Materialien zur Religionswissenschaft

Menora

Menora -- der siebenarmige Leuchter nach Sacharja 4,2

Judentum als Lebensform

1. Die ersten Lebensjahre


von Alois Payer

payer@Well.com


Zitierweise / cite as:

Payer, Alois <1944 - >: Judentum als Lebensform. -- 1. Die ersten Lebensjahre. -- Fassung vom 26. April 1999. -- (Materialien zur Religionswissenschaft). -- URL: http://www.payer.de/judentum/jud501.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 21. Februar 1998

Letzte Überarbeitung: 21. Februar 1998; 26. 4. 1999 [Hinzufügung von Buchbestell-Links zu amazon.de]

Anlaß: Lehrveranstaltung Wissenschaftskunde Religionswissenschaft / Theologie, HBI Stuttgart, WS 1995/96

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

©opyright: Dieser Text steht der Allgemeinheit zur Verfügung. Eine Verwertung in Publikationen, die über übliche Zitate hinausgeht, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Verfassers.


Übersicht



1. Geburt / Konversion -- Wer ist ein Jude?


Nach jüdischem Gesetz ist ein Kind Jude, wenn die Mutter Jüdin ist. Ist seine Mutter keine Jüdin, wird ein Kind als nichtjüdisch angesehen, unabhängig davon, wer der Vater ist.

Wenn man keine jüdische Mutter hat, besteht die Möglichkeit des Übertritts zum Judentum. Der Übertritt zum Judentum geschieht folgendermaßen:

Bei einem Kind:

Bei einem Erwachsenen erfordert dieselben Zeremonien wie bei einem Kind. Vor dem Übertritt bei einem Erwachsenen zusätzlich erforderlich:

Die Gültigkeit des Übertritts eines Erwachsenen hängt also also neben den zeremoniellen Erfordernissen vom Entschluß ab, das "Joch des Königtum Gottes" und das "Joch der Gebote" auf sich zu nehmen.


2. Berit Mila -- die Beschneidung


Beschneidung

Abbildung: Beschneidung bei portugiesischen Juden (Stich von Picard, 18. Jhdt.)


Grundlage der Beschneidung in der Thora:

Die Beschneidung geht auf  Gottes Bund mit Abraham (Gen 17,2ff.) zurück:

Gott sprach zu Abraham: Du aber, du wahre meinen Bund, du und dein Same nach dir in ihre Geschlechter. Dies ist mein Bund, den ihr wahren sollt, zwischen mir und euch und deinem Samen nach dir: Beschnitten unter euch sei alles Männliche. Am Fleisch eurer Vorhaut sollt ihr beschnitten werden, das sei zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. Mit acht Tagen soll alles Männliche unter euch beschnitten werden, in eure Geschlechter, Hausgeborner und von allirgend Fremdem um Geld Erworbner, der also nicht deines Samens ist, beschnitten werde, beschnitten dein Hausgeborner und dein Gelderworbner, mein Bund sei an eurem Fleisch zum Weltzeit-Bund. Ein vorhautiger Mann aber, der am Fleisch seiner Vorhaut sich nicht beschneiden läßt, gerodet werde solch Wesen aus seinen Volkleuten, meinen Bund hat er gesprengt.

Genesis 17, 9 - 14

Darum heißt Beschneidung auf Hebräisch Berit -- "Bund"

Die Beschneidung gilt als das wichtigste aller Gebote. Die Rabbinen erklären im Talmud, daß die Beschneidung deshalb Vorrang vor allen anderen Geboten der Thora hat. Deshalb ist keine Ausnahme erlaubt. Die Beschneidung muß am achten Tag nach der Geburt eines Knaben vorgenommen werden, auch wenn dies ein Sabbat oder sogar Jom Kippur ist. Wenn ein neugeborener Knabe nicht gesund ist oder eine Frühgeburt ist, dann wird die Beschneidung so lange verschoben bis keine Gefahr mehr für den Säugling besteht. Die Beschneidung erfolgt am achten Tag nach der Gesundung, da in so einem Fall der Tag der Gesundung als Tag der Geburt angesehen wird.

Erwachsene Männer, die zum Judentum übertreten, müssen sich beschneiden lassen.


Im 19. Jahrhundert forderten deutsche Reformjuden die Abschaffung der Beschneidung, da diese veraltet und barbarisch sei. Sie weigerten sich, ihre Knaben beschneiden zu lassen.   Heute betrachten alle religiösen jüdischen Gruppierungen und viele nichtreligiöse Juden die Beschneidung als einen wichtigen Ritus. Es gibt allerdings immer noch einzelne religiöse Juden, die die Beschneidung ablehnen.


Die Beschneidungszeremonie:

Während der Beschneidungsfeier übernimmt die Kvaterin [Gevatterin, Patin] das Kind von der Mutter und übergibt es dem Kvater [Gevatter, Paten]. Der Kvater reicht das Kind dem Vater und der Vater dem Sandak [2. Paten], der auf einem für ihn bereitgestellten Sessel sitzt. Der Ehemann darf das Kind nicht unmittelbar aus den Händen der Mutter nehmen, da sie noch von der Geburt her unrein ist (s. Leviticus 12,1-5).

Sobald das Kind zur Beschneidung gebracht wird, erheben sich alle Anwesenden und rufen:

"Gesegnet, der da kommt!"

Hierauf nimmt der Mohel [Beschneidungspezialist] das Kind, legt es auf den dazu bestimmten Stuhl (den Sitz des Propheten Elia) und spricht:

"Dies sei der Stuhl für Elia, zum Guten sei seiner gedacht. -- Auf deine Hilfe hoffe ich, Ewiger. Ich harre auf deine Hilfe, Ewiger, deine Gebote erfülle ich. Elia, des Bundes Engel, auf ihn sind wir vorbereitet. Er stehe zu meiner Rechten und stütze mich. Ich harre auf deine Hilfe, Ewiger. Ich freue mich über dein Wort wie einer, der reiche Beute gefunden. Reicher Friede denen, die deine Tora lieben, sie straucheln nicht. Heil dem, den du erwählst und dir nahen läßt, daß er in deinen Höfen wohne."

Man glaubt, daß bei jeder Beschneidung der Prophet Elia anwesend ist, um das Kind vor Gefahren zu schützen.

Die Anwesenden antworten:

"Mögen wir erquickt werden mit der Seligkeit deines Hauses, der Heiligkeit deines Tempels."

Hierauf legt der Mohel das Kind auf den Schoß des Kvaters [Gevatters, Paten]  und spricht:

"Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt durch deine Gebote und uns die Beschneidung befohlen."

Dann entfernt der Mohel die Vorhaut am Penis des Knaben. Dazu verwendet er das beiderseits geschärfte Beschneidungsmesser, den Kamm zur Ablösung der Vorhaut von der Eichel und den Schild (Magen), der die Eichel vor Verletzungen beim Schneiden schützt.

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Abb.: Modernes Beschneidungsbesteck


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Abb.: Beschneidungsbesteck (Holland, 1866) [Quelle der Abb.:  Judentum in Literatur und Kunst / hrsg. von Sharon R. Keller. -- Köln : Könemann, ©1995. -- ISBN 3-89508-052-7. -- S. 169. --  {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch direkt bei amazon.de bestellen}]

Der Vater des Kindes spricht nach der Beschneidung:

"Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt durch deine Gebote und uns befohlen, den Sohn in den Bund unseres Vaters Abraham aufzunehmen."

Die Anwesenden sprechen dann:

"Wie er in den Bund eingeführt worden, so möge er in die Thora, in die Ehe und in die Ausübung guter Werke eingeführt werden."

[Übersetzung der Texte: S. Bamberger]

Der Knabe erhält seinen Namen bei der Beschneidungszeremonie.

Mädchen erhalten ihren Namen während der ersten Sabbatfeier nach ihrer Geburt in der Synagoge.


3. Pidjon ha-ben -- Auslösung des erstgeborenen Sohnes


Ist der Knabe ein Erstgeborener, dann muß er dreißig Tage nach der Geburt "ausgelöst" werden; denn er gehört Gott::

"Der Herr sprach zu Moses: "Weihe mir alle Erstgeburt! Alles, was bei den Kindern Israels den Mutterschoß durchbricht, beim Menschen und beim Vieh, gehört mir."

Exodus 13, 1-2

Deswegen muß man einen erstgeborenen Knaben von seiner Verpflichtung entbinden, sein Leben dem Dienst des Ewigen zu weihen. Darum muß man ihn mit fünf Schekel (Silberlinge) vom Kohen (Priester) als Stellvertreter Gottes freikaufen:

"Jedoch den Erstgeborenen des Menschen mußt du auslösen ... Und zwar vollziehst du seine Auslösung vom zurückgelegten Monat an in deiner Schätzung fünf Schekel aus Silber ..."

Numeri 18, 15 - 16

Eine Auslösung muß erfolgen, wenn alle vier folgenden Bedingungen erfüllt sind:

  1. das Kind ist das Erstgeborene seiner Mutter
  2. das Kind ist männlich
  3. der Vater ist kein Kohen oder Levi
  4. die Mutter ist nicht die Tochter eines Kohen oder Levi

Da Leviten und Kohens im Tempel dienen mußten und davon nicht befreit werden konnten, werden ihre erstgeborenen Söhne nicht freigekauft. Da Exodus 13,2 nur für Kinder gilt, die den Mutterschoß durchbrechen, ist bei einem Kind, das durch Kaiserschnitt auf die Welt kommt, keine Auslösung fällig.

Die Pflicht der Auslösung bleibt beim Vater bis zur Religionsmündigkeit des Sohnes (13. Lebensjahr), dann muß der Sohn (falls ihn sein Vater noch nicht ausgelöst hat) sich selbst auslösen.

Die Auslösung erfolgt folgendermaßen: Vor einem Festmahl legt der Vater dem Kohen Geldstücke (keinesfalls Banknoten!) im Gegenwert von mindesten 100 Gramm reinen Silbers vor. Dann überreicht er sein Söhnchen dem Kohen und spricht:

"Meine Frau gebar mir diesen erstgeborenen Sohn."

Der Kohen fragt den Vater:

"Was willst du lieber haben, diesen deinen erstgeborenen Sohn oder die fünf Selaïm, die du als Lösegeld für ihn zu geben verpflichtet bist?"

Der Vater nimmt das Lösegeld in die Hand und antwortet:

"Meinen erstgeborenen Sohn habe ich lieber; hier hast du fünf Selaïm als sein Lösegeld!

Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt durch deine Gebote und uns die Auslösung des Sohnes befohlen!

Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns Leben und Erhaltung gegeben und uns diese Zeit hast erreichen lassen!"

Dann gibt der Vater dem Kohen das Geld und erhält seinen Sohn zurück. Der Kohen sagt:

"Dein Sohn ist ausgelöst!"

Darauf spricht der Kohen über das Kind einen Segen.

Dann nimmt der Kohen einen Becher Wein, spricht darüber den Segensspruch, und das Festmahl beginnt.


4. Lernen als jüdische Lebensform


Ein Heide kam zu Hillel und sprach: »Nimm mich ins Judentum auf unter der Bedingung, daß du mich die ganze Thora lehrst, während ich auf einem Fuß stehe.« Hillel nahm in auf und sprach: »Was dir verhaßt ist, tu deinem Nächsten nicht. Alles andere ist Erklärung; geh und lerne

[Babylonischer Talmud, Traktat Schabbat, 31a]

Einst waren Rabbi Tarphon und die Ältesten im Söller des Hauses Nithza in Lod versammelt, und es wurde die Frage aufgeworfen, ab das Lernen oder das Tun größer sei. Rabbi Tarphon sagte: »Das Tun ist größer.« Und Rabbi Aquiva antwortete: »Das Lernen ist größer.« Da stimmten alle zu, daß das Lernen größer sei, denn das Lernen führt zum Tun.

[Babylonischer Talmud, Traktat Quidduschin, 40b]

Die folgenden Zitate stammen aus der hervorragenden Darstellung des Zürcher jüdischen Kaufmanns und Psychologen Raphael Pifko:

Pifko, Raphael: Lernen als jüdische Lebensform. -- In: Schtetl Zürich : von orthodoxen jüdischen Nachbarn / Livio Piatti ; mit Texten von ... -- Zürich : Offizin, ©1997. -- ISBN 3-907495-78-0. -- S. 163 - 166. --  {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch direkt bei amazon.de bestellen}

"Ein Ignorant, so sagt ein berühmtes Wort, könne nicht fromm sein!"

"Die Begründer der jüdischen Lernkultur nannten sich peruschim, »Pharisäer«, d.h. »Abgesonderte«, weil sie sich mitten im Alltag mit ihrer Praxis der Thora von anderen Leuten unterschieden. Erklären heißt unterscheiden. Eine Erklärung lernen heißt unterscheiden lernen. ... So ist auch das Thoralernen mit Büchern, der Disput im Lehrhaus, ein intensives Klären zwischen Ja und Nein, zwischen Wichtig und Unwichtig, zwischen Gut und Böse, zwischen dem, was leben fördert, und dem, was Leben behindert, und deshalb zwischen dem, was getan und was nicht getan werden soll -- und das alles mit dem Ziel, mit den Menschen und mit Gott freundlich zu sein."

"Ich stamme aus einer religiösen jüdischen Familie. Beide Eltern haben ihre Wurzeln in Osteuropa. Das erste, was ich als jüdisches Kind lernte, war das Lernen zu lernen. Mit fünf Jahren habe ich im Kindergarten hebräisch lesen gelernt. Natürlich habe ich nicht verstanden, was ich las. Einer der ersten Sätze, den ein kleines Kind auswendig lernt, ist ein Vers aus der Bibel: »Tora ziwa lanu Mosche, morascha qehillat Jaakov.« »Tora hat uns Moses geboten als Erbteil der Gemeinde Jakobs.« (5. Mose 33,4). Und dann natürlich das »Schma Israel«, »Höre Israel«, unser Grundbekenntnis, das wir als Kinder vor dem Einschlafen singen lernten. Im Kindergarten wurden wir auch mit den jüdischen Festen vertraut gemacht, soweit wir sie nicht von zu Hause her kannten."

"Mit 7 Jahren kam ich an die jüdische Schule an der Freigutstrasse in Zürich. Hier werden die Kinder neben den Fächern der öffentlichen Schulen intensiv in das Lernen der Tora eingeführt. Schon in der ersten Klasse lernten wir an sieben Wochenstunden den Chumasch, d.h. die fünf Bücher Mose, übersetzen. Später, von der vierten Klasse an, kam der Kommentar von Raschi dazu, der in jeder jüdischen Bibelausgabe dem Bibeltext beigefügt ist. »Chumasch mit Raschi« ist das Grundwissen, das ein religiös erzogenes jüdisches Kind als Rüstzeug für alles spätere Lernen und natürlich für das Leben mitbekommt. Ab etwa elf Jahren begannen wir Mischna, die Grundschrift unserer mündlichen Tradition, zu lernen, und schon bald folgte auch die Gemara, die zusammen mit der Mischna den Talmud bildet."

"Wir lernten die schwierigen talmudischen Klärungsprozesse im typisch jeschiwischen »Tropp«, d.h. in einem bestimmten Singsang, der jedem, der einmal Talmud gelernt hat, in Fleisch und Blut übergeht. Melodien mit bestimmten Wortwendungen verbunden sind starke mnemotechnische und emotionale Strukturen oder Leitplanken, ohne die ich mir das Lernen kaum vorstellen kann. Dieser Singsang, verbunden mit so schwierigen Fragen wie, ob man ein Ei, das am Feiertag gelegt wurde, am gleichen Tag essen darf, mangelt nicht einer bestimmten, unverwechselbaren Poesie und natürlich auch des versteckten Humors."

"Mit 14 Jahren kam ich an die Jeschiwa (Talmudschule) in Kriens [Kanton Luzern]. Das ist eine religiöse Schule für Jugendliche, in der der klassische jüdische Lehrstoff erweitert und vertieft wird. Die Klassen waren nicht nach Alter, sondern nach den Fähigkeiten und Kenntnissen der einzelnen Jungen eingeteilt."

Tagesablauf in der Jeschiwa

07.00 Morgengebet, Frühstück
08.30 Arbeit zu zweit (Chavruta) mit einem Text
10.00 Lehrgespräch (Schiur) über den gleichen Text durch einen Lehrer
12.15 Mittagessen
13.30 Minchagebet, anschließend Wiederholung zu zweit des Schiur vom Vormittag
18.30 Nachtessen, vorher oder nachher (je nach Jahreszeit) Nachtgebet
20.00 Freie Gestaltung des Lernens
22.00 ca. Nachtruhe

"Für uns halbwüchsige Jugendliche war der Tagesablauf in Kriens anstrengend. Ausflüge oder Sportanlässe gab es nicht. ... Das zwischenmenschliche Element ist dabei in jeder Jeschiwa sehr wichtig. Das Betätigungsfeld ist nicht nur intellektuell, sondern es lebt auch von der Beziehung zum Chaver, dem Lernpartner, der oft über Jahre der gleiche ist und ein Freund fürs Leben bleibt. Wie in jeder Partnerschaft gibt es auch hier Zuneigung und Abneigung. Gegensätzlichkeit der Charaktere, die einander ergänzen. Die Chavruta, das Lernen zu zweit, ist ein Herangehen an die Texte der Tradition mit allen Sinnen und intellektuellen Fähigkeiten und mit allen Fragen, die junge Leute bewegen. Die Freude am Lernen habe ich nicht zuletzt Vorbildern von Lehrern zu verdanken. Mit ihrem scharfen analytischen Denken standen sie in der Tradition der litauischen Jeschiwot (Talmudschulen), in denen das Talmudstudium auf einem Niveau gepflegt wurde, das heute nur noch selten erreicht wird. Man nennt die Schüler dieser Tradition bis heute »Litvaks«, d.h. »Litauer«, weil sie als ausgekochte Rationalisten und als äußerst scharfsinnig gelten."

"Genau in eine solche »litauische« Jeschiwa in Israel siedelte ich nach den Jahren in Kriens [Kanton Luzern] über. Sie trägt den Namen des Städtchens Ponowesch in Litauen. ... Die Gestaltung des Lernens in einer Jeschiwa ist für Fortgeschrittene sehr frei, Lehrvorträge gibt es nur wenige. Ich saß mit meinem Lernpartner, manchmal auch allein, unter vielen anderen Talmudschülern vom Vormittag bis spät in die Nacht und folgte dem Stoff, der mich fesselte. ... Offizielle Lernsprache ist in einer solchen Schule bis heute das Jiddische."

"In einer Jeschiwa gibt es kein Abschlußexamen und keine Zeugnisse, weil der Zweck des Lernens das Lernen selbst ist. ... Lernen ist besonders in der Tradition des litauischen Judentums ... der höchste religiöse Wert überhaupt. Ws steht sogar über dem Gebet, weil der Mensch durch das Lernen Zugang zu allem hat, was zwischen Himmel und Erde ist."


5. Bar Mizwa / Bat Mizwa -- Feier der Religionsmündigkeit


Ein Knabe wird mit seinem 13. Geburtstag religiös mündig, ein Mädchen mit dem 12. Geburtstag. Ein Knabe, der dieses Alter erreicht wird Bar-Mizwa genannt, ein Mädchen Bat-Mizwa; diese Worte bedeuten "den Geboten verpflichtet". Der Eintritt in die Religionsmündigkeit wird gefeiert. Die verschiedenen Gemeinden haben dazu unterschiedliche Gebräuche. Bar-Mizwa-Zeremonien gibt es seit dem 14. Jahrhundert, für Mädchen wurde die erste Bat-Mizwa-Zeremonie 1922 vom Reconstructionist Movement eingeführt. Heute haben viele Gemeinden Bat-Mizwa-Zeremonien eingeführt.

Die Zeremonie ist für den Eintritt in die Religionsmündigkeit nicht erforderlich: das Kind wird auch religiös mündig, wenn der Tag auf keine Art bezeichnet oder   gefeiert wird.

"Die Bar Mizwa-Zeremonie, wie wir sie heute kennen, ist allerdings kaum älter als sechshundert Jahre. Ihre zeitgenössische Lobpreisung ist in Herman Wouks Roman Marjorie Morningstar amüsant beschrieben. [s. Wouk, Herman <1915 - >: Marjorie Morningstar, I,9: Die Bar-Mitzwa. --  {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch direkt bei amazon.de bestellen}] Die Bar Mizwa-Feierlichkeiten stellen an Üppigkeit in aller Regel jeden Hochzeitsempfang in den Schatten. Der Vater des jungen Sidney Wolfe hat jedoch weder die Mittel noch die Neigung, diesem Beispiel zu folgen, obwohl Verwandte aus Kapstadt und Los Angeles angereist sind.

Sidney steigt die Stufen zur Bima hinauf. Ein Raunen geht durch den Raum, und die ganze Schar der weiblichen Verwandten auf der Empore reckt die Hälse. Der Rabbiner begrüßt Sidney wohlwollend und zeigt mit dem silbernen Thorafinger auf den Anfang des letzten Teils der Wochenabschnitts (Maftir). Sidney berührt die Stelle mit den Fransen seines Gebetsschals, den er daraufhin küßt. Dann verliest er mit klarer, heller Stimme den Segen. Die Zuhörerschaft lauscht gebannt. Es sind dieselben hebräischen Worte, die Sidneys Vorgänger an diesem Morgen auch schon vorgebetet haben, manche voll Eifer, andere gedankenlos, manche selbstsicher, andere mit ängstlichem Blick auf den Spickzettel, der in einem kleinen Rahmen am Lesepult befestigt ist. Sidney kann die Worte auswendig. Sein Problem liegt woanders. Mit dreizehn ist man im Stimmbruch und damit ständig in Gefahr, unfreiwillig vom knabenhaften Alt in einen gequetschten Bariton abzurutschen. ... Er hat in den letzten acht Monaten intensiv gepaukt und ist fest entschlossen, heute die Früchte dieser Mühen zu ernten. Die Maftir-Lesung umfaßt nur drei Verse. Es macht nichts, daß der Text weder Vokale noch Satzzeichen enthält, Sidney kennt ihn in- und auswendig. Er nimmt den Platz des »amtlichen« Lesers ein, stürzt sich voller Selbstvertrauen in seine Aufgabe, und schon nach zwei Minuten hat er sie ohne Fehler bewältigt. Er spricht eine weitere Segensformel, woraufhin sein Vater die vorgeschriebenen Worte anstimmt:

Dank sei dem, der mich von der Verantwortung für dieses Kind befreit hat!

Während die Gesetzesrolle von seinem Onkel Joe hochgehoben und gezeigt, dann zusammengerollt und von seinem Cousin Mick wieder verhüllt wird, wappnet sich Sidney innerlich für die Haftara, die Passage aus den Propheten, die die Grundaussage des Wochenabschnitts zumindest entfernt aufgreift oder auf ein Ereignis darin anspielt, in Sidneys Fall ein Abschnitt aus dem Buch Sacharja. Obwohl sie länger als die Maftir-Lesung ist -- immerhin handelt es sich um eine ganze Seite Text --, bringt die Haftara weniger Schwierigkeiten mit sich, weil sie aus einem normalen Buch vorgetragen wird, in dem Punkte immerhin die Stellung der ausgelassenen Vokale markieren. Sidney vollführt seinen Sprechgesang mit viel Gefühl und schließt triumphierend mit den Segensformeln am Ende der Haftara."

[Meek, Harold A.: Die Synagoge. -- München : Knesenbeck, 1996. -- ISBN 3-89660-012-5. -- S. 15f. --  {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch direkt bei amazon.de bestellen}]


6. Konfirmation


Im 19. Jahrhundert setzten Reformgemeinden in Deutschland an Stelle der Bar-Mizwa eine Feier, die sie nach protestantischem Vorbild "Konfirmation" nannten. Man meinte, daß ein Kind mit 13 Jahren noch nicht reif genug sei, um in die Gemeinschaft der Erwachsenen zu treten, deshalb feierte man, wenn der Knabe 16 oder 17 Jahre alt war, eine Konfirmation. Der Hauptteil der Konfirmationsfeier besteht wie bei der lutherischen Konfirmation in der Prüfung und Bekenntnis des Glaubens vor versammelter Gemeinde.

In den USA feiern heutzutage die Reformgemeinden und die meisten konservativen Gemeinden Konfirmation von Knaben und Mädchen, wenn sie 15 Jahre alt sind. Im allgemeinen ist der Konfirmationstag Schawuot -- der Tag, an dem man den Empfang der Thora vom Berg Sinai feiert.


Zum nächsten Abschnitt: 2. Heirat und Scheidung