andere von mir nicht die Verletzung erotisch-sexueller Treueversprechen, oder sexuelle Gewalt und sexuell-erotische Verletzungen befürchten müssen -- das ist der dritte Übungspunkt der Sittlichkeit: Enthaltung von sexuell-erotischem Fehlverhalten (auch dies rein sozialethisch)
  4. ich trainiere ein solches Verhalten, dass meine Mitmenschen nicht befürchten müssen, von mir betrogen, hintergangen, denunziert, verbal verletzt oder zum Gegenstand von Geschwätz gemacht zu werden -- das ist der vierte Übungspunkt der Sittlichkeit: Enthaltung von Lügen, Hintertreiberei, Denunziation, verbalen Grobheiten, Klatsch und Geschwätz
  5. ich trainiere ein solches Verhalten, dass die Gesellschaft und die von mir Abhängigen nicht befürchten müssen, dass ich schuldhaft meinen sozialen Verpflichtungen nicht nachkomme, weil ich ein Drogenabhängiger werde -- das ist der fünfte Übungspunkt der Sittlichkeit: Enthaltung von Rauschmitteln, die Anlass zu Nachlässigkeit sind. Es wird oft so getan, als ob dieser Übungspunkt lautete: Enthaltung von Rauschmittel. Der Zusatz "die Anlass zu Nachlässigkeit sind" zeigt aber ganz deutlich, dass auch dieser Übungspunkt sozialethisch zu verstehen ist

Man könnte die ganze buddhistische Laienethik auch positiv ausdrücken. Dies ist im Bekenntnis der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) sehr schön zusammengefasst:

"Zu allen Wesen will ich unbegrenztes

  • Wohlwollen,

  • Mitgefühl,

  • Mitfreude

  • und Gleichmut

entfalten, im Wissen um das Streben aller Lebewesen nach Glück."

Bei der Entfaltung einer solchen Einstellung beginnt man am besten mit sich selber: Wohlwollen usw. gegenüber sich selber; dann dehnt man sie allmählich aus auf Wesen, bei denen es einem relativ leicht fällt; dann auf Wesen, bei denen es einem schwer fällt, von der Heiligen Dreifaltigkeit bis zu armen Teufeln in irgendeiner Hölle.

Ein wichtiger Begriff ist dabei das Einüben, das Entfalten. Es ist kein Alles-oder-Nichts-Standpunkt. Ein solcher Standpunkt würde immer wieder zu neuem Leid führen. Wenn ich z.B. ein Geschäftsmann wäre und beschlösse, ab sofort nicht mehr zu betrügen, dann wäre dies wahrscheinlich einer der guten Vorsätze, mit denen bekanntlich der Weg zur Hölle gepflastert ist. Wenn ich aber 2020 meine Betrügereien um 20 Prozent heruntersetze, dann ist das schon ein toller Erfolg.

Trainingspunkte der Sittlichkeit sind etwas zum geduldigen Einüben, es sind keine Gebote. Würde ich mir jetzt in den Kopf setzen: die buddhistischen Grundsätze der Sittlichkeit sind toll, ab heute halte ich sie ein, dann wäre dies der Anfang von Frust, und damit neuem Leid, also das Gegenteil einer Lockerungsübung. So etwas wäre auch eine Allmachtsträumerei. Und wie wir später noch sehen werden, ist eine ganz wichtige buddhistische Einsicht, dass es niemand Allmächtigen gibt, der Herr über die Situation ist.

Der Nutzen der Einstellungen des Wohlwollens, des Mitgefühls, der Mitfreude und des Gleichmuts und der daraus fließenden Gedanken, Worte und Werke kommt zunächst und in erster Linie dem zu, der diese Haltung in Gedanken, Worten und Werken entwickelt. Aversionen, Grausamkeiten, Neid und fehlender Gleichmut plagen vor allem den, der solche negativen Einstellungen hat. Wie sehr kann uns Neid umtreiben!

Wie aus solchen Einstellungen kommende Worte, Taten und Verhalten beim Adressaten ankommen, das haben wir ziemlich wenig in der Hand. Missverständnisse, böswillige Fehlinterpretationen unserer Handlungen gehören zu unserer täglichen Erfahrung.

Der Inhalt der vier genannten Haltungen wird in ihren Formeln sehr klar ausgedrückt:

  • Wohlwollen ist das Gegenteil von Hass und Aversion. Seine Formel: "Mögen alle Wesen frei sein von Anfeindungen, frei von Bedrückung, frei von Beklemmung, mögen sie glücklich ihr Leben verbringen."
     
  • Mitgefühl ist das Gegenteil zu Grausamkeit und Schadenfreude. Seine Formel: "Mögen alle Wesen vom Leid befreit werden."
     
  • Mitfreude ist das Gegenteil von Neid und Eifersucht. Seine Formel: "Mögen alle Wesen erlangtes Wohlergehen nicht verlieren."
     
  • Das alles könnte, falsch verstanden, zu einer allgemeinen Betroffenheit führen: ich drehe am Abend den Fernseher auf, betrachte in den verschiedenen Nachrichtensendungen das Leid der Welt, vergehe in Mitleid, bin wohlwollend und bin am Schluss das heulende Elend. Dann gibt es zu all dem Leid auf der Welt noch mehr Leid, nämlich mein wegen des Leidens der Welt heulendes Elend. Deswegen sind all diese drei Einstellungen so einzuüben, dass sie nicht im Gegensatz zum Gleichmut, zur Gelassenheit stehen. Gelassenheit verhindert, dass Wohlwollen und Mitgefühl wieder neues Leid schaffen. Gelassenheit verhindert auch eine allgemeine Betroffenheit, einen allgemeinen Weltschmerz oder dergleichen nutzlose, leidschaffende Einstellungen. Gelassenheit bedeutet auch die manchmal harte Einsicht, dass sich die Welt auch weiterdreht, auch wenn ich nicht strampele.

So viel zur zweiten Lockerungsübung, den Trainingspunkten der Sittlichkeit.

Nun eine dritte Lockerungsübung:

die Relativierung der Freuden und des Glücks

Diese Funktion erfüllten im alten Buddhismus unter anderem die Himmel. Warum? Dazu gibt es eine wunderschöne Story, egal ob sie historisch stimmt oder nicht. Ein Mönch zu Buddhas Zeiten geht morgens auf den Almosengang, sieht eine junge Frau, entbrennt in heißer Leidenschaft für sie, geht zu Buddha und sagt diesem: "Ich habe heute ein Weib gesehen, da halte ich es im Orden nicht mehr aus, ich muss aus dem Orden austreten." Buddha fragt: "War diese Frau schön?" "Ja, wunderschön. Mindestens so schön wie Aishwarya Rai (Bollywoodschauspielerin, Miss World 1994)." Wie reagiert Buddha? Nicht so, wie wir es vermutlich täten. Buddha erinnert den Mönch nicht daran, dass auch diese Frau einmal alt und weniger schön wird. Er sagt auch nicht, dass hinter der schönen Figur vielleicht eine richtige Bissgurn (= Reibeisen)steckt. Nein, Buddha weiß, dass all dies bei einem verliebten Gockel nichts nützt. Statt dessen hat Buddha diesen Mönch in einen Himmel versetzt: dort waren Göttinnen, eine fescher als die andere. Dann kam der Mönch aus dem Himmel wieder zurück. Da sagt ihm der Buddha. "Du wolltest doch aus dem Orden austreten, das können wir jetzt machen." Doch der Mönch wollte nicht mehr. "Du hast doch dieses tolle Weib bei deinem Almosengang gesehen!" "Ach was, so toll ist die ja nun auch wieder nicht." Wir sehen: das Bessere ist des Guten Feind. Heute brauchen wir für diese Relativierung keine Himmel mehr. Wir erfahren das in unserer schnelllebigen Zeit täglich: unsere ganze Wirtschaft und Gesellschaft beruht ja darauf, dass wir immer Besserem und Neuerem nachrennen. Jetzt haben wir es erwischt und in fünf Jahren halten wir es für schlecht, minderwertig usw. Man sieht daran: Das Bessere ist des Guten Feind.

Dies ist eine Lockerungsübung, die vielleicht zur nächsten Lockerungsübung führt, die einem hilft einzusehen, dass

alles Gute doch ein bisschen hohl und leer ist

Dann könnte man sich in einer weiteren Lockerungsübung

Gedanken machen über den Vorteil von Entsagung

D.h. man könnte sich z.B. fragen, ob man Mönch oder Nonne werden will

Ich stelle diese Lockerungsübungen hintereinander dar, weil ich sie in einem Vortrag nicht anders als in einer Zeitreihe darstellen kann. Das bedeutet aber nicht, dass sie in der Realität des Lockerungstrainings auch so hintereinander stehen sollten. Nein, sie sind miteinander verzahnt.

Neben all dem Gesagten gibt es noch einen weiteren Komplex von Lockerungsübungen.

Sie werden sich bestimmt schon wundern, dass ich bis jetzt noch gar nichts über

Meditation

gesagt habe. Dabei ist doch Meditation nach geläufigem Verständnis das A und O des Buddhismus.

Der Komplex von Lockerungsübungen, den ich nun erwähnen werde, ist der Komplex

Ruhigwerdemeditation

Diese Lockerungsübung ist auf alle Fälle eine förderliche Bedingung für die Erlösung. Ob es eine notwendige Bedingung für die Erlösung ist, ist bei Buddhisten umstritten. Vielleicht kann man die Kontroverse so lösen: Ruhig-Werden ist notwendige Bedingung, auf welche Weise das geschieht, hängt von den Anlagen jeweiligen Person ab. Diese Lösung folgt m.E. implizit aus den traditionellen buddhistischen Darstellungen der Ruhigwerdemeditation (z.B. im Visuddhimagga).

Ruhigwerde-Meditation kann helfen, Gelassenheit, Gleichmut zu erreichen;  einen Abstand zur Wirklichkeit, der hilfreich ist, das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, einmal unbefangen anzuschauen. Eine solche unbefangene Sicht der Wirklichkeit ist ja sehr schwierig: wir stehen mitten in der Wirklichkeit und können uns nicht einfach aus ihr hinauskatapultieren. Die Lockerungsübungen der Ruhigwerdemeditation sind nichts spezifisch Buddhistisches. Solche Lockerungsübungen können sie in mancher christlichen Gruppe ebenso wenn nicht besser lernen. Auch autogenes Training gehört z.B. hierher. Es sind nur  Lockerungsübungen, nicht der eigentliche Weg zur Beendigung des Leidens, zur Erlösung.

Der eigentliche Weg zur Beendigung des Leidens ist die

gelebte Einsicht in die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist

Es ist eine Anleitung, selbst genau zu schauen. Damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt: dass es nämlich nicht darum geht, irgendwelche Formeln nachzusprechen, sich in irgendwelche exotische Vorstellungen hineinzudenken, sondern selbst hinzuschauen. Der Buddha hat einmal das sehr schöne Wort gesagt:

Seid euch selbst eine Leuchte, seid euch selbst eine rettende Insel

Ich würde sagen, eine ganz wichtige Einsicht des Buddhismus ist, dass man sich selbst eine Funzel sein soll. Normalerweise ist man ja zunächst eine ziemliche Funzel, nicht gerade ein Halogenscheinwerfer.

Trotzdem: sich selber eine Funzel sein ist besser als in der ganzen Welt nach einem Halogenscheinwerfer herumzusuchen. Das kennen wir alle: wir haben den Drang, endlich einmal den großen Meister zu finden, der uns alles beleuchtet. Da könnte eine ganze Fluglinie davon leben von diesem Guru-Such-Buddhismus, davon, dass man von einem Guru zum anderen fliegt bis man wieder einmal sieht, auch dieser ist nicht die Halogenleuchte, die man gesucht hat. Aber vielleicht ist ja gerade diese Suche nach einer Halogenleuchte das Verkehrte.

Vielleicht sollten wir selbst versuchen, genau hinzuschauen. Das heißt nicht, dass wir uns hinsetzen und auf die Wirklichkeit starren. Da kommt nichts Gescheites dabei heraus. Dafür brauchen wir auch keinen Buddhismus. Wir brauchen die buddhistische Anleitung, weil es ein

angeleitetes Hinschauen

ist. Die Anleitung ist relativ einfach: es gilt, die Wirklichkeit unter drei Aspekten zu sehen:

in ihrer Unbeständigkeit,

in ihrer Herrenlosigkeit und Hohlheit,

und deswegen in ihrem Leidvollsein

Unbeständig, deswegen leidvoll und deswegen herrenlos, Nicht-Ich.

Diese Einsicht in diese drei Eigenschaften von Wirklichkeit ist das Zentrum der Einübung der Einsicht. Dafür kann es gut sein, wenn man sich ab und zu zurückzieht, um diese Einsicht einzuüben, aber erst im täglichen Leben zeigt sich, wie weit man mit dieser Einsicht gekommen ist. Einübung der Einsicht ist nicht etwas außerhalb des alltäglichen Lebens, sondern etwas, was im alltäglichen Leben wirksam werden muss.

Jetzt fragen Sie vielleicht, was man denn dann erreicht. Da erreicht man vielleicht den

Erlösungszustand (Nirvana)

Was ist aber dieser Erlösungszustand? Entweder wissen Sie es, weil Sie Erlösung verwirklicht haben, oder Sie wissen es nicht, weil sie Erlösung (noch) nicht verwirklicht haben. Wenn Sie es nicht wissen, kann ich Ihnen auch nicht sagen, was Erlösung ist. Wollte ich es versuchen, dann wäre es, wie wenn ein Farbenblinder (Ich) anderen Farbenblinden (Ihnen) einen Vortrag über das Wesen von Farbempfindungen halten wollte.

Ich kann Ihnen nur sagen, wann man Erlösung im buddhistischen Sinn nicht begriffen hat, nämlich dann, wenn man den alten Buddha nicht begriffen hat:

Da humpelt ein altes, runzliges Männlein durch Nordindien, hat alle üblichen Altersbeschwerden und -- wie es einer meiner Studenten metaphorisch so schön ausgedrückt hat -- singt "Schön ist es auf der Welt zu sein!". Nicht: "Halleluja, bald ist alles vorbei!", nein: "Schön ist es auf der Welt zu sein!". Das ist der Zustand des Erlösten, der wirklich sagen kann: "Tod wo ist dein Sieg, Tod, wo ist dein Stachel?!" (1. Korinther 15,55). Im alten Buddhismus sagt man, dass man über den Erlösungszustand nicht sprechen kann, sondern dass man ihn verwirklichen muss. Die alten Buddhisten haben sich erstaunlicherweise an diese Maxime gehalten - "Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen" Ludwig Wittgenstein <1889 - 1951>, Tractatus Logico-Philosophicus.

Ich habe heute hier alles nur von meinem eigenen, engbegrenzten Standpunkt aus dargestellt, anders ginge es gar nicht. Ich kann Ihnen aber versichern, dass das, was ich versucht habe, Ihnen zum Nachdenken zu geben, nicht das Ganze ist.

Soviel zu dem, was ich als Kern der Lehre Buddhas ansehe.

Seit Buddha bis heute hat sich der Buddhismus unübersichtlich verästelt und verzweigt, oft wurde auch die Lehre Buddhas überwuchert:


Abb.: Buddhakopf, Ayuthaya, Thailand, 2006
[Bildquelle: McKay Savage/Flickr. -- CC-BY 2.0]

Um die Entwicklung der lebendigen Buddhismen zu verstehen, sollte man sich folgendes vor Augen halten:

  • Buddhisten sind, um mit dem gestorbenen Konstanzer Soziologen Detlef Kantowsky (1936 - 2018) zu sprechen, keine Vereinigung von Leuten, die im Stechschritt zum Nirwana marschieren. Ich habe nichts dagegen, wenn man so etwas Buddhismus nennt; aber mit dem historischen Buddhismus und den Buddhismen der Länder, in denen es Buddhisten in größerer Zahl gibt, hat ein Stechschritt-Buddhismus reichlich wenig zu tun. Buddhisten denken nämlich in geologischen und paläontologischen Zeiträumen mit vielen Wiedergeburten. Darum hat man mit sich selber und mit anderen viel Geduld. Für einen Buddhisten ist es super, wenn man ihm sagen kann: In 2500 Jahren schaffst du die Erlösung. Die vielen Wiedergeburten sind für die meisten Buddhisten des Ostens eine kulturelle Selbstverständlichkeit. Für viele im Westen ist Wiedergeburt etwas zumindest Zweifelhaftes. Ich würde auch nicht jemandem im Westen gleich die vielen Wiedergeburten um die Ohren knallen. Was wir im Westen sofort lernen können, ist diese Sicht von allem unter geologisch-paläontologischem Zeitaspekt mit der langfristigen Wirkung der Kumulation infinitesimal kleiner Veränderungen. Das ist etwas, was uns eher schnell zugänglich ist.
     

  • Eine Weiteres: Buddhisten sind keine Bessermenschen. Der gute Mensch von Buddhisthan existiert ebenso wenig wie der gute Mensch von Jesusthan, der gute Mensch von Marxosthan, der gute Mensch von Hindusthan oder sonst irgendwo. So lange sie unerlöst sind, sind Buddhisten Menschen wie du und ich. Unerlöste Buddhisten jagen in Gier, Hass und Verblendung demselben Wahnsinn nach wie wir.
     

  • Noch etwas: Buddhismus ist kein Diskutierzirkel und auch keine scharfsinnige Denksportaufgabe. Das betone ich in Tübingen: da hat man mit Theologen immer ein bisschen ein Problem. Solch beliebte Kaffeekränzchen-Unterhaltungen wie die Lehre vom Nicht-Ich oder von der Leerheit finden hellen Anklang. Auch ich liebe solche Unterhaltungen. Am Ende langer Diskussionen, in denen man sich geistig die Köpfe gegenseitig eingeschlagen hat, merkt man dann vielleicht, dass all das geistvolle Gerede wenig Relevanz hatte für den Zweck des Buddhismus. Die Intention des Buddhismus ist der Umgang mit unseren alltäglichen Erfahrungen von Leiden, von Alter, Krankheit, Tod, unliebsamen Erfahrungen mit unseren Mitmenschen, Frustration usw. Umgang also mit Problemen, die wir auch 2020 noch haben.
     

  • Deswegen sind Buddhisten auch keine Spezialisten mit einem Bauchladen für Esoterik oder sonst etwas solches. Da ist man bei Buddhisten an der falschen Adresse: das machen andere besser. Es geht wirklich nicht um Esoterisches, sondern es geht um etwas ganz zentrales Alltägliches, nämlich Leiden. Nicht um abstraktes Leid, sondern um Leiden wie wir es alle erfahren.

 Lama Anagarika Govinda (1898 - 1985) schreibt seinem  Buch "Lebendiger Buddhismus im Abendland" über den von ihm gegründeten Orden Arya Maitreya Mandala:

"Wir wollen daher unsere Mitglieder nicht zu kleinen Indern, Tibetern, Japanern oder Chinesen machen, sondern uns vielmehr darum bemühen, zunächst einmal das Wesen unserer eigenen, abendländischen Tradition und Kultur in ihrer ganzen Entwicklung zu begreifen, um davon ausgehend die Traditionen anderer Kulturen zu studieren und sie verstehend achten zu lernen."

[Govinda <Lama Anagarika> <1898 - 1985>: Lebendiger Buddhismus im Abendland. -- Bern : Barth, 1986. -- ISBN 3-502-61233-1. -- S. 26]

Was er hier für das Abendland als Programm beschreibt, war historische Wirklichkeit der

Inkulturation

der Lehre Buddhas in die verschiedensten sozialen Umgebungen.

Buddha und seine Anhänger sind jeweils auch Kinder ihrer Zeit.

Zeitbedingtheit

Darum ist Entmythologisierung ein Dauerauftrag.

Entmythologisierung

Diese Dauer-Aufgabe der Entmythologisierung wurde und wird leider meistens vernachlässigt.

Aber da Buddhisten fehlbare Menschen sind, spielten bei der Entfaltung des Buddhismus auch folgende Faktoren eine große Rolle. Ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Schon Buddha gab dazu Anlass, ihn als virtuell allwissend und in allem was er sagt unfehlbar anzusehen. Dies führt dazu, dass blind jeder Unsinn, den er - als Kind seiner Zeit - verzapft hat oder verzapft haben soll, als ewige Wahrheit betrachtet wurde und wird.
     

  • Obwohl Buddha kein göttlicher Erlöser ist, wurde er faktisch vergöttlicht - und damit verniedlicht. Er wurde oft zum Gegenstand des Betens und Bittens.
     

  • Das Heilige ist attraktiver als das Heil. Deshalb trifft man oft auf zeremonielles Brimborium und Gier nach ganz banalen veränderten Wachbewusstseinszuständen wie ozeanischer Selbstentgrenzung. Das Angebot an Esoterik war und ist oft umfassend.
     

  • Das Leben als Mönch oder Nonne ist eintönig und langweilig. Also "studiert" man eifrig. Um immer neues zu studieren, braucht man entsprechende Texte. Nachfrage führt zu Angebot. Also werden im Lauf der Zeit geradezu fabriksmäßig immer neue angeblich uralte Texte produziert. Die Sammlungen der kanonischen Schriften wurden immer umfangreicher.
     

  • Nicht nur bei Theologen, auch in der Geschichte des Buddhismus wurde Buddhismus oft zum Diskutierzirkel.
     

  • Gier von Berufsbuddhisten (Mönchen, Nonnen, Roshis usw.) nach Materiellem, nach Macht, nach Sex ist oft ein treibendes Motiv. Guruismus ist oft auch ein Grundübel im Buddhismus. Reichtum verdirbt die buddhistischen Einrichtungen

Ich habe versucht, Ihnen ein wenig zu helfen, Empathie - Einfühlungsvermögen - bei Ihrer Beschäftigung mit verschiedensten Aspekten des Buddhismus zu haben. Mehr beabsichtigte ich nicht. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Mögen Sie sein wie ein solcher Lotos:


Abb.: Nelumbo nucifera Gaertn.
[Bildquelle: Peripitus/Wikimedia. – CC-BY-SA 4.0]