Kauţilîya-arthaśâstra

Eine Einführung

5. Dekadenz als Entwicklungsprinzip: Johann Jakob Meyer


von Alois Payer

mailto: payer@payer.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Kauţilîya-arthaśâstra : eine Einführung. -- 5. Dekadenz als Entwicklungsprinzip: Johann Jakob Meyer. -- Fassung vom 2003-04-22. -- URL: http://www.payer.de/kautilya/kautilya05.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 2002-12-02

Überarbeitungen: 2003-04-22 (Hinzufügung der Fotografie)

Anlass: Lehrveranstaltung WS 2002/03

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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Dieser Teil ist ein Kapitel von: 

Payer, Alois <1944 - >: Kauţilîya-arthaśâstra : eine Einführung. -- 1. Einleitung. -- URL: http://www.payer.de/kautilya/kautilya01.htm.

Dieser Text ist Teil der Abteilung Sanskrit  von Tüpfli's Global Village Library.


0. Übersicht



1. Einleitung


Zu Meyers schwerem Schicksal (psychische Erkrankung) und zu seiner Arbeit an der Kautilya-Übersetzung siehe das Vorwort zu dieser Übersetzung in:

Payer, Alois <1944 - >: Kauţilîya-arthaśâstra : eine Einführung. -- 5. Dekadenz als Entwicklungsprinzip: J. J. Meyer. -- EXKURS: Johann Jakob Meyer <1870-1939>: Vorwort zur Kautilya-Übersetzung. -- URL: http://www.payer.de/kautilya/kautilya05a.htm


Abb.: Johann Jacob Meyer (©Conny Schuoler)

Monographische Werke Johann Jakob Meyers:

Dandin <7. Jhdt>: Dandins Daçakumâracaritam : die Abenteuer der zehn Prinzen. Ein altindischer Schelmenroman / zum ersten male aus dem Sanskrit ins Deutsche übersetzt von Johann Jakob Meyer. Nebst einer Einleitung und Anmerkungen.  -- Leipzig, Lotus-Verlag,  [1902]. --  XII, 367 S.

Ksemendra <11. Jhdt>: Ksemendra's Samayamatrika : das Zauberbuch der Hetären / ins Deutsche übertragen von Johann Jacob Meyer.  -- Leipzig : : Lotus-Verlag, [1903]. --  LVIII, 108 S. -- (Altindische Schelmenbücher ; 1)

Damodaragupta <fl. 779-813>: Damodaragupta's Kuttanimatam = Lehren einer Kupplerin / ins Deutsche übertragen von Johann Jacob Meyer. --  Leipzig : Lotus, [Vorw. 1903]. -- IV, 156 S. -- (Altindische Schelmenbücher ; 2)

Meyer, Johann Jakob <1870-1939>: Asanka, Sudschata, Tangara und andere Dichtungen.  -- Leipzig : Lotus, [1903]. --  202 S.

Meyer, Johann Jakob <1870-1939>: Two twice-told tales. -- Chicago : The University of Chicago press, 1903.  -- 11 S.

Jacobi, Hermann Georg <1850-1937>: Hindu tales /an English translation of Jacobi's Ausgewählte Erzählungen in Mahârâshtrî by John Jacob Meyer. -- London : Luzac, 1909. -- X, 305 S.

Meyer, Johann Jakob <1870-1939>: Vom Land der tausend Seeen : eine Abhandlung über die neuere finnische Literatur und eine Auswahl aus modernen finnischen Novellisten. -- Leipzig : Wigand, 1910. -- X, 650 S.

Meyer, Johann Jakob <1870-1939>:. Isoldes Gottesurteil in seiner erotischen Bedeutung : ein Beitrag zur vergleichenden Literaturgeschichte / von J. J. Meyer ; mit einem einleitenden Vorwort von Richard Schmidt.  -- Berlin : Barsdorf, 1914.  -- 290 S. -- (Neue Studien zur Geschichte des menschlichen Geschlechtslebens ; 2)

Meyer, Johann Jakob <1870-1939>: Das Weib im altindischen Epos :ein Beitrag zur indischen und zur vergleichenden Kulturgeschichte.  -- Leipzig : Heims, 1915. -- XVIII,  440 S.
Englische Übersetzung:
Meyer, Johann Jakob <1870-1939>:  Sexual life in ancient India; a study in the comparative history of Indian culture. -- New York :Dutton, 1930. -- 2 Bde. -- (The Broadway oriental library). -- Zahlreiche Nachdrucke

Kautilya: Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben : das Arthaçâstra des Kautilya / [aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von] Johann Jakob Meyer [1870-1939]. -- Leipzig : Harrassowitz, 1926. -- LXXXVIII, 983 S. -- Nachdruck: Graz : Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1977.

Meyer, Johann Jakob <1870-1939>: Über das Wesen der altindischen Rechtsschriften und ihr Verhältnis zu einander und zu Kautilya. -- Leipzig : Harrassowitz, 1927.  -- 440 S.

Meyer, Johann Jakob <1870-1939>: Trilogie altindischer Mächte und Feste der Vegetation : ein Beitrag zur vergleichenden Religions- und Kulturgeschichte, Fest- und Folkskunde.  -- Zürich, Leipzig : Niehan, [©1937]. -- 3 Bde. in 1

Die große Stärke der indologischen Werke Johann Jakob Meyers liegt m. E. in den vielen äußerst scharfsinnigen Einzelbeobachtungen. Während der Einfluss von Meyers Detailüberlegungen  in den Übersetzungen parallel zu dieser Vorlesung zum Tragen kommt, könnten Meyers detaillierte Untersuchungen zu eventuellen Abhängigkeiten zwischen Kautilya und den Dharma-Smrtis nur in einer Kritik jeder einzelnen Stelle angemessen gewürdigt werden. Dies ist im Rahmen dieser Lehrveranstaltung nicht leistbar. Um Meyers Beiträge zur Kenntnis Kautilyas voll würdigen zu können, muss man sich aber auch mit seinen allgemeinen Prinzipien und Vor-Urteilen beschäftigen. Darum seien diese hier -- aus dem Wust von Meyers Schreibe herausdestilliert -- wiedergegeben.

J. J. Meyer

Meyer, Johann Jakob <1870-1939>: Über das Wesen der altindischen Rechtsschriften und ihr Verhältnis zu einander und zu Kautilya. -- Leipzig : Harrassowitz, 1927.  -- 440 S.

versucht,

"rein aus den Smrtis selber zu erkennen ..., welche von ihnen jünger, welche älter sind." [Meyer, J. J., 1927, S. VI]

Meyer beantwortet nicht die Frage nach einer absoluten Chronologie der Dharmawerke und Kautilyas, sondern nur -- als Vorbedingung dazu -- die Frage des gegenseitigen Altersverhältnisses.

Die Methode des Textvergleichs, die Meyer dabei anwendet kritisiert Balakrishna Ghosh in seiner Rezension des Buchs von Meyer:

Ghosh, Balakrishna: The chronology of the Smrtis. -- In: The Indian historical quarterly. -- 4(1928). -- S. 570 - 592., 

"It cannot be said with Meyer, that the re-occurrence of the same idea, sometimes more or less in practically the same words, is due to plagiarism on the part of the authors of later Smrtis."

Begründung:

  1. "It must not be forgotten that all the authors concerned are dealing with the same subject and that all the authors had only to note down the laws and customs prevalent in the country. The field of independent authorship was therefore necessarily extremely narrow, leaving practically no room for play of imagination on their part. True, sometimes the Smrti-writers have tried to explain facts by theories as in the case of the caste-system, and sometimes they have tried to draw up pedantic classifications äs in the treatment of slavery, -- in all these points Kautilya is a valuable check to the Smrtis, for though not fully, he was in a large measure free from the Smrti traditions - but in all other cases the essential task of the Smrti-writers was undoubtedly merely to note down the prevalent customs."
  2. "we must remember that there was a vast floating literature of »Spruchweisheit« which everybody could quote without being guilty of plagiarism." Dies ist sei ein Punkt, den Meyer völlig übersehe.

Zu Meyer"s Vorgehen: "whenever Meyer finds the same word, sentence or even the same idea in two places, he takes it to be a case of quotation." Aber: "All these so-called »quotations« ... prove little or nothing at all about the comparative age of the Smrtis though they may be of immense value for text-criticism."

[a.a.O., S. 573 - 574)


2. Zu Chronologie-Argumenten aufgrund einer angenommenen Entwicklung


Meyer wendet sich gegen die "Entwicklungsmonomanie" bei der Behandlung chronologischer Fragen:

  1. In einem Land wie Indien kann von einer einlinigen Entwicklung nicht die Rede sein:

     "Zunächst einmal hat die Entwicklungsmonomanie auch auf die Betrachtung der indischen Rechtsbücher überreichlichen Einfluss geübt, oder ist doch mindestens die Entwicklungstheorie zu einseitig und mechanisch verwertet worden. Die beliebte Folgerung: »höhere Stufe der Entwicklung und Behandlung in einer Materie oder Wissenschaft? also jünger« ist vollkommen unsicher, so lange sie nicht anderweitig stark genug gestützt werden kann. Indien ist ein ungeheuer großes Land von allerbuntester Zusammensetzung der Bevölkerung, und die Geschichte seiner Entwicklung läuft nicht ab nach einer durch diese Meilen- und beinahe Völkertausende hingezogenen Schnur. Zu einer bestimmten Zeit haben bestimmte Landesteile im Verhältnis zu anderen ein höheres bzw. ein niedrigeres Kultur- und Geistesleben, ja sogar ein recht verschiedenes."

    [Meyer, J.  J. , 1927,  S. 39]

    "Besonders in Indien, obschon nicht dort allein, müssen wir uns also gegenwärtig halten, dass wir es immer nur mit Schichten oder besser: mit Kreisen der Kultur und der Lebensanschauung zu tun haben,
    1. mit Ortskreisen,
    2. mit Menschenkreisen.

    In einer bestimmten Gegend oder in einer bestimmten Menschengesellschaft (d. h. bei einer bestimmten Berufs- oder Kulturschicht, auf einer bestimmten Stufe des Glaubens oder der Lebensanschauung u. dgl. mehr) haben wir zu ein und derselben Zeit diese Höhe oder Gestalt der »Entwicklung«, anderswo eine ganz andere."

    [Meyer, J. J.,  1927,  S. 40]

     

  2. Was Entwicklung vom minder Fortgeschrittenen zum weiter Fortgeschrittenen ist, ist alles andere als eindeutig:

    Auch muss man genau beachten, was als Entwicklung vom minder Fortgeschrittenen zum weiter Fortgeschrittenen angesehen wird.

    Fasst man Entwicklung ohne weiteres als Fortbildung zu größerer Mannigfaltigkeit, so begeht man einen Grundfehler, dem z. B. J. Jollv und M. Winternitz erlegen sind:

    "Der Zug hin zur Fülle und zur Auseinanderfaltung und Unterscheidung ist nur ein Strom der Entwicklung» Ebenso gewaltig darf man den Drang zur Vereinfachung nennen. Diese beiden fließen freilich bald zusammen und bilden einen Strom. Aber die Wasser der beiden sind nebeneinander deutlich zu unterscheiden ..."

    [Meyer, J.  J., 1927, S, 102]

     

  3. Man muss die individuellen Qualitäten der Autoren/Kompilatoren beachten, bevor man einen entwicklungstheoretischen Vergleich zieht. Sonst bringt man u. U. Unvergleichbares in eine Entwicklungsabfolge:

    Obwohl bei brahmanischer Überlieferung das, was der brahmanische Autor "verzehrt, ... zu brahmanischem Fleisch und Blut" wird [Meyer, J. J., 1927, S. 40], kommt es letztendlich doch auf die Individualität des Autors oder Kompilators an:

    "auch ein Brahmane ist enger, starrer, der andere umfassender, schmiegsamer, und Bücher kommen von Einzelmenschen. Ungeheuer verschieden nun sind die Menschen in ihrem seelischen und geistigen Gepräge, ihrer Begabung, ihren Kenntnissen, ihren Interessen usw. Lasst in unserer Zeit einen [S. 41] Theologen ein Buch über die Entstehung der Welt schreiben. Wie viel anders wird es ausfallen als das eines Mannes der Naturwissenschaften, sogar wenn der Gottesgelehrte die Ergebnisse der Wissenschaft zu verwerten sucht! Wie erst, wenn er streng rechtgläubig ist und gar nur zur Erbauung seiner Gemeinde schreibt! Gerade Bücher von der letztgenannten Art haben wir aber gewöhnlich in Altindien vor uns, mögen sie nun von Brahmanen oder von Ketzern stammen.

    Also dürfen wir uns, sowie wir chronologische Feststellungen machen wollen, niemals die zweite, zum Glück meist leichtere Frage sparen: »Was war der Verfasser für ein Mann? Was wollte und was konnte er geben?«"

    [Meyer, J. J. 1927,  S. 40-41]

    Aus der individuellen Eigenart der Autoren folgt auch:

     "Die Tatsache, dass in dem einen Dharmawerk die wissenschaftliche Entfaltung und Darstellung merklich »fortgeschrittener«, wissenschaftlicher ist, hat an und für sich wenig Gewicht."

    [Meyer, J. J., 1927,  S. 41]


3. Meyers eigenes Entwicklungsschema indischer Literatur


Meyer scheint eine fortlaufende Dekadenz von schöpferischen Könnern zu Kompilatoren anzunehmen, Diese Ansicht Meyers wird mit all den damit verbundenen Werturteilen sehr klar in folgendem Zitat:

"Sehr reich ist die vorhandene altindische Literatur und dennoch zum großen Teil nur Überbleibsel, Nachlese, Grummet. Viel noch trägt die indische Erde auf ihrer Oberfläche, viel ist in sie verschwunden. Es gab in alten Zeiten weite Felder menschlicher Geistestätigkeit, die sorgfältig angebaut waren und in weithin wogender Kornfrucht prangten, von denen aber nur noch Strohreste übrig sind, eingesammelt in Kompilatorenscheuern von oft sehr neuem Datum. Wie die kläglichen heutigen Bewohner so vieler Erdenorte, wo ganze Städte, reich an Glanz und Pracht, an Bildung und an Blüte der Kunst und Wissenschaften, zu kümmerlichen Mauerresten zusammengesunken sind, sich ihre dürftigen Hütten aus den Bruchstücken zusammenstümpern, so haben es die alten Inder gar zu viel mit den Bauten des Schrifttums gemacht, die ihre Vorfahren errichtet hatten.

Und das Schmerzlichste ist dies: nicht gewartet haben sie bis zu einer Zeit, wo das Vorhandene zerfallen war und wo sie also immerhin durch solche Aufbewahrung von Trümmern späteren Geschlechtern einen Dienst erwiesen hätten. Nein, aus den noch unversehrten oder doch wenig Versehrten Denkmälern ihrer Literatur haben sie gar zu häufig Stein um Stein herausgerissen, diese dann, nicht selten gar noch verstümmelt, zu ungefügen Baracken zusammengeschichtet. Das Volk, das immer nach Neuem giert und denn es in den weiten Hallen aus besseren Zeiten zu ungemütlich war, ließ diese jetzt öde und unbeachtet liegen, ließ sie zugrunde gehen und verkroch sich in die bequeme Kleinheit und leichte Nutzbarkeit der späteren Gebilde. Ein Stübchen ist leicht geheizt und mit dem heimeligen Dunst der alltäglichen Menschlichkeit erfüllt.

Wenn die Inder öfters erzählen, dieses oder jenes Geisteswerk sei zuerst ungeheuer umfangreich gewesen und sei dann wegen der zunehmenden Schwachheit der Sterblichen immer mehr verkürzt worden, so steckt ein Kern Wahrheit in diesen manchmal indisch maßlos gehaltenen Sagen.

Der Kompilator hat auch in Altindien allzuhäufig den schöpferischen Könner getötet. Da ist es noch ein großes Glück im Unglück, wenn z. B. ein leider allzu seltener Somadeva sich an die Brihatkathâ eines Gu.nâdhya macht."

[Meyer, J. J . , 1927,  S. 329]


4. Die Individualität der Autoren und Kompilatoren verbietet jedes "mechanische" Vorgehen, etwa bei der Quellenscheidung


Überhaupt kann man, wenn man die Individualität der Autoren und Kompilatoren beachtet, nicht nach "mechanischen" Schablonen z. B. einer Quellenscheidung vorgehen: denn "Menschen haben hundert Eigenheiten und Unberechenbarkeiten." [Meyer, J. J., 1927,  S. 103]


5. Die vier Fragen der chronologischen Fragestellung


Vier Fragen scheinen Meyer bei der chronologischen Fragestellung wichtig :

  1. "die Frage nach der Geistes- und Charaktereigenart der einzelnen [Autoren],
  2. nach inneren Hinweisen, d.h. vor allem nach sprachlichen und metrischen Merkmalen,
  3. nach Anzeichen der Abhängigkeit des einen vom anderen,
  4. nach bestimmten Einzelheiten des Rechts- und Gesellschaftslebens, über deren Altersverhältnisse wir sonstwie etwas wissen."

[Meyer, J. J., 1927,  S. 41]

Aus der ersten Fragestellung ergibt sich, dass aus -- oberflächlich betrachtet -- gleichen Sachverhalten chronologisch ganz verschiedene Schlüsse zu ziehen sind:

Aus den vielen Einzelheiten bei der Erbteilung bei Gautama folgt, dass er ein Spätling ist, den "die Schrulle" anwandelt, "nicht das Wesentliche noch einmal darzubieten, sondern aus Nebensächlichkeiten ein Neues, oder doch verhältnismäßig Neues aufzubauschen."

Wenn dagegen Nârada "Dinge bringt, die uns spitzfindig oder kleinkramhaft scheinen, so ist das genau, was wir von ihm erwarten dürfen, auch wenn er eine ganze Anzahl Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung gelebt hat."

Was ist der Grund für diese Ungleichbehandlung?:

"N.[ärada] beschränkt sich auf ein Gebiet, auf das weltliche Recht, und da ergibt sich eine umständliche Behandlung von selber. Sodann ist N.[ârada] ein Mann, der Neigung und Fähigkeit zum rein Juristischen besitzt. Das Juristische nun ist fast gleichbedeutend mit Kasuistik.

G.[autama] aber will in ganz kurzer Fassung einen Katechismus des gesamten brahmanischen Rechts, vor allem des geistlichen liefern. Er ist dabei ein Überbrahmane, der nirgends ein Interesse für die Rechtswissenschaft an sich bekundet, kurz ein Theologe."

Dies illustriert die Maxime:

"Ehe man Gebäude von Schlüssen auf eines Schriftstellers Rücken auftürmt, muss man den alten Spruch beherzigen: Si duo faciunt idem, non est idem." [Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht das Selbe.]

[Meyer, J, J „ , 1927, S. 81-82]


6. Zusammenfassung von Meyers Thesen zur relativen Chronologie der Dharmawerke


Die wichtigsten Ergebnisse seiner Untersuchung fasst Meyer selbst zusammen:

  • "Vishnu ist kein altes Dharmasûtra, sondern von aller Anfang an ein junges Machwerk, das besonders den Manu und den Yâjnavalkya gehörig ausplündert,
  • Yâjnavalkya ein sehr unselbständiger Schriftsteller, der von vielen Ecken und Enden, namentlich auch aus Nârada und Kautilya, zusammenträgt,
  • Gautama gehört nicht an den Beginn, sondern an den Abschluss unserer Smrtireihe,
  • Kautilva benutzt nicht den Manu, den Yâjnavalkya, den Vishnu, vielleicht nicht einmal den Baudhâyana,
  • und wenigstens von Manu an haben wir nicht Schriften von Schulen vor uns, sondern von Privatpersonen, von Kompilatoren, die aus Büchern zusammenschustern.
    Zum letzten Punkt führt Meyer aus:

    "Und da soll immer nur die gleiche Überlieferung der verschiedenen vedischen Schulen verantwortlich sein, wenn wir weitgehende wörtliche oder doch schier wörtliche Übereinstimmungen finden! Nein,, Leute wie Y.[âjnavalkya], Vish.[nu], G.[autama], ja gewiß auch M.[anu] und wahrscheinlich sogar Vas.[ishtha] und ältere haben aus den Büchern abgeschrieben, wenn auch häufig nur aus den Büchern in ihrem Kopf. Und andrerseits: Verschiedenheiten werden, mindestens häufig, einfach Gedächtnisfehler, wenn nicht gar Willkür, nicht »verschiedene Tradition« sein."

    [Meyer, J. J., 1927, S. 155]

Zum mindesten höchst wahrscheinlich gemacht habe ich unter anderem folgendes:

  • Nârada ist wirklich älter als Manu,
  • und die Smrti, soweit sie uns vorliegt, bietet nicht etwa die Entwicklung des weltlichen Rechts dar, sondern nur die fortschreitende Einverleibung dieses anderwärts entstandenen und ausgebildeten Rechts in die brahmanischen Dharmawerke. Diese sind ihrem ursprünglichen und ihrem eigentlichen Wesen nach Zauberliteratur [Kritik an dieser Auffassung: Ghosh, Balakrishna: The chronology of the Smrtis. -- In: The Indian historical quarterly. -- 4(1928). -- S. 591f.] Ja sogar das geistliche oder magische Recht hat in den uns erhaltenen Schriften seine Blütezeit schon hinter sich -- sogar dieses kennen wir nur in Epitomatorenbearbeitungen oder doch zum größeren Teil nur in solchen."

[Meyer,  J. J., 1927,  S. VI. Hervorhebungen von mir.]


Zu Kapitel 6: "Wer von den Sachen nichts versteht, kann den Worten keinen Sinn entlocken" : zur Hermeneutik des Arthaśâstra