Internationale Kommunikationskulturen

5. Kulturelle Faktoren: Soziale Beziehungen


von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Internationale Kommunikationskulturen. -- 5. Kulturelle Faktoren: Soziale Beziehungen. -- Fassung vom 2011-01-27. -- URL: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur05.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 19.12.2000

Überarbeitungen:  2011-01-27 [Aktualisierung]

Anlass: Lehrveranstaltung, HBI Stuttgart, 2000/2001; MBA der HdM Stuttgart und der Westsächsischen Hochschule Zwickau, 2011

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht


Teil I: Verwandtschaft, Freundschaft und Bekanntschaft

Teil II: Bünde

Teil III: Machtverhältnisse

Teil IV: Lebensstile


1. Einleitung



Abb.: "Einzelgänger leben gefährlich", Graphik von Ivan Steiger (©)

Soziale Beziehungen bestimmen weitgehend, mit wem man wann unter welchen Umständen kommunizieren bzw. kooperieren kann. Besonders wichtig ist das Netz der sozialen Beziehungen aber für die Frage, auf wen man sich bei der Kommunikation und Kooperation verlassen kann. 

In diesem Teil werden einige Grundbegriffe behandelt, in den folgenden Teilen werden einzelne Beziehungsgefüge dargestellt.


2. Definition


Soziale Beziehung wird im Folgenden gemäss der Definition von Max Weber verstanden:

" § 3. Soziale »Beziehung« soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, dass in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst worauf, diese Chance beruht. 

1. Ein Mindestmaß von Beziehung des beiderseitigen Handelns aufeinander soll also Begriffsmerkmal sein. Der Inhalt kann der allerverschiedenste sein: 

Der Begriff besagt also nichts darüber: ob »Solidarität« der Handelnden besteht oder das gerade Gegenteil. ....

3. Es ist in keiner Art gesagt, dass die an dem aufeinander eingestellten Handeln Beteiligten im Einzelfall den gleichen Sinngehalt in die soziale Beziehung legen oder sich sinnhaft entsprechend der Einstellung des Gegenpartners innerlich zu ihm einstellen, dass also in diesem Sinn »Gegenseitigkeit« besteht. »Freundschaft«, »Liebe«, »Pietät«, »Vertragstreue«, »nationales Gemeinschaftsgefühl« von der einen Seite kann auf durchaus andersartige Einstellungen der anderen Seite stoßen. Dann verbinden eben die Beteiligten mit ihrem Handeln einen verschiedenen Sinn: die soziale Beziehung ist insoweit von beiden Seiten objektiv »einseitig«. Aufeinander bezogen ist sie aber auch dann insofern, als der Handelnde vom Partner (vielleicht ganz oder teilweise irrigerweise) eine bestimmte Einstellung dieses letzteren ihm (dem Handelnden) gegenüber voraussetzt und an diesen Erwartungen sein eignes Handeln orientiert, was für den Ablauf des Handelns und die Gestaltung der Beziehung Konsequenzen haben kann und meist wird. Objektiv »beiderseitig« ist sie natürlich nur insoweit, als der Sinngehalt einander - nach den durchschnittlichen Erwartungen jedes der Beteiligten - »entspricht«, also z.B. der Vatereinstellung die Kindeseinstellung wenigstens annähernd so gegenübersteht, wie der Vater dies (im Einzelfall oder durchschnittlich oder typisch) erwartet. Eine völlig und restlos auf gegenseitiger sinnentsprechender Einstellung ruhende soziale Beziehung ist in der Realität nur ein Grenzfall. ...

4. Eine soziale Beziehung kann ganz vorübergehenden Charakters sein oder aber auf Dauer, d.h. derart eingestellt sein, dass die Chance einer kontinuierlichen Wiederkehr eines sinnentsprechenden (d.h. dafür geltenden und demgemäss erwarteten) Verhaltens besteht. ...

5. Der Sinngehalt einer sozialen Beziehung kann wechseln: - z.B. eine politische Beziehung aus Solidarität in Interessenkollision umschlagen. ...

6. Der Sinngehalt, welcher eine soziale Beziehung perennierend konstituiert, kann in »Maximen« formulierbar sein, deren durchschnittliche oder sinnhaft annähernde Innehaltung die Beteiligten von dem oder den Partnern erwarten und an denen sie ihrerseits (durchschnittlich und annähernd) ihr Handeln orientieren. ...

7. Der Sinngehalt einer sozialen Beziehung kann durch gegenseitige Zusage vereinbart sein. ..."

[Weber, Max <1864 - 1920>: Wirtschaft und Gesellschaft : Grundriss der verstehenden Soziologie. -- 5., revidierte Aufl. ; Studienausgabe. -- Tübingen : Mohr, 1972. -- ISBN 3165385211. -- Kapitel I, § 13. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


3. Das Netz der Beziehungen


Beispiele verschiedener Gruppenzugehörigkeiten und Rollen


Abb.: Gruppenzugehörigkeiten und Rollen, die uns zugewiesen werden


Abb.: Gruppenzugehörigkeiten und Rollen, die wir erwerben


Abb.: Gruppenzugehörigkeiten und Rollen, die uns nahegelegt werden, bzw. in die wir hineingeboren werden oder hineinwachsen

[Quelle der Abb.: Seger, Imogen <1915 - >: Knaurs Buch der modernen Soziologie. -- München [u.a.] : Droemer-Knaur, ©1970. -- (Exakte Geheimnisse). -- S. 96, 99.]

Der Afrikanist Jacques Maquet nennt folgende institutionalisierten Formen elementarer sozialer Beziehungen:

Elementarbeziehung Handelnde Personen (A/B) Rollen von A/B Sanktionen (unter anderen)
Blutsverwandtschaft Verwandter/Verwandter (Abstammung von gemeinsamen Vorfahren) solidarisch mit B / solidarisch mit A (allgemeine Solidarität, besondere Rechte und Pflichten kollektive Missbilligung,
Strafen (z.B. Prügel),
Ausstoßung
Angeheiratete Verwandtschaft Affine/Affine (verbunden durch Heirat) unterstützt B / unterstützt A Strafen (z.B. Prügeln der Ehefrau),
Entziehung der Unterstützung,
Auflösung der Heiratsverbindung
Herrschaft (politische Beziehung) Herrschender/Untertan gebietet über B / gehorcht A Strafen,
Zwang, 
Vertreibung
Ungleichheit und Gleichheit übergeordnet/untergeordnet,
ungleichberechtigt,
gleichberechtigt/gleichberechtigt
A respektiert seinem Rang gemäß B's Rang / ebenso B kollektive Missbilligung,
Strafen,
Statusverlust
Lehensbeziehung und Klientel Lehensherr/Vasall,
Patron/Klient
verteidigt B/dient A,
sorgt im Notfall für B/dient A
Strafen (z.B. Konventionalstrafen),
Auflösung der Beziehung
Bündische Vereinigungen Mitglied/Mitglied Zusammenarbeit mit B zur Verfolgung der Ziele des Bundes / ebenso B kollektive Missbilligung,
Strafen,
Ausstoßung
Güteraustausch (Wirtschaftsbeziehung) Verkäufer/Käufer,
Unterhändler/Unterhändler
Vergabe von Gütern und Dienstleistungen an B gegen andere Güter und Dienstleistungen, geboten von B / ebenso B Strafen,
Rückhaltung oder Reduktion der Bezahlung
Macht Machthaber/Machtunterworfener fordert bestimmtes Verhalten von B / fügt sich den Forderungen von A kollektive Missbilligung,
Strafen,
Gewaltanwendung
Abhängigkeit Schutzherr/Abhängiger gewährt B Schutz (z.B. vor Mafia) / bietet A Leistung (z.B. Geldzahlung) Aufhebung des Schutzes,
Gewaltanwendung,
Einstellung der Leistung
Wechselbeziehung Gebender/Gebender gewährt B Gabe, Dienstleistung oder Gefallen / gewährt A Gegengabe oder Gegenleistung kollektive Missbilligung,
Bruch der Beziehung

[Abgeändert nach: Maquet, Jaques <1919 - >: Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen in Afrika. -- München : Kindler, ©1971.  -- (Kindlers Universitäts Bibliothek). -- Originaltitel: Societé et pouvoir en Afrique (1971). -- S. 22 -23.]

Sanktionen setzen immer Machtverhältnisse im weitesten Sinne voraus.


4. Macht


Max Weber definiert Macht und unterscheidet sie von Herrschaft so:

Der Begriff Macht ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen. Der soziologische Begriff der Herrschaft muss daher ein präziserer sein und kann nur die Chance bedeuten, für einen Befehl Fügsamkeit zu finden.

Der Begriff Disziplin schließt die Eingeübtheit des kritik- und widerstandslosen Massengehorsams ein."

[Weber, Max <1864 - 1920>: Wirtschaft und Gesellschaft : Grundriss der verstehenden Soziologie. -- 5., revidierte Aufl. ; Studienausgabe. -- Tübingen : Mohr, 1972. -- ISBN 3165385211. -- Kapitel I, § 16. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Man kann Macht auch unter ihrem negativen Aspekt definieren als Möglichkeit, jemand anderem Entbehrung, Entzug und dergleichen zuzufügen. Machtausübung hängt also wesentlich auch davon ab, was der andere als wertvoll ansieht. So können die wirksamsten Sanktionen der Entzug von Zuwendung oder von Gemeinschaft sein.

Mögliche Druckmittel zur Durchsetzung von Macht sind u.a.

"Die möglichen Druckmittel sind jedoch nicht auf die drei bisher genannten Typen beschränkt. Jede Orientierung an einem Wert bietet grundsätzlich die Möglichkeit, einem anderen diesen Wert zu entziehen. 

sie alle verfügen über jene Grundlagen, auf denen die von Max Weber gemeinte Chance beruht: nämlich die Chance, den eigenen Willen bei bestimmten Individuen auch gegen deren Widerstand durchzusetzen."

[Maquet, Jaques <1919 - >: Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen in Afrika. -- München : Kindler, ©1971.  -- (Kindlers Universitäts Bibliothek). -- Originaltitel: Societé et pouvoir en Afrique (1971). -- S. 36.]


5. Gegenseitigkeit


"Eine geschäftliche Verbindung, die auf den guten  Willen zählt, wird nicht auf genau bestimmte Bedingungen eingegangen, sondern etwa wie man einem, zu dem man in freundschaftlichen Beziehungen steht, ein Geschenk macht oder sonst irgend etwas leistet und dabei erwartet, dass man ebensoviel oder mehr wieder erhalten wird, indem man nicht sowohl etwas wegzugeben, als nur es auszuleihen beabsichtigt. Erfolgt  nun die Einlösung der Verpflichtung nicht in dem  Sinne, wie sie eingegangen worden ist, so beschwert  man sich, und das ist die Folge davon, dass alle oder  doch die meisten, so sehr sie das uneigennützig Edle  schön finden, in ihren Entschließungen sich doch  mehr für das Nützliche entscheiden. Sittlich edel ist  es, Gutes zu erweisen ohne die Absicht, es zurückerstattet zu erhalten, dagegen ist es nützlich, Wohltat  entgegenzunehmen. Demnach soll man, wenn man  das Vermögen hat, den gleichen Wert, den man empfangen hat, auch zurückerstatten, und das aus freien  Stücken. Denn es ist nicht wohlgetan, jemanden als  Freund zu behandeln wider seinen Willen; man muss  in der Sache verfahren, als wäre man von vornherein  im Irrtum gewesen und hätte gute Dienste von einem  entgegengenommen, von dem man es nicht gesollt  hätte, Dienste nicht von einem guten Freunde und  nicht von einem, der in solcher Freundesgesinnung  handelte. Man muss also seine Verpflichtung so einlösen, als hätte man die Leistung auf fest bestimmte Bedingungen hin empfangen, in diesem Falle wäre man  doch mit dem andern dahin übereingekommen, dass er  leistete, wenn er dazu imstande wäre. Allerdings, dass  er nun leiste, wozu er nicht imstande ist, das würde der Geber selbst nicht verlangen. Also ist es geboten,  zurückzuerstatten, wenn man es vermag. Von vorn herein aber muss man sich's wohl überlegen, von wem  man Dienste entgegennimmt und unter welcher Bedingung, um dann auch wirklich diese Bedingung innezuhalten oder abzulehnen.

Verschieden denken kann man über die Frage, ob  die Gegenleistung nach dem Nutzen, der dem Empfänger zugefallen ist, zu bemessen und dementsprechend ins Werk zu setzen ist, oder vielmehr nach der  Größe des Opfers, das der Geber gebracht hat. Der  Empfänger hat die natürliche Neigung, den Wert des  Empfangenen herabzusetzen; er sagt wohl, er habe  vom Geber solches erhalten, was für diesen nicht in  Betracht kam und was er auch ganz gut von anderen  hätte bekommen können. Der Geber umgekehrt behauptet, er habe das größte geleistet, was in seiner  Macht stand und was sonst kein Mensch hätte leisten  können, und das in gefährlichen oder sonstigen dringlichen Lagen. Wäre nun nicht da, wo die Verbindung  geschäftlicher Art ist, das Richtige dies, dass der vom  Empfänger erlangte Vorteil den Maßstab bildet? Dieser war doch der, der des andern bedurfte, und der andere half ihm aus in der Aussicht, das gleiche zurückzuerlangen. Der gewährte Beistand ist also so groß  gewesen, wie der andere den Vorteil davon gehabt  hat, und er muss so viel zurückerstatten, wie er Nutzen gehabt hat, oder noch mehr; letzteres ist das Edlere. In Verbindungen dagegen, die der Adel der Gesinnung  stiftet, kommt es nicht vor, dass der eine sich über den  anderen beklagt; hier liefert das Opfer, das in der Absicht des Gebers lag, den geeigneten Maßstab. Denn  wo auf den Adel der Gesinnung und des Charakters  gezählt wird, da ist das Entscheidende die Absicht,  aus der die Handlung erfolgt.

Zum Streite kann es auch in solchen Verbindungen  kommen, wo der eine Teil das Übergewicht hat. Es  kann jeder Teil zu viel für sich beanspruchen, und tritt das ein, so geht die Verbindung auseinander. Der  Überlegene meint, es komme ihm zu, ein Mehr zu erlangen, denn dem Tüchtigen gebühre ein größerer Anteil. Ganz ähnlich der, der mehr leistet. Denn wer  nichts leistet, heißt es, dürfe auch nicht das gleiche  erlangen; sonst laufe es auf einen Ehrendienst und  nicht auf eine geschäftliche Verbindung hinaus, wenn  der bei der Verbindung sich ergebende Gewinn sich  nicht nach dem Werte der Leistung richtet. Man meint nämlich, wie in gemeinsamen geschäftlichen Unternehmungen diejenigen, die mehr einschießen, auch  mehr empfangen, so müsse es auch in freundschaftlichen Verhältnissen geschehen. Umgekehrt denkt der,  der des anderen bedarf, und der Minderwertige, es sei  einfach Pflicht eines befreundeten Mannes von guter  Gesinnung, denen zu helfen, die der Hilfe bedürfen;   denn was habe man sonst von der Freundschaft mit  einem tüchtigen und mächtigen Manne, wenn man  davon doch keinen Genuss zu schmecken bekomme? Da kann man nun den Anspruch beider Teile für  begründet halten und meinen, beiden Teilen müsse  auf Grund des Freundschaftsverhältnisses ein Mehr  zufließen, aber nicht ein Mehr derselben Art: vielmehr gebühre dem Höherstehenden die höhere Ehre, und  dem in bedürftiger Lage der größere Vorteil. Denn für edle Gesinnung und hilfreiches Tun bildet das Gegengeschenk die Ehre, und für eine bedrängte Lage ist der Gewinn die Hilfe."

[Aristoteles <384 - 322 v.ÿChr.>: Nikomachische Ethik / übersetzt von Adolf Lasson (1909). -- Philosophie von Platon bis Nietzsche. -- Berlin : Directmedia, 1998. -- 1 CD-ROM. -- (Digitale Bibliothek ; Bd. 2). -- ISBN 3932544110. -- S. 5079 - 5082. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}]

Die Regel der Gegenseitigkeit lautet, dass man sich für etwas, was jemand einem gegeben oder für einen getan hat, revanchieren muss. Diese Regel gilt in allen Kulturen. In Ausdrücken wie "Mein verbindlicher Dank" drückt sich diese Verpflichtung durch Gegenseitigkeit in der Sprache aus.

Aufgrund dieser Regel baut man verschiedene Netze des Verpflichtetseins auf. Diese Netze der Verbindlichkeiten sind -- wie psychologische Experimente zeigen -- stärker als die Bindungen durch Attraktivität und Zuneigung. Deshalb ist die Regel der Gegenseitigkeit auch fundamental für jede Gemeinschaft, Gruppe usw.

Diese Regel wird allerdings auch bewusst ausgenutzt in Werbung (z.B. unaufgeforderte Zusendung kleiner Geschenke -- z.B. Adressaufkleber --  in Bettelbriefen), Politik (z.B. "System Kohl") und dem täglichen Leben (z.B. jemand zwingt einem ein Geschenk auf, um später unverschämte Gegenleistungen zu fordern; oder ein Mann lädt eine Frau zu einem Drink ein und betrachtet ihre Annahme als Ausdruck sexuellen Entgegenkommens).

Eine wichtige Unterart der Regel der Gegenseitigkeit ist das gegenseitige Nachgeben, der Kompromiss: die eine Seite geht von ihren ursprünglichen Forderungen herunter und verpflichtet so die andere Seite von ihren ursprünglichen Forderungen oder ihrem ursprünglichen Angebot herunter zu gehen. Diese Kompromissbereitschaft liegt z.B. dem klassischen Handel zugrunde, bei dem der Preis für ein Gut oder eine Leistung ausgehandelt wird. Kompromiss ist grundlegend für das Funktionieren sozialer Beziehungen, kann aber gerade darum auch bewusst manipulativ ausgenutzt werden: jemand stellt einseitig (völlig unberechtigt) eine unverschämte Forderung und geht dann auf eine geringere (im Grunde genauso unverschämte) Forderung herunter.

Die genaue Kenntnis der Regel der Gegenseitigkeit in ihren jeweiligen kulturellen Ausprägungen ist für Kommunikation von größter Wichtigkeit: 

Eine ausgezeichnete Darstellung der Manipulationen aufgrund der Regel der Gegenseitigkeit findet man in:

Cialdini, Robert B.: Influence : the psychology of persuasion. -- Revised ed. -- New York : Quill, ©1993. -- ISBN 0688128165. -- S. 17 - 56. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}


5.1. Die Gabe


"In der Vorzeit lobte man das schlichte Geben, dann pflegte man Geben und Gegen-Geben. Die Regeln des Richtigen bewerten diese Gegenseitigkeit hoch: wenn ich eine Gabe gebe und dafür nichts erhalte, ist es gegen das Richtige; wenn ich etwas erhalte und nichts dafür gebe, ist das ebenso gegen das Richtige."

Li Ji ("Buch der Riten"), Konfuzius (551 - 479 v. Chr.) zugeschrieben 

In allen Kulturen spielen Geschenke eine zentrale Rolle: sie sind theoretisch freiwillig, in Wirklichkeit müssen sie jedoch oft gegeben und erwidert werden.

In seinem klassischen Werk über die Gabe beschreibt der französische Soziologe und Anthropologe Marcel Mauss (1872 - 1950), was alles an "Gaben" ausgetauscht wird:

"Zum anderen ist das, was ausgetauscht wird, nicht ausschließlich Güter und Reichtümer, bewegliche und unbewegliche Habe, wirtschaftlich nützliche Dinge. Es sind vor allem 

[Mauss, Marcel <1872 - 1950>: Die Gabe : Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. -- Frankfurt a. M. : Suhrkamp, ©1968. -- ISBN 351828343X. -- Originaltitel: Essai sur le don (©1950). -- S. 22. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}] 


5.2. Kompromisse und Aushandeln



Abb.: Morgenmarkt in Vientiane, Laos: ein klassischer Ort des gegenseitigen Nachgebens (©Corbis)

Eine wichtige Form der Gegenseitigkeit ist das gegenseitige Nachgeben, bei dem man gegenseitig von seinen ursprünglichen Forderungen heruntergeht, also Kompromisse schließt bzw. etwas aushandelt.

Ein solcher Interessenkompromiss liegt auch dem Aushandeln des Preises auf Märkten ohne Festpreise (Bazar) zugrunde.


5.3. Zum Beispiel: Guanxixue, die Kunst der Beziehungen in China



Abb.: Chinesische Zeichen für guan xi xue -- der Lehre (xue) von den Beziehungen (guanxi)

Mit Guanxi wird in China die persönliche Beziehung zwischen Personen bzw. das Netzwerk der persönlichen Beziehungen bezeichnet. In solchen persönlichen Beziehungen geht es um Vertrauen und Gegenseitigkeit. Man verpflichtet sich dem Gegenüber, wobei eine Gegenleistung - eventuell  auch erst nach Jahren - fällig wird. Diese wechselseitigen Hilfen, Geschenke u.ä. werden "Renqing" genannt. Guanxi gilt im privaten wie im Geschäftsbereich. Will man eine vertrauensvolle Beziehung z.B. unter Geschäftspartnern aufbauen, gilt es erst mal den Partner kennenzulernen vor allem auch dessen Familienbeziehungen. Man muss sich eine Vorstellung von seinem Gegenüber machen können und selbstverständlich muss das Gegenüber sich eine Vorstellung von mir machen können.

Mayfair Mei-hui Yang gibt in der Einleitung zu ihrem sehr lesenswerten Buch ein Gespräch wieder, das sie 1982 mit einem Arbeiter -- Ding Jian -- in Beijing (Peking) führte. Ich gebe dieses Gespräch in eigener Paraphrase wieder:

Ding Jian erklärt: "Guanxixue heißt, dass man Gefallen erweist. Jeder nutzt sein Guanxi-Netzwerk. Sie bitten einen Freund um einen Gefallen, wenn er ihn nicht erweisen kann , dann bitte er jemand anderen. Auf diese Weise verbinden sich niederere soziale Schichten mit höheren. Sie wissen wahrscheinlich schon, wie hohe Parteifunktionäre ihre Informationen über die Gesellschaft erhalten. Nicht durch die Berichte ihrer Sekretäre, sondern durch ihre Söhne und Töchter und deren niedrigergestellte Freunde."

Ding Jian erklärt dann stolz das Funktionieren von Guanxixue an einer eigenen Erfahrung: Ein Arzt hatte ihn einmal um Hilfe gebeten, um vier Stück einer teuren und raren chinesischen Kräutermedizin zu bekommen. Der Arzt selber konnte diese Medizin in keinem Krankenhaus und keiner Apotheke erhalten, in denen er selbst Guanxi-Beziehungen hatte. Die Medizin kostete pro Stück 49 Yuan in zweiter Qualität, 80 Yuan in erster Qualität. Ding Jian wusste, dass seine Beziehung zu diesem Arzt wichtig war, und er war deshalb glücklich, sich den Arzt verpflichten zu können. Deshalb setzte Ding Jian sofort sein ganzes Guanxi-Netzwerk in Bewegung. Er radelte den ganzen Vormittag herum, um verschiedene Bekannte und Freunde zu besuchen.


Abb.: Das Straßennetzwerk Beijings, in dem Ding Jian Guanxi-Netzwerken nachradelte (Quelle: CIA, 1988)

Nach einigen ergebnislosen Besuchen besuchte er einen Freund, der als Arztgehilfe in einem Krankenhaus tätig war. Der Freund konnte nicht direkt helfen: diese Medizin ist streng rezeptpflichtig. Aber dieser Freund konnte ihn auf jemand anderen verweisen, der mit einem Arzt gut stand, der vielleicht dazu überredet werden könnte, ein Rezept zu schreiben. So besuchte Ding Jian den Freund seines Freundes mit einem Empfehlungsschreiben seines Freundes auf. Der Freund des Freundes rief, als er Ding Jian's Anliegen erfahren hatte, aus: "Wissen Sie, was Sie verlangen? Diese Medizin ist für Leute, die Erstklass-Essen speisen und Erstklass-Scheiße scheißen." Er nahm aber Ding Jian mit zu einem Spezialisten, der in einem Krankenhaus tätig war. Es gelang ihnen, den Spezialisten zu überreden, ein Rezept für ein Stück der Medizin in zweiter Qualität zu schreiben. Ding Jian radelte den weiten Weg zurück zu seinem Freund im Krankenhaus und kaufte dort ein Stück der Medizin.

Der Arzt, der Ding Jian um den Gefallen gebeten hatte, war sehr zufrieden und Ding Jian zutiefst verpflichtet. Ding Jian vermutete, dass dieser Arzt die Medizin ebenfalls innerhalb eines  Guanxi-Netzwerkes brauchte.


Abb.: Ding Jian's Weg durch die Guanxi-Netzwerke (stark vereinfacht!)

Auf die Frage, was er von der ganzen Mühe habe (immerhin verlor er damit einen ganzen Tag), antwortete Ding Jian: "Der Arzt schuldet mir nun etwas. Ich kann diese Schuld ruhen lassen, vier oder fünf Jahre oder bis ich etwas brauche, dann kann ich diese Schuld "eintreiben". Ich denke daran, langen Urlaub zu machen und das Land zu besichtigen. Dazu muss ich einige Monate der Arbeit fernbleiben. Wahrscheinlich werde ich diesen Arzt bitten, mich krank zu schreiben, sodass ich eine lange Krankschreibung für meinen Urlaub verwenden kann."

[Nach Yang, Mayfair Mei-hui: Gifts, favors, and banquets : the art of social relationship in China. -- Ithaca, NY [u.a.] : Cornell University Press, ©1994. -- (The Wilder House Series in politics, history, and culture). -- ISBN 080149592X. -- S. 3 - 5. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}


5.4. Seilschaften



Abb.: Seilschaft: Kaminkletterei am Falkenstein (Sächsische Schweiz) (Fotograf unbekannt)

"Seilschaften, wohin man schaut, nicht nur in der SPÖ [Sozialistische Partei Österreichs]. Kein Wunder, dass sich da die Seile manchmal verheddern."

[Sika, Michael <1933 - >: Mein Protokoll : Innenansichten einer Republik. -- St. Pölten [u.a.] : NP Buchverlag, ©2000.  -- ISBN 3853261523. -- -- S. 130 - 131. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen. -- Michael Sika war von 1990 bis 1999 Generaldirektor für öffentliche Sicherheit im österreichischen Innenministerium]] .

"Wenn sich mehrere Kollegen zu einem Zweckverband zusammenschließen und wie Bergsteiger gemeinsam agieren, dann handelt es sich um eine Seilschaft. Der eine klettert gesichert durch die anderen auf die nächsthöhere Ebene und zieht den nächsten nach. Der Abteilungsleiter macht den Nächsten zu seinem Vertreter, und wenn er selbst zum Hauptabteilungsleiter befördert wird, macht er ihn dann zum Abteilungsleiter und den Nächsten zu seinem Vertreter und so weiter. Damit dies funktioniert, müssen die Mitglieder einer Seilschaft absolute Loyalität walten lassen."

[Scheler, Uwe: Erfolgsfaktor Networking : mit Beziehungsintelligenz die richtigen Kontakte knüpfen, pflegen und nutzen. --  Frankfurt a. M. [u.a.] : Campus, ©2000. -- ISBN 3593365448. -- S. 221 - 222. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Seilschaften gibt es überall, wo etwas zu verteilen ist oder wo man etwas erreichen kann, nicht nur in Wirtschaft, Verwaltung und Politik, sondern z.B. auch in der Wissenschaft: 


6. Autorität


"Wir haben mittlerweile mehrere hundert Teilnehmer im Gehorsamsexperiment getestet und dabei ein Niveau an Gehorsamsbereitschaft feststellen müssen, das beunruhigend ist. Mit betäubender Regelmäßigkeit war zu sehen, wie nette Leute sich den Forderungen der Autorität beugten und gefühllos und hart handelten. Menschen, die im Alltagsleben verantwortungsvoll und anständig handeln, wurden durch Zurschaustellung von Autorität, durch Beeinflussung ihrer Wahrnehmungen und durch die unkritische Hinnahme der Definition, die der Versuchsleiter von der Situation gab, dazu verführt, grausame Handlungen zu begehen.

Wir müssen den theoretischen Aspekt des Phänomens zu begreifen versuchen, und wir müssen versuchen, die Ursachen des Gehorsams genauer zu erforschen. Gehorsam gegen Autorität ist eine starke und vorherrschende Anlage im Menschen. Warum ist dies so?"

[Milgram, Stanley <1933 - >: Das Milgram-Experiment : zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. -- Reinbeck : Rowohlt, 1982 (©1974). -- (rororo ; 17478). -- ISBN 3499174790. -- Originaltitel: Obedience to authority : an experiment view (1974). -- S. 145. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Selbstdarstellung von Autorität
Religiöse Funktionäre

Abb.: Kardinal Joseph Ratzinger (geb. 1927), seit 1981 Präfekt der Kurienkongregation für die Glaubenslehre und damit nach dem Papst die höchste Autorität für Glaubensfragen in der katholischen Kirche (Photo: Pressedienst); seit 2005 Papst Johannes Paul II. Abb.: Ayatollah Ruhollah Mussawi Hendi Chomeini (1900 - 1989), Gründer der Islamischen Republik Iran 1979 (Photo: Pressedienst)
Politiker

Abb.: Bundespräsident Johannes Rau (1931 - 2006, von 1999 bis 2004 Bundespräsident der BRD) und seine Frau Christina  besuchen Toledo anlässlich der Feierlichkeiten des 500. Geburtstages von Karl V, Oktober 2000 (Photo: Pressedienst) Abb.: Bundespräsident Thomas Klestil (1932 - 2004, österreichischer Bundespräsident ab 1992 bis 2004) mit Jörg Haider (1950 - 2008, Bundesobmann der FPÖ 1986 - 2000) und Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (geb. 1945, 2000 - 2007 österreichischer Bundeskanzler) in der Wiener Hofburg bei Unterzeichnung der Präambel zum Regierungsabkommen,  Februar 2000 (Photo: Pressedienst)
Wirtschaftsbosse

Abb.: Bill Gates (geb. 1955), Gründer von Microsoft 1975, reichster Mann Amerikas, bei Pressekonferenz, November 17, 1997, Las Vegas, Nevada, USA (©Corbis) Abb.: Hartmut Mehdorn (geb. 1942),  1999 - 2009 Vorsitzender des Vorstands der Deutsche Bahn AG (Photo: Pressedienst)
Künstler

Mark Twain (1835 - 1910), amerikanischer Schriftsteller (© Bettmann/Corbis)
Abb.: Alois Payer (1878 - 1960), Bildhauer, Einsiedeln (Schweiz) (Foto: Othmar Bauer, Einsiedeln)
Wissenschaftler

Dr. Linus Pauling (1901 - 1994), amerikanischer Chemiker, Nobelpreis für Chemie 1954, Friedensnobelpreis 1962, 30.1.1985, Linus Pauling Institute of Science and Medicine, Palo Alto, California, USA (©Corbis) Barbara McClintock (1902 - 1992), amerikanische Botanikerin, Nobelpreis für Medizin 1983, ca. 1980 (© Bettmann/CORBIS)

Blinde Autoritätsgläubigkeit und die Bereitschaft, angenommener Autorität blind zu gehorchen, sind in allen Kulturen -- wenn auch unterschiedlich stark als gut bewertet -- weit verbreitet. Kulturell unterschiedlich ist, wer als Autorität für was angesehen und akzeptiert wird, ob z.B. ein in bestimmten Situationen unfehlbarer Papst in Rom oder ein Wahrsagepapagei in Singapur, ein Chefarzt oder ein Wunderheiler, der Firmenboss oder der Parteisekretär ("In der DDR kamen wir ins Gefängnis, wenn wir die Partei kritisierten, durften aber dem Betriebsleiter sagen, dass er ein Arschloch ist. In der BRD können wir sagen, dass der Bundeskanzler ein Arschloch ist, werden aber fristlos gekündigt, wenn wir unserem Chef dasselbe ins Gesicht sagen.") usw.

Der amerikanische Sozialpsychologe Stanley Milgram (geb. 1933) [Vgl. stanleymilgram.com / hosted by Thomas Blass. -- URL:  http://www.stanleymilgram.com/. -- Zugriff am 16.11.2000] hat das Verdienst, uns Menschen experimentell vor Augen geführt zu haben, wie viele von uns angemaßter Autorität blind zu gehorchen bereit sind.

Ursprünglich wollte Milgram in einem Experiment herausfinden, wie die Verbrechen im Nationalsozialismus sozialpsychologisch erklärt werden können. Man ging davon aus, dass Deutsche besonders autoritätsgläubig gegenüber ihrer Obrigkeit sind. Die Experimente wurden mit Bürgern der USA durchgeführt. Die Ergebnisse sind schockierend.  

Die äußerst lesenswerte Zusammenfassung seiner Experimente und deren Auswertung liegt auch in deutscher Übersetzung vor:

Milgram, Stanley <1933 - >: Das Milgram-Experiment : zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. -- Reinbeck : Rowohlt, 1982 (©1974). -- 174 S. : Ill. -- (rororo ; 17478). -- ISBN 3499174790. -- Originaltitel: Obedience to authority : an experiment view (1974). -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

Bei Milgrams Experiment handelt sich nicht um Machtausübung durch Gewaltandrohung und Strafmaßnahmen, sondern ausschließlich um die "Form des Gehorchens, die ein Mensch von sich aus entgegenbringt ohne die geringste Anwendung von Druck und Drohung." Bei Milgrams "Experiment handelt es sich allein um solchen Gehorsam, den eine Autorität durch die schlichte Behauptung auslöst, sie besitze das Recht, über einen Beteiligten die Kontrolle auszuüben. Der ganze Zwang, den die Autorität -- wenn überhaupt in unseren [Milgrams] Versuchen ausübt, ergibt sich aus den Machtfaktoren, mit welchen die Versuchsperson gewissermaßen die Autorität ausstattet, und nicht aus irgendwelchen objektiv vorhandenen Drohungen oder der etwaigen Verfügung über greifbare Machtmittel zur Disziplinierung der Versuchsperson." [Milgram, Stanley, a.a.O. S. 11 -12.]

Die traurige Schlussfolgerung, die  Milgram aus seinen Versuchen zieht, lautet:

"Derselbe Mensch, der aus innerster Überzeugung Diebstahl, Tötung und Körperverletzung verabscheut, wird sich vielleicht doch in Akte des Raubens, Tötens und Folterns verstricken, und zwar ohne nennenswerten inneren Widerstand, sofern eine Autorität ihm den Befehl dazu gibt. Ein Verhalten, das bei einem Menschen, der aus eigener Verantwortung handelt, undenkbar ist, wird vielleicht ohne die geringste Hemmung praktiziert, wenn ein Befehl es verlangt." [Milgram, Stanley, a.a.O. S. 9.]

Neben anderem auf dieser Grundlage funktionieren die meisten korrupten Systeme der Welt:

"Jeder kompetente Manager eines destruktiven bürokratischen Systems ist in der Lage, sein Personal derart zu platzieren, dass nur die gefühllosesten und abgestumpftesten Mitarbeiter direkt an Gewalttätigkeiten teilhaben. Der größere Teil des Personals kann aus Männern und Frauen bestehen, die -- kraft ihrer von den tatsächlichen Akten der Brutalität entfernten Position -- bei der Durchführung ihrer Handlangerfunktionen nur wenig Skrupel verspüren werden. Sie werden sich im Gegenteil auf doppelte Weise frei von Verantwortung fühlen. 

[Milgram, Stanley, a.a.O. S. 144.]


7. Networking


"Durch Networking lassen sich viele Informationsprobleme lösen. »Wissen wer was weiß« lautet die Erfolgsformel des Networking."

[Scheler, Uwe: Erfolgsfaktor Networking : mit Beziehungsintelligenz die richtigen Kontakte knüpfen, pflegen und nutzen. --  Frankfurt a. M. [u.a.] : Campus, ©2000. -- ISBN 3593365448. -- S. 242. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

"Networking ist eine methodische und systematische Tätigkeit, die darin besteht, Kontakte zu Menschen zu suchen, Beziehungen zu pflegen und längerfristig zu gestalten. All das geschieht in der offenen Absicht der gegenseitigen Förderung und des gegenseitigen persönlichen Vorteils." (Scheler. -- a.a.O. S. 26)

Scheler nennt sechs Merkmale von Networking:

"Networking heißt,

  1. Kontakte und Begegnungen aktiv herbeizuführen.
  2. Interesse an anderen Menschen zu haben und Anteilnahme zu zeigen.
  3. Gespräche mit anderen führen und Spaß daran zu haben.
  4. Informationen über alles und jeden zu sammeln.
  5. den Austausch von Hilfe und Unterstützung zu praktizieren.
  6. Beziehungen zu pflegen und langfristig zu gestalten."

[a.a.O., S. 22]

Networking kann geschehen über


8. Status und Rollen



Abb.: Statussatz, Rollen, Rollensatz

[Quelle der Abb.: Seger, Imogen <1915 - >: Knaurs Buch der modernen Soziologie. -- München [u.a.] : Droemer-Knaur, ©1970. -- (Exakte Geheimnisse). -- S. 106]

Status und Rolle sind zwei zentrale Begriffe zum Verständnis sozialer Beziehungen im Allgemeinen und Kommunikation im Besonderen. Imogen Seger beschreibt sie sehr klar:

"Wie immer der Mensch in eine Gruppe aufgenommen wird -- ob er hineingeboren wird, zwangsweise hineinwächst oder mehr oder minder freiwillig eintritt --, stets wird ihm innerhalb der Gruppe ein Status, ein Rang und eine Rolle zugeteilt.

Der Begriff Status hat bereits einige Bedeutungswandlungen hinter sich und ist dabei recht unklar geworden, zumal er auch noch in das Populärschrifttum eingegangen ist. Am nützlichsten ist er in der Soziologie heute dazu, eine Position innerhalb einer Gruppe zu bezeichnen, sozusagen einen abgesteckten Platz in der Struktur dieser Gruppe. Der Rang, den dieser Status innerhalb oder außerhalb der Gruppe hat, ist eine zusätzliche Kennzeichnung. 

Der Status bezeichnet abstrakt und programmatisch, wie sich der Inhaber dieser Position im Idealfall verhalten sollte. Der Status des Königs von Utopia oder des blinden Bettlers in Kalkutta oder des Managers des Atomkraftwerkes in Mittelstadt ist das, was nach den kollektiven Vorstellungen, nach den kulturellen Vorschriften von Utopia, Kalkutta und Mittelstadt zu dieser Position gehört, ob das nun schriftlich im einzelnen festgelegt ist oder nur auf mündlicher Tradition beruht. 

Der Rang des jeweiligen Status wird innerhalb und außerhalb der Gruppe ebenfalls durch kollektive Vorstellungen bestimmt: Der Manager hat wahrscheinlich in Mittelstadt einen sehr hohen Rang, aber obwohl sein Status derselbe bleibt, hat er anderswo mehr oder weniger Prestige.

Das Bündel von sozialen Vorschriften, das den Status bestimmt, wird Rolle genannt, wenn man von einem bestimmten Inhaber des Status spricht, von einem lebendigen, konkreten Individuum. Er hat einen Status inne und spielt die entsprechende Rolle mehr oder weniger gut, korrekt, erfolgreich, mit mehr oder weniger individuellen Abweichungen und Neuerungen.

Der Mensch spielt seine Rolle als König, Bettler oder Manager aber gegenüber verschiedenen Partnern mit unterschiedlichen Akzenten. Seine Rolle wird begrifflich gegliedert in einen Rollensatz. Der Rollensatz des Königs umschließt unter anderem die Rolle, die er gegenüber seinem Heerführer spielt, die Regeln für sein Verhalten gegenüber dem Oberpriester, gegenüber den Vertretern des Volkes und gegenüber dem Bettler vor dem Palasttor." [...]

"Diese Begriffe -- Status, Rolle und Rollensatz (und dazu der Statussatz, d. h. die verschiedenen sozialen Positionen, die ein Mensch innehat) --  sind nichts weiter als Werkzeuge, mit denen wir komplizierte Sachverhalte schematisch darstellen und dadurch übersichtlicher machen können. Sie werden so lange benützt werden, wie sie sich als brauchbar und ausreichend erweisen, aber nicht länger.

Da die Rolle ein Komplex von allgemeinen Regeln ist, wird sie von keinem Menschen genauso gespielt wie von einem andern.
»Rolle« und »Rollen-Darstellung« decken sich nie völlig. Die Gesellschaften, d. h. wir, sind gewohnt, persönliche Eigenarten zu dulden. Wie weit die Grenzen möglicher Duldung gezogen werden, hängt von vielen Faktoren ab: 

Die politischen Führer eines demokratischen Staatswesens müssen zum Beispiel ihre Rollen »im Rampenlicht der Öffentlichkeit« spielen, wie man sagt; diese Öffentlichkeit weiß, dass die Politiker ihre Rollen gesucht haben, und ist deshalb ihnen gegenüber nicht sehr duldsam. Freilich passen sich die von der Öffentlichkeit erhobenen Forderungen den mit der Zeit sich wandelnden Regeln an: So haben die USA bereits einen ersten katholischen Präsidenten gehabt und einen ersten Präsidentschaftskandidaten mit jüdischem Namen; ja, man gab sogar einem geschiedenen und wiederverheirateten Kandidaten Erfolgsaussichten, was vor einigen Jahren noch völlig unmöglich erschien. Die Regeln für die Rolle eines Bauarbeiters hingegen sind viel weniger starr und weniger zahlreich: Ob er nach jedem Zahltag Frau und Kinder prügelt, spielt für seine Einschätzung als Bauarbeiter keine Rolle, sondern nur, ob er am Montagmorgen wieder an der Arbeitsstelle ist, ob er die ihm zugewiesene Arbeit ausführt, mit seinen Kollegen gut auskommt. Das ist wichtig, für seine Kollegen ebenso wie für seinen Arbeitgeber. Wenn er dem Arbeitgeber öfter ordentlich »die Meinung« sagt, so macht ihn das vielleicht in den Augen seiner Kollegen zum Helden, aber es kommt auf die Lage am Arbeitsmarkt an, ob der Arbeitgeber dies duldet oder nicht. Jedenfalls hat er in seiner Rolle als Bauarbeiter sehr viel weniger Rollenbeziehungen zu anderen Menschen -- sein Rollensatz ist sehr viel kleiner als etwa ein Bundeskanzler oder ein amerikanischer Präsident. Seine »soziale Sichtbarkeit« ist unvergleichlich geringer, die Anforderungen an seine korrekte Darstellung der Rolle sind weit weniger streng.

Da wir gerade bei den sozialen Anforderungen sind, die nach den kulturellen Normen an den Träger einer bestimmten Rolle gestellt werden: Nicht nur schwankt die Zahl der Rollenbeziehungen, die zu einer Rolle gehören -- es schwankt auch die Zahl der Rollen, die ein Mensch zu spielen hat. Einige Grundrollen sind jedem zugeschrieben: Geschlecht, Alter, in unserer Kultur auch »berufstätig« oder »berufslos«. Andere Rollen, einschließlich seines spezifischen Berufs, erwirbt jeder oder fast jeder. Darüber hinaus kann aber der einzelne wählen, wie vielen weiteren Gruppen er zugehören will -- unter der Bedingung, dass sie ihn aufnehmen. In den Vereinigten Staaten -- aber durchaus nicht nur dort -- ist der Typ des Joiners männlichen oder weiblichen Geschlechts wohlbekannt und ein beliebtes Untersuchungsobjekt der Soziologen: der Typ, der überall dabei ist, beim Gesangverein ebenso wie beim Verband zur Förderung der Bienenzucht oder bei politischen und kirchlichen Vereinen. Dieser mittelständische Typ ist, so wurde festgestellt, vorwiegend in kleineren Städten und Vororten zu finden; er verkörpert die dominierenden Werte seiner Gesellschaft: Energie, Erfolg, Familienglück, konservative Anschauungen. Deshalb passt er in die meisten Gruppen hinein. Sein Gegenstück sind die sozial Isolierten, die Alten, Armen, Halb-Analphabeten der Großstadt-Slums. 

Erwachsene werden also durch eine Mischung von zugeschriebenen Rollen (Alter, Geschlecht usw.) und von Kennzeichen, die sich aus ihrem bisherigen Leben ergeben (Bildung, politische Anschauungen, gesellschaftliche Geschicklichkeit) in die Isolierung oder in den sozialen Betrieb getrieben.

Die Zahl der verschiedenen Rollen, die ein einzelner nebeneinander oder im Laufe seines Lebens spielen kann, ist sehr groß, wenn diese Rollen ähnliche Anforderungen an ihn stellen, d.h., wenn sich ihre Regeln nicht widersprechen. Schon zwei Rollen mit einander widersprechenden Regeln aber reichen aus, einen Menschen zur Verzweiflung zu treiben. Aus Generationen von Romanen bekannt ist das Leiden von Künstlern, das sich aus dem Konflikt zwischen ihrer Rolle als künstlerischem Schöpfer und ihrer Rolle als Familienvater oder Sohn oder Bürger ergibt." [...]

"Zu bemerken ist ferner, dass die Partner des Rollenträgers, seine Gegenspieler in einem Rollensatz, oft unterschiedliche Ansichten darüber haben, wie er seine Rolle zu spielen hat. Auch das führt zu Spannungen, die wiederum zu Veränderungen der Regeln und der Gruppe führen können.

Das Wort »Regeln« und die hier gegebene kurze schematische Darstellung des Prozesses, durch den ein Mensch zum Mitglied einer Gruppe wird, könnten dazu verleiten, eine Ordnung für wirklich zu halten, die nur eine gedachte Ordnung ist, eine Wahrscheinlichkeit. Die Vielzahl der nebeneinanderherlaufenden Vorgänge sorgt dafür, dass Spannungen entstehen, ebenso die Tatsache, dass alle Träger von Rollen einmalige Persönlichkeiten sind, die dieselben Regeln unterschiedlich gut lernen, sie verschieden interpretieren und sie deshalb auch verschieden darstellen. Auch der Begriff  »einmalige Persönlichkeit« ist eine Abstraktion, die einen bestimmten Augenblick im Ablauf vieler sich überschneidender Prozesse fixieren will. Aber es ist diese Persönlichkeit, die den in ihr angesammelten Erfahrungen, den erlernten Regeln und den sozialen Objekten eine Bedeutung gibt.

Wir lernen die Bedeutung von allem, was wir durch den Sozialisierungsprozess aufnehmen, gleichzeitig mit den Regeln für unser Verhalten gegenüber Gegenständen und Personen. So lernt das Kind, dass Tisch und Stuhl Dinge sind, die Erwachsene benutzen und die es selber benutzen wird, sobald es groß genug ist. Wenn es überhaupt etwas über Angelhaken lernt, dann lernt es, dass sie zum Sonntagsvergnügen gehören, zum Zeitvertreib des Fischfangens; es lernt nicht wie Kinder früherer Zeiten, den Angelhaken als ein wichtiges oder das wichtigste Werkzeug zur Nahrungssuche zu betrachten. Ebenso wie Kinder überall und zu allen Zeiten lernt das Kind heute, dass es die Mutter ist, die Milchbrei, Früchte oder Süßigkeiten austeilt. Viel schwieriger ist es zu lernen, dass der Vater die meiste Zeit abwesend ist, um kleine Stücke Papier zu erjagen, gegen die man diese essbaren Dinge eintauschen kann. Insgesamt muss ein Kind in der westlichen Kultur heute so viel und so Kompliziertes lernen, dass weder die Familie noch die Schule -- die beiden in erster Linie mit der Sozialisierung des Kindes betrauten Institutionen -- noch die übliche Berufsausbildung ausreichen.

Weitergeführt wird der Prozess unter anderem durch die Massenmedien -- wie die Sozialforschung festgestellt hat, nicht direkt, sondern auf dem Umweg über gegenseitige Beeinflussung von Mensch zu Mensch: Wie könnten wir ohne Hilfe und Anleitungen wissen, was die »richtige« oder wenigstens eine mögliche Einstellung zur Raumfahrt ist? Im unmittelbaren Gespräch mit anderen Menschen über das, was wir über Raumfahrt gelesen, gehört und gesehen haben, lernen wir die Bedeutung dieses Phänomens für unsere Kultur und fügen das Gelernte mit kleinen Änderungen unseren übrigen Vorstellungen ein. Zwar ist es in der westlichen Kultur möglich, über eine Vielfalt von Dingen einander widersprechende Meinungen zu haben, doch ist die Auswahl der Meinungen durch das beschränkt, was uns überhaupt denkbar erscheint, und durch das Streben nach einer Übereinkunft, nach einem langsamen gegenseitigen Abschleifen der Meinungsunterschiede, das zu unseren Grundwerten gehört.

Raumforschung kann aber, ebenso wie das christliche Kreuz, eine Medizinflasche, ein Lächeln oder Kopfschütteln oder eine erhobene Hand, für die Menschen einer anderen Kultur eine durchaus andere Bedeutung haben als für uns. Wirtschaftswissenschaftler und Staatswissenschaftler vergessen oft, dass ähnlich aussehende Institutionen oder formal fast gleiche soziale Strukturen in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Bedeutungen haben können. Ein König ist nicht einem anderen König gleich, und Geld gegen Zins auszuleihen bedeutet für beide Vertragspartner nicht dasselbe, wenn es heute in Frankfurt oder auf einem indischen Dorf oder in Singapur geschieht oder im 16. Jahrhundert in Genf geschah. Verschieden sind nicht nur die Regeln des Spiels und die Rolle, die jeder Spieler dem anderen gegenüber zu spielen hat; verschieden ist auch die Bedeutung des Vorgangs und des Partners für jeden Mitspieler, je nachdem, welche Kultur er erlernt hat. Doch gibt es kein menschliches Leben ohne das Wissen, »wie es ist und wie es sein sollte«."

[Seger, Imogen <1915 - >: Knaurs Buch der modernen Soziologie. -- München [u.a.] : Droemer-Knaur, ©1970. -- (Exakte Geheimnisse). -- S. 104 - 108.]


9. Weiterführende Ressourcen


9.1. Ressourcen in Printform


Bettschart, Roland <1955 - > ; Kofler, Birgit <1965 - >: Nobelclubs in Österreich : wo Einfluss, Macht und Geld verkehren. -- Wien : Ueberreuter, ©1999. -- 208 S. -- ISBN 3800037335. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

Cialdini, Robert B.: Influence : the psychology of persuasion. -- Revised ed. -- New York : Quill, ©1993. -- 320 S. : Ill. -- ISBN 0688128165. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

Maquet, Jaques <1919 - >: Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen in Afrika. -- München : Kindler, ©1971. -- 256 S. : Ill. -- (Kindlers Universitäts Bibliothek). -- Originaltitel: Societé et pouvoir en Afrique (1971)

Weiss, Michael J.: The clustered world: how e live, what we buy, and what it all means about who we are. -- Boston [u.a.] : Little, Brown and Co., ©2000. -- 323 S. : Ill. -- ISBN 0316929204. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}

Yang, Mayfair Mei-hui: Gifts, favors, and banquets : the art of social relationship in China. -- Ithaca, NY [u.a.] : Cornell University Press, ©1994. -- 370 S. -- (The Wilder House Series in politics, history, and culture). -- ISBN 080149592X. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}


Zu Kapitel 5, Teil I: Verwandtschaft, Freundschaft und Bekanntschaft