Religionskritik

Antiklerikale Karikaturen und Satiren XIII:

Kladderadatsch (1848 - 1944)

5. Jahrgang 59 - 62 : 1906 - 1909


kompiliert und herausgegeben von Alois Payer

(payer@payer.de)


Zitierweise / cite as:

Antiklerikale Karikaturen und Satiren XIII: Kladderadatsch (1848 - 1944)  / kompiliert und hrsg. von Alois Payer. -- 5. Jahrgang 59 - 62 : 1906 - 1909. --  Fassung vom 2010-01-27. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/karikaturen135.htm       

Erstmals publiziert: 2004-04-30

Überarbeitungen: 2010-01-27 [Teilung des Kapitels]; 2010-01-11/26 Ergänzungen]; 2010-01-10 [Teilung des Kapitels, Ergänzungen]; 2009-12-22 bis 2010-01-09 [Ergänzungen]; 2009-12-21 [Teilung des Kapitels];  2008-08-18 bis 2008-09-06 [Ergänzungen]; 2008-01-10 [Teilung des Kapitels, Ergänzungen]; 2007-12-31 [Teilung des Kapitels, Ergänzungen]; 2007-12-21ff. [Ergänzungen]; 2007-11-22 [Ergänzungen]; 2005-02-06 [Ergänzungen]; 2004-12-24 [Ergänzungen]; 2004-11-20 [grundlegend erweitert und überarbeitet]; 2004-06-07 [Ergänzungen]; 2004-05-11 [Ergänzungen]

©opyright: abhängig vom Sterbedatum der Künstler

Dieser Text ist Teil der Abteilung Religionskritik  von Tüpfli's Global Village Library



Abb.: Titelleiste von Nr 1, 1848

Kladderadatsch : humoristisch-satirisches. Wochenblatt. -- Berlin : Hofmann. -- 1848 - 1944

"Kladderadatsch, in Norddeutschland gebräuchlicher Ausruf, um einen mit klirrendem oder krachendem Zerbrechen verbundenen Fall zu bezeichnen; auch substantivisch gebraucht in der Berliner Redensart: »einen K. machen« (z. B. mit Fenster- und Laterneneinwerfen). Allgemeiner bekannt wurde das Wort als Titel des 1848 von David Kalisch (s. d.) gegründeten, in Berlin wöchentlich einmal im Verlage von A. Hofmann u. Komp. erscheinenden Witzblattes, das vorzugsweise die politische Satire kultiviert und besonders durch E. Dohm, R. Löwenstein und den Zeichner W. Scholz, dessen Karikaturen auf Napoleon III. und Bismarck große Popularität gewannen, zu literarischer und künstlerischer Bedeutung erhoben wurde. Auch die von den »Gelehrten« des K. erfundenen ständigen Figuren Müller und Schulze, Zwickauer, Karlchen Mießnik u. a. sind volkstümlich geworden. Gegenwärtig (1905) ist Joh. Trojan (s. d.) Redakteur des K. Die hervorragendsten künstlerischen Mitarbeiter sind G. Brandt und L. Stutz. Als Sonderausgaben erschienen unter anderm: »Bismarck- Album des K.« (300 Zeichnungen von W. Scholz, 1890; 27. Aufl. 1900), »Ein Kriegsgedenkbuch aus dem K. in Ernst und Humor aus den Jahren 1870 und 1871«, von J. Trojan und J. Lohmeyer (1891), »Die Kriegsnummern des K. 1870-1871« (1895), »Im tollen Jahr. 1. Jahrgang des K. 1848«, mit Anmerkungen und Erläuterungen (1898)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


Alle Jahrgänge von 1848 - 1944 online: http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/digi/kladderadatsch.html. -- Zugriff am 2007-12-21

Eine wichtige Quelle für 1870 bis 1910 ist auch der Sammelband:

Zentrums-Album des Kladderadatsch 1870 - 1910. -- Berlin: A. Hofmann, 1912. -- 286 S. : 300 Ill.

Audiatur et altera pars = es soll auch die Gegenseite gehört werden: Eine ausführliche Darstellung der Zentrumspolitik aus der Hand eines gemäßigt-katholischen - trotzdem furchterregenden - Mitspielers ist:

Bachem, Karl <1858 - 1945>: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei : Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Bewegung, sowie zur allgemeinen Geschichte des neueren und neuesten Deutschland 1815-1914. -- Köln : J. P. Bachem, 1927 - 1931. -- 9 Bände : 26 cm.


1906



Abb.: Der Heilige Vater raucht. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 1. -- S. 2. -- 1906-01-07


Der heilige Brimborco : eine bolivianische Legende. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 2. -- 2. Beiblatt. -- 1906-01-14

Bei den Chalapatta, einem
Indianerstamm Boliviens,
Herrschte mondelange Dürre,
Dass die Menschen wie die Gräser
Bang die Köpfe hängen ließen,
Und das Wasser auf der Zunge
Trocknete wie in Zisternen.
Ach, vergebens flehten all die
Kupferfarbnen Christenleute
Tag und Nacht zu ihren Heilgen,
Dass sie regnen lassen sollten;
Und umsonst ward manches schöne
Heilgenbild zerschlagen oder
Von den Gläubigen zur Strafe
Auf den harten Kopf gestellt.
Aber eines Tags entdeckten
Sie im Winkel eines Hauses
Plötzlich einen neuen Heilgen -
Von Papier ein Bismarckbild!
Inidiergelb war und verwittert
Das Gesicht, dich aus den Augen
Schossen unter buschigen Augen
Blaue Blitze wetterleuchtend,
Und von den geschlossnen Lippen
Klang 's wie fernes Donnerrollen.
Und wie freuten sich die wackern
Chalapatta ob des Fundes!
Drauf in feierlichem Bittgang
Trugen sie den neuen Heilgen
In ihr Kirchlein, und von tausend
Lippen klang es laut und lauter:
"Heiliger Brimborco, sei du
Retter und und lass es regnen!"
Da - o Wunder über Wunder! -
Eh noch das Gebet geendet,
Kam vom Himmel her ein Rauschen,
Und in Strömen goss der Regen,
Dass die Erde und die Menschen
Wurden wundersam erquickt.

* * *

Als ich kürzlich die Legende
Von den wackern Chalapatta
Und dem heiligen Brimborco
In der Zeitung las, da sprach ich -
Ängstlich um mich schauend, ob nicht
Ein Verräter mich belauschte -
Also leis zu meinem Herzen:
"Sind gar keine dummen Leute,
Diese wackern Indianer:
Wären doch wir Deutsche auch so
Abergläubisch! denn mich dünkt es,
Dass vielleicht Brimborco würde,
Wenn wir seiner mehr gedächten
Und sein Bild vor Augen hätten,
Auch in Deutschland zur Erquickung
Aller nach der langen Dürre
Wieder einmal regnen lassen!"

1 Challapata ist eine Kleinstadt im bolivianischen Departamento Oruro.


Abb.: Hl. Brimborco
Otto von Bismarck (1815 - 1898)



Abb.: Titelblatt der Karnevalsnummer <Ausschnitt>. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 8. -- S. 29. -- 1906-02-25



Abb.: Julius Klinger (1876 - ): -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 8. --Beilage. -- 1906-02-25

Der Karneval eint überall
Die sonst einender verdammen.
Bringt die Parteien beim Lustigsein,
Schwarz, Weiß und Rot, zusammen.


Nietzsche in Erlangen1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 10. --S. 39. -- 1906-03-11

Stoßseufzer eines Theologieprofessors. Frei nach Scheffel².

Wie? Ein Verein, der Philosophen züchtet,
An unsrer frommen Universität!
Da haben sie was Schönes angerichtet!
Wir protestieren als älteste Fakultät.
Das Denken, Herr Kollege, stammt vom Bösen.
Den Glauben uns zerpflücken lassen? Nein!
Und wenn die Kerls nun gar noch Nietzsche lesen,
Dann kümmerst sich um unsereins kein Schwein!

Der liebe Gott braucht nichts als fromme Beter;
Und fühlt sich wer berufen zum Genie,
So les er fleißig unsre Kirchenväter!
Dort findet er genug Philosophie;
Auch dass die Ketzerei schon dagewesen
Vor Kant, und wer die Brüder alle sein!
Doch wenn die Kerls nun gar noch Nietzsche lesen,
Dann kümmerst sich um unsereins kein Schwein!

Es herbstelt. Ist es nur das Regenwetter,
Das heut mich so melancholisch stimmt.
Wozu nur haben wir die frommen Blätter,
Wenn kein Student sie in die Hände nimmt?
O Herrgott,  nimm den großen Scheuerbesen
Und fege wieder mal die Tenne rein!
Denn wenn die Kerls nun gar noch Nietzsche lesen,
Dann kümmerst sich um unsereins kein Schwein!

1 Die lutherisch-theologische Fakultät in Erlangen war und ist ausgesprochen reaktionär ("Man studiert zu Erlangen, um das Heil zu erlangen")

² Joseph Victor von Scheffel (1826–1886): ich kann die Vorlage nicht identifizieren.



Abb.: Der frommen Hel-Ena1 von Battenberg Versuchung und seliges Ende. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 10. -- S. 40. -- 1906-03-12

Frei nach Wilhelm Busch' "Fromme Helene"

Nein, ruft Hel-Ena, ich will beten
Und nicht zum Papste übertreten.

Da betet sie sich unvermerkt
Dem näher, was den Glauben stärkt.

Und - pfui - das Book of Common Prayer²
Gefällt ihr plötzlich gar nicht mehr.

Und aus den Wolken hört die Stimm sie
Von Eduard³: Prost, Alfons4, nimm sie!

1 Victoria Eugénie Julia Ena von Battenberg, genannt Ena (1887 - 1969): deutsch-britische Prinzessin, durch Heirat Königin von Spanien (1906–1931).

² Book of Common Prayer

"Book of Common Prayer (engl., spr. buck of komm'n prǟ'r), die 1549 von einem unter Cranmers (s.d.) Leitung stehenden Komitee von Bischöfen und Theologen zusammengestellte und durch die erste Uniformitätsakte zum Gesetz erhobene Agende der englischen Staatskirche. Der sich an die römische Liturgie anschließende Entwurf wurde 1552 im reformierten, 1559 im vermittelnden Sinne revidiert. Später nahmen die Stuarts im hochkirchlichen Interesse mehrere Veränderungen mit dem B. vor. Maßgebend blieb bis in die neuere Zeit die Revision von 1662, die 1859 und 1872 wieder Verbesserungen erfahren hat."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

³ König Eduard VII. von England

4 Alfons XIII. (Alfonso XIII) (1886 - 1941): König von Spanien.


Wissen ist Sünde. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 10. -- 1. Beiblatt. -- 1906-03-12

Das Volk, es lerne in der Schule
Den Katechismus unbeirrt,
Damit es vor dem Richterstuhle
Des Himmels nicht verurteilt wird.

Was nutzt die Wissenschaft dem Christen?
Wer rechnen kann, der gibt Kredit,
Nimmt Zinsen, täuscht mit vielen Listen
Und schachert schnöde mit Profit.

Wer lesen kann, der liest alltäglich
Das, was dem Christen nimmer frommt.
Er liest den Kladderadatsch womöglich,
So dass er in die Hölle kommt.

Wer schreiben kann, sinkt in die Tiefe
Des eklen Sumpfes wie ein Frosch.
Was schreibt er? Anonyme Briefe,
Wie die Frau Amtmann de la Roche.

Ach, unsre liebe Jugend lerne
Nur, was im Katechismus steht!
Es gilt im Himmel und in Herne
Heut nur noch der Analphabet!

1 Marie Sophie von La Roche geb. Gutermann von Gutershofen (1730 - 1807): deutsche Schriftstellerin. Anonyme Briefe, nämlich: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Von einer Freundin derselben aus Original-Papieren und andern zuverläßigen Quellen gezogen. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. 2 Bände. Weidmanns Erben und Reich, Leipzig 1771


Prinzessin Ena1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 10. -- 2. Beiblatt. -- 1906-03-12

Dass eine gleich den Glauben wandelt,
Weil einer mit ihr angebandelt,
Beschämend ist 's und sehr betrüblich,
Wenn schon in höhern Kreisen üblich.
Nur eines richtet mich empor:
Bei uns kommt so etwas nicht vor!

1 Victoria Eugénie Julia Ena von Battenberg, genannt Ena (1887 - 1969): deutsch-britische Prinzessin, durch Heirat Königin von Spanien (1906–1931). Siehe oben!



Abb. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 11. -- S. 42. -- 1906-03-18

Da es sich herausstellte, dass die Inventaraufnahme in den Kirchen Frankreichs eine sehr gefährliche Sache war, hat die französische Regierung dafür gesorgt, den Inventaraufnehmer in eine Uniform zu stecken.

Erläuterung: Infolge der Gesetze zur Trennung von Kirche und Staat in Frankreich wurde das Inventar aller Kirchen staatlicherseits aufgenommen. Als die Inventaraufnehmer dabei auch die Tabernakel öffneten, kam es in ländlichen Gegenden zu Widerstandshandlungen.



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Der Zentrumsturm. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 12. -- 1. Beiblatt. -- 1906-03-25

Der Ruf des Justizrats Bachem: "Wir müssen aus dem Turm heraus!"1 dürfte kaum Erfolg haben, denn gerade im Zentrumsturm, wie er jetzt ist, fühlen seine Parteigenossen sich so sehr wohl, und so gemütlich kommt es ihnen darin vor.

1 Am 1. März 1906 veröffentlichte der Zentrumspolitiker Julius Bachem (1845 - 1918) in den "Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland" einen Aufsatz, in dem er fordert "Wir müssen aus dem Turm heraus!"


Die Freiheit siegt! -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 22. -- S. 87. -- 1906-06-03

Ein dichter Nebel lastete gar lange
Dumpf und beklemmend auf dem ganzen Land,
Da fuhr hinein mit sausendem Gesange
Der Freiheit Windsbraut, und der Nebel schwand.
Befreiend und erfrischend kam ein Wetter,
Der Sturm der Freiheit rauschte durch die Blätter,
Der Geist des Rückschritts war gebannt.

Die schwarzen Mächte, die bisher im Dunkeln
Still an den Wurzeln ihres Staats genagt,
Sie sind verscheucht. Es steigt mit goldnem Funkeln
Die Morgenröte auf; hurra, es tagt!
Die Reaktion, die heimlich sich verbunden,
Den Fortschritt zu bekämpfen, ist verschwunden,
Ist von dem Freiheitsgeist verjagt.

Die Macht der Jesuiten ist gebrochen.
Der Plan der Schwarzen, rings im Vaterland
Die Schule listig sich zu unterjochen,
Er ist vereitelt mit geschickter Hand.
Ohnmächtig sank die Reaktion zur Erde,
Sie knirscht und flucht mit wütender Gebärde,
Sie ist besiegt und überrannt.

Der Junker-Adel auch, der mit im Bunde
Der schwarzen Brüder war, ist abgeführt.
Er muss es leiden, dass mit stolzem Munde
Das freie Bürgertum laut triumphiert.
Die kleinen Kläffer, die Antisemiten,
Auch diese zogen Nieten, nichts als Nieten,
Sie, die so oft Zwietracht geschürt.

Vorüber sind jetzt jene dunklen Zeiten,
Wo Reaktion sich Liebesgaben nahm.
Des Volkes Brust beginnt sich nun zu weiten,
Sie atmet auf, befreit von schwerer Gram.
Die frohe Kunde sprengte manche Bande -
Nur schade, dass sie aus dem Frankenlande1
Und nicht aus unsrem Deutschland kam!

1 In Frankreich wird das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat von 1905 durchgeführt.


In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 22. -- 3. Beiblatt. -- 1906-06-03

Im Vatikan finden neuerdings, wie gemeldet wird, spiritistische Vorstellungen statt. Natürlich handelt es sich um die Verbreitung des Christentums in der vierten Dimension.


Dr. Hermann Schell1 laudabiliter se subiecit2. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 23. -- 1. Beiblatt. -- 1906-06-10

"Die Kirche das Prinzip des Fortschritts!" Ei!
Seit wann? Vor tausend Jahren oder jetzt?
Dein gläubiger Ernst, er klang wie Ketzerei -
Rom fühlte sich getroffen und verletzt.
Es hat zum Zeichen, dass dem nicht so sei,
Aus Dank schnell auf den Index dich gesetzt,
Und du hast als der Kirche treuer Knecht
Das bessere Teil der Tapferkeit erkoren
Und, was die selber Wahrheit schien und Recht,
In Demut zitternd wieder abgeschworen.
Seit der zeit hast du, scheint 's dir vorgenommen
Zu fragen erst, Ob "Nein" du sagen darfst.
Kein Wunder drum, als jüngst Freund Hein³ gekommen,
Dass du auch ihm dich "löblich unterwarfst".

1 Hermann Schell (1850 - 1906)

"Schell, Hermann, kath. Theolog, geb. 28. Febr. 1850 zu Freiburg i. Br., gest. 31. Mai 1906 in Würzburg, wo er seit 1884 als ordentlicher Professor der Apologetik und vergleichenden Religionswissenschaft wirkte. Durch seine Schriften: »Katholische Dogmatik« (Paderb. 1889–93, 3 Bde.) und »Die göttliche Wahrheit des Christentums« (das. 1895–96, 2 Bde.) hatte er sich bereits einen Namen gemacht, als er sich seit 1897 zuerst in der Universitätsrede: »Theologie und Universität« (2. Aufl., Würzb. 1899), dann in den Broschüren: »Der Katholizismus als Prinzip des Fortschritts« (7. Aufl., das. 1899) und »Die neue Zeit und der alte Glaube« (das. 1898) als Vertreter der Gedanken des ð Reformkatholizismus (s. d.) bekannte. Die Indexkongregation verurteilte 15. Dez. 1898 nicht nur die beiden Broschüren, sondern auch die dogmatischen Werke. S. erkannte den Beschluß an. Später schrieb er außer Abhandlungen im »Türmer« und in der »Renaissance«: »Apologie des Christentums« (Bd. 1: »Religion und Offenbarung«, 1. u. 2. Aufl., Paderb. 1902; Bd. 2: »Jahwe und Christus«, das. 1905); »Das Christentum Christi« (Münch. 1902); »Christus. Das Evangelium und seine weltgeschichtliche Bedeutung« (Mainz 1903 u. ö.; Volksausg. 1906)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

² laudabiliter se subiecit = unterwarf sich löblichst

³ Freund Hein = der Tod als wohlwollendes, freundliches Wesen. Schell war am 31. Mai 1906 gestorben.



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Frau Justitia als bayerische Pfarrersköchin. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 24. -- S. 96. -- 1906-06-18

"Die bayerische Zentrumspresse verlangt die Einengung der Schwurgerichtskompetenzen bei Pressdelikten." Zeitungsnotiz.

Viele (Geschworenen-)Gerichte munden dem Herrn Kaplan ausgezeichnet

aber eins hat einen so schlechten Geschmack, dass er der Köchin den Dienst kündigt und nichts mehr von Geschworenen wissen will.


Rheinische Kunde. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 27. -- S. 107. -- 1906-07-08

Es feierte jüngst sein Jahresfest
Zu Oberlahnstein1 am Rhein,
Dem urgemütlichen, freundlichen Nest,
Der Gustav-Adolf-Verein2.

Es hatten die Katholiken zumeist
Ihre Häuser beflaggt und bekränzt —
So hat regiert denn des Friedens Geist
Und seine Sonne geglänzt.

Und am nächsten Tage vom himmlischen Thron
Der Friede lächelte fort,
Da zu Fronleichnam die Prozession
Durchwogte den festlichen Ort.

Nicht protestierten, gekränkt und bedrückt,
Die Protestantischen — nein!
Auch ihre Häuser bleiben geschmückt
Und da Pfarrhaus mittendrein.

Und aller Herzen wurden so warm
Und schlugen so freudig und froh —
Und alles jubelte Arm in Arm.
Na also. Es geht doch auch so!

Erläuterungen:

1 Oberlahnstein: Stadt im preußischen Regierungsbezirk Wiesbaden, Kreis St. Goarshausen, an der Mündung der Lahn in den Rhein, 1969 mit Niederlahnstein zur Stadt Lahnstein (Rheinland-Pfalz) zusammengelegt

2 Gustav-Adolf-Verein

"Gustav Adolf-Verein (Evangelischer Verein der Gustav Adolf-Stiftung) ist eine Vereinigung innerhalb der evangelisch-protestantischen Kirche mit dem auf Gal. 6, 10 gegründeten Zweck, den kirchlichen Bedürfnissen der in der Diaspora (s. d.) lebenden Glaubensgenossen nach Kräften Abhilfe zu leisten. Im Anschluss an die zweite Säkularfeier des Todes Gustav Adolfs (6. Nov. 1832) erließen Superintendent Großmann (s. d. 2), der Archidiakonus Goldhorn und der Kaufmann Lampe zu Leipzig einen Ausruf zur Beteiligung an dem Unternehmen, das zunächst fast auf Leipzig und Dresden beschränkt blieb, von dem aber bis 1840 bereits 31 Gemeinden mit 1233 Tlr. unterstützt wurden. Als zum Reformationsfest 1841 der Darmstädter Hofprediger Zimmermann, ohne von dem sächsischen Unternehmen zu wissen, einen Ausruf zur Begründung eines Vereins mit gleichem Zweck erließ, verständigte man sich gegenseitig und gründete 16. Sept. 1842 zu Leipzig den Evangelischen Verein der Gustav Adolf- Stiftung. Nach den zu Frankfurt 1843 festgestellten Satzungen umfasst die Wirksamkeit des Vereins lutherische, reformierte, unierte sowie solche Gemeinden, die ihre Übereinstimmung mit der evangelischen Kirche glaubhaft nachweisen. Die Mittel dazu werden erlangt durch die jährlichen Zinsen vom Kapitalfonds des Vereins sowie durch jährliche Geldbeiträge von völlig beliebigem Betrag, durch Schenkungen, Vermächtnisse, Kirchenkollekten etc. In jedem Bundesstaat (bei größern in jeder ihrer Provinzen) wird die Bildung von Hauptvereinen angestrebt, denen sich Zweigvereine in einzelnen Orten angliedern. Ihr gemeinsamer Mittelpunkt ist der aus 24 Mitgliedern bestehende Zentralvorstand mit dem Sitz in Leipzig (Vorsitzender bis 1857 Großmann, bis 1875 Geheimer Kirchenrat Hoffmann, bis 1900 Geheimer Kirchenrat Professor D. Fricke, zurzeit Geheimer Kirchenrat D. Pank). Das Zentralbureau befindet sich in Leipzig. Von den Einnahmen der Zweigvereine steht ein Drittel diesen zu freier Verfügung, zwei Drittel sind an den Hauptverein abzuführen, der wiederum ein Drittel dem Zentralvorstand zu überweisen hat.

Während die bayrische Regierung dem Gustav-Adolf-Verein die Bildung von Zweigvereinen zunächst untersagte und erst im September 1849 gestattete, wurde die Genehmigung in Preußen schon im Februar 1844 erteilt. Im September 1844 erfolgte zu Göttingen der Anschluss der preußischen Vereine an den Gesamtverein. In Österreich konnte der Verein erst nach den 1861 erlassenen Religionspatenten seine Wirksamkeit beginnen. Allmählich traten dem Verein in Ungarn und der Schweiz, in Frankreich, Russland, Schweden, Rumänien, Italien und Holland Hilfsvereine zur Seite; die protestantischen Gemeinden Belgiens und die Evangelisationsgesellschaft im Elsass (1890) schlossen sich ihm an. Die seit 1851 bestehenden Frauenvereine haben sich den Schmuck und die Ausstattung der Gotteshäuser, die Pflege der Konfirmandenanstalten, die Unterstützung von Predigerwitwen und -Waisen zur besondern Aufgabe gemacht. 1903 zählte der Verein 45 Haupt- und 1943 Zweigvereine, dazu 632 Frauenvereine. Die Einnahmen betrugen 2,402,742 Mk. Im letzten Vereinsjahr wurden 1,738,525 Mk. an Unterstützungen aufgewendet, im ganzen bis 1903: 43,566,700 Mk., die über 5302 Gemeinden verteilt wurden. Das Gesamtvermögen der Vereine und des Zentralvorstandes betrug 1903: 5,148,047 Mk. Organe des Gustav Adolf-Vereins sind die von mehreren Hauptvereinen herausgegebenen »Boten des Evangelischen Vereins der Gustav Adolf-Stiftung«; ferner erscheinen alljährlich vom Zentralvorstand herausgegebene »Fliegende Blätter«, mehrere Gustav Adolf-Kalender, Berichte über die Hauptversammlungen und andre Vereinsschriften."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]



Abb.: E. R.: Das Danaergeschenk1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 28. -- S. 112. -- 1906-07-15

Immer drohender schärfen sich die Gegensätze zwischen Duma² und Regierung, näher rückt der Augenblick, wo die vom Zaren gestifteten Heiligenbilder ihrem heiligen Zweck dienen müssen. Zu spät werden den Abgeordneten die Augen aufgehn über das kaiserliche Geschenk, wenn sie sehen, was

eigentlich dahinter steckt.

1 Danaergeschenk = verdächtiges und unheilbringendes Geschenk, genannt nach dem hölzernen Pferd, das von den Griechen (Danaer) bei ihrem Scheinabzug vor Troja zurückgelassen war und dann die Eroberung der Stadt herbeiführte.

² Duma (Ду́ма), hier im Sinne von Staatsduma: "Nach dem Petersburger Blutsonntag und den darauf folgenden Unruhen stimmte Zar Nikolaus II. mit dem Oktobermanifest von 1905 der Schaffung einer gewählten Versammlung, der Duma, als zweite Kammer neben dem Reichsrat zu. Diese Duma, auf die liberale Reformer große Hoffnungen gesetzt hatten, war weitgehend von der Macht des Zaren abhängig. Die Regierung behielt sich das Recht vor, während der Sitzungspausen per Notverordnungen zu regieren, die nur nachträglich von der Duma bestätigt werden mussten. Die ersten beiden Dumas wurden nach jeweils nur wenigen Monaten wieder aufgelöst (1906 und 1907)." (http://de.wikipedia.org/wiki/Duma. -- Zugriff am 2010-01-06)


Schreckliches aus Kassel. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 28. -- 1. Beiblatt. -- 1906-07-15

(Nach dem Rundschreiben des "Weißen Kreuz-Bundes"1)

Sind wir noch Christen oder sind wir Hunnen?
In Kassel steht auf einem neuen Brunnen²
Vor allem Volk ein junger Wassermann,
Der ist ganz na..., der hat so wenig an,
Wie man 's sonst schaudernd nur gesehen hat
Auf den Reliefs in unserm Marmorbad!
Bai  ihm auch - schaut nicht hin, ihr blinden Hessen! .
Hat das Kostüm man ganz und gar vergessen.
Wir selber sahen 's, als man ihn "enthüllt",
Wir standen starr, von Scham und Schreck erfüllt
Vor diesem Jüngling auf dem Wasserborn;
Doch ob wir ihn von hinten oder vorn
Besahen, da war alles blank und glatt,
Kein Schleier oder Fell, kein Feigenblatt,
Kein künstlich aufwärtsstrebendes Geranke,
Kein vorgehaltner Krug - kurz, kein Gedanke
Von allem, was die Kunst genießbar macht
Und nicht die wilde Sinnlichkeit entfacht.
Ja selbst der Schurz, den jeder Hottentotte
Doch trägt, er fehlte diesem Wassergotte!
Ist 's da ein Wunder, wenn die Lüsternheit
In unsrer Stadt bereits zum Himmel schreit?
Wenn zweimal Lustmord im Gebüsch der "Aue"
Verübt ward, einmal Notzucht an ner Fraue,
Wenn sich ein Liebespaar gar selbst entleibt,
Unehliche Geburten, wie man schreibt,
Sich jüngst vermehrt um 2½ Prozent?
Kurz, wenn das Volk in sein Verderben rennt?
Kann 's anders sein, wo auf dem Postament
Figuren stehen, barfuß bis zum Hals?
Drum fort muss dieser Bengel jedenfalls,
Sonst züchtigt und der Himmel noch mit Ruten -
O nimm ihn zu dir, Ägir², Herr der Fluten!

1 Weißer Kreuz-Bund

"Ein vom Bischof von Durham Lightfoot 1883 errichteter Bund (White Cross League) zum Kampfe gegen die Unsittlichkeit, fand in ganz England und seinen Kolonien Verbreitung, seit 1885 auch in Nordamerika, dann in der Schweiz, seit 1889 in Frankreich und seit 1890 auf Anregung des Christlichen Vereins junger Männer in Berlin in Deutschland, wo 1907 ca. 300 Zweigvereine mit über 35,000 Mitgliedern bestanden. Die Berliner Zentralstelle gibt eine vierteljährlich erscheinende Zeitschrift »Weißes Kreuz« heraus."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

² Nämlich der Papin-Brunnen vor dem Kasseler Ottoneum, 1906 von Hans Everding geschaffen


Abb.: Papin-Brunnen, Kassel
[Bildquelle: Eva Kröcher / Wikipedia. -- GNU FDLicense 1.2]

³ Ägir: in der nordischen Mythologie der dämonische Beherrscher des Meeres


Die Nönnchen am Rhein. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 31. -- 1. Beiblatt. -- 1906-08-05

Nach des Rheines grünen Borden
Zieht 's mich, wo die Luft so lind,
Wo die vielen frommen Orden
Mit den lieben Nönnchen sind,

Die durch stille Laubengänge,
Betend ihren Rosenkranz,
Wandeln, wenn die Rebenhänge
Glühn im Abendsonnenglanz.

Nicht von irdischem Verlangen
Feuchtet sich ihr süßer Blick,
Von den Augen, von den Wangen
Strahlt der Himmelsliebe Glück.

Cellitinnen1, Klarissinnen²
Sind schon jetzt in Menge da,
Und es schimmern weiß die Linnen-
Häubchen von Sankt Ursula³.

Liebe Nönnchen, seid willkommen
An des Rheines grünem Strand,
Ruft, ich bitt euch, auch die frommen
Schwestern aus dem Nachbarland!

Heilges Land und hohe Ziele
Zeigt euch Studts4 erhabner Flug;
"Nönnchen", sagt er, "gibt 's zu viele
Nie, es gibt nicht mal genug."

1 Cellitinnen

"Die Cellitinnen sind der weibliche Zweig der Alexianer und gingen wie diese aus der mittelalterlichen Beginen-Bewegung hervor. Wie die Alexianer, so leben auch sie nach der Regel des heiligen Augustinus und widmen sich der Krankenpflege. In Belgien auch als Zwartzusters (= Schwarze Schwestern) bezeichnet, gibt es in Deutschland 6 Kongregationen, die alle bischöflichen Rechts sind. Alle diese Schwestern nennen sich heute Augustinerinnen.
  • Aachen, heute Stolberg: Christenserinnen
  • Düren: Cellitinnen von der Hl. Gertrud
  • Neuss: Barmherzige Schwestern nach der Regel des hl. Augustinus, Neusser Augustinerinnen
  • Köln: Cellitinnen zur Hl. Maria
  • Köln: Cellitinnen zur hl. Elisabeth
  • Köln: Cellitinnen nach der Regel des hl. Augustinus
Historische Cellitinnenklöster
  • Köln, Cellitinnenkloster Klein St. Ursula
  • Köln, Cellitinnenkloster Dreifaltigkeit
  • Köln, Cellitinnenkloster „Zur Zelle“
  • Köln, Cellitinnenkloster Klein-Nazareth
  • Köln, Cellitinnenkloster Zederwald
  • Düsseldorf, Cellitinnenkloster Düsseldorf"

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Cellitinnen. -- Zugriff am 2010-01-06]

² Klarissinnen

"Klarissen (Klarissinnen, Ordo sanctae Clarae, auch Orden der armen Frauen, zweiter Orden des heil. Franziskus, Damianistinnen), von Franz von ð Assisi (s. d., Bd. 7, S. 31) gegründeter Nonnenorden. Seinen Namen hat der Orden von Klara Scifi, einem Mädchen aus vornehmer Familie in Assisi (geb. 1194), die, von Franz erschüttert und angeregt, unter seiner Leitung ein Büßerleben zu führen beschloß. 1212 in einem Benediktinerkloster, seit 1214 in dem Kloster bei S. Damian untergebracht, zog sie Gleichgesinnte an sich und stand dem Kloster bis zu ihrem Tode (11. Aug. 1253) vor. 1255 wurde sie von Alexander IV. heilig gesprochen (Tag: 12. August). Der Orden erhielt 1224 eine eigne Regel und breitete sich von Italien allmählich in der ganzen römisch-katholischen Christenheit aus. Die Tracht der K. ist das graue Gewand der Minoriten mit dem Strick als Gürtel. 1899 bestanden 144 meist der Erziehung der weiblichen Jugend gewidmete Klöster der K., 62 in Italien, 20 in Frankreich, 15 in den Niederlanden, 10 in Deutschland, Österreich und der Schweiz. S. auch ð Coleta. Vgl. Demore, Leben der heil. Klara von Assisi (a. d. Franz., Regensb. 1857); Lempp, Die Anfänge des Klarissenordens (»Zeitschrift für Kirchengeschichte«, Bd. 13, 1892); Lemmens, Die Anfänge des Klarissenordens (Leipz. 1902, aus der »Römischen Quartalschrift«)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

³ Ursulinen

"Ursulinerinnen (Ursulinen), eine nach der heil. ð Ursula (s. d.) benannte, 1535 (1537) durch Angela Merici (s. ð Angela 2) in Brescia gestiftete und 1544 von Paul III. bestätigte Kongregation für Jugendunterricht und Krankenpflege. Zu ihrer Verbreitung trug besonders Kardinal ð Borromeo (s. d. 1) bei. 1604 konstituierte sich in Paris ein Orden der U. mit feierlichen Gelübden und strenger Klausur, die bald auch in Deutschland Ausbreitung fanden, wo ihre Unterrichtsanstalten während des Kulturkampfes (1875) aufgehoben wurden. Zurzeit bestehen über 300 Klöster der U., davon 39 in Deutschland, mit etwa 7000 Schwestern."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

4 Konrad von Studt (1838 - 1921): preußischer Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten

"Studt, Konrad Heinrich Gustav von, preuß. Staatsmann, geb. 5. Nov. 1838 in Schweidnitz, studierte die Rechte, trat 1859 in den Staatsjustizdienst, wurde 1865 Gerichtsassessor und 1868 Landrat des Kreises Obornik. 1876 als Hilfsarbeiter in das Ministerium des Innern berufen, wurde S. 1878 Geheimer Regierungsrat und vortragender Rat im Ministerium des Innern, 1882 Regierungspräsident in Königsberg, war 1887–89 Unterstaatssekretär in der elsaß-lothringischen Regierung, dann Oberpräsident von Westfalen und 1899–1907 als Nachfolger Bosses Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten. 1906 wurde er unter Verleihung des Schwarzen Adlerordens geadelt, bei der Entlassung wurde er lebenslängliches Mitglied des Herrenhauses. Er gab mit Braunbehrens die neuen Ausgaben von Brauchitsch' »Neuen preußischen Verwaltungsgesetzen« heraus."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


Abenddämmerung. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 32. -- 1. Beiblatt. -- 1906-08-12

Ketzergerichte immerfort,
Dazu die Klöster hier und dort
Schießen empor den Pilzen gleich -
Es wird recht dunkel im Deutschen Reich!


Christliche Liebe. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 34. -- 1. Beiblatt. -- 1906-08-26

Zu Jussy1 bei Metz - so melden
Die Blätter - man Knochen fand,
Das waren die Reste von Helden,
Die starben fürs Vaterland.

Man wollte sie festlich begraben
Auf Jussys Friedhof sofort;
Das wollt der Pfarrer nicht haben,
Der fromme Diener am Wort.

Beim Bischof Benzler², dem Metzer,
Stand er in Dienst und Pflicht,
"Wer weiß", so sprach er, "ob Ketzer
Die beiden Gefallenen nicht!

Und modert der Jahre auch dreißig
Und mehr noch ein Protestant,
Seine Knochen werden, das weiß ich,
Besudeln geweihtes Land.

Drum mögt ihr verscharren die Knochen
Wer weiß wo immerhin." -
Indes schon nach drei Wochen
Da ändert sich sein Sinn.

Da wurden die Knochen begraben,
Der Pfarrer sah nicht zu,
Sie werden auch ohne ihn haben
Gottselige Heldenruh.

Seht her, ihr neunmal Weisem,
Ihr Hüter des Vaterlands:
Hier könnt ihr loben und preisen
Die wahre Toleranz!

So hat sich 's zugetragen,
Das ist leeres Geschwätz!
Drum soll man singen und sagen
Vom Pfarrherrn zu Jussy bei Metz.

1 Jussy (Moselle)

2 Willibrod Benzler (1853 - 1921), Bischof von Metz hatte über den Friedhof von Fameck Interdikt gelegt, weil dort ein Protestant begraben worden war (siehe oben!)



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Der Kirchenkonflikt in Frankreich. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 35. -- 1. Beiblatt. -- 1906-09-02

Ganz fürchterlich ist die Kragenechse (Chlamydosaurus Pii X) in Drohstellung anzusehen, wenn sie damit Erfolg zu haben glaubt1.

Dafür gewährt sie auf der Flucht vor einem stärkeren Gegner² einen umso komischeren Anblick.

1 Am 1906-08-09 hatte Pius X. die Enzyklika "Gravissimi officii munere" gegen die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich veröffentlicht.

² Clément Armand Fallières (1841 - 1931): von 1906 bis 1913 französischer Staatspräsident


Der neue Jesuitengeneral1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 37. -- S. 145. -- 1906-09-16

O was für eine angenehme Kunde
ist uns gekommen von dem Tiberstrom!
Gesegnet und gepriesen sei die Stunde,
Da uns die gute Botschaft traf aus Rom.
Lang war der Freude Himmel uns verschleiert,
Bis endlich durchbrach doch ein Sonnenstrahl.
Vernehmt es, legt die Arbeit hin und feiert:
Ein Deutscher ward Jesuitengeneral.

Zwar keiner aus dem Zentrum ist 's geworden,
Nicht Roeren² und nicht Heim³, der drauf gehofft,
Auch Dasbach4 nicht, der für den frommen Orden
Der Rede Schwert geschwungen hat so oft.
Doch welch ein Glück, dass nicht davongetragen
Den Sieg hat einer aus der Welschen Zahl!
Mit freudgem Stolz darf "Germania"5 sagen:
"Ein Deutscher ward Jesuitengeneral."

Der heilge Ignaz6 gnädig sah er nieder
Und zeigte sich dem deutschen Volk geneigt.
Nicht mehr unmöglich scheints, dass einmal wieder
Ein Deutscher auch den heilgen Stuhl besteigt.
Sind es ja die doch mit den breiten Hüten6,
Von denen abhängt auch des Papstes Wahl,
Und durch und durch sind deutsch jetzt die Jesuiten,
Ein Deutscher ist Jesuitengeneral.

Wohl nicht mehr lang verschlossen bleibt die Pforte
Des deutschen Reiches nun dem schwarzen Korps.
Schon hör ich sprechen die Erlösungsworte,
Seh einziehn es durchs Brandenburger Tor.
Schon an der Spree seh ich des Ordens Ritter,
Und dauernd schallt bei festlich frohem Mahl
Der Jubelruf der ollen Jesuwitter:
"Hoch lebe unser deutscher General!"

1 Am 1906-09-08 wurde in Rom der deutsche Jesuit Franz Xaver Wernz (1842 - 1914) zum General des Jesuitenordens gewählt.


Abb.: P. Franz Xaver Wernz SJ
[Bildquelle: Wikipedia. -- Public domain]

"Wernz, Franz Xaver, Jesuit, geb. 4. Dez. 1842 in Rottweil, wurde 1862 Lehrer an der Studienanstalt Stella Matutina zu Feldkirch i. V., später Lehrer des kanonischen Rechts an der theologischen Studienanstalt Ditton-Hall (Lancashire). Seit 1883 am Collegium Romanum. dessen Rektor er 1894 wurde, bekleidete er gleichzeitig eine Professur an der Gregorianischen Universität in Rom. Am 18. April 1906 wurde er zum Jesuitengeneral gewählt. Er schrieb: »Jus decretalium ad usum praelectionum« (Rom 1898–1904, Bd. 1–4; 2. Aufl. 1905 ff.)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

² Hermann Roeren (1844 - 1920): Zentrumspolitiker, 1893 - 1912 Abgeordneter im Reichstag

³ Georg Heim (1865 - 1938)

4 Georg Friedrich Dasbach

"Dasbach, Georg Friedrich, ultramontaner Politiker, geb. 9. Dez. 1846 in Horhausen, studierte in Trier und Rom katholische Theologie und wurde 1871 Kaplan in Trier. Nachdem ihm 1875 die Erteilung des Religionsunterrichts und jede geistliche Amtshandlung verboten worden war, ward er 1884 Aushilfspriester in Trier, widmete sich aber nach wie vor hauptsächlich der ultramontanen Agitation in der Presse und in Vereinen, gründete die »Trierer Landeszeitung«, ward Präsident des Trierer Bauern- und des Trierer Winzervereins und erreichte dadurch seine Wahl 1890 ins Abgeordnetenhaus, 1898 in den Reichstag, obwohl ihn selbst die höhere Geistlichkeit bekämpfte. Er schrieb zahlreiche Wahlbroschüren und wurde in viele Prozesse verwickelt. Vgl. seine Schriften: »Der Marpinger Prozeß vor dem Zuchtgericht in Saarbrücken« (Trier 1879); »Der Prozeß D. gegen Haubrich« (das. 1900)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

5 Germania:  am 1. Jan. 1871 begründete, täglich zweimal in Berlin erscheinende politische Zeitung ultramontaner Richtung, vertritt die Interessen der deutschen Zentrumspartei und des römischen Stuhles unter jesuitischem Einfluss.

6 Ignatius von Loyola (Íñigo López de Loyola) (1491 - 1556): Gründer des Jesuitenordens



Abb.: A. J.: Zum Kirchenkonflikt in Frankreich (Frei nach Tizian1). -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 37. -- S. 148. -- 1906-09-16

Himmlische und irdische Liebe

1


Abb.: Tizian (1488/90 - 1576): Himmlische und Irdische Liebe,
1515



Abb.: Michel: Und da soll der Mensch nicht schwarz sehen! -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 37. -- 2. Beiblatt. -- 1906-09-16



Abb.: Illustrierte Rückblicke <Ausschnitt>. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 39. -- 1. Beiblatt. -- 1906-09-30

Der Katholikentag in Essen1

"Da ward eine dicke Finsternis in ganz Ägyptenland drei Tage." (2. Mos. 10,22)

1 19. - 23. August 1906



Abb.: Mit Besorgnis wird in Frankreich1 das eigenartige Kriegsspiel der beiden deutschen Generale² bemerkt. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 40. -- S. 158. -- 1906-10-04

1 Frankreich führt gerade die Trennung von Kirche und Staat durch

² Jesuitengeneral Franz Xaver Wernz (1842 - 1914) (siehe oben!) und Helmuth von Moltke (1848 - 1916), Chef des Generalstabs und General der Infanterie


Der geheimnisvolle Mord oder Das Verschwinden des Pfarrers oder Abbé und Lehrerin. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 40. -- 1. Beiblatt. -- 1906-10-04

In Chatenay da war er Seelenhirte,
Dort kasteite der Abbé sein Fleisch.
Fromm war er und brav, bevor er irrte,
Insbesondre war er keusch.

Delarue hieß er, der Reine,
Immer tat er seine Pflicht.
Alle liebten ihn, besonders eine.
Liebe ist doch keine Sünde nicht.

Eines Tags war spurlos er verschwunden,
Und man sucht ihn früh und spät,
Doch man hat von diesem Mann gefunden
Nichts als sein Veloziped1.

Ach, man hat den Ärmsten umgebrungen,
Dieses sagten alle gleich.
Aber die Schandarmen fungen
Weder seinen Mörder noch die Leich.

Seelenmessen beteten die Kinder
Und die Eltern auch für den Abbé.
Der "Matin" sogar versprach dem Finder
Seiner Leiche eine Prämie.

Weil der liebe Gott ihn in sein Reich nahm,
Weinten alle dort in Feld und Flur.
Unterdessen lebte dieser Leichnahm
Froh in Brüssel als ein Herr Drecourt.

Und mit ihm in ganz denselben Wänden
Lebte eine Jungfrau voll und rund.
Diese war  in anderen Umständen.
Delarue, du bist ein Schweinehund!

Statt ermordet, wie sich 's ziemt, zu liegen
In dem tiefsten Waldesdickicht drin,
Liegt er in dem Bette zum Vergnügen,
Noch dazu mit einer Schulvorsteherin.

Wütend ruft man jetzt: Ha, die Kanaille!
So ein Pärchen, nicht in die la main!
Von Paris schimpft alles bis Versailles,
Doch mucksmäuchenstill ist der "Matin".

Merke: Willst du leben still harmonisch,
Liebe niemals keine Maid,
Oder aber höchstens nur platonisch,
Ganz besonders bei der Geistlichkeit.

1 Veloziped = Velo = Fahrrad

² Le matin : grand journal d'information. - Paris : Le Matin. -- 1884 - 1945



Abb.: A. J.: Ein Lichtblick. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 41. -- 1. Beiblatt. -- 1906-10-14

Der Pfarrer Gaisert von Gündelwang1 ist wegen Verleitung zum Meineid zu einem Jahre Zuchthaus verurteilt worde. Zeitungsnachricht.

Endlich will man auch mal wieder
Nicht so wie die Geistlichkeit!

(Frei nach Wilhelm Busch²)

1 heute eingemeindet in Bonndorf im Schwarzwald

² Wilhelm Busch <1832 - 1908>: Pater Filucius (1872):

Ach, man will auch hier schon wieder
Nicht so wie die Geistlichkeit!!



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Französische Beklemmungen.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 41. -- 2. Beiblatt. -- 1906-10-14

"Wie lautet die Parole?"

Erläuterung: Bezieht sich auf den neugewählten Jesuitengeneral, den Deutschen Franz Xaver Wernz (1842 - 1914) (siehe oben!)


Gebt, Gebt! -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 41. -- 2. Beiblatt. -- 1906-10-14

Das ist der brave Adolf Stöcker1,
Der jetzt von Haus zu Hause geht:
"Hier draußen steht ein Volkserwecker,
Der um ne kleine Gabe fleht.
Tut Geld aus eurem Beutel, bitte!
Das, was ich will, ist nur ein Quark.
Es lohnt sich kaum so vieler Schritte,
Es sind nur 60 000 Mark.

Wozu ich 's brauche, kann ich heute
Noch nicht verraten, glaubt mir, glaubt."
Ach, da zerbrachen sich die Leute,
Darob ihr hochwohlweises Haupt.
Will er 's für reuevolle Sünder,
Will er es für den Kölner Dom,
Will er 's für Hottentottenkinder,
Will er es für den Papst in Rom?

Vielleicht braucht er 's für Feigenblätter,
Damit nichts Schlimmes ist zu sehn;
Vielleicht für Leute, die - das Wetter
Mag sein, wie 's will - zur Kirche gehn?
Vielleicht für einen Botokuden²,
Damit er in den Himmel kommt,
Vielleicht für orthodoxe Juden,
Die von den Juden sind pogromt?

Vielleicht für Luftschiffahrtsprobleme,
Vielleicht fürs Reichsgesundheitsamt,
Vielleicht für eine heilge Vehme³,
Die Ketzer richtet und verdammt?
Vielleicht für zwangserzogne Knaben,
Vielleicht für Deutschlands Flottenruhm,
Vielleicht für Branntweinliebesgaben,
Vielleicht fürs Temperenzlertum4?

Doch das sind Ziele kühl und nüchtern,
Für die kein warmes Herz entbrennt.
Ich  nähm die Gelder gar nicht schüchtern
Und baut ein Stöcker-Monument.
Hoch oben müsst in Marmorklarheit
Herr Stöcker sehen "voll und ganz",
Ans rechte Knie geschmiegt die Wahrheit,
Ans linke Knie die Toleranz.

1 Adolf Stöcker (1835 - 1909): Theologe und Sozialpolitiker

² Botokuden (portugiesisch: botocudos, abgeleitet von botoque = Holzpflock) ist eine Bezeichnung für Indianer, die in den Wäldern des südöstlichen Brasilien, hauptsächlich auf dem Gebiet des Bundesstaates Minas Gerais, lebten.

³ Vehme = Feme

"Femgerichte (Fehme, Vehme, Freigerichte, heimliche Gerichte, Stuhl- oder Stillgerichte), im Mittelalter gewisse in Deutschland und namentlich in Westfalen bestehende Gerichte, die vom Kaiser mit dem Blutbann beliehen waren und in dessen Namen über Verbrechen aburteilten, die Todesstrafe nach sich zogen."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

4 Temperenzler = Mitglieder der Mäßigkeitsvereine


An Michel. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 42. -- S. 166. -- 1906-10-21

Immer frecher, immer kecker
Klingt das polnische Gemecker,
Und die Pfaffen zetern munter
Offen von den Kanzeln runter.
Michel, Michel, sei nicht faul,
Stopf dem frechen Pack das Maul.
Lass nicht gehn es wie es geht!
Zeige du, eh es zu spät,
Dass du Kraft noch hast und Stärke,
Dass dem Feind, der da am Werke,
In die Knochen fährt der Schreck!
Fester ziehe die Kandare,
Nimmer sonst bringst du die Karre
Aus dem Dreck!


Der Bischof und der Minister. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 42. -- S. 166. -- 1906-10-21

Fern im Lande der Kastanien,
in dem Königreiche Spanien
Liegt am Minho die Stadt Tuy,
Dort lebt auch ein Bischof, pfui,
Der, statt die Diözesanen
Zum Gehorsam zu ermahnen,
Sie mit wütender Gebärde
Aufhetzt gegen die Behörde.
Bischof, Bischof o, o, o,
Geh in dich und sei nicht so!
Die Zivileh, die der Staat
Schuf, nennt er Konkubinat.
Aber die Ministerschar
Nennt er, ach, Dummköpfe gar.
Dummkopf hört kein guter Christ
Gern, selbst wenn er einer ist,
Und erst recht nicht ein Minister,
Selbst nicht dann, wenn einer ist er.

Und der Paladin des Throne,
Der Minister Romanones,
Fühlt sich dadurch fatiguiert4
Und nicht angenehm
Und nicht angenehm berührt,
Weil um keinen Preis der Welt,
Er sich für nen Dummkopf hält.
Darum zeigt er an im hui
Bai dem Papst den Mann von Tuy.
Und der heilige Vater spricht:
"Sohn, so was sagt man doch nicht.
Lieber schweigt man gänzlich stille;
Denken kann man, was man will.
Setz dich hin und schreibe nun,
Du wirst 's niemals wieder tun,
Du willst immer artig sein,
Dann gehst du zum Himmel ein."

So geschah 's. Der Bischof schrieb,
und nun hat ihn wieder lieb
Der Minister Romanones.
Ach! Der Herr im Himmel lohn es!
Bischof ist nun sündenrein,
Denn aus seinem Herzensschrein
Zwietracht, Hass und Hoffahrt stahl er.

Wer 's nicht glaubt, zahlt einen Taler.

1 Tuy (Pontevedra) in Galicien am Fluss Miño

² Valeriano Menéndez y Conde (1848 - 1916) (Bischof von Tuy 1894–1914) (auch Erzbischof von Valencia)

³ Álvaro de Figueroa y Torres-Sotomayor, Conde de Romanones (1863 - 1950): Minister für Gnadengesuche und Justiz (Ministro de Gracia y Justicia) 6. Juli 1906 bis 30. November 1906

4 fatiguiert von französisch fatigue: Müdigkeit, Erschöpfung


Geistliches Bummellied. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 46. -- 1. Beiblatt. -- 1906-11-18

(Melodie: Studio auf einer Reis1)

(Nach einer Mitteilung der "Italia" sollen künftig die in Rom weilenden auswärtigen Priester nicht mehr möbliert wohnen, sondern eine geistliche Anstalt aufsuchen.)

Pfäffelein auf einer Reis - jumheidi, jumheida -
Ganz famos zu leben weiß - jumheidi, heida!
Kommt 's zur Ewgen Stadt herein,
Mietet es möbliert sich ein.
Jumheidi, heida, heida - jumheidi, heida!

Haust wie n fahrender Scholar - jumheidi, jumheida -
Dort mit Ketzern, Malern gar - jumheidi, heida -
Und, vergessend Tod und Höll,
Schäkert 's gar mit dem Modell.
Jumheidi, heida, heida usw.

Speist es in der Trattorie - jumheidi, jumheida -
Trinkt 's Falernerwein wie nie - jumheidi, heida -
Und statt Messe und Choral
Singt es flott beim Bacchanal:
Jumheidi, heida, heida usw.

Abends wenn die Vesper klang, jumheidi, jumheida -
Schleicht den Korso es entlang - jumheidi, heida -
Wo 's dann endet, weiß man nie -
Donnerwetter, Paraplü!
Jumheidi, heida, heida usw.

Darum sperrt das Pfäffelein - jumheidi, jumheida -
Künftig in ein Kloster ein - jumheidi, heida.
Dann bleibt 's fein bei dem Brevier
Und wird einst der Kirche Zier.
Jumheidi, heida, heida - jumheidi, heida!

1 Das Urbummellied - Carmen studiosi vagantis. Melodie: Carl Maria von Weber

1. Studio auf einer Reis',
Juchheidi, juchheida,
Ganz famos zu leben weiß,
Juchheidi, heida!
Immer fort durch Dick und Dünn
Schlendert er durch's Dasein hin.
|: Juchheidi, heidi, heida,
   Juchheidi, heida! :|

2. Hat der Studio auch kein Geld,
Juchheidi, juchheida,
Ist er drum nicht schlecht bestellt,
Juchheidi, heida!
Manches feinste Pfäffelein,
Ladet ihn zum Frühstück ein
|: Juchheidi, heidi, heida,
   Juchheidi, heida! :|

3. Kehren wir in's Wirtshaus ein,
Juchheidi, juchheida,
Trinken wir stets Bier und Wein.
Juchheidi, heida!
Alle Mädel für uns glühn,
Denn wir tragen schwartz-blau-grün
|: Juchheidi, heidi, heida,
   Juchheidi, heida! :|

4. Bayrisch Bier und Leberwurst,
Juchheidi, juchheida,
Und ein Kind mit voller Brust,
Juchheidi, heida!
Und ein Glas Crambambuli,
Donnerwetter Paraplui!
|: Juchheidi, heidi, heida,
   Juchheidi, heida! :|

Melodie des Urbummelliedes

[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/studioau.html. -- Zugriff am 2010-01-08]



Abb.: Ernst Retemeyer: Der Kampf mit dem "Pfaffner"1.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 50. -- S. 200. -- 1906-12-16

Der Michel sprengt heran
Gar wild und ungestüm,
Indes das ficht nicht an
Das falsche Ungetüm.

Es schmerzt der Lanze Stich
Nur für den Augenblick
Den Drachen sicherlich;
Sein Fell ist viel zu dick.

Er lächelt stillvergnügt
In sicherem Triumph:
Bald ist der Held besiegt
Und Zentrum wieder Trumpf!

1 "Pfaffner": Anspielung auf Fafner, populär durch Richard Wagners "Ring des Nibelungen"

"Fáfnir, nach der nordischen Heldensage Bruder des Otr (s.d.) und des Regin und Sohn des Zauberers Hreidmar; er geriet mit diesem nach Otrs Tode durch Odin über dessen Sühngeld in Streit und erschlug ihn; seinen Mitschuldigen Regin aber, der einen Teil des Goldes begehrte, zwang er zur Flucht, zog mit seinem Schatz zur Gnitaheide und bewachte ihn in Gestalt eines Drachen. Regin, der inzwischen der Erzieher des Sigurd (Siegfried) geworden war, überredete diesen, sich durch Tötung Fafnirs in den Besitz des Hortes zu setzen, und schmiedete ihm das Schwert Gram. Mit diesem erstach Sigurd den F., der ihn sterbend mit dem auf dem Schatze ruhenden Fluche bekannt machte (s. ð Andwaranaut); darauf tötete Sigurd auch den Regin, vor dem ihn weissagende Vögel gewarnt hatten, und bemächtigte sich des Hortes. Von dieser Begebenheit nennen die Dichter das Gold »Fafnirs Lager«, Sigurd aber erhielt den Beinamen Fafnirstöter (Fáfnisbani). Abweichend ist die Erzählung im Heldenbuch."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]



Abb.: A. J.: "Papa" Lear und seine Töchter.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 59, Nr. 51. -- 1. Beiblatt. -- 1906-12-23

Heiliger Vater! O Genesung, gib
Heilkräfte meinen Lippen; dieser Kuss
Lindre den grimmen Schmerz, mit dem die Schwestern
Dein Alter kränkten!

(Frei nach Shakespeare1)

Erläuterungen: Bezieht sich auf die Abwendung Frankreichs und Spaniens vom pfäffisch dominierten Staat.

1 William Shakespeare: König Lear (um 1605), 4. Aufzug, 7. Szene:

CORDELIA.

Mein teurer Vater! O Genesung, gib
Heilkräfte meinen Lippen; dieser Kuss
Lindre den grimmen Schmerz, mit dem die Schwestern
Dein Alter kränkten!


1907



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Der neue Zauberlehrling1.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 2. -- 3. Beiblatt. -- 1907-01-13

"Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd ich nun nicht los!"²

1 Konrad Heinrich Gustav von Studt (1838 - 1921): 1899-1907 preußischer Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten

² Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832): Der Zauberlehrling, Ballade (1827)



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Ballestrem1 als Herbergsvater.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 3. -- S. 10. -- 1907-01-20

Graf von Ballestrem beabsichtigt in Ruda (Oberschlesien) eine Herberge für durchreisende Jesuiten zu gründen. Zeitungsnachricht.

Der Herbergswirt: Lasst es euch hier wohl sein und langt ordentlich zu! Die Zeche wird, denke ich, Frau Germania bezahlen.

1 Franz Graf von Ballestrem (1834 - 1910)

"Ballestrem, Franz, Graf von, Reichstagsabgeordneter, geb. 5. Sept. 1834 zu Plawniowitz in Oberschlesien, wurde auf geistlichen Lehranstalten, zuletzt in Namur, gebildet, besuchte 1853–55 die Universität Lüttich und wurde 1855 Offizier. Nachdem er den Krieg von 1866 als Premierleutnant mitgemacht, wurde er 1867 Rittmeister und Eskadronschef und im Kriege gegen Frankreich 1870 erster Adjutant der 2. Kavalleriedivision (Graf Stolberg). Infolge eines Sturzes invalid geworden, ließ er sich 1872 in den Reichstag wählen und schloss sich der Zentrumspartei an. Er nahm an den Kulturkampfverhandlungen lebhaften Anteil und gehörte nach deren Beendigung zum konservativen Teil des Zentrums. 1890 wurde er zum ersten Vizepräsidenten des Reichstags und 1891 auch zum Mitgliede des preußischen Abgeordnetenhauses gewählt. Er ließ sich, weil er im Gegensatze zur Zentrumsmehrheit für die Militärvorlage gestimmt hatte, nach der Auflösung des Reichstags nicht wieder als Kandidat aufstellen, blieb aber Mitglied des Abgeordnetenhauses. 1898 wieder gewählt, ist er seit 7. Dez. d. I. Präsident des deutschen Reichstages. Schon seit 1873 päpstlicher Geheimer Kämmerer di spada e cappa, ward ihm 18. Juli 1900 wegen seiner Verdienste um das Zustandebringen der Flottenvorlage der Charakter als preußischer Wirklicher Geheimer Rat zu teil."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

² heute Ruda Śląska


Der Papstes Klage. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 3. -- S. 11. -- 1907-01-20

Der Papst sieht schwarz im Vatikan,
Sein Vaterherz ist tief bekümmert.
Er seufzt: Wie hat der Menschenwahn,
Ach, unsre Lage doch verschlimmert!
Die Völker selbst, die allezeit
Der Kirche treuste Söhne waren,
Sie liegen jetzt mit ihr im Streit
Und zerren frech sie an den Haaren.

Frankreich gehört jetzt auf den Mist,
Der Schinder hol es, Gott verzeih uns!
Dort wütet ja der Antichrist,
Der Beelzebub, der Gottseibeiuns.
Und Spanien, sonst des Glaubens Hut,
Das Heimatland der frömmsten Seelen,
Das fängt jetzt auch im Übermut
Zu bocken an und zu krakeelen.

In Östreich auch am Stefansdom
Tobt eine teuflische Bewegung.
Sie nennt sich selber "Los von Rom".
Welch ekelhafte Sündenregung!
Selbst Bülow1, der sonst für uns stritt,
Bei dem auch ich war wohl gelitten,
Hat unser Tischtuch und damit,
Ach, auch mein Herz entzweigeschnitten.

Was Spanien oder Frankreich tut,
Ach Gott, das ist mir ziemlich schnuppe.
Doch Preußen war mein liebstes Gut,
War unsere Elitetruppe.
O Unglück, jetzt verlassen mich
Selbst meine Protestantenherden.
Wär ich nicht Papst, so riefe ich:
Das ist ja zum Katholischwerden!

1 Bernhard Fürst von Bülow (1849 - 1929): Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident



Abb.: Gustav Brandt <1861-1919>: Die machtvolle Wirkung der päpstlichen Enzyklika1.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 4. -- 2. Beiblatt. -- 1907-01-27

"Halt! Oder" . . .
""Oder!""

1 Am 11. Januar 2007 wird die vom 6. Januar datierte Enzyklika "Une Fois Encore" veröffentlicht, in der Papst Pius X. die französische Regierung unter Ministerpräsident Clemenceau beschuldigt, einen Krieg gegen die katholische Kirche zu führen.



Abb.: Titelblatt.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 5 (Karneval). -- S. 17. -- 1907-02-03



Abb.: Arthur Krüger: Ein wunderliches Paar.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 6. -- 3. Beiblatt. -- 1907-02-10

"Wir halten fest und treu zusammen!"

Erläuterung: Bei den Reichstagswahlen im Januar 1907 hatten sich Zentrumspartei und Sozialdemokraten gegenseitig Hilfe geleistet.


In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 8. -- 1. Beiblatt. -- 1907-02-24

Ein Jesuitenpater Wasmann1
Erklärte den Berlinern, dass man
Als Mensch nicht von den Affen stammt.
O Jesuitenpater Wasmann,
Kennst du die Menschen insgesamt?

1 Erich Wasmann SJ (1859 - 1931): Zoologe


"Hic niger est"1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 8. -- 2. Beiblatt. -- 1907-02-24

Deutschland, wirst nicht anders können,
Lass dich künftig "Schwarzburg" nennen;
Auf die Berge kannst verteilen
Du von nun ab Windthorstsäulen²;
Statt der Pfannen setz auf diese
Gut geheizt den Ketzerofen,
Und zur Reichshauptstadt erkiese
Dir das brave Pfaffenhofen!

1 Hic niger est (hunc tu, Romane, cavēto)! »Dieser ist schwarz«, d. h. ein Bösewicht (»vor diesem, Römer, nimm dich in acht!«), Zitat aus Horaz' Satiren (I, 4, 85).

Bei der Reichstagswahl vom 25. Januar 1907 hat das Zentrum 105 Sitze gewonnen und ist damit die stärkste Fraktion.

² Ludwig Windthorst (1812 bis 1891): katholischer Kulturkämpfer und Zentrumspolitiker. Windthorstsäulen statt der Bismarcksäulen / Bismarcktürme


Abb.: Bismarck-Säule der Studentenschaft Hannover, Postkarte um 1910


Ein wahres Wort. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 9. -- S. 34. -- 1907-03-03

Seht her: "Wir sind der ruhende Pol
In der Erscheinungen Flucht."
So sprach Herr Spahn1 mit Wucht.
Und wirklich: Recht hat er auch wohl,
Ruh ist den Römlingen ja Ziel und Zweck
Und war es stets: wie auch die Jahre schwanden,
Sie stehn noch immer auf demselben Fleck,
Wo sie vor sechs Jahrhunderten gestanden!

1 Peter Spahn (1846 - 1925): 1884-1917 Zentrums-Abgeordneter im Deutschen Reichstag



Abb.: Häckel1 und Wasmann2.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 10. -- S. 38. -- 1907-03-10

H[äckel]. Ja, Verehrtester, bei Gebrauch dieser Lupe wird Ihnen das Kreuz wohl immer hinderlich sein.

1 Ernst Haeckel (1834 - 1919): Zoologe

"Haeckel, Ernst, Naturforscher, geb. 16. Febr. 1834 in Potsdam, studierte seit 1852 Medizin und Naturwissenschaften in Würzburg, Berlin und Wien, ließ sich für kurze Zeit als Arzt in Berlin nieder und widmete sich bald ausschließlich den Naturwissenschaften. Von seinem Lehrer Johannes Müller zum Studium der niedern Meerestiere angeregt, untersuchte er die Mittelmeerfauna 1859 und 1860 in Neapel und Messina, habilitierte sich auf Betreiben seines Freundes K. Gegenbaur 1861 als Privatdozent der Zoologie in Jena und erhielt 1862 die außerordentliche und 1865 die ordentliche Professur der Zoologie daselbst. Größere wissenschaftliche Reisen unternahm er nach Lissabon, Madeira, Teneriffa, Gibraltar, nach Norwegen, Syrien und Ägypten, nach Korsika, Sardinien, Ceylon, Algerien, Russland, Java, Sumatra. H. schloss sich bereits 1863 als einer der ersten Fachgelehrten Deutschlands rückhaltlos der Darwinschen Lehre an und gab ihr schon 1866 in seiner »Generellen Morphologie« jenen konsequenten Aus- und Durchbau, der sie erst zu einem wissenschaftlichen System erhob. In der Würdigung sowohl der untersten Stufen des Lebens (Moneren) als in der Einbeziehung des Menschen und in der innern Durcharbeitung des Beweismaterials wirkte er bahnbrechend. Zu diesen Zwecken hat H. eine große Anzahl systematischer Bearbeitungen einzelner Tierklassen, wie der Moneren, Radiolarien, Kalkschwämme, gewisser Korallengruppen, der Medusen und Röhrenquallen durchgeführt; seine große Bedeutung liegt aber nicht sowohl in seiner glücklichen Beobachtungsgabe als in dem Vorwiegen eines spekulativen Zuges, der ihn vor unbewiesenen Schlüssen nicht zurückschrecken ließ, falls sie ihm nur logisch erschienen. Haeckels wichtigste Lehre ist die von der durchgreifenden Bedeutung der Entwickelungsgeschichte des Einzelwesens für die Aufhellung seiner Stammesgeschichte, indem er erstere als eine abgekürzte Wiederholung der letztern betrachtet. Es ist dies das von ihm formulierte biogenetische Grundgesetz, aus dem er die vielfach mißverstandene Störungsgeschichte (Cenogenesis) und die vielumstrittene Gasträa- Theorie (s. ð Entwickelungsgeschichte, S. 845) ableitete. Er hat Stammbäume der einzelnen Tier- und Pflanzenabteilungen bis in ihre Familien hinein ausgeführt, die als Forschungsprogramme zu betrachten sind und mehr als einmal glänzende Bestätigung erfahren haben. Haeckels Versuche, die ganze lebende Welt unter Einen Gesichtspunkt zu sammeln, seine freimütige Art, das als richtig Erkannte auch offen zu bekennen, haben viele Gegner und noch mehr begeisterte Anhänger gefunden, von denen einige zur Förderung der von ihm vertretenen Forschungsrichtung bedeutende Geldmittel zur Verfügung stellten (Ritterstiftung). Der letztern großen Mehrheit gilt H. nächst Darwin als der hervorragendste Forscher auf dem Gebiet des Darwinismus. In seinen Welträtseln (s. unten) gab er das Programm einer Weltanschauung, die nur kausale Zusammenhänge anerkennt, jede teleologische Betrachtungsweise schroff ablehnt, die Idee einer persönlichen Unsterblichkeit und »sittlichen Weltordnung« entschieden verwirft, gleichzeitig aber die Schönheit der Natur preist und den Menschen zu einer selbstlosen Hingabe an das »Schöne, Gute, Wahre« erziehen will. Vom neuern Materialismus unterscheidet sich Haeckels Lehre durch ihre Betonung der Empfindung als einer ursprünglichen Grundeigenschaft der Materie. "

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

² Erich Wasmann (1859 - 1931): Jesuit und Zoologe. Wegen seiner Erforschung von Ameisen und Termiten wurde er "Ameisenpater" genannt.



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Eine unbequeme Lage.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 10. -- 1. Beiblatt. -- 1907-03-10

"Runtergerissen hätten wir ihn, aber . . . wenn wir ihm nun einen anderen Platz geben könnten, wäre es auch nicht übel!"

Erläuterung: Bezieht sich auf die Durchführung der Trennung von Staat und Kirche in Frankreich.

Georges Benjamin Clemenceau (1841 - 1929): französischer Ministerpräsident 1906 - 1909

Aristide Briand (1862 - 1932): als Minister für Kultus und Unterricht zuständig für die Durchführung des Trennungsgesetzes gegen den Widerstand katholischer Bevölkerungskreise


Für den Papst. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 14. -- S. 53. -- 1907-04-07

Es wird nicht leicht mir, es zu sagen,
Dass schlecht es ist um Rom bestellt.
Der Papst, so hörte dort ich klagen,
Lebt nicht mehr herrlich in der Welt.
Schon lange bringt nur wenig Heller
Sein doch so schweres Amt ihm ein,
Und in des Vatikanes Keller
Liegt nicht der allerbeste Wein.

Der Ablass bracht einst Geld in Haufen,
Als Tetzel ist dafür gereist,
Heut aber will ihn keiner kaufen,
So nützlich auch er sich erweist.
Selbst fromme Schwarze sieht man wandeln
Auf Wegen, die nicht löblich mehr,
Doch ohne Ablass  zu erhandeln
Nachher sich oder auch vorher.

Der Peterspfennig, der vor Zeiten
Dem Papst so reichlich ward verehrt,
Wird leider - niemand kann 's bestreiten -
Ihm jetzt nur selten noch beschert.
Ein jeder denkt: "Ich fahre billger,
Wenn ich in diesem Punkte spar;
Nicht oft mehr bringt dem Papst ein Pilger
Den so wilkkommnen Pfennig dar.

So sind die Herrn vom Zentrum: prahlen
Ja tun sie, sind im Reden stark,
Doch wenn es gilt, etwas zu zahlen,
Drehn dreimal sie herum die Mark.
Gern auf sich selbst sie Geld verwenden
Und trinken allerbesten Wein,
Jedoch dem Papst etwas zu spenden,
Fällt auch im Traum nicht ihnen ein.

O Lutheraner, Protestanten
Und sonst Ungläubge ihr im Reich,
Zeigt denen, die euch oft verkannten,
Dass ihr nicht ganz seid ihnen gleich.
Wollt, dass ihr christlich denkt, beweisen
Dem ärmsten Mann am Tiberstrom
Und lasst den Sammelteller kreisen
Für den bedrängten Papst in Rom!


Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 14. -- 3. Beiblatt. -- 1907-04-07

Wenn der Herr Pfarrer flucht jenen Schlimmen,
Die sündhaft gegen das Zentrum stimmen,
Wenn er der Hölle Feuer und Schwefel
Androht für diesen schrecklichen Frevel,
Das ist selbstlose Philanthropie.
Doch wenn die Ketzer, die Liberalen,
Aufrufe erlassen vor den Wahlen,
So ruft von des Parlamentes Brüstung
Das Zentrum in sittlicher Entrüstung:
Welch skrupellose Demagogie!


Frommer Wunsch. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 16. -- S. 62. -- 1907-04-21

Am Rathaus zu Friedrichshafen
Da sitzen der Putten zwei,
Die ließen so manchen nicht schlafen,
Dieweil er was fand dabei.

Am Rathaus zu Friedrichshafen
Die kleinen Putten sind nackt,
Zur Freude drum aller Braven
Ward ihnen was abgehackt.

Am Rathaus zu Friedrichshafen
Die Putten sind "sittlich" nun;
Der Fromme mag ruhig schlafen,
Er kann in Züchten ruhn.

Am Rathaus zu Friedrichshafen
Die Putten lehren euch das:
Macht 's nach, ihr Frommen und Braven,
Und hackt euch ab etwas,

Dann werdet ihr selig schlafen
In heiliger Ehrbarkeit -
Nicht wahr: in Friedrichshafen
Da ist man bald so weit?



Abb.: Es ward Miss Allans1 Probetanz Der Polizei ein Lobetanz.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 17. -- S. 66. -- 1907-04-28

Chorus: "Herrlich! Berauschend! Hinreißend! Entzückend! Reizend! Bezaubernd! Köstlich! Himmlisch! -- -- Aber nichts für die Menge! Kaviar fürs Volk! Das Schamgefühl gröblich verletzend! Empörend! Einfach gemein!"

1 Maud Allan, geborene Beulah Maude Durrant (1873 - 1956): kanadisch-amerikanische Tänzerin. Ein Engagement im Münchner Schauspielhaus kam aufgrund der Zensur nur als geschlossene Veranstaltung zustande.


Abb.: Maud Allan als Salome
[Bildquelle: Wikipedia. -- Public domain]



Abb.: Ein Jahrzehnt <Ausschnitt>
.-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 18. -- S. 70. -- 1907-05-05

Auch in Frankreich war schon lange
Manchen Leuten etwas bange,
Die da von der Geistlichkeit;
Und mit ihrer Herrlichkeit
War es denn auch bald vorbei,
Ja man warf die Klerisei,
Zweifelnd frech an ihrem Zweck,
Einfach vor die Tür, o Schreck!



Abb.: Arthur Krüger: Zum 60. Geburtstag [des Kladderadatsch]
.-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 18. -- 3. Beiblatt. -- 1907-05-05

Die Gratulanten: Na, nun wollen wir uns endlich einmal vertragen; wir wünschen die alles, was du uns wünschest!
Das Geburtstagskind: Fangt ihr schon wieder an?
(Nach einer alten Anekdote)


Wacker Gegacker. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 18. -- 3. Beiblatt. -- 1907-05-05

Nun ist 's heraus: "Der schlaue Racker,
Der Dernburg1", schreibt das Pfäöfflein Wacker²,
"Ist nur ein Logenprotegé,
daher kam so er in die Höh.
Freimaurer ist er selbst, o Graus,
Und also nur ein Teufelsbraten,
Und dabei soll uns nicht ne Laus
Auf unsre Leber mal geraten?
Denn wir sind fromme Gotteskinder,
Die Maurer aber, die sind Sünder,
Und diese Maurerei - o weh -
Wir Mode jetzt so peu à peu
In hohen und in höchsten Kreisen.
Das will ich klipp und klar beweisen.
In Darmstadt, woher Dernburg kam,
Hat man ein Stück, das ganz infam,
Dem deutschen Kaiser vorgeführt -
Und der hat gar sich amüsiert.
"Die Brüder vom St. Bernhard"³ heißt es
Und jeder fromme Mann verreißt es.
In Zukunft, guter Ludwig Ernst4,
Gib acht, dass du dich nicht entfernst
Vom Pfade reiner, hoher Tugend;
Du hältst zu sehr es mit der Jugend.
Geh in dich, werde Katholik
Und lasse nimmermehr solch Stück
Aufführen auf dem Hoftheater!
Du aber, Kaiser, gib wohl acht,
Dass es dir kein Vergnügen macht!
Sonst ärgerst du den heilgen Vater."
So kündet zornig mit Gegacker
Der gute Pfaff in Baden, Wacker.
Na ja, er ist ein frommer - Katholik.

1 Bernhard Dernburg (1865 in Darmstadt - 1937): 1906 Direktor der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt, 1907 erster Staatssekretär des neugegründeten Kolonialamtes.

² Theodor Wacker (1845 - 1921): Pfarrer. 1888 Vorsitzender des Badischen Zentrums, 1891 Fraktionsvorsitzender in der Zweiten Kammer der Badischen Landstände, 1903 gab er das Landtagsmandat ab, behielt jedoch die Parteiführung bis 1917

³ Die Brüder vom St. Bernhard: gegen den Ultramontanismus gerichtetes Theaterstück (1905) von Anton Ohorn (1846 - 1924). Ohorn trat 1865 in den Prämonstratenserorden ein und  empfing 1870 die Priesterweihe. Er trat zum evangelischen Glauben über und war seit 1877 Prof. der deutschen Literatur an der kgl. Gewerbeschule in Chemnitz. Ohorn schrieb zahlreiche Werke mit zunehmend deutsch-nationaler und monarchistischer Tendenz. 1918 erschien sein autobiographisches Werk Aus Kloster und Welt. Das Buch meines Lebens.

4 Ernst Ludwig (1868 - 1937): von 1892 bis 1918 Großherzog von Hessen und bei Rhein.



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Bühne und Politik.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 19. -- S. 76. -- 1907-05-12

Seitdem in gewissen Kreisen der Auswahl der Theaterstücke, die der Kaiser besucht, politische Bedeutung beigelegt wird, sollen die Theaterzettel auf dem Schlosse wie eine Fahne aufgezogen werden und so den Interessenten die bevorzugten Stücke avisieren. Ohorns "Brüder von St. Bernhard"1 wurden mit einigem Missbehagen aufgenommen.

1 siehe oben!


Wunderbare Wissenschaft. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 19. -- 1. Beiblatt. -- 1907-05-12

Pater Wasmann1 will als freier
Forscher gelten, dessen Schlüssen
Selbst die Zweifel und die Schreier
Anerkennung schenken müssen.
Er bekennt sich "in gewissen
Grenzen" ohne Scheu und Schwanken
Immer lern- und lehrbeflissen
Zum Entwickelungsgedanken;
Und er weiß zugleich voll hehren
Eifers allen Patenpflichten
Nachzukommen und vom schweren
Bruch des Schenkels zu berichten,
Der der Ärzte Kunst zum Scheitern
Brachte und erst später heilte,
Als der Kranke mit Begleitern
Fromm zum Wunderwasser eilte . . .
So versucht der vielgelehrte
Pater allen zu genügen,
Und der noch nicht ganz bekehrte
Zweifler muss dem Zwang sich fügen
Und als früherer Bekunder
Gegnerischer Meinung sagen,
Dass sich Wissenschaft und Wunder
Diesmal "wunderbar" vertragen!

1 Erich Wasmann (1859 - 1931): Jesuit und Zoologe. Wegen seiner Erforschung von Ameisen und Termiten wurde er "Ameisenpater" genannt.


Abb.: P. Erich Wasmann SJ
[Bildquelle: Wikipedia. -- Public domain]


Ultramontane Stimmen. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 19. -- 2. Beiblatt. -- 1907-05-12

Die Freimaurer haben es alles getan,
Wir klagen sie laut und öffentlich an!
Sie haben den Dernburg1 ins Amt gesetzt
Und auf den frommen Roeren2 gehetzt,
Sie haben Erzbergers³ Stolz geknickt
Und den Zentrumsreichstag nachhause geschickt,
Sie schreiben dem Kaiser - es ist zu toll -
Die Stücke vor, die er hören soll4,
Sie sind sogar - uns reißt die Geduld! -
An unsrer eignen Borniertheit schuld!

1 Bernhard Dernburg (1865 in Darmstadt - 1937): 1906 Direktor der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt, 1907 erster Staatssekretär des neugegründeten Kolonialamtes.

² Hermann Roeren (1844 - 1920): Zentrumspolitiker, 1893 - 1912 Abgeordneter im Reichstag

³ Matthias Erzberger (1875 - 1921): seit 1903 Zentrumsabgeordneter im Reichstag



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Wandlungen im Kaufhaus des "Westens".
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 20. -- 1. Beiblatt. -- 1907-05-19

"Wir müssen eben abwarten, lieber Bruder! Nach der "roten Woche" wird auch wieder eine "schwarze" kommen!"


Schamlosigkeit.  -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 23. -- 1. Beiblatt. -- 1907-06-09

In einer bayerischen Bischofsstadt schalt der Religionslehrer einer Mittelschule zwei Knaben, von denen der eine Wadenstrümpfe, der andere eine vorn offene Matrosenbluse trug. Sie hätten, sagte er, durch ihren schamlosen Anzug ihre und ihrer Mitschüler Ehre verletzt.

Hört, o hört die grausige Geschichte,
Die sich neulich zugetragen hat.
Publikum, verhülle dein Gesichte,
Denn es war in einer Bischofsstadt!

Dorten gab ein frommer Diener Gottes
In der Mittelschule Religion.
Aber eine Ausgeburt des Spottes
Waren zweie dort als Knaben schon.

Wie Matrosen tragen ihre Blusen
Trug sie einer, Wadenstrümpf der andere.
Nackigt war beim ersteren der Busen,
Und beim letzteren die Waden. Weh!

Ach, der fromme Priester litt da Schaden,
Und befleckt war seiner Unschuld Kleid,
Weil er gleich an nackte Busen, respektive Waden
Denken musste bei der Weiblichkeit.

So wie diesem geht es jedem Frommen.
Diese beiden Knaben sind dran schuld,
Dass ihm solche sündigen Gedanken kommen,
Und da reißt ihm freilich die Geduld.

Und das Herz erbebte ihm im Zorne,
Dass er zu den frechen Knaben schrie:
"Weh! der eine trägt die Sünde vorne,
Und der andere trägt hinten sie.

Pfui, ihr Teufelsbrut, ihr Sündenlümmel,
Wer nicht zugeknöpft ist bis zum hals,
Fährt zur Hölle und nicht in den Himmel,
Wer die Strümpfe kurz trägt, ebenfalls."

Ach, solange solche Männer walten
In dem Vaterlande, geht es schon.
Denn es heißt: man muss dem Volk erhalten,
Und zumal dem niedern, seine Religion.

Wer sein Leben diesem frommen Zwecke
Weiht, ist edel, sittlich, fromm und rein.
Aber wer sich sündlich wälzt in seinem Drecke,
Dieser war und ist und bleibt ein Schwein.


Dem armen Konrad von Studt1 zum Abschied.  -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 26. -- 2. Beiblatt. -- 1907-06-30

Stoßt an, Konrad soll leben! Hurra hoch!
Er herrschte von Königsberg mächtig bis Bonn,
Zuerst als Bürger, doch dann als Herr von,
Konrad ade, Konrad a. D.

Stoßt an, freies Wort lebe! Hurra hoch!
Das freie Wort liebt er platonisch gar sehr,
Doch sein Manuskript, das liebte er mehr.
Konrad ade, Konrad a. D.

Stoßt an, Schulkritik lebe! Hurra hoch!
Wie hat er die kritischen Lehrer geschätzt!
Er hat sie von Köln nach Palmnicken versetzt.
Konrad ade, Konrad a. D.

Stoßt an, Schulaufsicht lebe! Hurra hoch!
Die geistlichen Aufseher hat er geliebt,
Weil ihr Urteil durch keine Sachkunde getrübt.
Konrad ade, Konrad a. D.

Stoßt an, Mäßigkeit lebe! Hurra hoch!
Er  bremste und gab die Gehälter nur halb,
Dass die Lehrer nicht tanzen ums goldene Kalb.
Konrad ade, Konrad a. D.

Stoßt an, Lehrfreiheit lebe! Hurra hoch!
Wär er länger geblieben Minister im Land,
Hätt er zu Chirurgen nur Pfarrer ernannt.
Konrad ade, Konrad a. D.

Stoßt an, Feuer soll leben! Hurra hoch!
Er schützte die Feuerbestattung gewandt.
Wie gern hätt er ketzernde Pfarrer verbrannt!
Konrad ade, Konrad a. D.

Stoßt an, Stadtschule lebe! Hurra hoch!
Er schrieb ihnen vor gar väterlich nett,
Wer das Turnhaus benutzen dar und das Klosett.
Konrad ade, Konrad a. D.

Stoßt an, Ordenspracht lebe! Hurra hoch!
Er liebte die Orden mit inniger Lust,
Sowohl die im Kloster wie die auf der Brust.
Konrad ade, Konrad a. D.

Stoßt an, Freigeist soll leben! Hurra hoch!
Sobald am Dinertisch der Sektbecher kreist,
Da nannt er sich stolz den Minister vom Geist.
Konrad ade, Konrad a. D.

Stoßt an, Konrad soll leben! Hurra hoch!
Jetzt winkt dir die Ruhe, o welcher Genuss!
Nun geh in ein Kloster, Ophelius!
Konrad ade, Konrad a. D.

1 am 24. Juni 1907 trat der preußische Kultusminister Konrad von Studt (1838 - 1921) zurück. Er war vor allem von den Liberalen angegriffen worden, weil er sich der Ablösung der geistlichen Schulaufsicht durch eine Fachaufsicht widersetzte, die angemessene Besoldung der Volksschullehrer verhinderte und an den Universitäten die Orthodoxie bevorzugte.


Abb.: Konrad von Studt
[Bildquelle: Wikipedia. -- Public domain]

"Studt, Konrad Heinrich Gustav von, preuß. Staatsmann, geb. 5. Nov. 1838 in Schweidnitz, studierte die Rechte, trat 1859 in den Staatsjustizdienst, wurde 1865 Gerichtsassessor und 1868 Landrat des Kreises Obornik. 1876 als Hilfsarbeiter in das Ministerium des Innern berufen, wurde S. 1878 Geheimer Regierungsrat und vortragender Rat im Ministerium des Innern, 1882 Regierungspräsident in Königsberg, war 1887–89 Unterstaatssekretär in der elsaß-lothringischen Regierung, dann Oberpräsident von Westfalen und 1899–1907 als Nachfolger Bosses Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten. 1906 wurde er unter Verleihung des Schwarzen Adlerordens geadelt, bei der Entlassung wurde er lebenslängliches Mitglied des Herrenhauses. Er gab mit Braunbehrens die neuen Ausgaben von Brauchitsch' »Neuen preußischen Verwaltungsgesetzen« heraus."

 [Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Intervention oder Ein feiner Unterschied.
 -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 29. -- S. 116. -- 1907-07-21

 Das Denkmal für Schell1 soll vorläufig nicht enthüllt werden, da man sich an höchster Stelle erst darüber klar werden will, ob der Gefeierte der "Wissenschaftlichen Erforschung der Wahrheit" oder — der "Freiheit des Irrtums" gedient hat.

Erläuterung: Der Papst hat die Errichtung eine Denkmals für den 1906 verstorbenen Theologen Hermann Schell (1850 - 1906) getadelt. In der Karikatur hält der Papst in der Hand den Index monumentorum prohibitorum (Verzeichnis der verbotenen Denkmale), eine Satire auf den Index librorum prohibitorum (Verzeichnis der verbotenen Bücher), dem Dokument kirchlicher Zensur.

"Schell, Hermann, kath. Theolog, geb. 28. Febr. 1850 zu Freiburg i. Br., gest. 31. Mai 1906 in Würzburg, wo er seit 1884 als ordentlicher Professor der Apologetik und vergleichenden Religionswissenschaft wirkte. Durch seine Schriften: »Katholische Dogmatik« (Paderb. 1889-93, 3 Bde.) und »Die göttliche Wahrheit des Christentums« (das. 1895-96, 2 Bde.) hatte er sich bereits einen Namen gemacht, als er sich seit 1897 zuerst in der Universitätsrede: »Theologie und Universität« (2. Aufl., Würzb. 1899), dann in den Broschüren: »Der Katholizismus als Prinzip des Fortschritts« (7. Aufl., das. 1899) und »Die neue Zeit und der alte Glaube« (das. 1898) als Vertreter der Gedanken des Reformkatholizismus (s. d.) bekannte. Die Indexkongregation verurteilte 15. Dez. 1898 nicht nur die beiden Broschüren, sondern auch die dogmatischen Werke. Schell erkannte den Beschluss an. Später schrieb er außer Abhandlungen im »Türmer« und in der »Renaissance«: »Apologie des Christentums« (Bd. 1: »Religion und Offenbarung«, 1. u. 2. Aufl., Paderb. 1902; Bd. 2: »Jahwe und Christus«, das. 1905); »Das Christentum Christi« (Münch. 1902); »Christus. Das Evangelium und seine weltgeschichtliche Bedeutung« (Mainz 1903 u. ö.; Volksausg. 1906)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]


Der "Syllabus"1 in allen Fällen.  -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 31. -- 2. Beiblatt. -- 1907-08-04

"Hosannah!" ruft der Klerikus,
"Gesegnet sei der syllabus!"

Den kranken Zweifel heilet die
Gottgleiche Kraft des syllabi.

Und wer das Heil such, huldigt froh
Dem unfehlbaren syllabo.

Ihn stört kein Irrwahn mehr. Warum?
Er hat ja jetzt den syllabum.

Fest steht er da, den Blick zur Höh
Gekehrt, dank dir, o syllabe!

Zum Himmel einstesn comme il faut
Zieht ein er mit dem syllabo.

1 Am 3. Juli 1907 wurde das Dekret Lamentabili sane exitu des Sanctum Officium erlassen. Es verwirft 65 Glaubens-Irrtümer des sog. Reformkatholizismus (Modernismus). Das Dekret wurde  Kleiner Syllabus oder als Syllabus Pius' X. genannt, in Anlehnung an die Sammlung Syllabus Errorum (1863) von Papst Pius IX.



Abb.: Gustav Brandt <1861-1919>: Aus der "Deutschen Ausgabe" des Don Quixote, angekündigt in dem eben ausgegebenen ultramontanen Musterkatalog für Volksbibliotheken.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 31. -- 2. Beiblatt. -- 1907-08-04

Im Zimmer des Don Michel Quixote, der eben von seinem Ausritt gegen den Syllabus1 zurückgekehrt ist.

Der Geistliche: Mörike soll er nicht lesen, Scheffels Gaudeamus erst recht nicht; Fontane kann auch verbrannt werden, es steckt zuviel Logik darin.
Die Haushälterin: Maria von Ebner-Eschenbach tut ihm auch nicht gut.
Der Barbier: Aber Gräfin Ida Hahn-Hahn² kann er, soll er, muss er lesen.

1 Syllabus: siehe oben!

² Ida von Hahn-Hahn (1805 - 1880)

"Ida von Hahn-Hahn, eigentlich Ida Marie Louise Sophie Friederike Gustava Gräfin von Hahn (* 22. Juni 1805 in Tressow; † 12. Januar 1880 in Mainz) war eine deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin und Ordensgründerin. Sie entstammt dem Geschlecht der Grafen von Hahn und erhielt ihren Doppelnamen durch ihre von 1826 bis 1829 währende Ehe mit ihrem Vetter Friedrich von Hahn.

Leben

Ida von Hahn wurde als Tochter des „Theatergrafen“ Karl (Friedrich) Graf von Hahn-Neuhaus (1782–1857) und seiner Ehefrau Sophie geb. von Behr im Herrenhaus von Tressow (heute ein Ortsteil von Schwinkendorf) in der Mecklenburgischen Schweiz geboren. Sie war die Enkelin des Philosophen und Astronomen Friedrich von Hahn. Nach der Scheidung der Eltern (1809) zog sie mit ihrer Mutter und den Geschwistern nach Rostock, Neubrandenburg und Greifswald, wo sie in dürftigen Verhältnissen lebten.

Im Juli 1826 wurde sie von der Familie aus dynastischen Gründen mit ihrem Vetter, dem später als Pferdezüchter und Rennstallbesitzer bekannt gewordenen Friedrich (Wilhelm Adolph) Graf von Hahn (1804–1859) auf Schloss Basedow, verheiratet und kam so zu ihrem Doppelnamen. Die Ehe wurde bereits am 5. Februar 1829, einen Monat vor der Geburt ihrer geistig behinderten Tochter Antonie (1829-1856), geschieden. Die immer wieder behauptete Existenz eines Sohnes mit ihrem Lebens- und Reisegefährten Adolf Baron Bystram, der 1830 geboren und ebenso wie die Tochter aus ihrer Ehe in Pflege gegeben worden sei, lässt sich nicht nachweisen; weder in den mehr als 1000 Briefen von ihr und an sie, noch sonstwo. In ihrem Buch „Jenseits der Berge“ (Leipzig 1840, 2. Teil) erwähnt sie vielmehr „mein einziges Kind“ (S. 320) und bekennt erleichtert: „Wol mir, daß ich keinen Sohn habe!“ (S. 187). 1836 hatte Ida Hahn-Hahn eine kurze Liaison mit dem späteren Reichsregenten Heinrich Simon.

Nach der Scheidung führte sie ein unstetes Wanderleben zwischen Berlin, Dresden, Greifswald, Wien und Gut Neuhaus (Giekau). Mit Bystram unternahm sie weite Reisen, die sie nach Frankreich, Italien und in den Orient führten. Nach Bystrams Tod 1849 konvertierte Ida Hahn-Hahn zum Katholizismus, lebte ab 1852/53 vier Monate in einem französischen Kloster in Angers und gründete 1854 in Mainz das Kloster Vom Guten Hirten, das sie unterhielt und in dem sie von 1854 bis zu ihrem Tod auch wohnte. Ihr Grab ist auf dem Mainzer Hauptfriedhof.

Ida Gräfin Hahn-Hahn galt als eine der meistgelesenen Autorinnen ihrer Zeit. Sie erfuhr Anerkennung von Literaten wie Keller, Eichendorff und Fontane, aber auch Ablehnung: Ihre manierierte und mit Fremdwörtern gespickte Erzählweise wurde persifliert – so v. a. von ihrer Konkurrentin Fanny Lewald – und ihre elitäre aristokratische Haltung kritisiert. Zahlreiche chauvinistische Äußerungen über Türken und Arabern, ebenso wie ein mehrmals sich manifestierender offener Rassismus (erkennbar z. B. in ihren Schilderungen von Negersklavinnen in den Orientalischen Briefen) machen ihre abenteuerlichen Reiseberichte über den Orient aus heutiger Sicht zu einem fragwürdigen Lesevergnügen. Andererseits steht diesen Ansichten jedoch eine immer wieder betonte und angemahnte religiöse Toleranz in Bezug auf "Mohammedaner" und Juden gegenüber, und es macht sich zumindest der prinzipielle Wille der Autorin bemerkbar, auf die als fremd empfundenen Sitten und Gebräuche des Orients einzugehen.

Die Werke Ida Hahn-Hahn's wurden seit 1844 in sieben fremde Sprachen übersetzt: ins Englische, Französische, Italienische, Niederländische, Polnische, Russische und Schwedische. Insgesamt sind bisher 24 Übersetzer nachgewiesen.

Ida Hahn-Hahns Nachlass umfasst rd. 730 Autographeneinheiten, bestehend aus rd. 520 Briefen von ihr und mehr als 180 Briefen an sie sowie Buch- und Gedichtmanuskripten, und liegt seit 2006/2007 im Fritz Reuter Literaturarchiv Hans-Joachim Griephan Berlin, das auch eine Kartei der Briefe von und an Ida Hahn-Hahn führt. Der Bestand enthält Brieffolgen von einzigartiger Fülle zum Leben und Werk, darunter auch die 1844/1845 geführte Korrespondenz mit Hermann Fürst von Pückler-Muskau."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Hahn-Hahn. -- Zugriff am 2010-01-09]


Kapuzinerpredigt am Wannsee. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 34. -- 1. Beiblatt. -- 1907-08-25

Potztausend! Kreuzdividomini!
Was seh ich? Quid vident oculi?1
Splitternackte menschliche Leiber
Und bunt durcheinander Männer und Weiber
Und ein Treiben, als ob es bei allen rappelt?
Das planscht und spritzt und lacht und zappelt
Und amüsiert sich mit vielen Witzen
Und sieht nicht den Satan am Ufer sitzen!
O weh! Wieviel von den blanken Fischen
Wird der listige Angler erwischen!
Er setzt sie zu seinem Gaudium
Dann in sein geheiztes Aquarium:
Da mögen sie weiter planschen und plappern,
Doch unter Heulen und Zähneklappern!

Wie glücklich sind die, die mit Krätze und Grind,
Mit Schwären und Aussatz gesegnet sind,
Und die sich deswegen wie ich genieren,
Im bloßen Fell umherzuspazieren!
O locus vanus, vanitatis², Wannsee,
Wenn ich das schamlose Unwesen anseh,
So möcht ich mit Ruten dazwischenheuen
Und zu Paaren treiben die Männer und Frauen,
Nicht eine der kichernden Schwimmerinnen
Da draußen sollte mir entrinnen!
Doch ach, erhöb ich nur den Arm,
So arretierte mich der Gendarm,
Der den heillosen Unfug stundenlang sieht
Und nicht einmal die Miene verzieht.
Ja, so ist 's heute! Den Frechen leiht
Den schützenden Arm die Obrigkeit
Und sieht gelassen zu, wie die Frommen
In höllische Versuchung kommen!
Das sind die Früchte der Freigeisterei!
O Sancte Antoni, steh mir bei!

So geht es nicht weiter, das kann nicht dauern!
Auch seh ich den Satan schon lüstern lauern,
Die Zähne wetzen und grunzen und spucken,
Um den Wannsee mit Mann und Maus zu verschlucken!

Dergleichen sieht nun ein frommer Mann
Sich gern einmal mit Augen an;
Drum wundert euch nicht, wenn ich alle Tage
Herkomme und euch mein Sprüchlein sage.
Ich komme ja nur, um mit andächtgem Graun
Das große Loch in die Erde zu schaun,
Das die Rotte Korah³ verschlungen hat
Und euch verschlingt! - Gesegnetes Bad!


Abb.: Heinrich Zille (1858-1929): Berliner Strandleben, 1901
[Bildquelle: Wikipedia. -- Public domain]

1 quid vident oculi (lateinisch) = was sehen meine Augen

² o locus vanus, vanitatis (lateinisch) = o eitler Ort, der Eitelkeit

³ Korah = Korach (קרח‎)

Numeri 16: "Und als er diese Worte hatte alle ausgeredet, zerriß die Erde unter ihnen und tat ihren Mund auf und verschlang sie mit ihren Häusern, mit allen Menschen, die bei Korah waren, und mit aller ihrer Habe; und sie fuhren hinunter lebendig in die Hölle mit allem, was sie hatten, und die Erde deckte sie zu, und kamen um aus der Gemeinde." 

"Korah (hebr. Korach), Urenkel Levis, berüchtigt als Führer der nach ihm benannten Rotte K., die, nachdem sie von ihm und den Rubeniten Dathan und Abiram zum Aufruhr gegen Moses wegen dessen Bevorzugung der Familie Aarons verleitet worden, nach mosaischem Bericht mit ihm und seinen 250 Anhängern von der Erde verschlungen wurde. Seine bei der Empörung unbeteiligten Söhne waren die Ahnherren der Korahiter, denen das Torhüteramt am Tempel übertragen war, denen eine Sängerfamilie, »die Söhne Korahs«, an welche zwölf Psalmen (42–49, 84, 85, 87, 88) erinnern, und der Prophet Samuel entstammten."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]



Abb.: Gustav Brandt <1861-1919>: Vom Herbstmanöver der Ecclesia militans1.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 36. -- 2. Beiblatt. -- 1907-09-08

1 ecclesia militans (lateinisch) = kämpfende Kirche. Bezieht sich auf den 54. Deutschen Katholikentag vom 25. bis 29. August 2007 in Würzburg.


Woraus besteht der Modernismus? -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 39. -- S. 154. -- 1907-09-29

Wem dies eine Terra incognita1,
Der lernt es aus der Enzyklika².
Denn sieh, es besteht der Modernismus
Aus Agnostizismus und Immanentismus,
Aus Subjektivismus und Symbolismus
Und aus dem ekligen Radikalismus;
Dies alles durchtränkt sich mit Egoismus,
Gesteigert zum Individualismus,
Und Darwinismus, und ganz gewis muss
Dies führen zum schlappen Indifferentismus,
Ja selbst zum Panthe- und Atheismus
Und schließlich zum völligen Nihilismus.
Nimm dazu - es ist kein Pleonasmus³ -
Noch etwas Sarkasmus und viel Marasmus4,
Vielleicht noch manch anderen -asmus und ismus,
Wie Naturalismus und Schismatismus,
Den diesmal vergessen der Jesuitismus,
So hast du ein Bild von dem Modernismus.
Na, danach fühlt ihr, liebe Christen,
Doch sicher ein Graún vor den Modernisten!

1 Am 8. September 2007 veröffentlichte Papst Pius X. die Enzyklika Pascendi dominici gregis gegen den Modernismus

"Pascendi oder mit vollem Titel Pascendi Dominici gregis ist eine Enzyklika Pius’ X. Sie wurde am 8. September 1907 kurze Zeit nach dem Dekret Lamentabili sane exitu des Sanctum Officium veröffentlicht, ist aber unabhängig von diesem entstanden.

Die Enzyklika Pascendi wendet sich gegen den sogenannten Modernismus in der Katholischen Kirche. Pius X. will darin erstmals das „System“ der Modernisten als omnium haereseon conlectum (Zusammenfassung aller Irrlehren) offenlegen bzw. entlarven. In ihrem lehrhawften Hauptteil beschrieb die Enzyklika den Modernisten in sieben Rollen: als Philosophen, der nur im Rahmen der Immanenz, also innerweltlich, denkt, als Gläubigen, der sich nur auf die subjektive religiöse Erfahrung stützt, als Theologen, der das Dogma nur symbolistisch verstehen kann, als Historiker und Bibelkritiker, der die göttliche Offenbarung durch Anwendung der historisch-kritischen Methode in innerweltliche Entwicklungsprozesse auflöst, als Apologeten, der die christliche Wahrheit nur vom Standpunkt der Immanenz her rechtfertigt, und schließlich als Reformer, der die Kirche grundstürzend verändern will. Der Modernismus leiste Widerstand gegen die hergebrachte scholastische Theologie und das kirchliche Lehramt. Seine Kennzeichen seien falsche intellektuelle Neugier, Hochmut, Ignoranz und Täuschungsabsicht. Dies beweise sich unter anderem dadurch, dass kein Modernist das ganze modernistische System offen vertrete, sondern immer nur in einer der genannten Rollen auftrete. In einem disziplinarischen Schlussteil traf die Enzyklika praktische Maßnahmen zur Einschärfung der scholastischen Philosophie und Theologie, zur Maßregelung verdächtiger Dozenten und Priesteramtskandidaten, zur Zensur und zur Schaffung antimodernistischer Kontrollgremien. Pascendi bejahte den wissenschaftlichen Fortschritt nur, wenn er sich „im Lichte der katholischen Wahrheit und unter ihrer Führung“ vollzog.

Der Hauptverfasser der Enzyklika war der französische Theologe Joseph Lemius aus dem Orden der Oblaten (OMI). Bei der Rekonstruktion des „Systems“ des Modernismus stützte er sich vor allem auf die Werke des französischen Theologen Alfred Loisy. Lemius’ Absicht war es, die verdeckten philosophischen und theologischen Voraussetzungen von Loisys Bibelauslegung offenzulegen."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Pascendi. -- Zugriff am 2010-01-09]


Franziskaner Urbummellied1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 39. -- 2. Beiblatt. -- 1907-09-29

(Neuestes Kommerslied)

Zwischen dem Eisenbahnministerium und dem Orden der Franziskaner schweben Verhandlungen, die dahin gehn, den Ordensbrüdern das Reisen ohne Geld2 zu ermöglichen.

Franziskaner auf der Reis,
Juchheidi, juchheida!
Kreuzfidel zu leben weiß,
Juchheidi, heida!
Denn es steigt das Pfäffelein
Frei in jeden Zug hinein!
Juchheidi, juchheida!

Kommt er vor die Bahnsteigsperr;
Juchheidi, juchheida!
Schreit der Schaffner: "Karte, Herr!" -
Juchheidi, heida!
Doch das Pfäfflein, eins - zwei - drei -
Segnet ihn und läuft vorbei!
Juchheidi, juchheida!

Naht der D-Zugs-Kontrolleur,
Juchheidi, juchheida!
"Wohin reisen Sie, hochehr - ?"
Juchheidi, heida!
"Sein Sie mir gegrüßt, mein Sohn!
Sie empfangen Gotteslohn!"
Juchheidi, juchheida!

Hat das Pfäfflein ungeniert,
Juchheidi, juchheida!
In dem Dining-car soupiert,
Juchheidi, heida!
Spricht es zu dem Kelnnerwicht:
"Frechling, Gelder führ ich nicht!"
Juchheidi, juchheida!

Also fährt er durch die Welt,
Juchheidi, juchheida!
Ohne jedes bare Geld!
Juchheidi, heida!
Fern von jedem Ungemach,
Dank dem heilgen Breitenbach³!
Juchheidi, juchheida!


Abb.: [Der heilige Breitenbach]. -- a.a.O.

1 Urbummellied: siehe oben!

Melodie des Urbummelliedes

[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/studioau.html. -- Zugriff am 2010-01-08]

² Franziskanern war durch die Ordensregel jeglicher Umgang mit Geld verboten, was zu Problemen bei der Bezahlung von Fahrkarten führte.

³ Paul von Breitenbach (1850 - 1930): preußischer Minister für öffentliche Arbeiten und Chef des Reichsamts der Reichseisenbahnen



Abb.: Illustrierte Rückblicke <Ausschnitt>.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 40. -- 1. Beiblatt. -- 1907-10-06

"So - nun gebt mir noch das Schüreisen des heiligen Peter Arbuez1 und den Feuerhaken des Thomas von Torquemada²!"

1 Peter de Arbues (1411 - 1485)

"Arbuës, Peter de, span. Inquisitor, geb. mit 1411 zu Epila in Aragonien, Augustiner-Chorherr in Saragossa, warb 1484 zum ersten Inquisitor für Aragonien berufen und erwarb sich als solcher den Ruf eines unermüdlichen Verfolgers der Ketzer. Die Freunde und Verwandten seiner zahlreichen Opfer verschworen sich gegen ihn, und er starb 17. Sept. 1485 infolge eines Attentats, das in der Kirche vor dem Altar auf ihn gemacht worden war. Arbues wurde bald nach seinem Tod ein hochgefeierter Wundermann. Papst Alexander VII. sprach ihn 1661 selig, und Pius IX. nahm ihn 29. Juni 1867 in die Zahl der Heiligen auf. W. v. Kaulbach hat ihn auf seinem Bilde: Peter Arbues von Epila verurteilt eine Ketzerfamilie zum Tode, nach dem Typus von Schillers Großinquisitor dargestellt. Vgl. Zirngiebl, Peter A. (3 Aufl., Münch. 1872)."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]

² Thomas de Torquemada (1420 - 1498)

"Thomas de Torquemada, span. Inquisitor, geb. 1420 in Valladolid, gest. 16. Sept. 1498 im Kloster von Avila, getaufter Jude, war 22 Jahre lang Prior des Dominikanerklosters in Segovia, 1482 Adjunkt der Inquisition, seit 1483 General- oder Großinquisitor in Kastilien und Aragonien. Als solcher hat er seinen Namen mit Fluch und Blut beladen."

[Quelle: Meyers großes Konversations-Lexikon. -- DVD-ROM-Ausg. Faksimile und Volltext der 6. Aufl. 1905-1909. -- Berlin : Directmedia Publ. --2003. -- 1 DVD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; 100). -- ISBN 3-89853-200-3. -- s.v.]



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Aus dem Welt-Zirkus.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 40. -- 2. Beiblatt. -- 1907-10-06

(Vergl. die neueste "Sensation" des Zirkus Busch)

Der schon ohnedies nicht gerade weichbettete Artis, gen. homo sapiens, wird einer unvermuteten enormen Belastungsprobe unterzogen, die er aber, dank seines jahrhundertelangen Trainings, wieder einmal glänzend zu bestehen hofft.

Erläuterung: Bezieht sich auf die Antimodernismus-Enzyklika Pascendi (siehe oben!)


Stoßseufzer des Sittlichkeitsapostels. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 40. -- 4. Beiblatt. -- 1907-10-06

Es hat einmal ein alter Weiser gesagt,
Dem nichts auf dieser Erde behagt,
Es sei das größte Unglück auf Erden,
Überhaupt nur geboren zu werden.
Ich aber glaube, er hat sich geirrt,
Kein Unglück ist 's, dass man geboren wird
Was andres ist es, worüber ich weine:
Das wie, das wie, das ist das Gemeine!


Geisteshelden. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 42. -- S. 165. -- 1907-10-20

Grauenvoll klingt eine Kunde
Östlich her aus Preußenland,
Wo einst in geweihter Stunde
Hat Vernunft gepredigt Kant.

In Grabowen war ein Lehrer,
Der da stets auf Unheil sann,
Als Autoritätsverheerer,
Leipacher1 so hieß der Mann.

Dieser trieb es also übel,
Dass es laut zum Himmel schrie:
Keineswegs nach der Bibel
Lehrte er Geographie.

Nein, er hat im Unterrichte
Sich versündigt schrecklich schwer,
Nicht einmal Naturgeschichte
Gab er nach der Kirchenlehr!

Was ich kaum zu schreiben wage,
Wie es keiner noch gewagt,
Dass der Sündenfall nur Sage,
Das hat dieser Mensch gesagt!

Schon stand dieserhalb ein Wetter
Drohend überm Vaterland,
Als dem deutschen Volk ein Retter
Noch zum guten Glück erstand.

Dieser lebte in dem Orte,
Wie man sich leicht denken kann,
Als ein Diener an dem Worte;
Vierhuff1 hieß der brave Mann.

Schleunigst hat er 's vorgebrungen,
Wo man solche Dinge petzt,
Und es ist ihm wohlgelungen:
Leipacher ward abgesetzt!

Kant und Vierhuff, große Männer,
Beide preiset euch mein Lied!
Zwischen euch - das sieht der Kenner -
Ist nur klein der Unterschied:

Mann du der Vernunft, der reinen,
In der hehren Geister Zunft
Lass dich mit dem Manne einen,
Der so rein ist von Vernunft!

1 Leipacher, Vierhuff

"Am 19. August 1907 verfugte der Regierungspräsident Dr. Stockmann in Gumbinnen gegen den Lehrer Leipacher die „Einleitung des Disziplinarverfahrens . . mit dem Ziel auf Entfernung aus dem Amt," gleichzeitig ordnete er sofortige Suspension an. Er bezog seitdem ein monatliches Gehalt von 39,50 Mark, von dem er mit seiner Frau leben musste. Was war geschehen? Der Pfarrer Vierhuff in Grabowen, im Nebenamt Oberschulaufseher, hatte  Leipacher bei der Regierung denunziert, wegen Missbrauch der Lehrfreiheit. Er hatte den Geographie- und naturkundlichen Unterricht nicht im Einklang
mit der evangelischen Kirchenlehre erteilt und dadurch das Glaubensleben (!) der Kinder gefährdet. Der Pfarrer hatte aus überfließender Nächstenliebe  die Aufsätze, die Leipacher in Zeitschritten veröffentlicht hatte, gesammelt, um den Lehrer bei der Regierung zu verklagen. Dass die Regierung das zuließ, war ein eklatanter Verfassungsbruch, denn selbst in Preußen hat auf dem Papier jeder das Recht, [S. 95] seine Überzeugung auszusprechen. Leipacher wurde am 6. November 1907 in Gumbinnen seines Lehramtes verlustig erklärt. Allerdings hatte Leipacher den Kindern u. a. den biblichen Sündenfall als Sage
bezeichnet. Hätte er doch nur die Schlange weiter reden, auf dem Bauch gehen und ihr Leben lang Erde essen lassen (Genesis 3, 14), dann wäre ja alles in schönster Ordnung gewesen. Ja, Ostelbien und Mecklenburg in der Welt voran!"

[Quelle: Kemmerich, Max <1876-1932>: Kultur-Kuriosa. -- München : Langen. -- Bd. 1. -- 1910. -- S. 94f. -- Online: http://www.archive.org/details/kulturkuriosa01kemmuoft. -- Zugriff am 2010-01-10]


Die Ketzerfalle. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 45. -- 1. Beiblatt. -- 1907-11-10

Voll Staunen hab ich neulich gelesen,
Es kreise in den Diözesen
Von Würzburg und Augsburg seit kurzem ein Blatt,
Das ein feiner Kopf ersonnen hat,
(Es denkst ja so häufig einer für viele!)
Ein längeres Schriftstück in blühendem Stile,
Worin die gesamte Geistlichkeit
In tiefster Unterwürfigkeit
Dem Oberhirten die höchste Verehrung
Zu Füßen legt, nebst einer Erklärung,
Dass jeder begeistert und mit Hurra
Sich bekenne zu neusten Enzyklika1.
Eine echt jesuitische Ketzerfalle,
Schier unentrinnbar für jeden, für alle,
Die heimlich verbotene Ware genascht!
Denn wer es wagen sollte zu mucken,
Den wird man schon fallen lassen und unterducken.
Und wer sich zähneknirschend beugt
Und wider die eigene Seele zeugt,
Den hat man auf ewig in Ketten gebunden,
Fenn immer noch ward es als wahr befunden:
Wer einmal aus Feigheit zu Falle kam,
Wird Priester der Feigheit aus innerer Scham.
Doch solche Leute just kann man brauchen,
Die halb gebrochen am Boden krauchen!
Wir leben in einer großen Zeit;
Glück auf! Der römische Weizen gedeiht!

1 die Antimodernismus-Enzyklika Pascendi (siehe oben!)


Epistel eines frommen Bischofs an seine Klerisei. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 46. -- S. 183. -- 1907-11-17

Der Kardinal-Erzbischof Fischer1 von Köln hat den Klöstern und geistlichen Genossenschaften - auch den Krankepflegeschwestern - das Baden untersagt und die Einrichtung von Badezimmern in Pfarr- und andern geistlichen Wohnhäusern verboten.  (Zeitungsnachricht.)

In Sorgen Geliebte! Es werden immer
Die Menschen schlechter, die Zeiten schlimmer,
In Sonderheit eurer Reinlichkeit droht
In unsern Tagen Gefahr und Not,
Drum lasst euch von einem erfahrnen Prälaten
In diesen Dingen väterlich raten.

Ihr sollt nicht baden! Die Keuschheit leidet,
Wenn sich das Auge am Nackten weidet,
Und wär es der eigene sündige Leib!
Ein Bad ist ein teuflischer Zeitvertreib,
In aller Welt zu nichts Gutem nutze,
Und euch ist es besser, ihr lebet im Schmutze.

Ich habe auch mit großem Befremden
Vernommen, ihr wechselt zu häufig die Hemden;
Das geht nicht ohne Entblößung ab,
ich breche deshalb darüber den Stab!
Es ist euch besser, das Hemd bleibt fleckig,
Als eure unsterbliche Seele wird dreckig!

Und wird 's einmal nötig, und macht ihr euch reinlich,
Weil euer Geruch den andern zu peinlich,
So wünsche ich, dass ihrs im Dunkeln tut!
Die Finsternis überhaupt ist gut:
Es wäre euch besser, sofort zu erblinden,
Als durch das Sehen zu fallen in Sünden!

In Summa²: Gefährlich ist die Hygiene,
Verworfen sind in Sonderheit jene,
Die Bäder empfehlen wie Pfarrer Kneipp³!
In Sorgen Geliebte, was ist der Leib?
Eine minderwertige faule Pastete
Für Würmer und Maden! Bedenkt das! Valete!4

1 Antonius Hubert Kardinal Fischer (1840 - 1912): von 1902 bis 1912 Erzbischof von Köln

² in summa (lateinisch) = zusammengefasst

³ Sebastian Anton Kneipp (1821 - 1897): bayerischer Priester und Verfechter von Wasserkuren

4 valete (lateinisch) = lebt wohl!



Abb.: Gustav Brandt <1861-1919>: Neues aus dem deutschen Mittelalter.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 46. -- S. 184. -- 1907-11-17

Und es begab sich anno domini 1907, dass der Kölner Bischof Fischer1 ein Leuchten in der Gegend von Bonn erblickte, weil ein dortiger Magister Schroers² ein großes Feuer angezündet hatte, um die päpstliche Enzyklika³ zu verbrennen.

Sofort machte sich der streitlustige Kirchenfürst mit einem Dutzend Feldschlangen und 800 Kriegsknechten auf den Weg, berannte mit Sturm die Hochschule, auf der Magister Schroers seine Irrlehren verbreitet hatte

und ließ dem Ketzer einen Knebel in den Mund stecken - ad maiorem dei gloriam³!

Der Magister aber schrieb in seiner Einfalt an den Kaiserlichen Rat Holle4 in Berlin, den er durch sotanes Geschreibsel in großen Schrecken setzte.

Der Rat berief in seiner Not ein großes Konzilium. Dieses beriet noch in großen Sorgen als die  Botschaft eintraf, der Kardinal habe dem Magister den Knebel höchsteigenhändig wieder aus dem Maule gezogen.

1 Antonius Hubert Kardinal Fischer (1840 - 1912): von 1902 bis 1912 Erzbischof von Köln

² Heinrich Schrörs (1852 - 1928): katholischer Theologe, 1886-1915 o. Professor der Kirchengeschichte an der Universität Bonn. Sein Buch »Kirche und Wissenschaft. Zustände an einer kath.-theol. Fakultät« (1907) führte zeitweiligen Besuchsverbot seiner Vorlesungen durch den Erzbischof von Köln.

³ ad maiorem dei gloriam (lateinisch) = zur größeren Ehre Gottes

4 Ludwig August Hugo Holle (1855 - 1909): preußischer Minister für geistliche-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 24. Juni 1907 bis zum 14. Juli 1909.


Lehrers Lust. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 48. -- 1. Beiblatt. -- 1907-12-01

In Sterzing tagte eine Versammlung Tiroler Lahrer, in der darüber geklagt wurde, dass die Lehrer Mesnerdienste verrichten, den Weg vom Pfarrhof zur Kirche reinigen und als Totengräber fungieren müssten.

's gibt kein schönres Leben,
Als das Lehrerleben,
Wie 's die hohe Staatsregierung schuf.
Früh die Küche fegen
Und den Teppich legen,
Ist es ein hoher, herrlicher Beruf.
Auch den langen steinigen
Weg zum Pfarrhof reinigen,
Tut dem armen Lehrerherzen wohl.
Eine Wonne ist es,
Und ein Segen, wisst es,
Jetzt ein Lehrer sein im Land Tirol!

Glanz und Schein  und Flimmer,
Merkt es, ziemt sich nimmer
Für den Lehrer, auch nicht frecher Stolz.
Überselig ist er,
Wenn er als der Küster
Dem Pfarrer spalten darf das Holz.
Doch es ist noch schöner,
Wenn als Tagelöhner
Früh er putzen darf ihm Schuh und Kleid.
Und as schönste ist es,
Wenn er seines Mistes
Grube räumen darf, o Seligkeit!

Auch als Totengräber
(Denn er ist ein Streber)
Freut der Lehrer sich aus tiefster Brust.
So ein Grab zu graben,
Das muss jeden laben,
Denn es ist des Menschen höchste Lust.
Wenn er hat gesungen
Bei Beerdigungen,
Wird er oft belohnt mit kleinem Geld,
Manchmal auch mit Würsten.
Ach, mit keinem Fürsten
Tauscht der Lehrer in der ganzen Welt.

Fröhlich trägt Hochwürden
Seines Amtes Bürden,
Nie ist er verärgert und verstimmt.
Darum ist es billig, dass der Lehrer willig
Seine größte Arbeit übernimmt.
Hat er alle Tage
Auch viel Müh und Plage,
Fehlt 's ihm doch an Mußestunden nicht.
Und in diesen Stunden
Gibt er ungebunden
In der Schule öfters Unterricht.

Mögen reiche Leute
Sich am Mammon heute
Bass ergötzen und am irdschen Gut!
Mögen die Soldaten
Stolz von ihren Taten
Prahlen und von ihrem Wagemut!
Mag der heilige Vater
Als der Seelenrater
Sorgen für der Menschheit Himmelswohl!
Ich will doch auf Erden
Nie was andres werden,,
Als ein Lehrer in dem Land Tirol.

Erläuterung: Parodie auf "'s gibt kein schöner Leben als Studentenleben" (1845)



Abb.:  Arthur Krüger: Mutter Europas Weihnachtsbescherung <Ausschnitt>.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 49. -- 7. Beiblatt. -- 1907-12-08

Ein Grammophon soll Pius haben,
Das plärrt für ihn den Kirchebann;
Zu sehr greift sonst den alten Knaben
Das massenhafte Fluchen an.


Ultramontaner Schlachtruf. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 50. -- 2. Beiblatt. -- 1907-12-15

Auf ihn! Er ist ein Modernist!
Ergreift ihn, werft ihn auf den Mist!
Lasst ihn verrecken wie ein Vieh!
So will es die Dominici
Encyclica pascendi gregis,
Dass er nicht länger und im Weg is!
Und ist er endlich am Verwesen,
Lasst uns für ihn ne Messe lesen!


Der unwürdige Pastor. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 51. -- S. 202. -- 1907-12-22

Nach dem soeben beschlossenen preußischen Kirchengesetz geht das sonst der Gemeinde zustehende Recht der Pfarrerwahl auf den Staat über, wenn ein Pastor disziplinarisch abgesetzt wird. Zeitungsbericht.

In Preußen lebt und tat viel Buß
Ein Pastor evangelicus.
Er, der in Preußen Pastor war,
Das Gute wollt er immerdar.

Daselbst wohnt auch ein Mägdelein,
Das spann in seine Netze ein
Den Pastor evangelicus.
Das gab ein großes Ärgernus.

Und dieses Umgangs Resultat
War der Disziplinarsenat
Des hohen Konsistoriums.
Dem Pastor ward gar übel, bums!

Causa finita1 schuldig spricht
Ihn das Disziplinargericht.
Zur Zwangsentlassung, ach, verdammt 's
Ihn als unwürdig seines Amts.

Der Schand entging der Herr Pastor,
Er reiste schleunigst aus dem Tor
Und wurde, ob die Maid auch flennt,
Versicherungs- und Weinagent.

Nun schickt sich die Gemeinde an,
Zu wählen einen andern Mann;
Den einen jagte man davon,
Doch die Regierung sprach: "Quod non!²

Wenn euer Pfarrer ward entsetzt,
So wählen wir den neuen jetzt.
Das war ein Saul, jetzt kommt ein Paul,
Doch die Gemeinde halt das Maul!"

Und die Gemeinde hielt den Mund,
Weil sie vor Schreck nicht sprechen kunnt.
Sie dachte bloß: Wenn der Pastor
Ein Ferkel war, wer kann davor?

So denkt das große Publikum,
Der Untertan, der ist halt dumm.
Die hohe Staatsbehörde nur.
Die wandelt auf der Weisheit Spur.

Wir ein Pastor diszipliniert,
So wird die Pfarrwahl ausgeführt
Stracks von dem Konsistorium,
Nun merk dir das, o Publikum!

1 causa finita (lateinisch) = die Sache ist abgeschlossen

² quod non = das [darf] nicht [sein]


Stille Leute. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 51. -- 2. Beiblatt. -- 1907-12-22

Auf verschwiegnen Gummisohlen
Schleichen durch das Land verstohlen
Unheimliche Nachtgestalten,
Die im Stillen emsig walten,
Vom Palast zur Hütte huschen,
Hier verhetzen, dort vertuschen,
Bald nach außen, bald nach innne,
Überall ihr Fädchen spinnen
Und mit Kriechen und mit Bücken
Sacht und sicher vorwärtsrücken,
Bis sie herrschen und gebieten:
Brr, es riecht nach Jesuiten!



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Alimentationsklagen.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 60, Nr. 52. -- S. 207. -- 1907-12-29

(Antwort an Spahn1)

Wer bei diesem organischen Wunder, das sich Siamesische Zwillinge nennt, den anderen Teil alimentiert, ob der Staat die Kirche oder die Kirche den Staat, wollen wir dahingestellt sein lassen. Jedenfalls leidet der eine Teil stark an Unterernährung.

1 Peter Spahn (1846 - 1925): 1884-1917 Zentrums-Abgeordneter im Deutschen Reichstag


1908



Abb.: Gustav Brandt <1861-1919>: Klerikale Moden (Winter 1907/1908).
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 2. -- 1. Beiblatt. -- 1908-01-12

Im Vatikan weiß man es, nach den Ausführungen Erzbergers1, ganz genau, dass die gräuliche modernistische Mode für katholische Geistliche aus dem Schneideratelier Harnack² stammt!

1 Matthias Erzberger (1875 - 1921): seit 1903 Zentrumsabgeordneter im Reichstag

² Adolf von Harnack (1851 - 1930): evangelischer Theologe, Professor für Kirchengeschichte in Leipzig, Gießen, Marburg und Berlin. Maßgeblicher Repräsentanten des sog. Kulturprotestantismus der Kaiserzeit: nach seiner Meinung war das dogmenfreie Zeitalter des Christentums angebrochen. In kirchlichen Kreisen erlebte er zeitweise massive Anfeindungen (Berufungsstreit 1888, Apostolikumsstreit 1892/93, Streit um Das Wesen des Christentums 1900ff.)


Ehrengeachtet und tugendreich. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 4. -- 1. Beiblatt. -- 1908-01-26

Auf dem Kirchhof in Straubing1 befinden sich zwei Grabstätten, die auf dem Grabstein als diejenigen des ehrengeachteten Herrn Karl Bradl2, Sattlermeisters, und des tugendreichen Jünglings Max Bradl, beide gestorben am 5.5.03, bezeichnet sind. Die beiden sind an diesem Tage wegen Raubmordes hingerichtet worden.

Gott grüß Euch, Bruder Straubinger,
Freut mich, Euch hier zu sehen.
Ich wollte früher, lieber Herr,
Auch mal nach Straubing gehen.
Ich wär Sattlergeselle gern
Geworden dort bei Bradl.
Er und sein Sohn, das waren Herrn,
Ganz ohne Fehl und Tadel.

Herr Bruder, da ist keine Not;
Ich kannt die Bradls beide.
Doch leider Gottes sind die tot,
Ganz tot zu unsrem Leide.
Sie liegen auf dem Kirchhof bleich,
Vom düstern Grab umnachtet;
Der jüngere war tugendreich,
Der ältere geachtet.

Ach Gott, ach Gott, was sagt ihr da?
Sie sind nicht mehr am Leben?
Der Sohn ist tot und der Papa?
Was hat sich da begeben?
Ein Schlaganfall traf wohl das Herz
Des Herrn, wie er gebetet?
Den Sohn hat dann gewiss der Schmerz
Um den Papa getötet?

O nein, so war's nun grade nicht,
Ihr sprecht mit falschen Zungen.
Die Bradls haben einen Wicht
Gemeinsam umgebrungen.
Das Geld ha'n sie ihm abgeknüpft;
Sie wollten damit wandern,
Doch wurden alle beid' geköpft,
Der eine nach dem andern.

Ne, über ihnen aber auch!
So etwas muss ich tadeln.
Ich hätte so 'nen schlechten Brauch
Nie zugetraut den Bradln.
Nun ist der Vater mit dem Sohn
Der Seligkeit verloren.
Sie müssen vor des Satans Thron
Jetzt in der Hölle schmoren.

Ach, lieber Bruder, weine nicht.
Die Bradls sind ja Lümmel,
Allein sie traf ihr Strafgericht,
Und jetzt sind sie im Himmel.
Sie sind viel reiner jetzt als Ihr,
Die Ihr das nicht erreichtet.
Sie haben nämlich beide hier
Noch vor dem Tod gebeichtet.

1 Straubing, Niederbayern

² Das Chamer Tagblatt schreibt über die Hinrichtung:

"Straubing, 15. Mai. Die beiden Raubmörder Bradl wurden heute früh halb 7 Uhr im Hofe des Landgerichtsgefängnisses hingerichtet. Zuerst wurde der 22 Jahre alte Max Bradl, von 2 Geistlichen begleitet, in den Hof geführt. Mit ruhigem Blick musterte er die Anwesenden und bestieg, obwohl er heute Früh sichtlich gebrochen war, mit ziemlich sicherem Schritt, geführt von zwei Scharfrichtergehilfen und den beiden Geistlichen geleitet, das Gerüst. In der Nacht hatten die beiden Verurteilten ruhig geschlafen. Vor ihrem Tode hatten sie noch ... die Sterbesakramente empfangen und der junge Bradl darauf mit gutem Appetit sein Frühstück genommen. Die Morgensonne sandte ihm noch den letzten Gruß, als ihm im Hofe der Urteilstenor nochmals vorgelesen wurde. Die Hinrichtung selbst war in wenigen Sekunden vollzogen. Das Fallbeil wurde hierauf oberflächlich gereinigt und bezüglich seiner Schärfe einer Kontrolle unterzogen, die zu keiner Beanstandung führte. Alsdann wurde der Vater des Gerichteten, der 60jähr. Karl Bradl herbeigeführt, der mit stupiden Blick während der Verlesung des Urteilstenors die Umstehenden musterte. Ein Beben ging durch seinen Körper, als sich die Henkersknechte seiner bemächtigten, und der alte, schon ganz ergraute Mann fing an zu weinen. Inbrünstig küßte er das ihm dargereichte Kruzifix. Zur Hinrichtung waren außer den Urkundspersonen nur wenige Zuschauer, die sich aus Aerzten und Vertretern der Presse rekrutierten, zugelassen. Die Leichen der Gerichteten wurden unter kirchl. Assistenz auf dem Friedhofe beerdigt. Vor der Frohnfeste hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt ..."

[Zitiert: http://www.gunnet.de/stephani/step_p29z.htm. -- Zugriff am 2010-01-11]


Bamberger Mär. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 5. -- S. 18. -- 1908-02-02

Das ist der Herr von Wehner1
Im schönen Bayerland,
Der dort fungiert als Trainer
Für Seele und Verstand.

Auch streut des Geistes Dünger
Durchs Land er weit und breit.
Ihm leben viele Jünger
Wohl in der Geistlichkeit.

Wer zweifelt, der erfahre,
Was sich begeben hat
Am Lehrerseminare
Zu Bamberg in der Stadt!

Dort hat ein Schüler neulich
- Dass dich der Affe laust!
Es ist doch wahrhaft gräulich! -
Vertieft sich in den "Faust"!

Ja, in den "Faust" von Goethe,
Kreuzbombenmillion,
Zur Zeit der Morgenröte
Am Tag der Kommunion!

Das sah ein Lehrer, den der
Geist frommer Zucht erfüllt,
Dass dem Präfekten Zehnder
Den Gräuel er enthüllt.

Der Zehnder, der tät fluchen
Und schimpfte fürchterlich:
"Kommunion? Ja, Kuchen!
Die gibt 's heut nicht für dich!"

Drauf trommelt er zusammen
Der frommen Lehrer rat,
Die täten bass verdammen
Den Schüler ob der Tat!

Doch als der unerbittlich
Erklärt und frank und frei,
Dass ihm nicht mal "unsittlich"
Der "Faust" erschienen sei,

Da schrieen zornestrunken
Die Männer fromm und brav:
"O Gott, wie tief gesunken
Ist dies verirrte Schaf!"

Und keiner ward gesehen, der
Vor Lachen hielt den Bauch -
Und seh ich an den Zehnder,
So sag ich solches auch!

1 Anton Ritter von Wehner (1850 - 1915): 1903 bis 1912 Bayerischer Staatsminister des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten.



Abb.: Arthur Krüger: Der Tisch des Hauses.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 6. -- S. 22. -- 1908-02-09

wenn ein Beweis der Brotteuerung - und wenn ein Beweis der Unsittlichkeit niedergelegt wird.

Abg. Roeren1: Ich lege einge Photographien nach dem Leben auf den Tisch des Hauses nieder, die von sog. Sachverständigen als künstlerische Produkte bezeichnet worden sind, während es ganz minderwertige Sachen sind. (Die Abgeordneten drängen sich um den Tisch des Hauses und sehen sich die Bilder an.)

1 Hermann Roeren (1844 - 1920): Zentrumspolitiker, 1893 - 1912 Abgeordneter im Reichstag


Abb.: Frank Eugene (1865 - 1936): Nude study, um 1908
[Bildquelle: Wikipedia. -- Public domain]



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Rückwärts, rückwärts - - !
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 6. -- 3. Beiblatt. -- 1908-02-09

Der Liegnitzer: Verehrtester, darf ich um etwas Feuer bitten?

Erläuterung:

Ellen Key (1849 - 1926): schwedische Reformpädagogin und Schriftstellerin. 1904 erscheint ihr Buch

Key, Ellen <1849 - 1926>: Über Liebe und Ehe : Essays. -- Berlin : Fischer, 1904. -- XV, 496 S. -- Originaltitel: Lifslinjer

Friedrich Delitzsch (1850 - 1922): deutscher Assyriologe. Aufregung unter den Christen erregte vor allem:

Delitzsch, Friedrich <1850 - 1922>: Babel und Bibel : ein Vortrag.- - Leipzig : Hinrichs, 1902. -- 52 S. : Ill.

"Als Professor Friedrich Delitzsch 1901 und 1902 seine so außerordentliches Aufsehen erregenden Vorträge [S. 280] über Babel und Bibel hielt, konnte man sich um etliche Jahrhunderte zurückversetzt glauben. Delitzsch hatte darauf hingewiesen, dass dem Bibelstudium durch die Ausgrabungen von Keilinschriften reiche Förderung in historischer und realer Hinsicht zuteil würde: die Namen von Örtlichkeiten, historische Personen treten in helleres Licht. Es zeige sich, dass Kanaan eine Kulturprovinz Babyloniens sei, das dorthin Handel und Recht und Sitte und Wissenschaft verpflanzt habe. Der Sabbat sei babylonisch, desgleichen eine ganze Reihe biblischer Erzählungen, wie die von der Sintflut, Schöpfung, Sündenfall, Paradies, Leben nach dem Tode, Engeln und Dämonen, letzten Endes sogar der Monotheismus. Dieser bestand bekanntlich bei den Israeliten ursprünglich durchaus nicht in der Form, wie sie offiziell heute gelehrt wird, und trotz „Dreieinigkeit" und Teufel angeblich bei uns besteht, sondern in der des Henotheismus, dass eben der Judengott stärker und mächtiger war, als die der benachbarten Völkerschaften.

Diese Vorträge riefen bei sehr vielen einen Sturm der Entrüstung hervor, und es wurde im Ernste von „orthodoxer" Seite der leidenschaftliche Versuch gemacht, um der Heiligkeit des Glaubens willen die Sonderstellung Israels und seine besondere göttliche Mission zu verteidigen, d. h. sich mit Entschiedenheit gegen die Assyriologie, als eine exakte und historische Wissenschaft zu wehren, bzw. ihre Resultate ungeprüft oder mit Scheingründen abzulehnen. Das mussten sie tun zur Beruhigung der Gemeinde! Es gibt also noch in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts [S. 281] weite Volksschichten, die sich beunruhigt fühlen, wenn man den Nachweis erbringt, dass die Juden, dieses Parasitenvolk, das während seiner ganzen selbständigen Geschichte weder auf politischem noch auf kulturellem Gebiete Nennenswertes geleistet hat, Schüler der weit bedeutenderen Babylonier sind! Die im Ernst glauben, Zustände, die im halbbarbarischen Vorderasien vor 2½ Jahrtausenden herrschten, auf die Gegenwart übertragen zu können, ja letztere an ersteren zu messen! Und das alles, weil sie glauben oder zu glauben vorgeben, der liebe Gott habe seinen auserwählten Juden die Bibel wörtlich in die Feder diktiert! Tatsächlich steht es bei Kollisionen zwischen historischen oder naturwissenschaftlichen Ergebnissen mit der Bibel für viele fest, dass erstere irren, wie es ja auch noch heute Leute geben soll, die an den Stillstand der Sonne auf Josuas Befehl glauben. Also heute noch lassen sich Deutsche in ihrem Denken und Handeln von Anschauungen eines kleinen, einst in fremdem Erdteil wohnenden Volkes beeinflussen, das kulturell etwa auf der Stufe stand, die unsere Vorfahren unter den fränkischen Kaisern einnahmen!"

[Quelle: Kemmerich, Max <1876-1932>: Kultur-Kuriosa. -- München : Langen. -- Bd. 1. -- 1910. -- S. 279 - 281. -- Online: http://www.archive.org/details/kulturkuriosa01kemmuoft. -- Zugriff am 2010-01-10]


An den Heiligen Vater. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 6. -- 3. Beiblatt. -- 1908-02-09

O Heiliger Vater, du nimmst so viel,
Was gar nicht lohnend ist, dir zum Ziel,
Verdammst und triffst mit Bann und Acht
Was Leben fördert und Freude macht,
So lass doch endlich dich bewegen
Und schleudre deinen schlimmsten Segen
Aufs Haupt der argen Pestilenza,
Die da genannt wird Influenza!


Motu proprio1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 7. -- 1. Beiblatt. -- 1908-02-16

Nach bekannter Singweise²

Ich bin der römsche Pontifex,
Bin ex Officio Regum Rex³,
Und sprech ich vom Katheder,
So kommt was Unfehlbares raus,
Das merke sich ein jeder!

Die meisten Schäflein, groß und klein,
Sind ja zum Glücke fromm und rein
Nach gutem alten Brauche,
Und rutschen vor mir, wie sich's ziemt,
Andächtig auf dem Bauche.

Doch leider bei der Geistlichkeit
Ist mancher Widerspenstge heut,
Der denkt, er dürfe denken;
So etwas muss mein Vaterherz
Denn doch gewaltig kränken.

Zumal in Deutschland regt sich dreist
Ein frecher, dünkelhafter Geist;
Gewisse Professori
Vermeinen, dass sie klüger sind
Als meine Monsignori!

Zwar wird noch jeder, der da muckt,
Bisher gezwiebelt und geduckt,
Trotzdem wir Denken Mode;
Ich fürchte, der Erziehung fehlt
Die richtige Methode!

O heiliger Ignatius³
Erlöse mich von dem Verdruss:
Nur deine Pädagogik
Befreit das freche Menscehnhirn
Von der verwünschten Logik.

Wenn du mir hilfst, ist bald vorbei
Die unverschämte Krittelei,
Und jeder fromme Stoffel
Küsst mir mit frommer Inbrunst dann
Den heiligen Pantoffel.

Ich bin der römsche Pontifex,
Bin ex Officio Regum Rex³,
Und sprech ich vom Katheder,
So kommt was Unfehlbares raus,
Das merke sich ein jeder!

1 Motu proprio von Papst Pius X. vom 18. November 1907: Papst Pius X. Praestantia Scripturae : automatische Exkommunikation der Modernisten

² Ich bin der Doktor Eisenbart

Melodie

[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/IchBinDr.html. -- Zugriff am, 2010-01-11]

³ ex officio regum rex (lateinisch) = kraft meines Amtes König der Könige

4 Ignatius von Loyola (1491 - 1556): Gründer des Jesuitenordens. Die Jesuiten waren der wohl bedeutendste katholische Schulorden der Neuzeit.


Abb.: Jesuitenkolleg Stella Matutina, Feldkirch, Vorarlberg, 1860

O heiliger Ignatius
Erlöse mich von dem Verdruss:
Nur deine Pädagogik
Befreit das freche Menschenhirn
Von der verwünschten Logik.
Wenn du mir hilfst, ist bald vorbei
Die unverschämte Krittelei,
Und jeder fromme Stoffel
Küsst mir mit frommer Inbrunst dann
Den heiligen Pantoffel.



Abb.: Gustav Brandt <1861-1919>: Non plus sapere quam oportet1.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 7. -- 3. Beiblatt. -- 1908-02-16

Damit es das folgsame Eselchen nicht womöglich gelüstet, aus dem Brunnen der Wissenschaft mehr zu trinken als ihm dienlich wäre, werden ihm von fürsorglicher hand die Augen verbunden. So kommt es ohne Anfechtung an dem gefährlichen Brunnen vorbei.

1   Non plus sapere quam oportet (lateinisch) = "nicht mehr denken als nötig", Zitat aus Römerbrief 12,3 Vulgata: Dico enim per gratiam quæ data est mihi, omnibus qui sunt inter vos, non plus sapere quam oportet sapere, sed sapere ad sobrietatem : et unicuique sicut Deus divisit mensuram fidei.



Abb.: Arthur Krüger: Die wandelnde Glocke1.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 8. -- S. 30. -- 1908-02-23

1 Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832): Die Wandelnde Glocke, Ballade

Es war ein Kind, das wollte nie
Zur Kirche sich bequemen,
Und sonntags fand es stets ein Wie,
Den Weg ins Feld zu nehmen.

Die Mutter sprach: »Die Glocke tönt,
Und so ist dir's befohlen,
Und hast du dich nicht hingewöhnt,
Sie kommt und wird dich holen.«

Das Kind, es denkt: Die Glocke hängt
Da droben auf dem Stuhle.
Schon hat's den Weg ins Feld gelenkt,
Als lief' es aus der Schule.

Die Glocke, Glocke tönt nicht mehr,
Die Mutter hat gefackelt.
Doch welch ein Schrecken hinterher!
Die Glocke kommt gewackelt.

Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum,
Das arme Kind im Schrecken,
Es lauft, es kommt als wie im Traum:
Die Glocke wird es decken.

Doch nimmt es richtig seinen Husch,
Und mit gewandter Schnelle
Eilt es durch Anger, Feld und Busch
Zur Kirche, zur Kapelle.

Und jeden Sonn- und Feiertag
Gedenkt es an den Schaden,
Lässt durch den ersten Glockenschlag,
Nicht in Person sich laden.


Der Geist. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 8. -- S. 31. -- 1908-02-23

O in dieser bösen Zeit!
Wo die Unzufriedenheit
Gar so sehr im Schwange geht,
Alles hoch im Preise steht,
Täglich vorkommt ein Skandal,
Gar so lax ist die Moral,
In der zeit, wo frech das Haupt
Hebt der Zweifel, wo dem Frommen
Manchmal doch Bedenken kommen,
Dass er manches nicht mehr glaubt,
Was die heilge Kirche lehrte,
Wo zu Häckel1 sich bekehrte
Und den bösen Modernisten
Mancher treue Hirt der Christen,
Wo Entsetzliches geschehn,
Wie in Liegnitz² wir gesehn,
O wie ist es da so gut,
Dass der Geist des selgen Studt³,
Ob er selbst auch längst verflossen,
Über uns noch ausgegossen.

Schwartzkopff4 heißt dies Geisteslicht,
Andern Geist besaß es nicht!
Ja, auch in dem Reich der Geister
Zeigt Beschränkung erst den Meister.
Die Beschränkung scheint unsterblich,
Und der Geist im Amte erblich.

Geil  uns! Heil! dass du 's erwiesen,
Heilger Holle5, sei gepriesen!

1 Ernst Haeckel (1834 - 1919): Zoologe und Propagator des Darwinismus und Monismus

² Liegnitz: siehe oben!

3 Konrad von Studt (1838 - 1921): 1899 - 1907 preußischer Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten

4 Philipp Schwartzkopff (gest. 1914): Ministerialdirektor, zuständig für das Volksschulwesen

5 Ludwig August Hugo Holle (1855 - 1909: 1907 - 1909 preußischer Minister für geistliche-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten



Abb.: Wie viele Wege führen nach Rom?
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 8. -- S. 32. -- 1908-02-23

Nur einer! Aber die Schwierigkeiten, diesen glatt und eben zu halten, um die Gläubigen vor jedem Straucheln zu bewahren, werden immer größer. Einzelne besonders harte Kopfsteine widerstehen dem Stoß auch der schwersten Ramme.

Erläuterung:  Am 3. Juli 1907 hatte Papst Pius X. durch das Dekret «Lamentabili sane exitu» und am 8. September 1907 durch die Enzyklika «Pascendi dominici gregis» die "Irrlehre des Modernismus" verurteilt. Im Gefolge wurden überall Theologieprofessoren und Geistliche mundtot gemacht (die meisten krochen hündisch zu Kreuze). In der Karikatur sind sie symbolisiert durch die mit Namen bezeichneten eingerammten Steine. Einer der wenigen Aufrechten war der Münchner Dogmatikprofessor Joseph Schnitzer: am 5. Februar 1908 verbot der Bischof München den Theologiestudenten den Besuch der Vorlesungen Schnitzer. Am 6. Februar 1908 verbot der Papst Schnitzer die Ausübungen seines Priesteramts. Am. 11. Februar 1908 diskutiert der bayerische Landtag wegen Schnitzer das placetum regium, das Recht der Staatsgewalt, von Erlassen der Kirchenbehörden vor deren Veröffentlichung Einsicht zu nehmen und deren Bekanntmachung zu gestatten oder zu untersagen. Am 10. Oktober 1908 erklärt Schnitzer, dass er seine Aussagen nicht widerrufe. Am 7. Dezember 1908 lehnt Schnitzer die ihm angebotene Stelle für Religionsgeschichte an der philosophischen Fakultät der Uni München ab.

"SCHNITZER, Joseph, katholischer Dogmen-, Kirchen- und Religionshistoriker, * 15.6. 1859 in Lauingen/Donau als Sohn des Schäfflermeisters Christoph Schnitzer, + 1.12. 1939 in München. - Nach dem Besuch des Gymnasiums in Dillingen trat Schnitzer 1880 seine philosophisch-theologischen Studien am Königlichen Lyzeum St. Stephan in Augsburg an, um diese schon ein Jahr später als Konviktor des Herzoglichen Georgianums an der Universität München fortzusetzen und 1884 abzuschließen. Seine Priesterweihe empfing er am 31.7. 1884. Danach wirkte Schnitzer zunächst als Seelsorger; innerhalb von fünf Jahren leistete er an vier verschiedenen Orten des Bistums Augsburg pastorale Dienste. Erst am 12.11. 1889 erlangte Schnitzer die Freistellung von der Seelsorge und ergriff nun die Gelegenheit, seine theologischen Studien an den Universitäten München und Wien fortzusetzen. Aufgrund seiner schon während der Kaplansjahre 1886 bis 1888 in Moorenweis bei Fürstenfeldbruck erarbeiteten Untersuchung »Berengar von Tours, sein Leben und seine Lehre. Ein Beitrag zur Abendmahlslehre des beginnenden Mittelalters« wurde Schnitzer am 26.7. 1890 an der Universität München zum Doktor der Theologie promoviert; als erster Gutachter seiner Dissertation fungierte der Dogmenhistoriker Joseph von Bach, als zweiter der Apologetiker und Dogmatiker Alois von Schmid. Bei seiner 1892 erschienenen zweiten Buchpublikation über »Die Gesta Romanae Ecclesiae des Kardinals Beno und andere Streitschriften der schismatischen Kardinäle wider Gregor VII.« handelt es sich offenbar um seine Habilitationsschrift. Am 11.10. 1892 wurde Schnitzer eine Dozentur und am 23.2. 1893 eine außerordentliche Professur für Kirchenrecht und Kirchengeschichte am Lyzeum in Dillingen übertragen. Als Frucht seiner kirchenrechtlichen Lehre und Forschung konnte er 1898 sein »Katholisches Eherecht« erscheinen lassen, das in der Fachwelt überwiegend positive Aufnahme fand. An den Rand des Konflikts mit der kirchlichen Hierarchie geriet Schnitzer erstmals mit seiner 1898 in den »Historisch-politischen Blättern« veröffentlichten fünfteiligen Studie über »Savonarola im Lichte der neuesten Literatur«, in welcher er in Abwendung von der Darstellung des Papsthistorikers Ludwig von Pastor eine deutliche Aufwertung des wegen Ketzerei von der Inquisition verurteilten und am 23.5. 1498 in Florenz hingerichteten Dominikaners Hieronymus Savonarola vornahm und zugleich dessen kirchliche Richter, insbesondere aber den Medici-Papst Alexander VI. einer heftigen Kritik unterzog. Obgleich der Dominikanerorden in Sympathie gegenüber ihrem Ordensmitglied Savonarola eine Indizierung von Schnitzer's Abhandlung zu verhindern wusste, war an der päpstlichen Kurie das Misstrauen gegen Schnitzer geweckt. Am 12.1. 1902 folgte Schnitzer dem Ruf als ordentlicher Professor für Dogmengeschichte, Symbolik und Pädagogik an die Universität München. Das Studium der Bibelkritik und der Geschichte des Urchristentums brachte Schnitzer schon bald in die Nähe der liberalen protestantischen Theologie eines Adolf von Harnack, eines Friedrich Loof und eines Heinrich Weinel. Sein Engagement in der reformkatholischen Bewegung, an deren programmatischer Versammlung in der Münchener »Isarlust« am 20.10. 1902 er zusammen mit einem engeren Schülerkreis teilnahm, ist davon deutlich geprägt. Eine zunehmende Distanz Schnitzer's gegenüber Kirche und Dogma weisen mehrere von 1905 bis 1907 in dem reformkatholischen Organ »Das zwanzigste Jahrhundert« sowie in den »Süddeutschen Monatsheften« pseudonym veröffentlichte Beiträge auf. Zum offenen Konflikt zwischen Schnitzer und der kirchlichen Hierarchie kam es allerdings erst im Gefolge der am 8. September 1907 veröffentlichten antimodernistischen Enzyklika »Pascendi« Papst Pius X. und Schnitzer's kritischer Auseinandersetzung mit dieser, die unter Angabe von Schnitzer's Namen am 1.2. 1908 unter dem Titel »Die Enzyklika Pascendi und die katholische Theologie« in der »Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik« erschien. In der Verurteilung des Modernismus breche die Enzyklika mit den grundlegendsten Idealen des modernen Zeitalters, mit Glaubensfreiheit, Lehrfreiheit, Pressefreiheit, mit der modernen nicht-scholastischen Philosophie sowie mit historischer Kritik und Methode. Etwa gleichzeitig mit dieser papst- und kurienkritischen Abhandlung veröffentlichte Schnitzer in den »Süddeutschen Monatsheften« ebenfalls unter Angabe seines vollen Namens einen sich als Rezension zu Heinrich Günthers »Legendenstudien« (Köln 1906) verstehenden Aufsatz mit dem Titel »Legenden-Studien«, in welchem Schnitzer feststellt, dass sich nicht nur bei Heiligenviten, sondern auch in den Evangelien, insbesondere was das dort gezeichnete Lebensbild Jesu anbetrifft, legendäre Züge finden. Schon wenige Tage nach dem Erscheinen der genannten beiden Abhandlungen am 6.2. 1908 erfolgte auf telegraphischem Wege Schnitzer's suspensio a divinis und die interdictio quoad usum sacramentorum, und bereits am folgenden Tag hielt Schnitzer seine letzte dogmengeschichtliche, am 11.2. 1908 seine letzte pädagogische Vorlesung. Ein ihm infolge seiner Suspension von Seiten der bayerischen Regierung gewährter Urlaub führte Schnitzer von 17.5. bis 9.10. 1908 auf eine schon länger geplante Reise nach China und Japan, auf der er persönliche Einblicke in fernöstliche Religionen gewann. Versuche des zuständigen bayerischen Ministeriums, Schnitzer in die philosophische Fakultät einzugliedern, scheiterten zunächst an der Weigerung einiger Professoren der philosophischen Fakultät, vor allem aber auch an wiederholten Interventionen der kirchlichen Behörden: Schon wenige Tage nach der Rückkehr Schnitzer's von seiner Ostasienreise, am 28.10. 1908, wurde ihm kirchlicherseits unter Androhung der Exkommunikation jegliche Lehrtätigkeit in irgendeinem Fach an irgendeiner Lehranstalt, jegliche schriftstellerische und jegliche Vortragstätigkeit untersagt. Eine weitere unbefristet gewährte Beurlaubung zur Fortführung seiner Savonarola-Studien nutzte Schnitzer zuerst dazu, um aufgrund seiner bis dahin vorliegenden ersten drei Bände der »Quellen und Forschungen zur Geschichte Savonarolas« am 5.2. 1909 an der Universität Tübingen zum Doktor der Philosophie zu promovieren. Während er sich bis 1913 konsequent an das kirchliche Verbot der Abhaltung von Vorlesungen hielt, nahm er schon seit März 1909 die ihm ebenfalls untersagte schriftstellerische Arbeit wieder auf: So veröffentlichte er nicht nur vereinzelte Rezensionen und setzte er seine Forschungen zu Savonarola fort, vielmehr befasste er sich erneut mit einer dogmengeschichtlichen Fragestellung: Seine ekklesiologische Abhandlung mit dem Titel »Hat Jesus das Papsttum gestiftet?« (1910) ist vor dem Hintergrund jener »konsequenten Eschatologie« zu lesen, die u.a. mit dem Namen seines protestantischen Zeitgenossen Albert Schweitzer verbunden ist: Da Jesus die unmittelbare Nähe des Gottesreiches erwartete und verkündete, dachte er gar nicht daran, eine Institution Kirche zu stiften. Dass Jesus gemäß Mt 16,18 f. das Papsttum eingesetzt haben soll, steht in einem krassen Widerspruch zu seiner Naherwartung. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit hielt Schnitzer ihm ebenfalls kirchlich untersagte Vorträge; so sprach er beispielsweise am 21.2. 1910 vor dem »Antiultramontanen Reichsverband« in Berlin über »Borromäus-Enzyklika und Modernismus«, am 10.11. 1911 in Bernkastel über »Katholizismus und Modernismus« sowie im Juli 1913 auf dem Pariser Religionskongress, auf dem er mit französischen Modernisten zusammentraf, über »Religiöse Freiheit und Kirche«. Obzwar Schnitzer das ihm im Oktober 1908 auferlegte umfassende Schweigegebot wiederholt brach und obwohl es in den kirchlichen Behörden an Stimmen nicht mangelte, die die angedrohte Exkommunikation endlich vollzogen wissen wollten, blieb diese letzte Strafmaßnahme der Kirche aus. Selbst als Schnitzer auf sein Gesuch hin vom zuständigen bayerischen Ministerium nach Absprache mit dem Münchener Nuntius Andreas Frühwirth am 30.6. 1913 pensioniert und aus der theologischen Fakultät ausgegliedert wurde, um im Gegenzug am 4.7. 1913 an der philosophischen Fakultät eine Honorarprofessur ohne bestimmtes Lehrgebiet (erst 1923 wurde Schnitzer der Lehrgegenstand Religionsgeschichte offiziell zugewiesen) angeboten zu bekommen, in welcher Funktion er seit Wintersemester 1913/14 Vorlesungen über Religionsgeschichte hielt, fehlte es zwar nicht an diplomatischen Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen kirchlichen und staatlichen Behörden, doch blieb auch diesmal - nicht zuletzt aufgrund der Besonnenheit des Nuntius und der bayerischen Regierung - die Exkommunikation aus. Noch als über Siebzigjähriger publizierte Schnitzer eine dogmengeschichtliche Studie, die er der Entwicklung der Erbsündenlehre widmete: Die von Augustinus formulierte Erbsündenlehre verdankt ihre ersten Anklänge zwar dem nachexilischen Judentum, die letzten Wurzeln der Erbsündenlehre aber liegen in einem schwer zu überwindenden vorreligiös-magischen Denken der Menschheit. Sechs Jahre nach seiner Versetzung in den dauernden Ruhestand am 31.10. 1933 erlag Schnitzer innerlich der katholischen Kirche verbunden, aber im päpstlichen Interdikt, am 1.12. 1939 in seiner Münchener Wahlheimat einem Krebsleiden. Seinem testamentarischen Wunsch entsprechend wurde sein Leichnam verbrannt. - Schnitzer ist als ein katholischer Dogmenhistoriker in die Geschichte eingegangen, der sich nicht nur selbst als Modernist begriff, sondern der heute als einziger deutscher Modernist von wissenschaftlichem Rang und menschlichem Format bezeichnet wird (Trippen). Modernist wurde Schnitzer, indem er in Anlehnung an Adolf von Harnack und andere liberale protestantische Theologen die in der damaligen katholischen Theologie kaum beheimatete historisch-kritische Forschung rezipierte und dabei zu aus heutiger Sicht etwas undifferenzierten Ergebnissen gelangte. Zugleich sind manche seiner Erkenntnisse mittlerweile als Allgemeingut Katholischer Theologie zu betrachten."

[Quelle: Raimund Lachner. -- http://www.bautz.de/bbkl/s/s1/schnitzer_j.shtml. -- Zugriff am 2004-11-16]


Franz Adam Göpfert1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 10. -- S. 38. -- 1908-03-08

Franz Adam Göpfert, hehres Licht,
Du Weiser ohnegleichen,
Dich will ich preisen im Gedicht
Und dir die Palme reichen.
Dir sei, erhabener Göpfert,
Von aller Welt geöpfert,
Der du so schön bezöpfert
Wie wohl noch keiner niemals nicht.

O Göpfert, herrliches Genie,
Welch Glück schon, dich zu feiern,
Professor der Theologie
Zu Würzeburg in Bayern!
Du hast, Franz Adam Göpfert,
Vom Wahrheitsborn geschöpfert,
Der manchem ach, verstöpfert,
Der brünstig nach der Wahrheit schrie.

Mit Sünden weiß genau Bescheid
Der Gottesknecht, der treue.
"Wenn man in der Besessenheit,
Begierig auf das Neue",
So spricht Franz Adam Göpfert,
"Den armen Satan schröpfert,
Ihn auf die Pfötchen klöpfert,
Das bringt der Reue bittres Leid.

Denn solche Sünde ist gar schwer,
Die Strafe hochnotpeinlich;
Doch ist die Sünde läßlich mehr -
Das dünkt mich sehr wahrscheinlich" -
So spricht Franz Adam Göpfert,
"Wenn man ihn sanft betröpfert,
Geheimes hm abknöpfert
Mit Fragen nur so nebenher,

Der Kirch zu nützen ist es Pflicht,
Zu stehlen und zu lügen,
Auch scheue man den Meineid nicht,
Kann man um Zoll betrügen!
Nichts tut 's, wird danngeschröpfert
Der Zollmensch und geköpfert";
So spricht Franz Adam Göpfert,
Das groß0e, dicke Kirchenlicht!

O Pius², heilger Oberhirt,
Wie geht es dir so prächtig!
Ob auch so manches Schaf verirrt,
Und böser Zweifel mächtig,
Es bringt dir kein Fährde,
Solang in deiner Herde -
Mit staunen sieht 's die Erde -
Solch Riesenschaf gefunden wird!

1 Franz Adam Göpfert (1849 - 1913): 1879 ao. und 1884 o. Professor für Moral- und Pastoraltheologie an der Universität Würzburg. 1890 erhielt er auch den Lehrauftrag der Homiletik und 1892 als weiteres Nominalfach das der christlichen Sozialwissenschaft. Göpfert war 1882-92 Universitätsprediger. 1909 wurde er zum »päpstlichen Hausprälaten« ernannt. - Göpfert ist bekannt als Vertreter der jesuitischen Morallehre.

Hauptwerk, auf das sich obiges Gedicht bezieht:

Göpfert, Franz Adam <1849-1913>: Moraltheologie. -- 5., verm. und verb. Aufl.  -- Paderborn : Schöningh, 1905-06. -- 3 Bde. --  (Wissenschaftliche Handbibliothek. 1. Reihe. Theologische Lehrbücher ; XII-XIV)

2 Pius X.



Abb.: Ernst Retemeyer:  
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 11. -- 2. Beiblatt. -- 1908-03-15

In allen Tonarten wurde der bösen Ketzerin [Wissenschaft und freie Forschung] schon, ohne Erfolg, Buße gepredigt. Nun sollten sie es einmal mit dem parlamentarischen Ton versuchen.



Abb.: Arthur Krüger: Ferdinands konfessionelle Hochzeit.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 11. -- 3. Beiblatt. -- 1908-03-15

Nachdem in Coburg die katholische Trauung des Fürsten von Bulgarien mit der Prinzessin Reuß stattgefunden hat wurde in Osterstein die evangelische Trauung vollzogen -

dann wurde das Hochzeitsmahl nach den strengen Vorschriften Mohammeds gefeiert, das heißt: ohne Wein, mit "trockenem" Gedeck,

die Zeremonie der Auszahlung der Mitgift unter Beobachtung des jüdischen Ritus,

und währen der Hochzeitsreise wurden die beliebten heidnischen Gebräuche bevorzugt.

Erläuterung: bezieht sich auf  Ferdinand I. von Sachsen-Coburg-Gotha (1861-1948), 1887 - 1908 Prinz, 1908 - 1918 Zar von Bulgarien. Nach dem Tod seiner ersten Frau, Marie Louise von Bourbon - Parma (1893), heiratet er Eleonore von Reuß - Köstritz. Eine katholische Hochzeit wurde am 28. Februar 1908 in der Kirche St. Augustin in Coburg vollzogen, die evangelische folgte am 1. März in Gera auf Schloss Osterstein unter Anwesenheit fast der gesamten reußischen Fürstenfamilie.


Herr Bendix. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 14. -- 3. Beiblatt. -- 1908-04-05

Es lebt zu Mainz in diesem Jahr
Ein frumber Domkapitular.
Der tat gar viel zu seiner Zeit
Für Tugend und für Sittsamkeit.

Herr Doktor Bendix hieß der Mann,
Der großen Ruhm für sich gewann.
Indes ist ihm nicht blutsverwandt,
Der als "urkomisch" weltbekannt.

So schloss einst, predigend im Dom.
Herr Bendix seinen Redestrom:
"O weh, o weh! O welch ein Leid
Schafft mir der Weiber sündig Kleid!

Sie tragen Blusen, Sakrament,
Durch die des Fleisches Röte brennt,
Durchbrochen sind sie, ei, ei, ei,
O Herr des Himmels steh mir bei!

Und hier ein Tupf und dort ein Tupf:
Des Fleischesteufel Unterschlupf!
Ein Mägdlein sah ich heut, ach, ach,
O Himmel, mir wird schwi-schwa-schwach!"

So sprach der gar so frumbe Mann,
Der großen Ruhm alsbald gewann.
Denn jene Blusen sind im Land
Als "Bendixblusen" jetzt bekannt!

O Bendix, fahre froh dahin
In deinem keuschen Mannessinn,
Der du in dieser Zeitlichkeit
Sahst Weiberfleisch nur durch das Kleid!

1 Dr. Ludwig Bendix



Abb.: Arthur Krüger: Zukunftsbilder nach Einführung der Feuerbestattung (durch die Brille des "Reichsboten"1 gesehen).
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 18. -- S. 72. -- 1908-05-03

"So können wir auch in Deutschland erleben, dass, wie in Indien, die halbverbrannten menschlichen Fleisch- und Knochenreste auf der Gasse herumliegen und von den Hunden angenagt werden." Aus dem "Reichsboten"

1 Der Reichsbote : deutsche Wochenzeitung für Christentum und Volkstum. -- Berlin : Der Reichsbote. -- 1873 - 1936



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Ausblicke in den Sommer 1908.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 18. -- 3. Beiblatt. -- 1908-05-03

Bülow1 soll einen so brillanten Eindruck im Vatikan gemacht haben, dass man von einem Gegenbesuch in Norderney munkelt.

1 Reichskanzler von Bülow hatte im April 1908 dem Papst einen Besuch abgestattet.


Das Schulhaus von Filehne1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 21. -- S. 83. -- 1908-05-24

Dem Frommen fließt die Träne,
Hört er nur von Filehne.
Denn, ach, dort baut ein Schulhaus man,
Darüber man nur weinen kann.
Katholisch, jüdisch, evangelisch,
Ob es auch gänzlich fremd sich seelisch,
Wird hier im hause unterrichtet
Und, ach, nur mangelhaft gesichtet.

Doch eins, Gottlob, gewähret Trost
Dem Frommen, der sich drob erbost,
Und der erbebt in Trauer:
Man richtet eine Mauer
In jenem kleinen Hause auf,
Wo die Natur hat freien Lauf.
Rechts evangelisch, links katholisch,
So scheint die Sache mir symbolisch.
Es rette jeder fromme Christ
Die mystische Seele vor seelischem Mist!

Wo aber bleibt in der Bude
Der Jude?

1 heute: Wieleń, Polen



Abb.: Aktuelle Berliner Sehenswürdigkeiten für die Reisesaison 1908 <Ausschnitt>.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 21. -- S. 84. -- 1908-05-24

Das "Taufhaus des Westesns"1, für den Übertritt aus einer Religionsgemeinschaft in eine xbeliebige andere. Kolossale Frequenz.

1 Parodie auf das 1907-03-27 eröffnete Kaufhaus des Westens in Berlin.



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Tiroler Kulturkrieg-Schnadahüpfln.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 24. -- 1. Beiblatt. -- 1908-06-14

De Hochschul in Innsbruck
Is nix für die Leut!
Sie macht uns die Buam
Gar viel zu gscheidt!
Holdriöh!

Die Weisheit vom Wahrmund1
Die geht euch nix an:
Den einzigen Wahrmund,
Den hat der Kaplan!
Holdriöh!

Denn a Modernist
Is a Teufel mit Klaun
Und die Büchs ist zum Schießen
Und a Flegl zum Haun!
HoldriöH! Amen!

1 Melodiebeispiel:

Schnadahüpfl-Melodie

[Quelle der .mid-Datei: Wikipedia]

2 Ludwig Wahrmund (1860 - 1932): österreichischer Jurist, seit 1897 Professor an der Universität Innsbruck. Wegen seines "Modernismus", vor allem wegen seiner kritischen Haltung in Ehe- und Schulfragen, die sogar zu parlamentarischen Auseinandersetzungen führte, geriet W. zunehmend in Konflikt mit der Amtskirche. Als Wahrmund 1908 seinen Vortrag Katholische Weltanschauung und freie Wissenschaft veröffentlichte, resultierte daraus die „Wahrmund-Affäre“, die über internationale Presseberichte, Parlamentsdebatten, Studentenunruhen und der zeitweiligen Einstellung des Lehrbetriebs in Innsbruck zur Strafversetzung Wahrmunds an die deutsche Universität Prag führte. Am 29. Februar 1908 konfisziert die Staatsanwaltschaft Wien die Broschüre mit dem Vortrag. Am 14. März 1908 erklärt der österreichische Ministerpräsident Max Wladimir Freiherr von Beck, dass durch die Aussagen Wahrmunds eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft beleidigt worden sei. Am 14. Mai 1908 wird die Universität Innsbruck vorübergehend geschlossen, weil es Wegen Wahrmund wiederholt zu Tumulten gekommen war. Am 3. Juni beginnt an allen österreichischen Universitäten ein Streik gegen die Schließung der Innsbrucker Universität. Am 22. Juni wird der Studentenstreik an den österreichischen Universitäten eingestellt, das sich Wahrmund mit seiner Versetzung an die Universität Prag einverstanden erklärt.


Abb.: Einbandtitel (der Titel ist ein Widerspruch in sich selbst)

"Uns allen ist noch erinnerlich, wie Ludwig Wahrmund wegen seines Vortrages »Katholische Weltanschauung und freie Wissenschaft« im Jahre 1908, also anderthalb Jahrhunderte später, behandelt wurde. Wie die tiroler Bauern mit Knütteln nach  Innsbruck zogen, um, aufgehetzt von ihren Seelenhirten, den Mann zu erschlagen, der es gewagt hatte, Dinge zu sagen, die schließlich jedes Kind mit der Mutterbrust einsaugt, die aber einem unter jahrhundertelang fortgesetzter Verdummung leidenden Volke als Revolution und Anarchismus erscheinen. Wir erinnern uns auch, wie große Parteien den Mann am [S. 154] liebsten totgeschlagen hätten, weil er anders denkt als sie. Die anschließenden Fälle Schnitzer, Tremel, die Modernistenhetze beweisen, dass die Sache blieb, nur die Form hat sich geändert.

Dass es aber sogar eine mächtige Partei gibt, die, wenn auch nicht diese Form, so doch die Opferung des Intellekts der Autorität billigt, ja bewundert, und zwar im 20. Jahrhundert, ist nicht ohne Interesse.

Der Jesuit Donat [Josef Donat, 1868-1946] legt u. a. die Gefahren dar, die aus der Berechtigung jedermanns, sich ein selbständiges Urteil zu bilden, folgten. Die »krankhafte Zweifelsucht« unserer Zeit, sei eine giftige Atmosphäre, die den empfänglichen Geist, der sich lange in ihr aufhalte, anstecke, ohne dass er es merkt.

Man könnte das ja auch so ausdrücken: die Summe der Erfahrungen , die mit den kirchlichen Dogmen kollidieren, ist so groß, dass auch der Blinde es langsam merkt und sich weigert, das Sacrificium intellectus [Opfer des Verstandes] zu bringen."

[Quelle: Kemmerich, Max <1876-1932>: Kultur-Kuriosa. -- München : Langen. -- Bd. 2. -- 1923. -- S. 133f. -- Online: http://www.archive.org/details/kulturkuriosa02kemmuoft. -- Zugriff am 2010-01-10]



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Die gute alte Zeit. 
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 30. -- 6. Beiblatt. -- 1908-07-26



Abb.: Ernst Retemeyer: Der Gesang in der Hopfenlaube oder Des bayerischen Buam Leiblied (frei nach Böcklin1). 
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 34. -- S. 136. -- 1908-08-23

A Bier g'hört zum Radi,
A Radi zum Bier,
I g'hör zu meiner Alten,
Mei Alte zu mir - duliöh!

1 Böcklin:


Abb.: Arnold Böcklin (1827–1901): Die Klage des Hirten, 1866
[Bildquelle: Wikipedia. -- Public domain]



Abb.: Gustav Brandt <1861-1919>:  Beglaubigte Wunderwirkungen im 20. Jahrhundert (Nachrichten vom Katholikentag1).
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 35. -- 2. Beiblatt. -- 1908-08-30

1 55. Deutscher Katholikentag, 16. - 20. August 1908 in Düsseldorf. Er nimmt u.a. einen Antrag "zur energischen Bekämpfung der Unsittlichkeit" an. Er endet mit der Parole: "Katholiken in Deutschland voran! Deutsche Katholiken in der katholischen Welt voran!"



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Tolstoi und der heilige Synod1.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 38. -- 1. Beiblatt. -- 1908-09-20

Unterbrochenes Ständchen

1 Der russische Schriftsteller Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoj (Лев Николаевич Толстой) (1828 - 1910) wurde 1901 wegen seines Romans "Auferstehung" von dem Heiligen Synod der russisch-orthodoxen Kirche exkommuniziert.

Der Heilige Synod ruft am 4. September 1908 anlässlich des 80. Geburtstags (1908-09-09) des Schriftstellers Leo N. Tolstoi alle Gläubigen auf, an den Geburtstagsfeiern nicht teilzunehmen, da Tolstoi sich als hartnäckiger Gegner der orthodoxen Kirche erwiesen habe.

Pjotr Arkadjewitsch Stolypin (Пётр Арка́дьевич Столы́пин) (1862 - 1911):  russischer Premierministers von 1906 bis 1911. tiefgreifende Reformen im Zarenreich durchsetzte.


Aus Bayerland. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 61, Nr. 39. -- 1. Beiblatt. -- 1908-09-27

So sprach Herr Wehner1, der Minister, -
O man weiß ja, in der Tat
Voll von frumber Einfalt ist er -
Sprach zum Ludwigshafner² Rat:

"Hört, ihr Herren, und lasst euch sagen,
Schaffet eine Lehrerin,
Die das Romas Lehr getragen
Allezeit getreu im Sinn.

Allzumal ja sind wir Sünder,
Drum so dient der Kirche recht;
Hört auch ihr mich, liebe Kinder,
Die von weiblichem Geschlecht.

Nicht nur in den religiösen
Stunden soll es also sein;
Leicht auch schleichen sich die böden
Irrelehren sonstwo ein.

Und es scheint mir fast frivolisch,
Wenn ihr in der Handarbeit
Ebenfalls nicht gut katholisch,
Kinder, unterwiesen seid.

Drum katholisch muss sie glauben,
Eure liebe Lehrerin,
Die da Mützen euch und Hauben
Nähen lehrt mit sanftem Sinn.

Auch die allerliebsten Spitzen,
Teils geklöppelt, teils gestrickt,
Die an Kleidungsstücken sitzen,
Die man leider nicht erblickt -

O , es ist nicht nur symbolisch,
Nein, es ist in Wahrheit so,
Alle sind dann gut katholisch,
Drum so seid von Herzen froh.

Kommt denn, Lieschen, Suschen, Röschen,
Jede reine Seele komm!
Mieder, Röckchen, ja selbst Höschen,
Alle, alle seien fromm.

Selbst die Strümpfe und die Bänder,
Die sie halten recht und schlecht -
Kurz, ein jeder der Gewänder
Sei der Kirche treuer Knecht,

Dass uns doch die Tröstung werde:
Alles Böse ist uns fremd;
Wir auf unsrer Bayernerde
Sind katholisch bis aufs Hemd!

1 Anton Ritter von Wehner (1850 - 1915): 1903 bis 1912 Bayerischer Staatsminister des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten.

2 1816 - 1918 gehörte die Pfalz zu Bayern


1909


Klosterballade. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 8. -- 1. Beiblatt. -- 1909-02-21

Ein Mönchlein schlich im Wonnemond,
Husch, husch, wo eine Nonne wohn,
Die ihm den Weg mit Wonne lohnt.
"Hören S' auf, ich bitt' Sie!"

Hörst, hörst du nicht die Raben schrein?
Sie flattern um den Rabenstein . . .
Was mag dort wohl zu haben sein?
"Hören S' auf, ich bitt' Sie!"

Schau, schau, im fahlen Sonnenschein,
Von Spinneweb gesponnen ein,
Bleicht Schädel dort und Nonnenbein! -
"Hören S' auf, ich bitt' Sie!"

Nun schleich ich nachts im Trauergang
Bezecht die Klostermauer lang
Und wimmre diesen Schauersang -
"Hören S' auf, ich bitt' Sie!"



Abb.: Ernst Retemeyer: Vorher und nachher oder die überjesuwiterten Bundesbrüder.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 8. -- 2. Beiblatt. -- 1909-02-21

1. Vertrag in der Sakristei: § 1. Wohlwollende Neutralität. § 2. Religion Privatsache.

2. Der große Kladderadatsch.

3. Erste Regierungshandlung der Präsidentin: Abschaffung der Religion, da den Bürgern des Gleichheits-Staates der Besitz von Privatsachen verboten ist. - Dank vom Hause Luxemburg1!

1 Rosa Luxemburg (1871 - 1919): Wortführerin der Linken in der SPD

Arthur Stadthagen (1857 - 1917): 1890-1917 SPD-Abgeordneter im Reichstags, war wegen agitatorischer Tätigkeit vielfach in Prozesse verwickelt und mehrere Jahre in Haft.


Das Tugendkränzchen. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 11. -- 2. Beiblatt. -- 1909-03-14

Der Gemeindekirchenrat in Komptendorf1 hat einen Ukas erlassen, der über die Trauung "unehrenhafter Brautpaare" und die Taufe unehelicher Kinder außerordentlich scharfe Bestimmungen enthält.

Na endlich - hört es mit Begeistrung! -
Naht sich des Sündenpfuhls Bemeistrung,
Es wird von Toleranzverkleistrung
Nun Kirche und Alter befreit!
Denn streng entzieht der Seelenhirte
Dem Männlein wie dem Weib die Myrte,
Das ab dem Pfad der Tugend irrte -
Ja, sowas nennt man Sittlichkeit!

Und falls bloß noch mit "halber Ehre"
Ein Pärchen mal behaftet wäre,
Gleich nimmt der Kirchenrat die Schere,
Und schneidet, schwapp, sie gänzlich dorch!
Auch bleibt er äußerst fest und zähe
Bei Kindern, die schon vor der Ehe
Versendet hatte - wehe, wehe! -
Der so beliebte Klapperstorch!

Wenn auf des Lagers feuchten Kissen
Bereits die Babys davon wissen,
Welch schlimmen Wandels sich beflissen
Ihr höchst verruchtes Elternpaar,
Wie wird der Abscheu vor dergleichen
Sich schon mit Eia- und popeichen
In ihre jungen Seelen schleichen!
Das ist doch wirklich sonnenklar!

Dem Mann, der uns im März, im lenz'gen,
Den Ukas bot als duftges Pflänzchen
Gebührt mehr als ein Tugendkränzchen;
Das, dächt ich, wäre klar wie Torf!
Ja, höher musst Ihr ihn bewertern!
Auf! Greift nach Orden, nach befehrtern,
Und weiht, mit Eichenlaub und Schwertern
Dem R - - etter sie von Komptendorf!

1 Komptendorf (niedersorbisch Gorjenow): heute Ortsteil der Gemeinde Neuhausen/Spree, Brandenburg



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Kirche gegen Wissenschaft (nach dem Abgeordneten Dr. Goller1).
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 12. -- 2. Beiblatt. -- 1909-03-21

Um jeden Beweis der Darwinschen Theorie endgültig zu vernichten, hat der Heilige Vater den katholischen Patres in Kamerun den Befehl erteilt, die Gorillas systematisch auszurotten.

1 Goller: Reichstags-Abgeordneter der freisinnigen Volkspartei für den 1. oberfränkischen Wahlkreis.



Abb.: Gustav Brandt <1861-1919>:  Der verlorene Sohn1.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 15. -- S. 60. -- 1909-04-11

Lasst die Geigen, lasst die Zimbeln tönen,
Der verlorenste von allen Söhnen
Kehrt zurück. So schlachtet, statt ihn selber
Abzustechen, eins der andern Kälber.
Schön zwar, heilger Tremel², ist die Treue,
Aber allerliebst auch wirkt die Reue!

1 Gleichnis vom verlorenen Sohn: Lukasevangelium 15,11–32:

"11Und er sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne. 12Und der jüngste unter ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Teil der Güter, das mir gehört. Und er teilte ihnen das Gut. 13Und nicht lange darnach sammelte der jüngste Sohn alles zusammen und zog ferne über Land; und daselbst brachte er sein Gut um mit Prassen. 14Da er nun all das Seine verzehrt hatte, ward eine große Teuerung durch dasselbe ganze Land, und er fing an zu darben. 15Und ging hin und hängte sich an einen Bürger des Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. 16Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit Trebern, die die Säue aßen; und niemand gab sie ihm. 17Da schlug er in sich und sprach: Wie viel Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe im Hunger! 18Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir 19und bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! 20Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, lief und fiel ihm um seinen Hals und küsste ihn. 21Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. 22Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringet das beste Kleid hervor und tut es ihm an, und gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße, 23und bringet ein gemästet Kalb her und schlachtet's; lasset uns essen und fröhlich sein! 24denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an fröhlich zu sein. 25Aber der älteste Sohn war auf dem Felde. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er das Gesänge und den Reigen; 26und er rief zu sich der Knechte einen und fragte, was das wäre. 27Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat ein gemästet Kalb geschlachtet, dass er ihn gesund wieder hat. 28Da ward er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn.  29Er aber antwortete und sprach zum Vater: Siehe, so viel Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. 30Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der sein Gut mit Huren verschlungen hat, hast du ihm ein gemästet Kalb geschlachtet. 31Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. 32Du solltest aber fröhlich und gutes Muts sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden."

² Johannes Tremel: Pfarrer von Volsbach (heute Ortsteil von Ahorntal, Lkr. Bayreuth): er hatte im Januar 1909 trotz Verbotes seines Bischofs im "jungliberalen Verein" einen Vortrag gehalten. Tremel gab in der drauffolgenden Auseinandersetzung mit seinem Bischof klein bei.


Die Seligsprechung der Jungfrau von Orleans1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 17. -- 1. Beiblatt. -- 1909-04-25

Einst umfeuert, jetzt umfeiert,
Einst abscheulich, jetzo heilig -
Wenn man 's hört, klingt 's nicht erfreulich!

1 Die Jungfrau von Orleans, Jeanne d’Arc (1412 - 1431) wurde am 18. April 1909 von Pius X. seliggesprochen.



Abb.: Ultramontane Wünsche.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 18. -- S. 70. -- 1909-05-02

Ach bitte, lieber Bülow1, lassen Sie sich doch auch verbrennen. Wir garantieren Ihnen für Seligsprechung nach fünfhundert Jahren².

1 Bernhard Fürst von Bülow (1849 - 1929): Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident

² wie Jeanne d'Arc (siehe oben!)



Abb.: Manus manum lavat1.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 18. -- S. 72. -- 1909-05-02

Pius X. (nach der Seligmachung der Jungfrau²): "Und, Mademoiselle, sobald es zum Sturm auf die gottlose Republik³ kommt, rechnen wir auf Ihre Hilfe!"

1 Manus manum lavat (lateinisch) = eine Hand wäscht die andere (Petronius, Satyricon 45,13)

² Die Jungfrau von Orleans, Jeanne d’Arc (1412 - 1431) wurde am 18. April 1909 von Pius X. seliggesprochen.

³ Frankreich


Zur 200. Aufführung von "Moral"1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 26. -- 5. Beiblatt. -- 1909-06-27

Seht nur: schon zweihundert Mal
Spielt man unentwegt "Moral"1.
Wenn Moral der Inhalt wär,
Längst gäb man das Stück nicht mehr!

1 Moral: Lustspiel von Ludwig Thoma (1867 - 1921); hatte am 20. November 1908 in Berlin am Kleinen Theater Premiere.

Thoma schrieb das Stück im Oktober und November 1906 im Gefängnis München-Stadelheim, wo er wegen des in der Zeitschrift Simplicissimus erschienenen satirischen Gedichts »An die Sittlichkeitsprediger in Köln am Rheine« sechs Monate inhaftiert war. Die Handlung des Stücks kommt durch die Verhaftung einer Prostituierten in Gang, bei der ein Tagebuch sichergestellt wird. Darin sind viele Namen von Mitgliedern des örtlichen Sittlichkeitsvereins, Honoratioren der Stadt, verzeichnet. Diese setzen nun alles daran, den drohenden Skandal zu verhindern, was ihnen erst durch Zahlung eines Schweigegelds an die Prostituierte gelingt.

Der Vertreter des Sittlichkeitsvereins sagt: „Moralisch sein, das bringe ich in meinem Zimmer allein fertig, aber das hat keinen erzieherischen Wert. Die Hauptsache ist, dass man sich öffentlich zu moralischen Grundsätzen bekennt. Das wirkt günstig auf die Familie, auf den Staat“.


Ein frommer Knecht. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 27. -- 2. Beiblatt. -- 1909-07-04

Stimmt ein andachtsvoll Gemecker,
Stimmt ein Lobgemecker an -
Dreimal Heil dem Pastor Strecker1,
Gronas² bravem Ehrenmann!

Schlagt die Blicke auf zum Himmel,
Werft euch nieder auf die Knie,
Mit Gebammel und Gebimmel
Feiert Streckern wie noch nie.

H., ein Schlosser, jetzt verstorben,
Hat, da er noch guter Ding,
Sich des Streckers Zorn erworben,
Weil er nicht zur Kerche ging.

Darum, als er nun verblichen,
Folgte Strecker nicht der Leich,
Dass das Konto sei beglichen,
Und die Posten wieder gleich.

Siehste, H., bekleckert biste -
Siehste, glänzend fielst du rein!
Strecker, als ein guter Christe,
Murmelt sanft: "Die Rach ist mein."

Ja solch frech Gebaren rächt sich!
Strecker tut nur, was vergnügt
Fünfzehnhundertneunundsechzig
Schon die Obrigkeit verfügt.

Also ist die Sach erledigt,
Und ich sage: comme il faut!³
Wozu Trional4 und Predigt?
Schlosser H., der schläft auch so!

1 Strecker: ??

² Grona = heute Grone, 1964 eingemeindeter Stadtteil von Göttingen

³ comme il faut (französisch) = wie es sich gebührt

4 Trional = ein Schlafmittel: (Methylsulfonal, Diäthylsulfonmethyläthylmethan) CH3 C2H5C(SO2C2H5)2


Ultramontane Diskretion. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 30. -- S. 119. -- 1909-07-25

Der Regens Rieg1, ein heil'ger Mann
Zu Rottenburg im Seminar,
Tut seine Pflicht so gut er kann
Tut seine Pflicht mit Haut und Haar.

Und was auch der Alumnus schreibt
Zu stiller Stund im Kämmerlein,
Ja, was er in Gedanken treibt, -
Herrn Rieg kann nichts verborgen sein.

Er nimmt die Heftchen aus dem Pult
Und merkt sich die "Notamina",
Er exerziert mit Lammsgeduld
Die peinlichsten Examina.

Und trifft er hier, und trifft er dort
Das Satanskind, den Zweifel, an,
So reißt ein heil'ger Grimm ihn fort,
Als fasste ihn der Teufel an!

Ja, selber denken ist ein Fluch! -
Als Sie noch jung, Herr Regens, wie?
Sie lasen fromm im heil'gen Buch
Des Herrn - und dachten selber nie?!

1 Benedikt Rieg (1858-1941): Regens des Rottenburger Priesterseminars, verschob z.B. 1908 die niederen Weihen Alfons Heilmanns (1883 - 1968), weil dieser sich "in modernistischen Gedankengängen stark hineingearbeitet und infolge dessen in schwere Glaubenskrisen verwickelt" habe.



Abb.: Ernst Retemeyer: Der neue Freund als Erzieher.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 32. -- 1. Beiblatt. -- 1909-08-08

Ich muss dich nun vor allen Dingen
In listige Gesellschaft bringen,
Damit du siehst, wie leicht sich mogeln lässt.

Erläuterung: Die Türaufschrift P. Filucius ist eine Anspielung auf Wilhelm Busch:

Pater Filucius / von Wilhelm Busch <1832 - 1908> (1872) / hrsg. von Alois Payer. -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/karikaturen4.htm. -- Zugriff am 2004-11-16



Abb.: Das "klerikale Witzblatt" : eine contradictio in adjecto1.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 33. -- S. 131. -- 1909-08-15

"Ach könnten wir nicht ein Witzblatt gründen?"
Es müssen sich Scherze in Menge finden.
Fällt 's Witzemachern denn gar so schwer?
Wo bekommen die Ketzer die Witze her?
O Himmel, lass ein Wunder geschehn,
Dass Funken des Witzes in uns entstehn,
Und führe und, willst du dem Glauben nützen,
Zum Bänklein hin, wo die Spötter sitzen!"

Da hat Sankt Peter getobt und gekracht -
Und die Welt hat über den "Witz" gelacht!

1 Contradictio in adjecto (lateinisch): Widerspruch im Beiwort, findet statt, wenn das Beiwort ("klerikal") eine Beschaffenheit ausdrückt, die mit dem Gegenstande des Hauptwortes ("Witzblatt") in Widerspruch steht


Lärm im Zentrumsturm1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 33. -- 1. Beiblatt. -- 1909-08-15

Im Zentrumsturme hallt es
Wie Brausen vor dem Sturm;
Aus rauen Kehlen schallt es:
"Heraus, raus aus dem Turm!" -

Geduld! Seid ihr von Sinnen?
Schreit euch die Lungen aus.
Wer einmal ist dadrinnen,
Kommt doch nicht mehr heraus.

Kein Trotz hilft ihm, kein Bitten,
Die Mauern halten Stand,
Es halten die Jesuiten
Die Schlüssel in fester Hand.

1 Auf einer Parteikonferenz der Zentrumspartei in Koblenz kommt es am 9. August 1909 zu hzeftigen Auseinandersetzungen darüber, ob das katholische Zentrum sich zu einer überkonfessionellen Partei entwickeln soll, also aus seinem "Turm" heraustreten soll. Im November 1909 erklärt die Parteiführung: "Die Zentrumspartei ist grundsätzlich eine politische, nichtkofessionelle Partei."



Abb.: Der wahre Kladderadatsch : Organ für fürstbischöflich approbierten Witz.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 34. -- Beilage. -- 1909-08-22


Abb. -- a.a.O.


Abb.: Arthur Krüger: Siegeslied (nach berühmtem Muster). -- a.a.O.

Erläuterung: Nachbildung des Liedes "Als die Römer frech geworden" von Viktor von Scheffel

Für Melodie "Als die ..." hier drücken

[Quelle der midi-Datei: http://ingeb.org/Lieder/alsdiero.html. -- Zugriff am 2004-10-16]


Abb. -- a.a.O.


Satan. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 41. -- S. 161. -- 1909-10-10

Huh! Wie duster ist der Himmel!
Huh! Wie weht der Wind so kalt!
Reicht mir einen Gilkakümmel1,
Denn mich schaudert 's mit Gewalt.
Meine arme Seele zittert,
Und mein Kopf wird ganz konfus -
Durch die deutschen Lande schlittert
Satan mit dem Pferdefuß.

Hör mich, Deutscher! Lass dich warnen,
Ob du Jude oder Christ!
Lass, o lass dich nicht umgarnen,
Von des Teufels Hinterlist.
Nein! Bedenk das Heil der Seele
Hier in diesem Jammertal:
Was dich quält und was dir fehle,
Werde nur nicht liberal.

Denn der erste Liberale
War der böse Satanas.
Der Infame, der Fatale
Sät noch immer Neid und Hass.
Trag in Ruh den Büßerkittel,
Sanftmut kleidet dich gar fein,
Und als bestes Trostesmittel
Trink des Junkers Branntewein.

Für die andern musst du schaffen,
Sonst ist all dein Tun nichts nutz,
Für die Junker und die Pfaffen,
Und sie leihn dir ihren Schutz.
Sie zu ehren und zu lieben,
Sei hinfort dein Ideal:
Denn dem Teufel ist verschrieben
Ewig, wer da liberal!

Heil uns! Heil! Noch ist das Große
Nicht verschwunden aus der Welt.
Aus des Vaterlandes Schoße
Ward geboren uns ein Held.
Ja, uns kam der Himmelsbote,
Der uns bringt der Wahrheit Licht.
Heil! Der tapfre Pastor Grote²
Fürchtet selbst den Teufel nicht!

Huh! "Der letzte Liberale",
Spricht er, "ist der Antichrist!"
Mensch wirf deine Ideale -
Außer Grote - auf den Mist!
Und entsage jedem Zweifel;
Grote spricht, der Gottesmann:
"Heute noch geht um der Teufel" -
Glaubst du 's nicht, sieh Grote an!

P. W.

1 Gilka oder Gilka Kaiser-Kümmel ist ein leicht gesüßter Kümmelbranntwein aus Kümmelöl, Zucker und Spiritus, der 38% Alkohol enthält.

² Grote: ??


Ja, in Spanien! -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 42. -- S. 166. -- 1909-10-17

Hört die allerliebste Meute,
Ja, wir haben 's weitgebracht!
Ringsumher, wie einst, ist heute
Unergründlich schwarze Nacht.
Doch im schönen Katalonien,
Wo die stolzen Spanier wohnien,
Ist ein helles Licht entfacht.

Wie der Pfaffen Augen funkeln,
Wie sie fletschen das Gebiss!
Ja, bei uns tun sie 's im Dunkeln.
Denn sie haben doch noch -- Angst.
Doch in Spanien, ja in Spanien,
In dem Lande der Kastanien
Hindert sie kein Hindernis.

Seht, vom Scheiterhaufen flammen
Feuersäulen himmelan.
Und die Wahrheit bricht zusammen,
Und man betet an den Wahn.
Gleich als wollte die Spaniolen
Schockweis sich der Teufel holen,
Wie er 's früher schon getan!

Hei, wie sie den Helden Ferrer1
Zerren frech auf das Schafott!
Diese gottverfluchten Zerrer
Treiben mit dem Höchsten Spott.
Wo im Gifthauch falscher Pfaffen
Alle Seelen müd' erschlaffen,
Wird zum Baal der Christengott.

Aber wir im kühlen Norden
Können es mit Ruhe sehn,
Wie sie sengen, brennen, morden
Und in Rachelust sich blähn!
Nein, wir brauchen nicht zu sorgen! -
Ach du lieber Himmel! Morgen
Kann es auch bei uns geschehn!

Wachet drum! Und schärft die Waffen,
Es ist Zeit, o glaubt es, glaubt!
Dass euch nicht der Geist der Pfaffen
Wahrheit, Reinheit, Freiheit raubt.
Hütet euch vor eitlem Wahne! -
- Steh uns endlich auf, Titane;
Der zerschlägt der Hydra Haupt.

P. W.

1 Francesc Ferrer i Guàrdia (1859 - 1909): wurde am 13. Oktober 1909 in Barcelona durch Erschießen hingerichtet.

"Francesc Ferrer i Guàrdia [fɾənˈsɛsk fəˈre i ˈɣwaɾðjə] (katalanische Namensform, gelegentlich auch kastilisch Francisco Ferrer Guardia; * 10. Januar 1859 in Alella bei Barcelona; † 13. Oktober 1909 in Barcelona) war ein libertärer spanischer Pädagoge.

Leben

Francesc Ferrer i Guàrdia stammte aus einer streng katholischen Familie. Er selbst entwickelte sich zum Gegner der Religion und trat der Freimaurerloge Veritat (kat.) bzw. Verdad (kast.) in Barcelona bei. Als Unterstützer des gescheiterten Versuchs Ruiz Zorrillas, die Republik auszurufen, musste er 1885 nach Paris ins Exil gehen.

1901 kehrte er nach Spanien zurück und eröffnete eine Reformschule, die Escuela Moderna. Aufgrund seiner (insbesondere für die damalige Zeit) radikalen, am Anarchismus orientierten reformpädagogischen Konzepte war er heftigen Anfeindungen ausgesetzt. 1906 wurde er unter dem Verdacht, in ein Attentat auf König Alfons XIII. verwickelt zu sein, verhaftet und über ein Jahr lang festgehalten. Gewisse Kreise der Kirche hatten die Aburteilung vor einem Kriegsgericht gefordert, aber die spanische Regierung entschied sich aus politischen Gründen dagegen. Die Schule musste daraufhin schließen.

1909 wurde nach anarchistischen Aufständen in Barcelona („die tragische Woche“) das Kriegsrecht ausgerufen. Ferrer wurde beschuldigt, in die Aufstände verwickelt zu sein. Man stellte ihn vor ein Kriegsgericht. Ohne sich verteidigen zu dürfen und ohne die Möglichkeit von Zeugenaussagen zu seiner Verteidigung wurde er ohne jegliche Beweise zum Tode verurteilt. Das Todesurteil rief auf der ganzen Welt Entrüstung hervor. Entgegen der allgemeinen Hoffnung, König Alfons XIII. würde das Todesurteil nicht unterschreiben, unterschrieb er es dennoch.

Am Tag seiner Verurteilung brachte man ihn in eine Zelle, die wie eine Kapelle eingerichtet war. Die katholische Kirche wollte ihm geistlichen Beistand leisten, was er aber energisch ablehnte.

Bevor er stehend erschossen wurde, ging sein letzter Gruß an seine Schule:

„Ich bin unschuldig. Es lebe die moderne Schule!“ (Original spanisch: ¡Soy inocente! ¡Viva la Escuela Moderna!)

Nach seinem Tod wurden Ferrers Ideen u.a. in den USA aufgegriffen. Mehrere an der "Escuela Moderna" orientierte Schulen entstanden („Modern Schools“ oder „Ferrer Schools“ genannt), die erste 1911 in New York City."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Francesc_Ferrer_i_Gu%C3%A0rdia. -- Zugriff am 2010-01-13]



Abb.: Gustav Brandt <1861-1919>:  Karnickeljagd.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 42. -- 1. Beiblatt. -- 1909-10-17

"Sobald die Jagd auf Karnickel mit diesen Frettchen wieder gestattet ist, wird das Resultat, glaube ich, ein sehr befriedigendes sein!"



Abb.: Ludwig Stutz (1865-1917): Der Modernisten-Jäger.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 42. -- 2. Beiblatt. -- 1909-10-17

 "Ich laure auf ein edles Wild — — —"

Erläuterung: Unter Papst Pius X. jagte die katholische Kirche alles, was nach "Modernismus" roch:

"Die Thesen des Modernismus wurden in der katholischen Kirche im vielfältigen Veröffentlichungen rigoros abgelehnt, beispielsweise im "Syllabus Errorum" (1864) von Pius IX.. Pius X., der den Modernismus als "Sammelbecken aller Häresien" bezeichnete, verurteilte den Modernismus in der Enzyklika Pascendi (1907) und in der Apostolischen Konstitution Lamentabili sane exitu vom 3. Juli 1907. Letztere wird auch als Kleiner Syllabus bezeichnet, in ihr werden 65 Thesen des Modernismus aufgezählt und verworfen. Am 18. November 1907 verurteilte Pius X. nochmals die Lehren des Modernismus in seinem Motuproprio Praestantia Scripturae und verhängte darin als Strafe für die Modernisten die automatische Exkommunikation. Pius X. führte 1910 den Antimodernisteneid ein, mit dem jeder Kleriker dem Modernismus abschwören musste. Dieser Antimodernisteneid war bis 1967 in Kraft. Papst Pius XII. veröffentlicht am 12. August 1950 sein Apostolisches Rundschreiben Humani Generis. Darin greift er scharf modernistische Lehren an und verurteilt sie, unter anderen den Irenismus, den Relativismus und den Historizismus. Selbst heute spaltet der Modernismus die Katholische Kirche, ein Beispiel ist der Dialog zwischen der Priesterbruderschaft St. Pius X. und der Päpstlichen Kommission Ecclesia Dei.

Der Ausdruck " Modernismus" wurde vorwiegend von den Gegnern als Begriff gebraucht; insofern ist es interessant zu sehen, was diese darunter verstanden.

Die folgenden Thesen wurden im Syllabus Errorum als modernistisch angesehen und von der Kirche als häretisch verurteilt. Dabei wurde jede These einzeln als Häresie verurteilt, nicht nur die Gesamtheit.
  • "1. Es gibt kein höchstes, allweises und allvorsehendes von dieser Gesamtheit der Dinge unterschiedenes göttliches Wesen, und Gott ist eins mit der Natur, daher dem Wechsel unterworfen, und Gott wird in der Tat im Menschen und in der Welt. Alles ist Gott und hat das eigentliche Wesen Gottes; und Eines und dasselbe ist Gott mit der Welt, daher auch der Geist mit der Materie, die Notwendigkeit mit der Freiheit, das Wahre mit dem Falschen, das Gute mit dem Bösen, das Gerechte mit dem Ungerechten. "
  • "15. Es steht jedem Menschen frei, jene Religion anzunehmen und zu bekennen, welche jemand, durch das Licht der Vernunft geführt, für die wahre hält. "
  • " 17. Wenigstens darf wohl auf die ewige Seligkeit aller jener gehofft werden, welche in der wahren Kirche Christi keineswegs leben. "
  • " 77. In unserer Zeit ist es nicht mehr nützlich, dass die katholische Religion als einzige Staatsreligion unter Ausschluß aller anderen Kulte gehalten werde. "

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Modernismus. -- Zugriff am 2004-11-16]

Siehe auch:

Pius <Papa, X.> <1835 - 1914>: Iusiurandum contra errores modernismi = Antimodernisteneid (1910-09-01). -- URL:  http://www.payer.de/religionskritik/antimodernisteneid.htm. -- Zugriff am 2004-11-16

Materialreiche, katholische Darstellung zum Modernismus in Deutschland:

Weiß, Otto <1934 - >: Der Modernismus in Deutschland : ein Beitrag zur Theologiegeschichte. -- Regensburg : Pustet, 1995. -- XXI, 632 S. ; 24 cm. -- ISBN 3-7917-1478-3


Auracher. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 42. -- 4. Beiblatt. -- 1909-10-17

Der Pater Auracher1, er verschwand
Aus seinem südlichen Heimatland.
Warum verschwand der Mönch nach Norden?
Je nun, der Pater ist Vater geworden.

Im stillen forschte die Geistlichkeit:
Wo steckt der Auracher denn zurzeit?
Ist er nervös? Schwoll ihm der Kamm?
Wo ist er? Wo weilt er? Ou est la femme?²

Also schreibt der Auracher:
"Lebet wohl, hochwürdger Herr!
Vater werden ist nicht schwer,
Pater sein dagegen sehr.³

M. Fr.

1 Auracher: ??

² Ou est la femme? (französisch) = Wo ist das Weib?

³ Wilhelm Busch: Julchen:

Vater werden ist nicht schwer,
Vater sein dagegen sehr.



Abb.: Gustav Brandt <1861-1919>:  Die Erhöhung der Kirchensteuer.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 43. -- 1. Beiblatt. -- 1909-10-24

Der Bruder Staat zur Schwester Kirche: "Weg da! Trösten darfst du den Bürger; ihm das Fell über die Ohren ziehn gehört aber zu den weltlichen Obliegenheiten, das ist meine Sache."



Abb.: Gustav Brandt <1861-1919>:  Vorstellung in Rom beim "Kultusregimentskommandeur".
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 44. -- 3. Beiblatt. -- 1909-10-31

v. Bethmann Hollweg1: "Melde gehorsamst einen Reichskanzler und vier deutsche Kultusminister zur Stelle!"

1 Theobald Theodor Friedrich Alfred von Bethmann Hollweg (1856 - 1921): Reichskanzler von 1909 bis 1917.

² Die Kultusministerien sind Ländersache


Am Schillertag1 (Glosse). -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 45. -- S. 177. -- 1909-11-07

"Meine Blindheit gib mir wieder
Und den fröhlich dunklen Sinn:
Nimmer sang ich freudge Lieder,
Seit ich deine Stimme bin."

Schiller, Kassandra [1802]

Hoher Geist auf Adlerschwingen
Trugst dein Volk du himmelwärts.
Nimmer kann dein Werk verklingen,
Ewig rührt es jedes Herz.
Freiheit wolltest du uns bringen,
Strahlend fliegst du uns hernieder,
Freiheit atmen deine Lieder.
Aber, ach, in unsern Tagen
Muss ich dennoch flehend klagen:
"Meine Blindheit gib mir wieder!"

Ja, es herrscht im Vaterlande
Freilich Sitte noch und Zucht.
Aber heimlich glüht die Schande
Als des Zweifels giftge Frucht.
Ach selbst in dem Priesterstande
Schwindet schon der Glaube hin,
Nur dem Bösen bringt '
s Gewinn.
Du auch halfest mir den Glauben,
Du und mancher andre, rauben
Und den fröhlich dunklen Sinn!

Gott sei Dank, dass die Synode
Und der Oberkirchenrat
Immer noch bei uns in Mode
Und noch immer frisch zur Tat.
Ja, sie retten uns vom Tode,
Machen sicherlich uns wieder
Fromm und gut und brav und bieder.
Und der Priester spricht: "Ach nimmer
Seit mich traf des Lichtes Schimmer,
Nimmer sang ich freudge Lieder.

Dreiste Zweifler abzusetzen,
Zweifeln sie auch heimlich nur,
Ehrst mit herrlichen Gesetzen,
Kirchenrat, du die Natur.
Seit ich ganz dich weiß zu schätzen,
Fluch ich Schillers frechem Sinn --
Pfui, die Freiheit fahre hin!
Sieh! hier steh ich als der brave,
Würdge Hirte sanfter Schafe,
Seit ich deine Stimme bin!

P. W.

1 Schillers 150. Geburtstag (geb. 10. November 1759)

Lässt sich auf die Melodie von "Freude schöner Götterfunken" singen:

Melodie

[Quelle der .mid-Datei: http://ingeb.org/Lieder/freudesc.html. -- Zugriff am 2010-01-13]


Amerika wird katholisch. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 45. -- 1. Beiblatt. -- 1909-11-07

Die Yankees hör ich demutsvoll
Dem Papste proponieren1:
Den trefflichen Kolumbus soll
Der Papst kanonisieren²!
Gewaltig geht die Trommel um
Allum für den Kolumbumbum³,
Den heiligen Kolumbus!

Zweihundertfünfzigtausend Mann,
Sie drängen sich zur Kasse.
Wer immer bar bezahlen kann,
Der kommt dem Papst zu passe.
Erst geht der Klingelbeutel um,
Dann macht man den Kolumbumbum
Zum heiligen Kolumbus!

Ein Abenteurer, rau und schlicht,
Ein kühner Sohn der Erden,
War er auch damals heilig nicht,
Er kann es jetzt noch werden!
Mit viel Geschrei und dran und drum
Entstellt man den Kolumbumbum
Zum "heiligen" Kolumbus.

1 proponieren = vorschlagen

² kanonisieren = heiligsprechen

³ Kolumbumbum: Anspielung auf:

Ein Mann, der sich Kolumbus nannt,
Widewidewitt bum bum.


Die Geister-Pasta. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 45. -- 1. Beiblatt. -- 1909-11-07

Da war Herr Emil Bergmann1 aus Potschappel²,
bekannt im spiritistischen Verein,
Der malte auf Porzellan so manchen Appel,
Und wollte gern Fabrikdirektor sein.

Zwar fehlt es ihm am nötigen Kapitale,
Doch was verschlug 's dem Genius dieses Manns?
Er wandte sich ans Vierdimensionale
Und fiel bei jeder Sitzung prompt in Trance.

Und wenn dann einer aus dem gläubgen Haufen
An das Geschick die heikle Frage tat:
"Soll ich Bombastusaktien kaufen?"
Zitierte er den Geist, der stets bejaht.

So klapperten die Gelder bald im Kasten,
Und Emil fand die Sache ganz famos.
Er fabrizierte Zahn- und andre Pasten
Und ließ sie fröhlich auf die Menschheit los.

Doch ob von "drüben" auch Rezepte kriegt' er -
Nach kurzer Zeit war die Fabrik bankrott.
Man schleppte Emil grausam vor den Richter,
Und Emil war doch schuldlos, lieber Gott!

Denn dass Kosmetik gründlich er studiert hat -
Wo wäre jemand, der das nicht begreift?
So fein, wie er die Kundschaft "angeschmiert" hat,
Hat er die gläubigen Gläubiger "eingeseift"!

H. St.

1 Emil Bergmann (1861-1931) vernahm schon als Knabe die Kundgebungen des Geistes Luzinda, hatte Begegnungen mit Maria und Johannes und hielt sich für den verheißenen »Tröster«. Er und Max Däbritz (1874 bis 1947) veranstalteten seit 1890 spiritistische Sitzungen in Dresden und veröffentlichten dann die »Glaubenslehre« als Kundgabe des »Hohen Führers«. Ihre Anhänger sahen in ihnen die »zwei Zeugen« Josua und Serubbabel. Zusammen mit Däbritz gründete Bergmann 1904 die Bombastus-Werke für Naturkosmetik und Heilmittel auf Basis der Prinzipien von Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus).

Ausführlich dazu:

Obst, Helmut <1940 - >: Karl August Lingner. Ein Volkswohltäter? : kulturhistorische Studie anhand der Lingner-Bombastus-Prozesse 1906 - 1911. -- Göttingen : V und R Unipress, 2005. -- 415 S. : Ill. ; 25 cm. -- EAN 9783899712179

² Potschappel (wendisch Pocaplicy): heute Stadtteil von Freital, Sachsen



Abb.: Generalsynode 19091.
-- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 47. -- 1. Beiblatt. -- 1909-11-21

Der alte Chronos²: "Kinder, bei der Stärke meines heutigen Motors sind alle eure retardierenden Bestrebungen vergeblich!"

1 6. ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens

² Chronos (χρόνος): in der griechischen Mythologie der Gott der Zeit.


Meck, meck! -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 47. -- 1. Beiblatt. -- 1909-11-21

In Ginneken1 und Teteringen² (Holland) bestehen römisch-katholische Ziegenzuchtvereinigungen. (Zeitungs-Nachricht)

Wie leben wir Böcke in Ginneken
So schön und in Teteringen.
Wir können in sittigem Minneken
Dort werben und lieben und springen.
Meck, meck, meck, meck,
Man fängt die dummen Mäuse mit Speck,
Doch uns mit schöneren Dingen.

Wir haben manch süßes Stelldichein,
Das Ziegenvolk zu vermehren.
Im römisch-katholischen Zuchtverein
Da paaren wir uns in Ehren.
Meck, meck, meck, meck,
Kommt, holde Ziegen, mit uns ins Eck!
Uns segnet der heilige Roeren³!

Doch liebt ein  ehrlicher, frommer Bock
Nur römisch-katholische Ziegen.
Entstammen sie nicht dem schwarzblauen Block4,
Kaltherzig lässt er sie liegen.
Meck, meck, meck, meck,
Die Ketzerziegen sind doch nur Dreck,
Sie können dem Bock nicht genügen!

Es ist die protestantische Geiß
Die Steinheil5 unter den Zicken.
Sie lockt die Böcke, von Inbrunst heiß,
Mit tollen, verliebten Blicken.
Meg6, Meg, Meg, Meg!
Ein gläubiger Bock, der wendet sich weg
Und lässt sich nimmer bestricken.

Sollt' trotzdem einer Ketzerin
Ein Bock seine Gunst mal schenken,
So soll er doch mit gläubigem Sinn
Der künftigen Kitzlein gedenken.
Meck, meck, meck, meck,
Er soll ihre Seelen tapfer und keck
Zur rechten Gläubigkeit lenken.

Meck, meck! Wir leben in Ginneken
So schön und in Teteringen.
Die Kirche regelt die Sinneken,
Sie regelt das Lieben und Springen.
Meck, meck, meck, meck,
Das Springen ist unser Lebenszweck.
O möge es immer gelingen!

M. Fr.

1 Ginneken: 1942 in Breda eingemeindet

² Teteringen: 1997 in Breda eingemeindet

³ Hermann Roeren (1844 - 1920): Zentrumspolitiker, 1893 - 1912 Abgeordneter im Reichstag

4 schwarzblauer Block: Block aus Zentrum (schwarz) und Konservativen (blau) im Reichstag 1909

5 Marguerite Jeanne "Meg" Steinheil (1869 - 1954)

"Marguerite Jeanne "Meg" Steinheil, geborene Japy (* 16. April 1869 in Beaucourt (Territoire de Belfort); † 17. Juli 1954 in Hove) war eine französische Ehefrau und Mätresse.


Abb.: Marguerite Steinheil, 1909 gemalt von Georges Scott

Ihr erster Mann war der Maler Adolphe Steinheil (Heirat am 9. Juli 1890).

Im Jahr 1897 wurde sie in Chamonix dem damaligen französischen Präsidenten Félix Faure vorgestellt. Bekannt wurde sie, weil sie als dessen Mätresse in pikanter Weise an seinem Ableben beteiligt war: Faure traf sich zwischen zwei Sitzungen mit Steinheil im Blauen Salon des Élysée-Palasts; beim Oralverkehr erlitt er dann einen Gehirnschlag, an dessen Folgen er noch am gleichen Abend starb. Marguerite Steinheil erhielt daraufhin den Beinamen "la Pompe Funèbre" (französisch wörtlich: "die Trauerpumpe", in Anspielung auf "les Pompes funèbres", den Begriff für ein Beerdigungsinstitut).

Am 31. Mai 1908 wurden ihr Mann Adolphe und ihre Stiefmutter Madame Japy, die zu Besuch war, in der Pariser Wohnung der Steinheils tot aufgefunden. Madame Japy hatte einen Herzanfall, Adolphe Steinheil wurde erdrosselt. Marguerite wurde des Mordes angeklagt. Der Prozess erregte großes Aufsehen, u. a. weil dabei viele ihrer Verehrer namentlich bekannt wurden. Am 14. November 1909 wurde sie freigesprochen.

Später lebte sie in London unter dem Namen Mme. de Serignac. Dort heiratete sie am 26. Juni 1917 Robert Brooke Campbell Scarlett (6. Baron Abinger, † 1927) und wird Lady Abinger.

Sie starb am 18. Juli 1954 in einem Altersheim in Hove."

[Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Marguerite_Steinheil. -- Zugriff am 2010-01-14]

6 Meg = Rufname von Frau Steinheil


Boccaccio1. -- In: Kladderadatsch. -- Jg. 62, Nr. 49. -- S. 194. -- 1909-12-05

Gottlob! Nun ist es festgestellt
Und offenbar vor aller Welt,
Wie grässlich, ekelhaft und roh
Der schändliche Boccaccio!

Das Schamgefühl, das Schamgefühl
Stürzt er in schreckliches Gewühl;
Und wenn auch früher nicht, wird jetzt
Es gröblich doch durch ihn verletzt.

So sprach das hohe Reichgericht!
Da strahlt so manches große Licht.
Wie herrlich, dass es uns befreit
Vom "Wulste der Unzüchtigkeit".

Nun stehn wir da so roerend² rein,
Und sind nicht mehr so hundsgemein,
Wie ein gewisser Goethe war,
Der allen Schamgefühles bar.

Der las  vergnügt und seelenfroh,
O Himmel, im Boccaccio!
Er freute sich der Sinnlichkeit;
Ach ja, er war noch nicht so weit.

Langweilig scheint Boccaccio heut,
Wir haben, was viel mehr erfreut:
Erheiternd wirkt ja, wie sonst nichts,
So eine Schrift des Reichsgerichts.

P. W.

1 Giovanni Boccaccio (1313 - 1375): Verfasser des Decamerone

² Hermann Roeren (1844 - 1920): Zentrumspolitiker, 1893 - 1912 Abgeordneter im Reichstag


Zu: Kladderadatsch 1910 - 1913

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