Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen

3. Teil III: Beziehungsideen II: Neurobiologische Ansätze

3. Kapitel 3: Neurophysiologische Grundlagen des Bewusstseins


von Sabine Gudrun Klein-Schwind

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Zitierweise / cite as:

Klein-Schwind, Sabine Gudrun: Zur Konzeption von Individualität im Theravāda-Buddhismus im Vergleich mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Ansätzen. -- 3. Teil III: Beziehungsideen II: Neurobiologische Ansätze. -- 3. Kapitel 3: Neurophysiologische Grundlagen des Bewusstseins. -- Fassung vom 2006-10-11. -- URL: http://www.payer.de/schwind/schwind33.htm.

Erstmals publiziert: 2006-10-11

Überarbeitungen:

Anlass: Magisterarbeit im Fach Indologie an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Mai 2000

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0. Übersicht



 


Abb.: Magnetresonanztomografieaufnahmen von Querschnitten eines menschlichen Gehirns
[Bildquelle. Wikipedia]


Abb.: Magnetresonanztomografieaufnahmen von Längsschnitten eines menschlichen Gehirns
[Bildquelle. Wikipedia]

"Although we often talk about the brain as if it has a function, the brain itself actually has no  function. It is a collection of systems, sometimes called modules,   each with different function.  There is no equation by which the   combination of the functions of all the different systems mixed   together equals an additional function called brain function."1

1 LeDoux: Brain, 1996. - S. 105.


3.1. Exkurs: Kontrollillusion und erlernte Hilflosigkeit


Die Herausbildung des Selbstkonzeptes konstituiert sich wesentlich in einer Reihe von Teilidentifikationen mit verschiedenen Bereichen der Umwelt. Die Kriterien, nach denen diese Auslese stattfindet, die ein Individuum für die jeweiligen Identifikationen disponieren, sind jedoch nur bedingt das Ergebnis autonomer Entscheidung: Sie müssen bereits in irgendeiner Form im Individuum angelegt sein, denn selbst das Wertesystem, das einer solchen Wahl, einer bewussten Identifikation zugrundeliegt, geht dem Individuum voraus. Identität, die Stabilisierung des Selbstkonzeptes bedeutet Festlegung und somit immer auch Ausschließung von Identifikationsmöglichkeiten. Es ist jedoch notwendig, ein Selbstkonzept zu entwickeln, um sich überhaupt auf die Umwelt beziehen zu können.  Blakeslees Selbstkonzept als angeborener Trugschluss lässt sich also sinnvoll in die buddhistische Terminologie übersetzen: Modulare Persönlichkeitsorganisation, wobei ein oder mehrere Module darauf spezialisiert sind, die Illusion von Kontrolle aufrechtzuerhalten, ist ein anschauliches Modell für die buddhistische Vorstellung von anattā. Wenn von Kontrollillusion als wesentlichem Symptom von anattā die Rede ist, darf das nicht als deterministische oder fatalistische Sichtweise missdeutet werden: Kontrollillusion heißt nicht, dass überhaupt kein Kontrollvermögen vorhanden ist, dass wir gar keine Möglichkeit haben, Verhalten zu steuern, auf den Lauf der Dinge Einfluss zu nehmen -- denn dann wären auch die Voraussetzungen für den buddhistischen Erlösungsweg nicht gegeben. Der buddhistische Pfad zur Überwindung des Leidens hat vielmehr eine (graduelle) Veränderung der Einstellung zum Ziel. Die Verringerung und schließlich die Überwindung des Leidens als erklärtes Ziel der buddhistischen Lehre besteht nicht -- oder nur mittelbar -- in der Ausschaltung der leidverursachenden äußeren Faktoren, wie sie in der Ersten Edlen Wahrheit aufgezählt sind. Vielmehr soll schrittweise eine Veränderung der Sichtweise herbeigeführt werden, und zwar durch gesteigerte Kontrolle über die eigenen Grundeinstellungen.  Das Selbstmodul soll nicht bekämpft, sondern diesem Prozess dienstbar gemacht werden -- was schließlich zu seiner Löschung führt. Dieser Mittelweg zwischen völliger Hilflosigkeit -- die in ihrer extremsten Ausprägung als endogene Depression in Erscheinung tritt -- und Kontrollwahn ist methodisch repräsentiert durch  satipaṭṭhāna. Satipaṭṭhāna setzt an einem völlig anderen Punkt an, der im Koordinatensystem der gewohnheitsmäßigen Verhaltensoptionen nicht definiert ist.

Satipaṭṭhāna ist ein Sammelbegriff für verschiedene Formen der Introspektion und des Beobachtens und geschieht durch das Interpreten-Modul, das nicht in der Lage ist, ein reines Abbild von der Wirklichkeit zu erzeugen: Auch satipaṭṭhāna ist eine Form der Interpretation, eine angeleitete Interpretation und nicht "reines Beobachten". Da in jedem Bewusstsein  saññā vorhanden ist, ist "reines Beobachten" nicht möglich, streng genommen nicht einmal für einen Erlösten. "Reines Beobachten" darf jedoch nicht gleichgesetzt werden mit der paramattha-Sichtweise. Satipaṭṭhāna stellt ein im Sinne von paramattha realistischeres Interpretationsschema dar als das gewohnheitsmäßige Deutungsschema des Interpretenmoduls, das Selbstkonzept.


3.2. Vedanā und Emotion


"Diese Beobachtungen lassen eine recht radikale These zu. Könnte es sein, dass bei einem in Entwicklung befindlichen Organismus eine Konstellation von mentalen Systemen (emotionalen, motivationalen, perzeptuellen usw.) besteht, jedes ausgestattet mit seinen eigenen Werten und Reaktionswahrscheinlichkeiten? Im Verlauf der Reifung werden dann die Verhaltensweisen, welche diese separaten Systeme hervorbringen, durch das eine System überwacht, das wir immer mehr benutzen, nämlich das verbale, natürliche Sprachsystem. Es entwickelt sich graduell ein Konzept für die Selbstkontrolle, so dass das verbale Ich Kenntnis von den Impulsen für eine Handlung erhält, die von den anderen Teilen des Selbst stammen, und es versucht entweder diese Impulse zu unterbinden oder ihnen freien Lauf zu geben, je nach Lage der Dinge."2

2 Gazzaniga; LeDoux: Integration, 1983. - S.  116.


Abb.: Joseph LeDoux (geb. 1949)
[Bildquelle: http://www.nyu.edu/public.affairs/releases/detail/882. -- Zugriff am 2006-10-08]

Die folgende komparatistische Betrachtung von vedanā und der neurobiologischen Konzeption von Emotion nach Joseph LeDoux soll Aufschluss darüber geben, inwiefern bzw. unter welchen Gesichtspunkten es sinnvoll ist, Individualität nach Funktionen zu beschreiben.  Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, dass sowohl im Theravāda-Buddhismus als auch in der Neuropsychologie Emotion als eine zentrale Funktion von Individualität von anderen kognitiven (und physischen) Funktionen unterschieden wird. vedanā und der Emotionsbegriff der westlichen Psychologie -- auf LeDouxs Spezifikation werde ich noch eingehen -- sind jedoch nicht kongruent, ebensowenig ist viññāṇa ohne weiteres mit dem gleichzusetzen, was die Neuropsychologie als Bewusstsein bezeichnet, und cetanā ist auch nicht völlig identisch mit Motivation. Die Kriterien für die Unterscheidung der grundlegenden Funktionen weisen jedoch offensichtliche Parallelen auf: LeDoux und Gazzaniga sprechen von "emotionalen, motivationalen, perzeptuellen usw. Systemen"3, und das 2.500 Jahre nach dem Buddha unter völlig veränderten erkenntnistechnischen Voraussetzungen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die beiden Ansätze erstaunlich kongruent, und man kann eine komparatistische Annäherung wohl kaum als konstruiert bezeichnen.

 3 Vgl.  Gazzaniga; LeDoux: Integration, 1983. - S.   116.

Bisher ist es auch in der westlichen Psychologie nicht gelungen, Emotion per Definition klar von anderen mentalen Phänomenen abzugrenzen: Vielmehr wurden Theorien über Emotion traditionell im Zusammenhang mit Motivations-, Trieb- und Bedürfnistheorien entwickelt4.

4 Vgl. Schönpflug; Schönpflug: Psychologie, 1995.   - S. 375f.  

Vedanā -- die khandha- und nidāna Definition ist hier identisch -- wird im Visuddhi-Magga zunächst nach seiner Qualität, also angenehm, frustrierend oder neutral unterschieden; weiter existiert in Anlehnung an die 89 Bewusstseinszustände eine sehr differenzierte Bestandsaufnahme von Gefühlen bzw. Gemütszuständen5 . Die Phänomene, auf die der Emotionsbegriff referiert, sind in der Theravāda-Psychologie in verschiedenen Paradigmen repräsentiert. Dem motivationalen Aspekt der Emotion wird dadurch Rechnung getragen, dass die 89 Arten von vedanā sich über die verschiedenen Bewusstseinszustände definieren. Außerdem werden einzelne Emotionen oder Gemütszustände wie Euphorie (pīti) oder Gelassenheit (upekkhā) zur Kategorie der gestaltwirksamen Koeffizienten (sankhāra-kkhandha) gerechnet, mit denen sich der Motivationskoeffizient, cetanā, verbindet. Die Vier āsavas repräsentieren das fundamentale Triebinventar in der Theravāda-Scholastik:

Bhavāsava steht für Selbsterhaltungstrieb oder "Trieb nach Werden" in einem sehr weiten Sinne: Aus buddhistischer Sicht wäre Evolution auf bhavāsava zurückzuführen.  Ziel des buddhistischen Weges ist -- grenzwertig -- das Versiegen des  bhavāsava, d.h. die Überwindung der kognitiven, emotionalen und verhaltensmäßigen Tendenzen, die auf die Erhaltung der Existenz, auf die Fortsetzung des Bedingten Entstehens ausgerichtet sind. In diesem Sinne ist der dhamma durchaus anti-evolutionär, paṭisotapanna. Entsprechend wird ein Erlöster als  khīnāsavo, einer, dessen Triebe versiegt sind, bezeichnet, und die Erkenntnis, die diesen Zustand realisiert, als āsavakkhayañāṇa. Lobha, dosa und moha -- Gier, Hass und Verblendung -- die ebenfalls den Emotionen zuzurechnen sind, haben in der Theravāda-Scholastik die Funktion von moralischen Klassifikatoren, die die verschiedenen Bewusstseinszustände und die damit verknüpften Empfindungen qualifizieren.

5 Vgl. oben Teil II Kap.2.2.3.

Joseph LeDoux weist nachdrücklich darauf hin, dass das Wort Emotion nicht auf etwas referiert, das das Bewusstsein bzw. das Gehirn "hat" oder "tut":

"Emotion is only a label, a convenient way of talking about aspects of the brain and ist mind."6

6 LeDoux: Brain, 1996. - S.  16.

Es ist also lediglich unter pragmatischen Gesichtspunkten sinnvoll, Emotion als System ein- bzw. von anderen mentalen und physischen Systemen abzugrenzen. Dies gilt nach Ansicht LeDouxs generell für die Unterscheidung und Benennung von Bewusstseinsfunktionen:

"Psychology textbooks often carve the mind up into functional pieces, such as perception, memory, and emotion. These are useful for organizing information into general areas of research but do not refer to real functions. The brain, for example, does not have a system dedicated to perception. The word "perception" describes in a general way what goes on in a number of specific neural systems [...]"7

7 LeDoux: Brain, 1996. - S.  16.

Das khandha-Modell und die damit verknüpften Paradigmen wie die dhātus und āyatanas  haben einen vergleichbaren "erkenntnistechnischen" Stellenwert in der Psychologie des Theravāda.


3.3. Das "limbische System"



Abb.: Das limbische System (rot)
[Bildquelle: Wikipedia]

Lange Zeit wurde der Bereich der Emotion bzw. der Empfindung in den Neurowissenschaften eher stiefmütterlich behandelt: Mit dem Aufkommen der Kognitionspsychologie trat Emotion als Gegenstand neuropsychologischen Interesses in den Hintergrund. Ein erster Schritt zur Rehabilitierung des Gefühls als psychologische Kategorie war der Versuch, das neuronale System zu identifizieren, das der Entstehung von Emotion zugrundeliegt. Lange Zeit wurde das sogenannte "limbische System" als anatomische Grundlage der Emotion postuliert: Mittlerweile wird diese Theorie jedoch nachhaltig bezweifelt8. Mac Lean und andere Vertreter dieser Theorie reduzierten Emotion auf eine einzige homogene Fähigkeit des Bewusstseins, die sie hirnphysiologisch lokalisieren zu können glaubten, wobei sie sich an der Hirnevolution orientierten: Die Gehirne von Amphibien, Reptilien, Fischen und Vögeln als entfernten Nachkommen von Arten, die bereits sehr früh in der Evolution existierten, wurden mit Gehirnen von Säugetieren verglichen. Zusätzlich zum phylogenetisch alten medialen Kortex, der allen Arten gemeinsam war, wiesen die Säugetiere -- sozusagen als evolutionäres Novum -- auch einen lateralen Neokortex auf, der als anatomisches Substrat des "limbischen Systems" postuliert wurde. Dies erwies sich jedoch als nicht haltbar: In den 1970ern gelang es, auch bei Nicht-Säugetieren neuroanatomische Entsprechungen zu diesem "jungen" lateralen Kortexbereich nachzuweisen. Auch Theorien, die das limbische System über die Verbindung mit dem Hypothalamus zu definieren versuchten, brachten keinen wesentlichen Fortschritt9. Schließlich war erklärtes Ziel der Theorie vom limbischen System, aufgrund von neuroanatomischen Erkenntnissen über die Gehirnevolution das emotionale System zu lokalisieren -- die an emotionalen Reaktionsmodalitäten beteiligten Gehirnbereiche zum "limbischen System" zu erklären heißt das Kind mit dem Bade ausschütten. LeDoux:

"Either the limbic system exists or it does not. Since there are no independant criteria for telling us where it is, I have to say that it does not exist."10

8 Le Doux in: Cognitive Neurosciences. Hg. Michael Gazzaniga,   1995. S.  1049.

9 Vgl. Le Doux: Brain, 1996. - S. 100f.

10 Vgl. Le Doux: Brain, 1996. - S.  101.


3.4. Emotionen als Überlebensstrategien


Auch in der Neuropsychologie sieht man sich wie gesagt mit dem Problem konfrontiert, dass es keine Definition oder Theorie gibt, die Emotionen so eingrenzt bzw. von anderen mentalen Phänomen abgrenzt, dass die ihnen zugrundeliegenden neuronalen Systeme eindeutig identifiziert werden könnten. Denn:

"If we cannot define emotion, how can we hope to identify the emotion system of other systems in the brain?"11

11 LeDoux: Brain, 1996. - S.  101.

Für LeDoux resultiert dieses theoretische Problem aus dem selben Denkfehler, der lange Zeit die neuropsychologische Erforschung des Gedächtnisses blockiert hat: Solange man Gedächtnis als ein einheitliches Phänomen betrachtete, das von einem einzigen neuronalen System erzeugt wird, suchte man vergeblich nach "[...] the engram, a kind of mnemonic holy grail [...]"12 Dies hat sich als völlig verkehrte Anschauung erwiesen: Vielmehr handelt es sich bei der Gedächtnisleistung um multiple Funktionen, die von unterschiedlichen neuronalen Modulen hervorgebracht werden. Vor dem Hintergrund dieser irrigen Anschauung wurden einzelne Forschungsergebnisse falsch interpretiert und schienen sich zu widersprechen: Verschiedene, voneinander abzugrenzende Funktionen wurden als einheitliches Phänomen betrachtet, obwohl sie es nicht sind. Mittlerweile hat sich die Vorgehensweise der neuropsychologischen Forschung geändert: man untersucht, wie spezifische Gedächtnisfunktionen jeweils neuronal organisiert sind13.

12 LeDoux:   Brain, 1996. - S.  101, Kursivsetzung LeDoux

13 Vgl. unten Kap. 3.6.

Insofern er davon ausgeht, dass die Evolution Emotionen als für das Überleben notwendige mentale Kapazitäten hervorgebracht hat, akzeptiert LeDoux die Prämissen der Theorie vom "limbischen System"; seiner Ansicht nach basiert Emotion auf neuralen Systemen, die sich über viele Etappen der Evolution -- nicht nur der Säugetiere -- hinweg entwickelt haben.14 Verschiedene Emotionen seien im Hinblick auf das Überleben auf bestimmte Funktionen spezialisiert -- Bewältigung von Gefahrensituationen, Fortpflanzung, die Sorge für den Nachwuchs etc. -- folglich müsse man davon ausgehen, dass es nicht ein emotionales System gibt, sondern viele15. Entsprechend müssen also spezifische Emotionen hirnphysiologisch untersucht werden, während außerdem das theoretische Problem einer Definition von Emotion (das obendrein ein konstruiertes Problem ist) umgangen wird. Ein weiteres Hindernis sieht LeDoux in der Tatsache, dass die methodische Vorgehensweise der Eigenart des Phänomens Emotion bisher zumeist nicht Rechnung trägt: Studien basierten zum größten Teil auf Experimenten mit verbalen Stimuli bzw. auf verbalen Berichten. Im Vergleich zu nicht-sprachlichen bzw. unbewussten emotionalen und kognitiven Verarbeitungsprozessen sind Bewusstsein und Sprache in der Evolution erst relativ spät aufgetreten. Zwar räumt LeDoux ein, dass menschliche Emotion durch Studien an Tieren nicht vollständig erforscht werden kann, dennoch trügen Tierexperimente zur Erhellung grundlegender non-verbaler bzw.  unbewusster Mechanismen bei, die "das Herz und die Seele der emotionalen Maschine"16 darstellten.  

14 LeDoux: Brain, 1996. - S.  125.

15 LeDoux: Brain, 1996.   - S.  102f.

16 LeDoux:   Brain, 1996. - S.72 (Übersetzung von mir, S. Schwind).


3.5. Phassa-paccayā vedanā: Die Neurobiologie der Furcht


Ich habe mich immer wieder gefragt, warum in den entsprechenden  Paradigmen der Theravāda- Philosophie -- und meines Wissens auch den  anderer buddhistischer Schulrichtungen -- Machtstreben und Furcht als  zwei fundamentale psychologische Gegebenheiten17 terminologisch nicht repräsentiert sind: So finden sie im  Visuddhi-Magga weder in der Differenzierung der viññāṇas bzw. der entsprechenden Arten von vedanā noch in der Auflistung der cetasikas des sankhāra-kkhandha eine begriffliche Entsprechung. Muss man nun daraus schließen, dass diese Faktoren nicht  berücksichtigt werden oder dass ihnen keine Bedeutung zugemessen wird? Nachdem ich mich eingehender mit den verschiedenen Aspekten der  Lehre von anattā auseinandergesetzt habe, bin ich zu dem  Schluss gekommen, dass das Gegenteil der Fall ist: Furcht und  Macht- oder Kontrollstreben sind vielmehr zentrale Kategorien in der  Psychologie des Theravāda, denen sowohl die anattā-Doktrin  als auch die buddhistische Auffassung vom Leiden (dukkha) in  großem Ausmaß Rechnung trägt. Man könnte sogar sagen, die  buddhistische Lehre als solche zeichnet sich aus durch die Art und  Weise, wie sie Furcht und Machtstreben interpretiert. In  Buddhaghosas Kommentar zum  Bhayabherava-Sutta18, in der  Papañcasūdanī heißt es:  

Tattha bhayaṃ sāvajjaṭṭhena akusalaṃ, bheravaṃ akkhemaṭṭhena veditabbaṃ19

19 Papañcasūdanī I, S. 114;    teilweise zitiert bei H.G.A. van Zeyst in: Encyclopedia of Buddhism    III, 1973. - S. 23.

"An dieser Stelle ist Furcht in dem Sinne als unheilsam zu  verstehen, dass sie von Fehlverhalten zeugt (    sāvajjaṭṭhena), Schrecken hat man als Mangel an  Sicherheit aufzufassen."

17 Vgl. Schönpflug; Schönpflug: Psychologie, 1995. - S. 391: Der    Tiefenpsychologe Alfred Adler beispielsweise betrachtete das Macht-    und Geltungsstreben als fundamentales verhaltenssteuerndes Motiv.

18 Majjhima-Nikāya I, S. 16ff.  

Dieser Mangel an Sicherheit, akkhema, wiederum leitet sich ab  vom vergeblichen Versuch, ein attā zu behaupten: Im Bhayabherava-Sutta geht der Buddha ausführlich auf verschiedene  Strategien ein, die man für gewöhnlich einsetzt, um das Selbst,  das man angesichts -- vermeintlicher oder tatsächlicher -- Bedrohung  gefährdet wähnt, zu schützen.  Als Beispiel für eine solche  Bedrohungssituation führt der Buddha den Aufenthalt in der  Abgeschiedenheit außerhalb der Zivilisation an. Das Ausmaß  von bhaya und bherava entspricht hier nicht dem realen  Gefahrenpotential, sondern ist auf latente Verunsicherung und Ohnmacht zurückzuführen, die mit dem Greifen nach einem Selbst, attā, einhergehen. Entsprechend begründet der Buddha seine  eigene Furchtlosigkeit und grundlegende Sicherheit damit, dass er sämtliche Strategien der Selbstbehauptung und Manipulation seiner Umwelt vollkommen hinter sich gelassen hat, so beispielsweise auch unheilsame körperliche Verhaltensweisen20:

20 Vgl. H.G.A. van    Zeyst in: Encyclopedia of Buddhism III, 1973. - S. 23: "That the    psychological basis of fear is the sense of insecurity is fully    borne out by the explanations in the Bhayabherava Sutta; for,    each one of the grounds given there is a concealed or overt    self-assertion, an attempt to vindicate the imaginary rights of a    deluded ego."

Ye kho keci samaṇā vā brāhmaṇā vā  aparisuddhakāyakammantā araññe-vanapatthāni pantāni    senāsanāni paṭisevanti, aparisuddhakāyakammanta-sandosahetu have te bhonto  samaṇabrāhmaṇā akusalaṃ bhayabheravaṃ avhayanti; na kho panāhaṃ aparisuddhakāyakammanto araññe-vanapatthāni pantāni senāsanāni paṭisevāmi, parisuddhakāyakammanto 'ham-asmi, ye hi vo ariyā parisuddhakāyakammantā araññe-vanapatthāni pantāni senāsanāni paṭisevānti tesam--ahaṃ    aññatamo. Etam-ahaṃ brāhamaṇa parisuddhakāyakammantataṃ attani sampassamāno bhiyyo    pallomam-āpādiṃ araññe vihārāya. Irgendwelche Einsiedler oder Brahmanen, deren körperlicher Wandel  nicht [vollständig] geläutert ist, und die außerhalb der Zivilisation (araññe) im Dschungel Abgeschiedenheit  praktizieren, diese ehrwürdigen Einsiedler und Brahmanen beschwören  (avhayanti) in sich selbst, weil sie mit dem Mangel eines nicht  [vollständig] geläuterten körperlichen Wandels behaftet sind,  unheilsame Furcht und Schrecken herauf.  Bei mir nun aber ist es  nicht der Fall, dass mein körperlicher Wandel nicht  [vollständig] geläutert wäre, wenn ich außerhalb der  Zivilisation im Dschungel Abgeschiedenheit praktiziere; [vielmehr]  bin ich, dessen körperlicher Wandel [vollständig] geläutert ist,  einer von den Edlen, die mit [vollständig] geläutertem  körperlichem Wandel außerhalb der Zivilisation im Dschungel  Abgeschiedenheit praktizieren. Dieses Selbstverständnis (attani sampassamāno) als jemand, dessen körperlicher Wandel  [vollständig] geläutert ist, Brahmane, verschafft mir (āpādiṃ) einen Zuwachs an Sicherheit (bhiyyo pallomam-āpādiṃ) bei meinem [einsamen] Aufenthalt  außerhalb der Zivilisation."
Palloman ti pannalomataṃ. Khemaṃ, sotthibhāvan ti    attho.21

21 Papañcasūdanī I,4,16; S. 114 PTS Dictionary erklärt palloma ebenfalls als identisch mit pannaloma als "a contradiction of security, confidence".

 

Pannaloma bedeutet wörtlich "one whose hairs have fallen or  are put down"22; beide  Ausdrücke werden offensichtlich als Synonyme für Sicherheit, khema, und Unversehrtheit, sotthibhāva, gebraucht. An einer  anderen Stelle des Bhayabherava-Sutta23 bezeichnet sich der Buddha in Abgrenzung zu solchen  Einsiedlern, die als chambhī, starr vor Angst, und bhīrukajātika, von Natur aus furchtsam qualifiziert werden, als vigatalomahaṃsa, was wörtlich wiedergegeben werden könnte als "die Körperhaare stellen sich nicht mehr auf [vor Schrecken]", d.h. man bekommt keine Gänsehaut mehr. Der Gebrauch  dieser Ausdrücke im Sutta ist vor allem im Zusammenhang mit der neurobiologischen Beschreibung von Furcht interessant, da hier eine  Reihe von physiologischen Reaktionen beschrieben wird, anhand derer  der Zustand der Furcht diagnostizierbar ist24.  

 22 Vgl.  PTS Dictionary S. 412

23 Majjihma-Nikāya I, S. 19.

 24 Vgl. LeDoux: Brain, 1996. - S. 132: "This striking functional correspondence between human and rat fear responses holds for many mammals and other vertebrates : it is quite common to observe startle, orienting, then freezing or fleeing or attack [...] hair erection    is a common defense response in many animals, including people ...".

Die Koordinaten des buddhistischen Welt- und Menschenbildes, anicca, dukkha und anattā referieren auf die  Erfahrung grundlegender Unsicherheit, die mit der Existenz  einhergeht: die Unbeständigkeit der Phänomene und die Sterblichkeit gehen zwangsläufig mit Frustration und Furcht einher, und in Reaktion darauf entsteht der Wunsch nach Kontrolle bzw. Macht. Buddhaghosa zitiert Paṭisambhida-Magga25:

 25 Paṭisambhida-Magga II; S. 63.  

Aniccato manasikaroto kiṃ bhayato upaṭṭhāti?  Dukkhato... anattato manasikaroto kiṃ bhayato upaṭṭhātī ti? Aniccato manasikaroto nimittaṃ bhayato upaṭṭhāti. Dukkhato manasikaroto pavattaṃ bhayato upaṭṭhāti. Anattato manasikaroto nimittañ ca pavattañ ca bhayato upaṭṭhātī ti. Tattha nimittan ti sankhāranimittaṃ. Atītānāgatapaccuppannānaṃ sankhārānam ev' etaṃ adhivacanaṃ.26

26 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 21;    S. 646;29-34.

"Was erschreckt jemanden, der die Vergänglichkeit erwägt? Was  erschreckt jemanden, der die Leidhaftigkeit erwägt? Was erschreckt  jemanden, der realisiert, dass es kein Selbst gibt?  Wer die  Vergänglichkeit erwägt, begreift einzig die karmischen Ressourcen  und den Daseinsprozess [den sie speisen] als erschreckend." Nimitta" bezeichnet hier das in den karmischen Ressourcen (sankhāra) bestehende Potential. Es ist gleichbedeutend mit den  vergangenen, zukünftigen und gegenwärtigen karmischen Ressourcen."

Furcht und Machstreben werden nicht als punktuell wirksame Einflüsse  betrachtet, die sich an bestimmten cetasikas festmachen  ließen. Vielmehr konstituiert sich in diesen Faktoren sozusagen  die treibende Kraft, die hinter dem gesamten paṭicca-samuppāda steht, und somit liegt sie sämtlichen cittas zugrunde.


3.5.1. bhaya


abhaye bhaya dassino
bhaye cābhayadassino
micchādiṭṭhisamādānā
sattā gacchanti duggatiṃ.

Dhp. Vers 317                            

"Derjenige, der Schrecken wähnt, wo kein Schrecken ist, und der, der den Schrecken nicht als solchen erkennt: Solche Wesen, die falsche Sichtweisen dieser Art pflegen, gehen einem schlechten Schicksal entgegen."

Das Pāli-Wort für Furcht ist bhaya, wobei dieser Begriff sowohl für die Erfahrung von Furcht oder Angst stehen kann als auch für "Schrecken" als aktiven, Furcht auslösenden Aspekt. Bhaya deckt nur einen Teil dessen ab, was oben als Bedeutung der Furcht im Theravāda beschrieben worden ist. Obgleich bhaya nicht als psychologischer terminus technicus im Kommentar auftaucht, hat der Begriff dennoch einige wichtige Konnotationen, und zwar auch im positiven Sinne: so sind hiri, die moralische Scheu vor negativen Handlungen, und ottappa, die Scham vor den Konsequenzen in Anbetracht solchen Handelns Formen von bhaya, die auf dem Weg zur Befreiung vom Leiden kultiviert werden sollen. Bhaya steht für einen antriebssteuernden Impuls, der durchaus konstruktiv eingesetzt werden kann und soll: Es geht darum, die natürliche oder instinktive Ausrichtung der Furcht umzukehren bzw. zu kanalisieren. Mit weisem Unterscheidungsvermögen gekoppelt ist bhaya sogar erlösungswirksam: Eine der Formen des erlösenden Durchschauens, vipassanā-ñāṇa, besteht in der "Erkenntnis durch Realisieren des Schreckens", bhayatupaṭṭhānañāṇam:

Yasmā pan' assa kevalaṃ sabbabhava-yoni-gati-ṭhiti-nivāsagatā sankhārā vyasanāpannā sappaṭibhayā hutvā bhayato upaṭṭhahanti, tasmā bhayatupaṭṭhānan ti   vuccati.27

27 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga 21; S. 646;25-28.

"Die Bezeichnung "Realisieren des Schreckens" wiederum rührt von daher, dass die karmischen Ressourcen (sankhārā) die sich in all den Existenzformen, Mutterschößen, Wiedergeburtsformen, Zuständen und Bereichen manifestieren, ausnahmslos als der Zerstörung bestimmt, von Furcht begleitet, als Schrecken realisiert werden."

Die Funktion dieser Vergegenwärtigung des Schreckens von saṃsāra besteht letztendlich darin, die Furcht zu überschreiten:

Bhayatupaṭṭhānañāṇam pana bhāyati, na bhāyatī ti? Na bhāyati. Taṃ hi: atītā sankhārā niruddhā, paccuppannāni nirujjhanti, anāgatā nirujjhissantī ti tīraṇamattam eva   hoti.28

28 Buddhaghosa, Visuddhi-Magga 21; S. 646;10-13.

"Geht nun die Erkenntnis, die im Realisieren des Schreckens besteht, mit Furcht einher oder nicht? Sie geht nicht mit Furcht einher. Denn es handelt sich ja eben um eine reine Feststellung von der Art: die vergangenen Gestaltphänomene sind bereits vergangen, die gegenwärtigen sind im Begriff zu vergehen und die zukünftigen werden vergehen."

Das Heilsziel des Buddhismus wird entsprechend als der Zustand jenseits der Furcht qualifiziert; so heißt es im Samyutta-Nikāya:

Pārimaṃ tīraṃ khemam appaṭibhayan ti kho bhikkhave nibbānassetam adhivacanam.29

29 Saṃyutta-Nikāya iv, S. 175.

"Das ferne Ufer, sicher und frei von Schrecken -- das, ihr Mönche, ist eine Metapher für das nibbāna."

Diese Konnotationen sind wohl auch verantwortlich für das Zustandekommen der eigenartigen etymologischen Erklärung von bhikkhu im einleitenden Kapitel des Visuddhi-Magga30.

30 Buddhaghosa: Visuddhi-Magga; S. 3 Saṃsāre bhayaṃ ikkhatī ti bhikkhu.


3.5.2. Sota-samphassa-jā vedanā: Klassische aversive Konditionierung durch auditiven Stimulus


Joseph LeDoux betrachtet Emotionen als Produkte derjenigen neuronalen Systeme, die für die verhaltensmäßige Interaktion mit der Umwelt zuständig sind.31 Ebenso wie in der wissenschaftlichen Psychologie wird auch im Theravāda davon ausgegangen, dass bestimmte Anreize, phassa, in Form von Gegenständen oder Situationen die Handlung steuern. Die Qualität von phassa, der Anreizwert, spiegelt sich in vedanā, das entsprechende motivationale Impulse (taṇhā) erzeugt, die im körperlichen, sprachlichen oder intellektuellen Zugriff auf die Wirklichkeit (upādāna) Ausdruck finden.  Im folgenden soll dieser Zusammenhang am Beispiel der konditionierten Furcht -- also der aufgrund eines Anreizes erlernten Furcht -- dargestellt werden. LeDoux hat hat auf Grundlage der Ergebnisse seiner Experimente mit der klassischen aversiven Konditionierung ein Modellsystem dargestellt, dass mit einigen Vorbehalten auch zur Erklärung anderer Emotionen herangezogen werden kann. Zum einen hat LeDoux die Furcht als Modell-Emotion gewählt, weil sie in der Evolution eine so zentrale Rolle spielt und als normale Reaktion auf bedrohliche Situationen eine den meisten Arten gemeinsame Fähigkeit darstellt.  Furcht eignet sich obendrein hervorragend als Untersuchungsgegenstand, sie ist biologisch leicht nachweisbar und somit experimentell gut zugänglich: so kann sie an körperlichen Reaktionen wie Herzschlagfrequenz, Blutdruckanstieg, Erstarrungsreaktionen usw. gemessen werden. Das Erlernen konditionierter Furcht erfolgt sehr schnell und ist kaum wieder zu löschen.

31 Vgl. Le Doux:   Brain, 1996. - S. 125.


Abb.: Lage der Amygdala
[Bildquelle: Wikipedia]

Versuche haben gezeigt, dass die Amygdala ein wesentlicher Bestandteil des Furchtkonditionierungs-Schaltkreises darstellt. Dies wurde erstmals in den 1970ern festgestellt: Läsionen der Amygdala beeinträchtigten offensichtlich das Erlernen bzw. das Konditionieren von Furcht. Man beobachtete, dass die verschiedenen Reaktionsmodalitäten, die Ausdruck konditionierter Furcht sind, mit Projektionen des zentralen Kerns der Amygdala  auf bestimmte Regionen des Stammhirns einhergehen.  So lassen sich beispielsweise bei Blutdruckanstieg Projektionen auf den lateralen Hypothalamus nachweisen, der wiederum auf das tonische vasomotorische Zentrum in der rostralen ventralen Medulla projiziert. Der ACe bildet eine Art Zwischenfläche bei der Projektion auf die Zielregionen im Stammhirn, die die an den konditionierten Furchtreaktionen beteiligten motorischen Systeme aktivieren.


Abb.: MRI mit Lage des Thalamus
[Bildquelle: Wikipedia]

Wie nun gelangt die Information des konditionierenden Reizes in die Amygdala? Die Bereiche des Kortex, die mit den sensorischen Modalitäten verbunden sind, übermitteln die sensorische Information an die Amygdala. Dennoch bleibt auch bei Entfernung des auditorischen Kortex die Fähigkeit zum Erlernen von Furcht über die Konditionierung mit auditiven Reizen erhalten.  Wird hingegen das "Geniculatum mediale" (der akustische Umschaltkern des Thalamus) oder der "Colliculus inferior" im Mittelhirn zerstört, geht dieses Vermögen vollständig verloren: Das Geniculatum mediale projiziert direkt auf die Amygdala; ist diese Verbindung unterbrochen, werden die konditionierten Furchtreaktionen entsprechend beeinträchtigt. Der Hauptempfänger der akustischen Signale vom auditorischen Thalamus ist der laterale Nukleus der Amygdala (AL). Wird dieser Bereich beschädigt, kann keine Konditionierung mehr stattfinden. Der AL projiziert nicht direkt auf den zentralen Nukleus der Amygdala, sondern über den basolateralen und den basomedialen Nukleus.

Erfolgt die Konditionierung über einen akustischen Reiz gepaart mit einem elektrischen Schock o.ä., verläuft der neuronale Verarbeitungsweg von den sensorischen zu den motorischen Neuronen also folgendermaßen: Die Signale werden vom auditorischen Thalamus zum AL übermittelt. Grobe Informationen über den Stimulus erhält der AL direkt vom Thalamus, die Wahrnehmung betreffende vom Kortex, während er differenziertere Informationen höherer Ordnung von der Hippocampus-Formation empfängt. Vom AL wird die Information indirekt zum ACe, der sie wiederum auf die jeweiligen Zielregionen im Stammhirn projiziert, die die spezifischen konditionierten Furchtreaktionen kontrollieren32. Interessant ist, dass die Zellen in der Amygdala, die für die Verarbeitung von auditorischen Reizen zuständig sind, auch olfaktorische Informationen verarbeiten.

32 Vgl. LeDoux in: Cognitive Neurosciences: Ed. by Michael Gazzaniga, 1995. - S. 1051.

Die Veränderungen des neuronalen Systems, die die Konditionierung von Furcht und deren Ausdruck in diversen Reaktionsmodalitäten bewirken, ereignen sich höchstwahrscheinlich an den synaptischen Schnittstellen, an denen der Stimulus verarbeitet wird.  Nach wie vor sind die Mechanismen, durch die das Erlernen von Furcht -- und Lernen überhaupt -- erfolgt, nicht vollständig erforscht. Einige überzeugende Theorien stützen sich auf Experimente mit der sogenannten "Long Term Potentation" (Langzeit-Potenzierung), bei der ein bestimmter neuronaler Verarbeitungsweg durch tetanisierende elektrische Hochfrequenz-Stimulation aktiviert wird, was einen lang anhaltenden Anstieg der synaptischen Leistung bewirkt (gemessen am Wert der postsynaptischen Reaktion vor und nach der Stimulation).


3.5.3. Subjektive emotionale Empfindung


Wenn im konventionellen Sprachgebrauch von Furcht die Rede ist, ist in der Regel die subjektive Erfahrung dieses Zustandes gemeint. Diese subjektive Erfahrung ist jedoch nur ein Aspekt der Furcht, und zwar einer, der nicht unabhängig von den zugrundeliegenden neuronalen Prozessen untersucht werden kann. LeDoux:

"Fear is a state of consciousness that can (but does not necessarily) result when the defense system of the brain (the system that detects threats and organizes responses to threats) is activated."33

33 Vgl. LeDoux in: Cognitive Neurosciences: Ed. by   Michael Gazzaniga, 1995. - S. 1058.

Wenn das aktivierte Verteidigungssystem im Bewusstsein abgebildet ist, erfahren wir Furcht. Entsprechend wird das Ausmaß, in dem ein Tier Furcht erfährt, davon bestimmt, inwieweit seine Fähigkeit zum bewussten Gewahrsein entwickelt ist. Beim Menschen als Spezies, bei der diese Fähigkeit entwickelt ist, kann -- aber muss nicht notwendigerweise -- Furcht als subjektiver Zustand auftreten. Die bewusste Erfahrung ist sozusagen ein Nebenprodukt: denn die Funktion des Verteidigungssystems ist nicht die Erzeugung von Furcht, sondern die effektive Bewältigung von bedrohlichen Situationen34.

34 Vgl. LeDoux in: Cognitive Neurosciences: Ed. by   Michael Gazzaniga, 1995. - S.  1058.

Ebenso verhält es sich mit den anderen subjektiven Zuständen, die wir als Emotionen bezeichnen: sie müssen als Zustände spezifischer neuronaler Systeme und Mechanismen verstanden werden, die im Bewusstsein repräsentiert sind.

"The brain, for example, does not have a system dedicated to perception. The word "perception" describes in a general way what goes on in a number of specific neural systems - we see, hear, and smell the world with our visual, auditory and olfactory systems. [...] There is no such a thing as the "emotion" faculty and there is no single brain system dedicated to this phantom function. If we are interested in understanding the various phenomena that we use the term "emotion" to refer to, we have to focus on specific classes of emotions."35

35 Le Doux: Brain, 1996. - S. 16.


3.6. Die Funktionsspezifizität der Erinnerung


3.6.1. Experimentelle Gedächtnisforschung



Abb.: Strukturmodell von Sodium-Amytal (5-Ethyl-5-(1-methylbutyl)-2-thiobarbiturat)
[Bildquelle: Wikipedia]


Abb.: MRI: Lage des Corpus callosum
[Bildquelle. Wikipedia]

Aufgrund von klinischen Beobachtungen haben Gazzaniga und LeDoux die Theorie aufgestellt, dass beim Menschen eine Vielzahl einzelner Gedächtnisbänke existiert, wobei diese Gedächtnisbänke nicht notwendigerweise miteinander kommunizieren. Jede einzelne dieser Gedächtnisbänke stellt sozusagen ein in sich geschlossenes System dar, eine funktionale Einheit, die logisch ist und spezifische Merkmale besitzt.  Anlass zu dieser Theorie gaben Experimente wie das folgende: An nicht-aphasischen Patienten mit linkshemisphäraler Pathologie (also Patienten mit einer Schädigung der linken Hirnhälfte, die nicht mit Sprachverlust einhergeht) musste als präoperative Maßnahme eine zerebrale Angiographie durchgeführt werden: Bei diesem Eingriff wird dem Patienten radioaktives Kontrastmittel in die rechte oder linke Halsschlagader injiziert, um das jeweilige arterielle System, das das Gehirn versorgt, transparent zu machen und so die Lokalisierung von Hirnschäden zu erleichtern. Bisweilen wird im Rahmen eines solchen Eingriffs ein sogenannter Amytal-Test durchgeführt: durch die gezielte Gabe des Anästhetikums Sodium-Amytal wird die linke Hemisphäre in Schlaf versetzt, während die andere wach und aktiv bleibt. Durch diese Prozedur vermag der Neurologe sicherzustellen, dass die verbalen Fähigkeiten tatsächlich in der linken Gehirnhälfte lokalisiert sind -- dies ist zwar die Regel, aber es gibt auch Personen, bei denen das Sprachvermögen in beiden oder schwerpunktmäßig in der rechten Hemisphäre lokalisiert ist. Ehe das Anästhetikum verabreicht wird, legt man dem Patienten einen Gegenstand, z.B. einen Bleistift -- den er nicht sehen kann -- in die linke Hand (die von der rechten Hemisphäre gesteuert wird), und fordert ihn auf diesen zu identifizieren.  Die somatosensorische Information muss also von der linken Hand in die rechte Hemisphäre gelangen, und dann über das Corpus Callosum zu den Sprachmodulen in der linken Hemisphäre weitergeleitet werden. Nach Verabreichung des Anästhetikums -- nun sind die verbalen Fähigkeiten sowie die rechte Körperhälfte lahmgelegt -- legt man einen anderen Gegenstand in die linke Hand des Patienten, z.B. einen Löffel. Einige Minuten später erwacht der Patient und wird darüber gefragt, welcher Gegenstand ihm in die linke Hand gelegt wurde, während er "schlief", worauf der Patient in der Regel keine Antwort zu geben vermag -- wobei er den Gegenstand, den er vor der Narkose identifizierte, den Bleistift, nach wir vor erinnert. 

"Selbst wenn man sich beim Mutmachen und Anspornen sehr anstrengt, erhält man kein Wort über den Gegenstand, der im Zustand der Anästhesie in die Hand gelegt wurde. Dann wird dem Patienten eine Karte mit verschiedenen Gegenständen, die mit dem zuvor präsentierten Gegenstand in gedanklicher Verbindung stehen, gezeigt, und dann zeigt die linke Hand meistens unverzüglich auf den betreffenden Gegenstand, in diesem Fall den Löffel."36

36 Gazzaniga; LeDoux: Integration,   1983. - S.  102.

Diese Beobachtung ist nach Gazzaniga und LeDoux dahingehend zu deuten, dass die Information, die in Abwesenheit der Sprache enkodiert wurde, dem verbalen System nicht zugänglich ist:

"Das Engramm oder der Gedächtnisinhalt für den Löffel ist in der neuralen Sprache X kodiert, und die natürliche Sprache und das Sprechen sind in der neuralen Sprache Y repräsentiert."37

37 Gazzaniga; LeDoux: Integration, 1983. - S.   103.

Diese Theorie wirkt sich auch erhellend aus im Hinblick auf die Funktion des Interpretenmoduls: Das Individuum kann sein Wissen als erlernte Erfahrung nur durch Beobachtung des eigenen Verhaltens kennenlernen38. Als Interpretenmodul wird in diesem Kontext das "kognitive System im Vorhof des Bewusstseins zu irgeneinem Zeitpunkt"39 beschrieben, was deutlich macht, dass das Interpretenmodul nicht statisch als Instanz, sondern als dynamisch sich veränderndes kognitives Potential zu verstehen ist. Beim Menschen handele es sich um das verbale System40: Der Vorbehalt, den diese Aussage von Gazzaniga und LeDoux impliziert deutet an, dass auch Tiere ein vergleichbares "kognitives Subsystem" besitzen, das gleichwohl nicht mit verbalen Fähigkeiten einhergeht.

38 Vgl.Gazzaniga; LeDoux: Integration, 1983, S.  104f.

39 Gazzaniga; LeDoux: Integration, 1983.  - S.  105.

40 Gazzaniga; LeDoux: Integration, 1983. -   S.  105.

Die von Michael Gazzaniga an einem Split-brain-Patienten mit bilateral angelegtem Sprachverständnis durchgeführte Experimente machen die Funktionsweise des Interpretenmoduls sehr anschaulich: Dieser Patient war im Gegensatz zu anderen Patienten, bei denen lediglich eine Hemisphäre verbale Fähigkeiten besitzt, in der Lage, auch auf verbale Aufforderungen zu reagieren, die auf die rechte Hemisphäre projiziert wurden. Wie andere Split-Brain Patienten vermochte jedoch auch P.S. nur solche Stimuli verbal zu benennen, die auf die linke Hemisphäre projiziert wurden.  Wenn nun also ein verbaler Stimulus ausschließlich der rechten Hemisphäre präsentiert wurde, war P.S. sehr wohl in der Lage, auf diesen Stimulus handelnd zu reagieren, jedoch ohne diesen auslösenden Stimulus als Handlungsmotiv benennen zu können. Wenn zum Beispiel das Wort "lache" auf die rechte Hemisphäre projiziert wurde, begann P.S. zu lachen.  Auf die Frage nach dem Grund für sein Lachen antwortete er: "Oh, Ihr seid wirklich komische Leute."41

41 Gazzaniga; LeDoux: Integration, 1983. - S.   113.


3.6.2. Lokalisierung von Gedächtnisbänken



Abb.: Gehirnlappen seitlich
[Bildquelle: Wikipedia]

Gazzaniga und LeDoux gehen davon aus, dass kein ganzheitlicher Mechanismus im Gehirn die Enkodierung von Informationen leistet, sondern dass auch Gedächtnis über parallel geschaltete Module funktioniert, wobei vermutlich kein inter-modularer wechselseitiger Zugang zu enkodierten Informationen gegeben ist42.

42 Gazzaniga;   LeDoux: Integration, 1983. - S.  113.

Mittlerweile ist es Forschern gelungen, die Funktionsspezifizität dieser Gedächtnisbänke ziemlich genau zu beschreiben und sie neurobiologisch zu lokalisieren bzw. sie schwerpunktmäßig an bestimmten Gehirnbereichen festzumachen. Zunächst gibt es die auch dem Laien geläufige Unterscheidung zwischen Lang- und Kurzzeitgedächtnis: sie wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert von William James mit den Begriffspaar Primär- und Sekundärbewusstsein formuliert43, experimentell aber erst in den 1960er Jahren verifiziert, und zwar an einem Patienten, dem 1953 weite Teile des Temporallappens in beiden Hirnhälften entfernt wurden, um schwere epileptische Anfälle unter Kontrolle zu bringen44. In Bezug auf letzteres erwies sich die Operation als durchaus erfolgreich -- die Auswirkungen auf sein Gedächtnis waren, gelinde gesagt, verheerend. H.M. -- wie LeDoux den Patienten nennt -- war nicht mehr in der Lage, Langzeiterinnerungen zu bilden (anterograde Amnesie), was sich u.a. daran in seiner Unfähigkeit, Neues zu lernen und sich selbst die Gesichter und Namen derer, die ständigen Kontakt mit ihm hatten, zu merken. H.M.s Kurzzeitgedächtnis jedoch funktionierte nach wie vor, was den Schluss erlaubte, dass das die für Kurzzeiterinnerungen zuständigen Systeme nicht im Temporallappen, sondern einer anderen Hirnregion lokalisiert sind45. Weiter musste bei H.M. die gravierende anterograde Amnesie von einer nur schwach ausgeprägten retrograden Amnesie -- der Unfähigkeit, Langzeiterinnerungen, die vor der Operation entstanden waren, abzurufen -- unterschieden werden.  Abgesehen davon, dass dank dieser Beobachtungen Kurz- und Langzeitgedächtnis nun neurobiologisch fundierte Kategorien waren, war außerdem die Differenzierung von wenigstens zwei Verarbeitungsstufen innerhalb des Langzeitgedächtnisses möglich:

"[...] an initial one requiring the temporal lobe regions [...], and a later stage involving some other brain regions, most likely areas of the neocortex. The temporal lobe is needed for forming long-term memories, but gradually, over years, memories become independent of this brain system."46

43 Vgl. LeDoux: Brain, 1996.   - S.  185, Anm. 13.

 44 Vgl. LeDoux: Brain, 1996. - S.  182ff.

45 LeDoux: Brain, 1996. - S.  185.

46 LeDoux: Brain, 1996. - S.   185f.

Das heißt, vor allem für die Bildung "mittelfristiger" Langzeiterinnerungen -- LeDoux spricht von einigen Jahren47 -- ist ein funktionierendes Temporallappensystem unabdingbar. Weitere Experimente mit H.M. schließlich hätten Aufschluss gegeben über "well-defined pockets of memory sparing" -- die punktuelle Gedächtnisschwäche bzw. -leistung des Patienten ließ sich immer gezielter beschreiben.  H.M.s vermeintliche Unfähigkeit, Neues zu erlernen, erwies sich bei genauerem Hinsehen als differenzierungsbedürftig: Die Tatsache, dass H.M. in der Lage war, manuelle Fertigkeiten zu erlernen, zeigt, dass die hierzu erforderliche Gedächtnisleistung nicht vom Temporallappensystem erbracht werden kann. Auch bei der Bewältigung mentaler Aufgaben konnte gezielt eine Verbesserung erreicht werden, wenn die Tests H.M. Gelegenheit gaben zu üben: Obwohl der Übungseffekt offensichtlich war, konnte sich H.M. nicht bewusst erinnern, das entsprechende Spiel zuvor je gespielt zu haben48.

47 LeDoux: Brain, 1996. - S.  193.

48 Vgl. LeDoux:   Brain, 1996. - S. 195.

Demzufolge ist also das Temporallappensystem lediglich für die Bildung bewusster Langzeiterinnerungen zuständig, während Lernen, das sich unabhängig von bewusst-verbalen Prozessen vollzieht, anderweitig lokalisiert ist: man kann also ein sog. deklaratives oder explizites vom sog. prozeduralen oder impliziten Langzeitgedächtnis unterscheiden49. Während das explizit-deklarative Gedächtnis ausschließlich über das Temporallappensystem verarbeitet wird, existieren zur Erzeugung implizit-prozeduraler Erinnerungen offenbar eine ganze Reihe von neuralen Modulen.

49 Vgl.  LeDoux: Brain, 1996. - S.  196f.


3.6.3. Das Temporallappen-System als Gedächtnisbank



Abb.: Gehirn Aufsicht auf die gyri temporales transversi
[Bildquelle. Wikipedia]

Hier möchte ich eine knappe Schilderung davon geben, wie die Bildung von explizit-deklarativen Langzeiterinnerungen im Temporallappensystem vor sich geht.  Information über einen äußeren Anreiz gelangt über die verschiedenen Sinnesmodalitäten in die entsprechenden sensorischen Verarbeitungsbereiche des Kortex, wo der Reiz ausgewertet wird.  Ergebnis dieser Evaluation ist ein perzeptuelles Repräsentat, das zur weiteren Auswertung in angrenzende Kortexbereiche, den sog. Übergangskortex weitergeleitet wird. Hier werden die Repräsentate, die über die einzelnen Sinnesmodalitäten erzeugt worden sind, zu einer Gesamtrepräsentation des Anreizes integriert:

"This means that in the transition circuits we can begin to form representations of the world that are no longer just visual or auditory or olfactory, but that include all of these at once. We begin to leave the purely perceptual and enter the conceptual domain of the brain."50

50 LeDoux: Brain, 1996. - S.198.


Abb.: Frontalschnitt des Gehirns in Höhe des Hippocampus
[Bildquelle: Wikipedia]

Von den Übergansregionen wird das Gesamtrepräsentat zum Hippocampus transportiert, wo es zu noch komplexeren Repräsentaten ausdifferenziert wird. Während sich die Neuroforscher über die Grundzüge der Funktionsweise des Temporallappensystems einig sind, gehen die Meinungen über die spezifische Leistung des Hippocampus bzw. über die Eigenart der von ihm gefertigten Repräsentate auseinander51, wobei auf Details im Rahmen dieser Untersuchung nicht eingegangen werden kann.  

51Vgl. LeDoux: Brain, 1996. - S. 200


3.6.4. Saññā: Erkennen und Erinnern


Obige Ausführungen zeigen, dass auch in der Neurobiologie nicht  von einer "reinen Wahrnehmung" ausgegangen wird. Die bewusstgewordene Wahrnehmung eines Objektes ist immer das Ergebnis  einer kreativen Leistung, nämlich die mentale Rekonstruktion bzw.  Repräsentation des Objektes über die verschiedenen  Sinnesmodalitäten.  Diese Erkenntnis kommt dem, was in Bezug auf  saññā als "konzeptualisierende Wahrnehmung"  festgestellt worden ist, sehr nahe. Die Wiedergabe von saññā als "konzeptualisierende Wahrnehmung" hat also noch  eine weitere Implikation: Sie soll der Gedächtnisfunktion von saññā übersetzungstechnisch Rechnung tragen.

Joseph LeDoux betont, dass explizite Erinnerungen keine Kopien der  Erlebnisse seien, durch die sie entstanden sind -- wie sollten sie das auch sein, wenn schon die Wahrnehmung keine Kopie des  Erlebnisses ist -- und dass sie "Trivialisierungen,  Hinzufügungen, Ausschmückungen und  Rationalisierungen"52 enthalten. Auch in der  neurobiologischen Forschung wird Gedächtnis also im Zusammenhang mit  Wahrnehmung diskutiert. Die expliziten Erinnerungen, so LeDoux, seien  wesentlich davon abhängig, was während eines Erlebnisses  Aufmerksamkeit erfährt: Die Einzelheiten, die man sich merkt --  die das Aufmerken, avajjana, bedingen -- hingen von einer  Vielzahl individueller Faktoren ab.  Diese "Einzelheiten" als  Aufhänger für explizite Erinnerungen entsprechen im Wesentlichen  dem, was Buddhaghosa in seiner Erklärung zu saññā als  "Merkzeichen", nimitta bzw. abhiññā, beschreibt.  

52 Vgl. LeDoux: Brain, 1996. - S.  210    (Übersetzung von mir, S.Schwind).

In der Atthasālinī gibt Buddhaghosa folgende Erklärung von  saññā:  

Nīlādibhedam ārammaṇaṃ sañjānātī ti saññā. Sā sañjānanalakkhaṇā nāma natthi. Sañjānanalakkhaṇa paccabhiññāṇarasā. Catubhūmakasaññā hi no sañjānanalakkhaṇā nāma natthi. Sañjānanalakkhaṇā va yā pan' ettha abhiññāṇena sañjānāti sā  paccabhiññāṇarasā nāma hotī ti. Tasmā vaḍḍhakissa dārumhi abhiññāṇaṃ katvā puna  tena abhiññāṇena tam paccabhijānanakāle, purisassa  kāḷatilakādi - abhiññāṇaṃ sallakkhetvā puna    tena abhiññāṇena asuko nāma eso ti tassa    paccabhijānanakāle, rañño  pilandhanagopālaka-bhaṇḍāgārikassa tasmiṃ tasmiṃ pilandhane nāma paṇṇakam bandhitvā asukapilandhanaṃ nāma āharā ti vutte dīpam pajjāletvā ratanagabbham pavisitvā paṇṇaṃ    vācetvā tassa tass'eva pilandhanassa āharaṇakāle ca    pavatti veditabbā.  Aparo nayo: sabbasaṅgāhikavasena hi    sañjānanalakkhaṇā saññā puna-sañjānananimittakāraṇarasā dāru-ādisu tacchakādayo viya.53

53 Atthasālinī 291; S. 110;19-34.

"Das [funktionale System], was ein Objekt aufgrund der Unterscheidung eines Merkmals wie z.B. der Farbe dunkelblau  identifiziert, wird als konzeptualisierende Wahrnehmung bezeichnet.  Sie zeichnet sich aus durch die Funktion des Identifizierens, ihr  Wesen ist das Wiedererkennen.  Es gibt in den vier Daseinsbereichen nirgendwo konzeptualisierende Wahrnehmung, welche nicht durch  die Funktion des Identifizierens gekennzeichnet ist. Oder [anders  formuliert]: Das [funktionale System], das durch Identifizieren  gekennzeichnet ist, identifiziert durch Erkennen, also ist es seinem  Wesen nach Wiedererkennen. Dieser Prozess [des Identifizierens  durch Erkennen] ist anhand der folgenden Beispiele zu verstehen: Der Zimmermann, der die Holzstücke markiert hat (abhiññāṇaṃ katvā)54,  erkennt sie zu gegebener Zeit durch eben diese Markierung wieder;  dadurch, dass man die in einem schwarzen Mal bestehende  Kennzeichen einer Person registriert hat, erkennt man zu gegebener  Zeit die entsprechende Person als diesen und jenen wieder; der  Schatzmeister, der Hüter des königlichen Schmucks, der an jedes  einzelne Schmuckstück einen Zettel bindet und der, wenn ihm gesagt  wird: "Bringe dieses bestimmte Schmuckstück", die Lampe anzündet,  die Schatzkammer betritt, sich am Zettel orientiert und so zu  gegebener Zeit ein ganz bestimmtes Schmuckstück herbeiholt.  Eine  andere Erklärungsweise ist die: Insofern sie [ein Objekt] in seiner  Ganzheit erfasst, zeichnet sich die konzeptualisierende  Wahrnehmung durch die Funktion des Identifizierens aus; ihr  spezifisches Wesen hingegen ist das Wiedererkennen durch  Markieren55 [des  Objekts], so wie in den Beispielen der Zimmermann das Holz [durch  Markieren wiedererkennt] usw."

54 Tin übersetzt    abhiññāṇaṃ katvā mit: "he has marked by specialized knowledge". Vgl. Tin: Expositor I, 1958. - S. 146.

55 Tin übersetzt nimitta-kāraṇa mit: "mark-reasons". Vgl. Tin: Expositor, 1958. - S.  146.

Nyanaponika stellt in seinen Abhidhamma Studies fest, dass in der  Psychologie des frühen Buddhismus der wesentliche Anteil am Erinnerungsprozess saññā zugeschrieben wird und  erläutert dies wie folgt:  

"[...] every perception is "making marks" (nimitta-kāraṇa). In order to understand how "remembering"  or "recognizing" too is implied in the very act of  perception, we have to  mention that, according to the deeply penetrating analysis of the Abhidhamma, the apparently simple act, e.g. of seeing a rose, is in  reality a very complex process, composed of different phases each of  these phases consisting of numerous smaller combinations of conscious  processes (citta-vīthi) which again are made up of several  single moments of consciousmess (citta-kkhana) following each  other in a definite sequence of diverse functions."57

57 Nyanaponika: Studies, 1949. - S. 40.

Nyanaponika macht hier deutlich, dass in der buddhistischen  Psychologie entscheidendes Kriterium für die Gedächtnisfunktion nicht die Dimension der Zeit ist (im Sinne der Nachzeitigkeit der mentalen Repräsentation im Hinblick auf die Präsenz des Objektes, den eine solche ist aus Theravāda-Sicht immer gegeben). Im  Vordergrund steht vielmehr die Erzeugung von Kontinuität als spezifische Gedächtnisleistung. Joseph LeDoux geht soweit zu  behaupten, dass sich Bewusstsein über die Gedächtnisfunktion  definieren lässt:

"[...] even the immediate present involves memory -- what we know  about the one present moment is basically what is in our working  memory. Working memory allows us to know that the "here and now" is  "here" and is happening "now". This insight underlies the notion  [...] that consciousness is the awareness of what is in working  memory."58
58
LeDoux: Brain, 1996.  - S.  278.

Erkennen und Erinnern fallen im procedere des nimitta-kāraṇa als Funktionen der konzeptualisierenden  Wahrnehmung, saññā, zusammen:  

"Saññā is cognition as well as re-cognition, both by way  of selected marks."59

59 Nyanaponika: Studies, 1949.- S. 41.

In nimitta-kāraṇa, dem mit jeder Wahrnehmung verbundenen "Markieren" der Objekte wiederum vollzieht sich upādāna, der kognitive Zugriff auf die Wirklichkeit -- der gegebenenfalls im  körperlichen, verbalen oder intellektuellen Greifen nach einem Objekt Gestalt annimmt. Wahrnehmung ist also sowohl aus  buddhistischer als auch aus neuropsychologischer Sicht nicht passives Rezipieren, sondern unwillkürliche Aktivität.  Die  neurobiologische Theorie von multiplen Gedächtnissystemen lässt, so Gazzaniga und LeDoux, viele Untersuchungsergebnisse und  traditionelle Auffassungen über die Genese von Erinnerungen in einem  anderen Licht erscheinen und

"[...] zu einigen ganz besonderen Schlussfolgerungen über ihre  Bedeutung kommen. Die klassische Unterscheidung zum Beispiel  zwischen Erkennen und Erinnern verschwindet beinahe unverzüglich. Diese Unterscheidung ist natürlich das gründlich belegte und vielfach erlebte Phänomen, dass man nur einen geringen Teil der  Gesamtheit einer Information ins Gedächtnis rufen kann, erkennen  kann man dagegen viel mehr."60

60 Gazzanigā; LeDoux: Integration, 1983. - S. 105.

Traditionelle Gedächtnismodelle decken lediglich einen Teil des  Gedächtnisprozesses ab, indem sie dem Anteil des verbalen Systems an der Erinnerung Rechnung tragen -- das aber, wie gesagt, nur zu einem  begrenzten Teil der verfügbaren Information Zugang hat --, aber die  Leistung nicht-sprachlicher Module ignorieren. Experimente basieren  auf diesen falschen Prämissen und bringen somit keinen Fortschritt,  da sie nur das Interpretenmodul ansprechen. Theorien und Experimente  zum Erkenntnisvorgang hingegen werden der multiplen Organisation der  Gedächtnisleistung gerechter:

"Nun haben auch die nicht-verbalen Systeme eine Gelegenheit, sich  selbst durchzusetzen [...] mit einer derartigen möglichen Antwort  kann die ganze Information, die durch die multiplen nicht-verbalen  Systeme gespeichert wurde, abgerufen werden, womit das gesamte System  wirksamer zu werden scheint."61

61 Gazzaniga;Le Doux:    Integration, 1983. - S.  106.

Dass die Höherorganisation bzw. Weiterentwicklung von saññā nur mittels der Verdrängung funktioniert, zeigt, dass saññā der Wirklichkeit niemals vollkommen gerecht  werden kann bzw. dass die Aufgabe und Leistung von saññā nicht darin besteht, die Wirklichkeit abzubilden, sondern vielmehr, sie kognitiv "zuzubereiten" für  einen erfolgreichen Zugriff (upādāna).


3.6.5. Sati und saññā


Eigentlich ist die Pāli-Übersetzung für Erinnerung bzw. Gedächtnis sati62, als    terminus technicus in der buddhistischen Psychologie qualifiziert es jedoch lediglich einen heilsamen Bewusstseinszustand. Sati impliziert also im Gegensatz zu saññā63 eine karmische Wertigkeit. Saññā ist als terminus technicus auch wesentlich umfassender als sati, indem es als sabbacittasādhāraṇa, in allem Bewusstsein gleichermaßen vorhanden gilt.  Neurobiologisch betrachtet muss satipaṭṭhāna auf dem Prinzip des Lernens basieren: eine solche Modifikation der neuralen (und somit auch der kognitiven) Stukturen beim Erwachsenen kann nur durch Lernen stattfinden64.     Satipaṭṭhāna ist eine Manipulation des Wettbewerbs der einzelnen Module.

62 PTS Dictionary S. 131 für sati:   "memory, recognition, consciousness, intentness of mind,   wakefulness of mind, mindfulness, alertness, lucidity of mind,   self-possession, conscience, self-consciousness."

63 Vgl. PTS  Dictionary S. 129 zu saññā: Hier führe ich nur   diejenigen Bedeutungsoptionen an, die in diesem Kontext relevant   sind : 1. sense, consciousness, perception, being the third khandha   2. sense, perception, discernment, recognition, assimilation of   sensations, awareness. Zu 3. vgl. Kap....  4. conception, idea,   notion 5. sign, gesture, token, mark 6. saññā is  twofold, paṭighasamphassajā and adhivacanasamphassajā   i.e. sense impression and recognition.

64 Vgl. LeDoux: Brain, 1996. - S. 263ff.


3.6.6. Satipaṭṭhāna und vipassanā


Im Kontext der buddhistischen Psychologie ließen sich die Fünf khandhas als der (Ich-)funktionale Apparat beschreiben, der die Subjektivität respektive Individualität leistet. Aus buddhistischer Sicht manifestiert sich ein intakter (Ich-)funktionaler Apparat als die Fähigkeit eines Individuums, sich innerhalb einer als Bedingungszusammenhang organisierten Wirklichkeit zu erfahren und mit diesem Selbstverständnis gezielt Bedingungen zur Leidverminderung zu schaffen. Mit einigem Vorbehalt ließe sich Freuds Postulat "Wo Es war, soll Ich werden" auch als Leitmotiv für vipassanā, das systematische genaue Hinschauen, vereinnahmen: Denn auch Freud formuliert hier das Bestreben, eine Ebene der Metakognition zu etablieren; das Subjekt soll sich durch zunehmende Bewusstheit der Willkür unwillkürlich auftauchender Affekte entziehen.

In der Diskussion um die Vereinbarkeit von Buddhismus und westlicher Psychologie wird häufig die -- zunächst durchaus relevante -- Tatsache hervorgehoben, dass das  Anliegen der westlichen Psychologie bzw. Psychotherapie eine Stärkung der Ich sei, während der Buddhismus das Vorhandensein eines "Ich" oder "Selbst" leugne. Das ist natürlich richtig; jedoch leugnet der Buddhismus weder das in-Erscheinung-Treten noch den Stellenwert des Phänomens, das Thomas Blakeslee als "Selbstkonzept" bezeichnet. Und in gewisser Weise geht es auch im Buddhismus durchaus darum, dieses zu stärken, es nutzbar zu machen: zunächst im Hinblick auf die erstrebte Leidverminderung und grenzwertig schließlich für die Realisation von anattā. Der buddhistische Pfad bedient sich gewissermaßen der Mechanismen, die dem Selbstkonzept zugrundeliegen. Die sikkhāpadāni, die Trainingspunkte der Sittlichkeit als "Minimalanforderung" und unabdingbare Grundlage des Pfades orientieren sich zwar an der Realität der modularen Persönlichkeitsorganisation -- während "Gebote" auf Kontrollillusion basieren -- appellieren aber an das Interpretenmodul. Auch das Einüben von satipaṭṭhāna, die systematische Etablierung einer Ebene der Metakognition beispielsweise muss durch das Interpretenmodul bewerkstelligt werden. Das Interpretenmodul ist sozusagen die Hardware, das Selbstkonzept die Standardsoftware, die nun durch andere Programme -- die sikkhāpadāni und    satipaṭṭhāna -- ersetzt wird. Ziel der buddhistischen Methoden des Erkenntnisgewinns ist nicht nur Einsicht in das Ausmaß der Kontrollillusion, sondern die gezielte Erweiterung des Kontrollvermögens, ein Zugewinn an Souveränität im Umgang mit der Modulpluralität. Beim Stromeintritt wird -- mit einem (oder mehreren) paññā-Modul(en) -- eine Ebene der Metakognition irreversibel hirnphysiologisch eingerichtet. Diese paññā-Module stehen (langfristig betrachtet) völlig außer Konkurrenz, sie erweisen sich beim Wettbewerb der Module um die Steuerung des Verhaltens als vollkommen souverän: bestimmte Module, die in der Theravāda-Scholastik unter die Kategorie saṃyojana fallen, kommen überhaupt nicht mehr zum Zuge  -- sakkāya- diṭṭhi, vicikicchā, sīlabbata-parāmāsa -- und einige weitere werden wesentlich geschwächt.

Ziel ist, das Selbstkonzept, das durch avijjā als "Initialzündung" des paṭicca-samuppāda stabilisiert wird, so zu sprengen, dass die Module nicht einfach desorganisiert dahintreiben. Die Methode, die das leisten soll, ist satipaṭṭhāna, und satipaṭṭhāna als Methode orientiert sich an den Zusammenhängen, die der Buddha mit dem paṭicca-samuppāda durchschaut hat. vipassanā könnte man sinnvoll als "Durchschauen von Zusammenhängen" übersetzen. Mit Hilfe von satipaṭṭhāna soll ein kognitives Konkurrenzsystem zum Interpreten-Modul neurobiologisch etabliert werden.

Vor dem Hintergrund der oben skizzierten neurowissenschaftlichen Persönlichkeitstheorie wäre satipaṭṭhāna als eine Umorganisation der kognitiven, das heißt auch der neuronalen Strukturen zu beschreiben: als Eingriff in die Gehirnorganisation, der sich nach und nach auf verschiedene Gehirnbereiche erstreckt und dem Prozess des graduellen Aufbaus der kognitiven bzw. neuronalen Strukturen sehr differenziert Rechnung trägt. Die Reihenfolge der verschiedenen anupassanās ist keineswegs willkürlich oder beliebig, sondern orientiert sich an den Stadien der kindlichen Entwicklung. Die Wirkung  von satipaṭṭhāna müsste sich in der Tat nachweisbar in den neuronalen Strukturen niederschlagen und  neurobiologisch verifizierbar sein. 


3.6.7. Avijjā und moha


Moha, Verblendung und avijjā, Unwissenheit bzw. Verdrängung als fundamentale Prinzipien in der buddhistischen Psychologie sind als mentale Dispositionen zu verstehen, die unablässig in verhaltenssteuernden Impulsen zum Ausdruck kommen: moha- und avijjā-Module sind besonders durchsetzungsfähig im modularen Wettbewerb um die Verhaltenssteuerung. "Verdrängung" gibt den semantischen Gehalt des Pālibegriffes avijjā  sehr viel flächendeckender wieder als "Unwissenheit": avijjā ist weniger Zustand, sondern eine unwillkürliche -- und weitgehend unbewusste -- (modulare) Aktivität. Ohne Verdrängung, den gezielten Einsatz von avijjā, Ignoranz in Bezug auf bestimmte Bestandteile der Erfahrungswelt funktioniert Persönlichkeit nicht. Dieser Tatsache muss auch der buddhistische Erlösungsweg Rechnung tragen: Der Verlust der Verblendung, die Wiederherstellung der realistischen Weltsicht durch die Praxis von vipassanā muss folglich einhergehen mit dem Einüben von Qualitäten, die zwar nicht vor Resignation, aber vor Bitterkeit und emotionaler Abstumpfung bewahren. Mithin aus dieser Notwendigkeit ergibt sich auch das mahāyānistische Postulat der Untrennbarkeit von Weisheit und Methode, von der Einsicht in Hohlheit (śūnyatā) und der Entfaltung von Mitgefühl (karuṇā) als Haupttrainingspunkt des Bodhisattva. Das Mahāyāna hat die Qualität des Mitgefühls sehr stark gewichtet -- die gleichwohl schon im frühen Buddhismus angelegt ist (mettā-bhāvāna), lediglich zugunsten der Betonung anderer Aspekte eher in den Hintergrund trat. Moha, Verblendung, bezeichnet allem voran eine verzerrte Interpretation von upādāna: Günstige Bedingungen für den Zugriff auf die Welt werden als Souveränität, als Kontrollvermögen gewertet. Solche    upādāna begünstigenden Bedingungen leisten außerdem    avijjā Vorschub -- wenn die für das Überleben entscheidenden Bereiche upādāna zugänglich sind, können die nicht kontrollierbaren leichter verdrängt werden (avijjā). Das bedeutet konkret, dass jemand, der ein vergleichsweise privilegiertes Dasein führt -- also in Gesundheit und Wohlstand lebt und nicht unmittelbar von Naturkatastrophen, Seuchen, Kriegen o.ä. bedroht ist -- sich vermutlich nicht gezwungen sieht, sein Kontrollvermögen in Frage zu stellen und über die Realität des Todes zu reflektieren. --


3.7. Vohāra-vacana und  samutti-sacca: Das Interpretenmodul


Das verbale natürliche Sprachsystem entwickelt nach Gazzaniga  graduell ein Konzept der Selbstkontrolle, das verbale Ich erhält Kenntnis von den Impulsen für eine Handlung, die von den anderen  Modulen stammen, und kann nun -- je nach Situation und Intensität der Impulse -- diese zu unterbinden versuchen oder ihnen freien Lauf  lassen65.

65 Gazzaniga; LeDoux: Integration, 1983. - S.116.

Von avijjā bis taṇhā vollzieht sich der  Bedingungszusammenhang des paṭicca-samuppāda jenseits der  Kontrolle des Interpreten-Moduls, das diese Vorgänge reflexiv als  Legitimation für upādāna auslegt:  

"Wir glauben, dass das bewusste verbale Ich mit den Gründen  unserer Handlungen nicht vertraut ist. Wenn es das Verhalten des  Handelnden wahrnimmt, für das es die Gründe nicht kennt, ordnet es  der Handlung eine Ursache zu, als ob es diese kennen würde, doch  tatsächlich ist es nicht so. Es verhält sich so, als ob das verbale  Ich Ausschau hält und sieht was die Person macht und aufgrund dieses  Wissens interpretiert es die Wirklichkeit."66

66 Gazzaniga; LeDoux: Integration, 1983. - S.115.

Bei einer Untersuchungsserie, die Gazzaniga und LeDoux an P.S.  durchführten, wurde auf beide Hirnhälften gleichzeitig ein Bild  projiziert. Der Proband sollte daraufhin aus einer Auswahl solche  Bilder aussuchen, die sich am besten dem jeweiligen zuvor  projizierten visuellen Stimulus zuordnen ließen. Wurde z.B. eine  Kirsche projiziert, so sollte P.S. einen Apfel aussuchen, wobei auch  Toaster, Huhn oder Glas zur Auswahl standen. Ziel war also, übergeordnete Kategorien zu erkennen und einzelne Objekte  entsprechend zuzuordnen. Unter den selben Bedingungen, so Gazzaniga und LeDoux, vermochte jede Hemisphäre die Aufgabe zu erfüllen, jede  Hemisphäre traf die jeweils richtige Auswahl67. Das eigentlich Interessante an  diesem Versuch war jedoch die Art und Weise, wie P.S. diese Auswahl  begründete: Wurde der rechten Hirnhälfte eine Szene im Schnee und  der linken die Kralle eines Huhns präsentiert, griff sich P.S. aus der  angebotenen Bilderserie mit rechten Hand ein Huhn und mit der  linken eine Schaufel -- die korrekte Lösung.  Wurde P.S. jedoch  gefragt, was er gesehen habe, antwortete er:

 "Ich habe eine Kralle gesehen und ich pickte mir das Huhn heraus und  den Hühnerstall muss man mit einer Schaufel  saubermachen."68   

67 Gazzaniga; LeDoux: Integration, 1983. - S.114. 

68 Gazzaniga; LeDoux: Integration, 1983. - S.115.

Gazzaniga und LeDoux erläutern dies wie folgt:  

"Die eine Hemisphäre konnte leicht und genau identifizieren, warum sie eine Antwort ausgewählt hatte, und im Anschluss daran, ohne  ein Wimpernzucken, gliederte sie die Antwort der rechten Hemisphäre  in ihr System ein. [...] Aber die linke Hemisphäre gab nicht zu  erkennen, dass es sich um eine ungewisse Vermutung handelte,  sondern sie stellte die getroffene Wahl [...] als eine  unbezweifelbare Tatsache dar."69

69 Gazzaniga; LeDoux:    Integration, 1983. - S.115.    

Die Selbst- und Wirklichkeitsinterpretation "in statischen  Instanzen" (Karl Haußer) bzw.  auf Grundlage von attā  wird im Pāli als vohāra-sacca (bzw. sammutti-sacca)  bezeichnet, vohāra-vacana wiederum bezeichnet die  sprachlichen Konventionen, in denen diese Weltsicht Ausdruck findet.  Vohāra-sacca bzw.  samutti-sacca sind ebenso wie paramattha-sacca nach Nyanatiloka "bloße Kommentarbegriffe",  die jedoch in den ältesten Suttentexten bereits angedeutet  werden70. Im Pottapāda-Sutta beispielsweise, wo der Buddha  ausführlich verschiedene von zeitgenössischen philosophischen  Schulen vertretene Seelentheorien71 widerlegt, sagt der Buddha abschließend:

Itima kho Citta loka-samanna loka-niruttiyo loka- vohara loka-pannatiyo yahi  Tathagato voharati aparamasan ti. "Diese aber sind, Citta, weltliche Benennungen, weltliche  Bezeichnungen, weltliche Redewendungen, weltliche Ausdrucksweisen,  welche der Buddha in einem anderen Sinne gebraucht."

70 Vgl. Nyanatiloka: Buddhistisches Wörterbuch, 1989. -    S.  273.

71 Vgl. Dīgha- Nikāya  I, S. 195: Es handelt sich hier um drei Spekulationen darüber,    in welcher Form die Seele nach dem Tode weiter existiert, tayo attapaṭilābho, nämlich arūpo attapaṭilābho, den Erwerb einer nicht- materiellen Seele, manomāya attapaṭilābho, den Erwerb einer in Bewusstsein bestehenden Seele und oḷāriko attapaṭilābho, den Erwerb einer materiellen Seele.

Der vohāra-Begriff bedeutet in diesem Kontext soviel wie  "geläufige Bezeichnung, allgemeiner (Sprach-)gebrauch, verbreitete Logik, Alltagslogik" oder einfach "Bezeichnung, Begriff"72, sammutti kann als "Auswahl, allgemeine  Übereinstimmung, allgemeine Ansicht, Konvention, das, was allgemein  anerkannt ist" wiedergegeben werden, samutti-sacca  entsprechend als "Alltags-, pragmatische oder relative  Wahrheit"73.    

72 Vgl. PTS Dictionary S. 111: "vohāra [...] 2.    current appellation, common use (of language), popular logic,    common way of defining, usage, designation, term, cognomen    [...]."

73 PTS Dictionary S. 155 "[..]1.  consent, permission, 2. choice, selection, delegation [...] 4.  common consent, general opinion, convention, that which is generally accepted. °-sacca: conventional truth (as opposed to paramattha-°, the absolute truth)."

Beide Begriffe zeigen, dass auch im Pāli bzw. im  Theravāda-Buddhismus, wo sie als termini technnici gebraucht  werden, ein enger Zusammenhang zwischen Wirklichkeitsinterpretation  und verbalen Funktionen gesehen wird.

Ein weiteres Indiz dafür, dass auch in der Theravāda-Psychologie  davon ausgegangen wird, dass interpretierende Wahrnehmung mit verbalen Fähigkeiten einhergeht, ist Buddhaghosas Erläuterung von saññā: nimitta-kāraṇa, das Markieren der  Wirklichkeit erfolgt nach Spracherwerb wohl wesentlich über Begriffe.  Das Interpreten-Modul ist ja identisch mit dem verbalen  bewussten System, das samutti produziert. Es ist das  Interpreten-Modul, das die Wirklichkeit auf Ebene von vohāra-vacana bzw. -sacca interpretiert, während auf Ebene von  paramattha-sacca Individualität eine Abfolge von  Bewusstseinsmomenten, citta (bzw. paramattha-dhammā),  von infinitesimal kurzer Dauer ist, die sich nach bestimmten  Bedingungen (paccaya) im Sinne eines Kontinuums (santāna), also qua paṭicca- samuppāda organisieren.  

"Jeder Mensch befindet sich in einem so umfassenden  Aktivitätszustand, dass dieser kaum auf einmal bewusst werden  kann und, nach unserer Meinung, ist vieles von dem, was ins  Bewusstsein tritt, durch das verbale System vermittelt. Es handelt  sich dabei um ein und dasselbe System, das in der Lage ist,  kontinuierlich unsere beobachtbaren Verhaltensaktivitäten wie auch  unsere Wahrnehmungen, Gedanken und Stimmungen zu überwachen. Indem  das verbale System von diesen Ereignissen Notiz nimmt, sie integriert  und interpretiert, sorgt es nach unserer Auffassung für eine  persönliche Sinngebung der bewussten Realität."

Die Erscheinungswelt sowie ein gutes Stück weit auch erlernte  Maßstäbe, die gesellschaftliche Realitäten widerspiegeln, stellen sozusagen die Parameter für die interpretierende  Wahrnehmung, die immer auf die "persönliche Sinngebung" hin  ausgerichtet ist. Thomas Blakeslee meint eben diesen  Wahrnehmungsmechanismus, der die Realität im Hinblick auf  persönliche Sinngebung selektiert, markiert und interpretiert, wenn  er von "Selbskonzept" spricht.


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