Internationale Kommunikationskulturen

5. Kulturelle Faktoren: Soziale Beziehungen

1. Teil I: Verwandtschaft, Freundschaft und Bekanntschaft


von Margarete Payer

mailto: payer@hdm-stuttgart.de


Zitierweise / cite as:

Payer, Margarete <1942 - >: Internationale Kommunikationskulturen. -- 5. Kulturelle Faktoren: Soziale Beziehungen. -- 1. Teil I: Verwandtschaft, Freundschaft und Bekanntschaft. -- Fassung vom 2011-01-27. -- URL: http://www.payer.de/kommkulturen/kultur051.htm. -- [Stichwort].

Erstmals publiziert: 19.12.2000

Überarbeitungen:  2011-01-27 [Aktualisierung]

Anlass: Lehrveranstaltung, HBI Stuttgart, 2000/2001; MBA der HdM Stuttgart und der Westsächsischen Hochschule Zwickau 2011

Unterrichtsmaterialien (gemäß § 46 (1) UrhG)

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Dieser Text ist Teil der Abteilung Länder und Kulturen von Tüpfli's Global Village Library


0. Übersicht



1. Verwandte


Als 1968 die sowjetischen Panzer in Prag anrollten und den "Prager Frühling" niederwalzten, führten zwei Prager folgendes Gespräch:

A: "Siehst Du, da kommen unsere sowjetischen Freunde!"
B: "Du sollst nicht sagen »Freunde«, Du sollst sagen »Brüder«!
A: "Brüder, Freunde, was ist da der Unterschied?"
B: "Brüder hat man, Freunde sucht man sich aus."

Witz unbekannter Herkunft

Ausführlich zu Verwandtschaft und Abstammung siehe:

Entwicklungsländerstudien / hrsg. von Margarete Payer. -- Teil I: Grundgegebenheiten. -- Kapitel 14: Verwandtschaft und Abstammung : Schwerpunkt Afrika / von Friederike Gerland  und Sibylle Luptovits. -- URL: http://www.payer.de/entwicklung/entw14.htm. -- Zugriff am 14.11.2000

Auf der ganzen Welt ist Verwandtschaft -- besonders Blutsverwandtschaft -- eines der wichtigsten sozialen Netze. Kulturell unterschiedlich ist allerdings, wen man zur Gruppe der Blutsverwandten rechnet, sowie welche spezifischen  Rechte und Pflichten welche Verwandten haben.

In Kulturen, in denen Verwandtschaft sehr wichtig ist, kann man sich dann als eng befreundet empfinden, wenn man mit Begriffen zu Verwandtschaftsbeziehungen bezeichnet wird: z.B. Onkel, Tante, jüngere Schwester, älterer Bruder (ein älterer Bruder oder eine ältere Schwester darf dann auch durchaus ein ernstes Wort an den jüngeren Freund richten). Redet man bei uns eine fremde ältere Frau mit "Oma" an, ist das im allgemeinen eine Beleidigung. Wird einem in einem Thaidorf ein Großvater vorgestellt, ist das eine ehrenvolle Anrede und es muss sich nicht um den leiblichen Großvater handeln. Die Bedeutung des Verhältnisses zu Verwandten und Freunden gehört zu den wichtigsten kulturellen Unterschieden, die besondere Schwierigkeiten in internationaler Zusammenarbeit machen können (vgl. Kap. 1 Einleitung: Universalismus versus Partikularismus)

"Die Abstammung über die Frauen (Matrilinearität) beinhaltet keineswegs eine Herrschaft der Frauen (Matriarchat), ja sie bedeutet noch nicht einmal eine führende Rolle der Frauen in der Familie. Die matrilineare lineage [= Verwandtschaftsgruppe] der Ehefrau wird nicht durch sie, sondern durch ihren Bruder repräsentiert. Seine Autorität erstreckt sich nicht auf den Mann seiner Schwester, sondern nur auf ihre Kinder. Es gibt daher keinen unmittelbaren Konflikt zwischen den Rollen des Ehemannes und des Schwagers, wohl aber zwischen den Rollen des Vaters und des Onkels mütterlicherseits. Er betrifft die Kinder eines Mannes, die der lineage ihrer Mutter angehören und damit nicht seiner, sondern der Autorität des Mutterbruders unterstehen, was der Vater gewöhnlich nicht ohne weiteres zu akzeptieren bereit ist.

In der patrilinearen Familie, in der es Spannungen dieser Art nicht gibt, ist die väterliche Rolle auch mit einer Machtbeziehung zu den Kindern verbunden. Solange sie noch jung sind, sind die Söhne ihrem Vater behilflich, während die Töchter auf dem Feld arbeiten. Später, wenn sie sich dem Heiratsalter nähern, liefern sie ihrem Vater potentielle Druckmittel an die Hand, die ihm als Trümpfe in seinem Machtspiel in und außerhalb der lineage dienen."

[Maquet, Jaques <1919 - >: Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen in Afrika. -- München : Kindler, ©1971.  -- (Kindlers Universitäts Bibliothek). -- Originaltitel: Societé et pouvoir en Afrique (1971). -- S. 80.]

Loyalität zu und Solidarität mit Verwandten hat in vielen Teilen der Welt Vorrang vor allen anderen sozialen Verpflichtungen. Dies führt zum verbreiteten Phänomen der Vetterleswirtschaft und ist einer der Hauptgründe für Korruption.


1.1. Zum Beispiel: Blutsverwandtschaft in Schwarzafrika


"Die gemeinsame Rolle der Blutsverwandten besteht in ihrer Solidarität. Es ist dies die Grunderfahrung, die jedes Individuum vom Verwandtschaftsnetz macht. Von der Geburt bis zu seinem Tod nimmt der traditionelle Afrikaner, wenn er sich in Schwierigkeiten oder in einer Krise befindet, zunächst zu seinen »Brüdern« der lineage [= Verwandtschaftsgruppe] Zuflucht. Schon sehr früh erfährt er diese Geborgenheit, denn der soziale Horizont des kleinen Kindes schließt die kollateralen [= angeheirateten] Verwandten seines Vaters mit ein (der in der patrilinearen [Abstammung wird über die männliche Linie definiert] Ordnung oft ganz in der Nähe des gemeinsamen noch lebenden Vorfahren wohnt); seine Mahlzeiten nimmt es bei dem einen oder anderen Verwandten ein. In den matrilinearen [Abstammung wird über die weibliche Linie definiert] Gesellschaften ist es meist üblich, dass ein Junge im Alter von sieben bis acht Jahren zu seinem Onkel mütterlicherseits zieht (während die Kinder der Schwester seines Vaters in das Heim des Jungen kommen und dort aufwachsen). Wenn er ins heiratsfähige Alter eintritt, helfen ihm seine Blutsverwandten, die Brautgabe aufzubringen, die er dem Vater (oder dem Onkel mütterlicherseits) seiner Braut überreichen wird. Dass ihm seine lineage ein Feld zur Verfügung stellt, damit er seine Familie ernähren kann, haben wir schon weiter oben erwähnt. Braucht er Hilfe, um gegebenenfalls ein Stück Land urbar zu machen, fällt der Ernteertrag schlecht aus, will er sich eine neue Behausung bauen, dann sind es seine »Brüder« der lineage, die ihm die nötige Hilfe gewähren. Kommt es zu einem Streitfall mit einem Fremden, so hilft ihm die lineage auch dann, wenn seine Schuld erwiesen ist. Und wenn er frühzeitig stirbt, dann hinterlässt er weder Witwen noch Waisen, denn die einen wie die anderen werden von seinen Blutsverwandten in Obhut genommen.

Um diese Sicherheit bieten zu können, ist das Netz der Blutsverwandtschaft (im allgemeinen die lineage) als Verband organisiert, der Entscheidungen trifft und Beschlüsse durchführt. Bisher haben wir nur die Vorzüge der Solidarität für denjenigen, dem sie zugute kommt, aufgezeigt; die Kehrseite sind die Leistungen (in Form von Arbeit und Gütern, Risiken und Unannehmlichkeiten), welche die übrige Verwandtschaft häufig zu erbringen hat. Das Prinzip der Dienstleistungen auf der Grundlage allgemeiner Gegenseitigkeit wird zwar durchaus akzeptiert, aber in Afrika, wie anderswo auch, entstehen die Schwierigkeiten auf der Ebene der praktischen Durchführung. (»Ich habe letzte Woche schon X geholfen, warum werde ich schon wieder dazu bestimmt, heute nun Y einen Dienst zu erweisen?«) Die Verteilung der Aufgaben sowie deren Durchführung müssen gewährleistet sein; die lineage muss über Mechanismen verfügen, die ermöglichen, dass Beschlüsse gefasst und ausgeführt werden.

Die Autorität in der lineage

Die Afrikanisten unter den Ethnologen haben oftmals, und bisweilen mit einer Begeisterung, die mehr von der Sehnsucht nach einem Goldenen Zeitalter als von einer kritischen Einstellung zeugt, auf die »demokratische« Art und Weise hingewiesen, in der Entscheidungen innerhalb der Verwandtschaftsgruppen im Kollektiv getroffen werden. Die Versammlung der vollerwachsenen Männer der lineage (das heißt der verheirateten Männer und Väter) erörtert die Fragen, die die Gruppe in ihrer Gesamtheit betreffen. Jeder stellt seine Ansicht dar, und am Ende einer Diskussion, die sehr langwierig sein kann, kommt es zur Bildung einer einhelligen Meinung. Auf diese Weise vermeidet man die Nachteile, wie sie die Mehrheitsbeschlüsse in Versammlungen mit sich bringen: die Verlegenheit der Minorität, die immer bis zu einem gewissen Grad das Gesicht verliert, die Zwietracht der Gruppe, die auf diese Weise öffentlich und dadurch vertieft wird, sowie die Schwierigkeiten, denen die Minorität dadurch ausgesetzt ist, dass sie an der Durchführung einer von ihr ausdrücklich verworfenen Maßnahme mitzuwirken hat.

Diese Analyse ist sicherlich nicht falsch. Sie projiziert aber in die afrikanische Realität eine ihr fremde juridische Vorstellungswelt. Zwar kann jeder in der Versammlung seine Meinung zum Ausdruck bringen, aber das Gewicht der einzelnen Meinungen ist verschieden, und es kommt zu keiner Abstimmung, in der alle Stimmen gleichwertig wären. Der wichtigste Grund für das unterschiedliche Gewicht der einzelnen Meinungen liegt in der Tatsache, dass die lineage nicht auf egalitären Beziehungen beruht. Die Abstammung vom Ahnen ist in der afrikanischen Vorstellungswelt ein lebenswichtiger Bezug. Der Ahne ist die Quelle aller Kraft und Fruchtbarkeit seiner Nachkommen, und diese Kraft wird von einem Zwischenglied der Abstammungskette auf das andere übertragen. Der älteste der lebenden Nachkommen eines Ahnen stellt ein für das Leben notwendiges Relais dar, und dies nicht nur, weil er einst gezeugt hat, sondern weil er weiterhin das Bindeglied bildet, über das die Lebenskraft der vergangenen Generationen auf die gegenwärtigen Generationen übertragen wird. Er besitzt die furchterregende Fähigkeit zu verfluchen und diejenigen, die ihrer nicht mehr würdig sind, aus der lineage, der Blutsverwandtschaft, auszustoßen. Das Oberhaupt leitet die Versammlungen, die Ältesten seiner und der darauffolgenden Generation -- unter ihnen sein baldiger Nachfolger -- werden mit dem Respekt, der den nahen Verwandten des Ahnen gebührt, angehört. Im übrigen werden auch hier wie überall die individuellen Unterschiede der Einflussnahme auf Versammlungen -- aufgrund von Kompetenz und Beredsamkeit, Weisheit und Reichtum, Intelligenz und Erfahrung -- wirksam, was zur Folge hat, dass einige wenige ihre Ansichten geltend machen und die anderen sich ihnen anschließen.
Die Beschlussfassung erfolgt nicht autoritär (es findet das statt, was wir eine vorausgehende öffentliche Beratung nennen könnten), läuft aber darauf hinaus, dass die Beschlüsse dem Willen einer sehr kleinen Anzahl von Individuen (unter Umständen auch dem Willen eines einzigen) entsprechen.

Wie wird ein gefasster Beschluss nun ausgeführt? Das Oberhaupt kann zwar Sanktionen aus dem religiösen Bereich verhängen. Diese sind aber so schwerwiegend (eigentlich gibt es nur eine einzige, nämlich den Ausschluss aus der lineage), dass man nur widerstrebend darauf zurückgreift. Was ein Individuum hingegen dazu veranlasst, sich einem Beschluss seiner lineage zu fügen, sind die religiöse Furcht, das Gewissen und vor allem die Angst vor der kollektiven Missbilligung: 

Unter diesen verschiedenen Sanktionen ist die kollektive Missbilligung die wirksamste und bedingt sogar die anderen. (Wer von seinen Blutsverwandten geschätzt wird, läuft kaum Gefahr, vom Oberhaupt aus der lineage ausgestoßen zu werden, er hat auch nicht unter qualvollen Reuegefühlen zu leiden.) Andererseits erfordert die Missbilligung der lineage, dass sich alle nach ihren Entscheidungen richten, was nicht so leicht zu verwirklichen ist wie ein einstimmiger Beschluss. Ein einflussreicher Mann kann eine Versammlung mit seinen Argumenten beeindrucken und sie dazu bringen, eine Entscheidung in seinem Sinne zu treffen. Viel schwieriger aber ist es für ihn, die kollektive Missbilligung, ohne die der gefasste Beschluss kaum ausgeführt werden kann, auch im täglichen Leben wirksam werden zu lassen. Weil die Durchführung eines derartigen Beschlusses eines durchgängigen Konsensus innerhalb der lineage bedarf, müssen das Oberhaupt, der Rat der Ältesten und die Notabeln in ihren Entscheidungen diesem Umstand Rechnung tragen, was sie im allgemeinen zu einer gewissen Zurückhaltung veranlasst."

[Maquet, Jaques <1919 - >: Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen in Afrika. -- München : Kindler, ©1971.  -- (Kindlers Universitäts Bibliothek). -- Originaltitel: Societé et pouvoir en Afrique (1971). -- S. 46 - 54.]

Eine sozial wichtige Folge der traditionellen Verwandtschaftsbindungen im modernen Afrika ist er sogenannte Clanparasitismus:

In der Kolonialzeit hatten sich die lineages "nur noch mit Problemen zu befassen, die von den Europäern als Privatangelegenheiten betrachtet wurden, wobei selbst dabei die Tätigkeit der lineage mehr geduldet als anerkannt wurde. Die Rechtssysteme der westlichen Welt lassen nur Individuen und Gruppen als Rechtspersonen gelten, denen diese Eigenschaft formell zugesprochen wird. Da den lineages die Eigenschaft einer Rechtsperson nicht zuerkannt worden war (nach unseren Kenntnissen hat keine lineage sich je darum bemüht), waren sie im juristischen Sinne inexistent.

Nichtsdestoweniger lebten die lineages als solidarische Gruppen fort. Auch unter veränderten Verhältnissen konnte man sich, wie zuvor, auf seine Blutsverwandten verlassen. In dem Maße, wie die Kolonialherrschaft andauerte, brachten technischer und ökonomischer Wandel immer deutlichere Veränderungen in einige Bereiche des afrikanischen Lebens. Man wohnte zunehmend in der Stadt und nicht mehr auf dem Dorf, der Lebensunterhalt wurde in der Hauptsache durch Löhne und nicht mehr durch Bebauen des Bodens bestritten, immer mehr Afrikaner führten ein isoliertes Dasein in der Nähe ihrer Arbeitsstätten, während sie früher in unmittelbarer Nähe des Oberhauptes und der Verwandten gelebt hatten. Unter solchen Bedingungen, die sehr stark von jenen differierten, unter denen sich die Rollen im Clan und in der lineage ganz allmählich entwickelt hatten, versuchte man, so gut man konnte, diesen Rollen treu zu bleiben, was gelegentlich unerwartete Folgen zeitigte.

Ein Beispiel dafür bildet eine Erscheinung, die von den Soziologen der Kolonialzeit abwertend als »Clanparasitismus« bezeichnet wurde. Zu ihr kam es folgendermaßen: Ein junger Bauer verlässt sein Dorf, um in der Stadt Arbeit zu suchen. Er findet Arbeit und führt bald das Leben eines Lohnempfängers. Er mietet sich eine Unterkunft, oder sein Arbeitgeber stellt ihm eine. Die notwendigen Nahrungsmittel und Kleidungsstücke kauft er sich. Eines Tages kommt einer seiner Blutsverwandten -- ebenfalls auf der Suche nach Arbeit -- in die Stadt. Die Solidarität der lineage verlangt von dem, der zuerst angekommen ist, dass er den Neuankömmling bei sich aufnimmt und unterhält, bis auch dieser eine Stellung gefunden hat. Dann sind es der Sohn der Schwester (in einem matrilinearen System) oder der Sohn des Bruders (in einem patrilinearen System), die in die Stadt kommen, weil die Schulen hier besser sind. Es folgen die Aufenthalte der Verwandten, die sich in einer städtischen Klinik behandeln lassen wollen, und die Neugierigen, die vom Ruf der Stadt angezogen werden. Natürlich reicht der Lohn eines einzigen nicht aus, um die zusätzlichen Ausgaben zu bestreiten. Er ist gezwungen, seinen Arbeitgeber um Vorschuss zu bitten, hoch verzinste Darlehen (denn das Risiko des Gläubigers ist groß) und Kredit beim Kaufmann aufzunehmen. Das ist das düstere Bild, das der »Clanparasitismus« heraufbeschwor. Man beklagte das Los des guten, tatkräftigen jungen Mannes, der seinen »Clanbrüdern« zum Opfer gefallen war, und vergaß, dass er vielleicht auch ein Opfer eines Wirtschaftssystems wurde, das ausschließlich auf Profit ausgerichtet ist.

Wie dem auch sei, sicher ist, dass die Verwandtschaftsbindungen auch in der Kolonialzeit ihre Wirksamkeit bewahrt haben, oft ohne Wissen der Europäer, die sich nicht im klaren darüber waren, dass es nur wenige Dinge gibt, die man dem Nachkommen eines gemeinsamen Ahnen ausschlagen kann. Aber abgesehen von den letzten Jahren der Kolonialherrschaft haben Afrikaner nur äußerst selten jene höheren Stellen bekleidet, in denen man über größere Machtvollkommenheiten verfügt. Sie konnten ihre Blutsverwandten deshalb auch nur in Angelegenheiten von geringerer Bedeutung begünstigen.

Anders verhält es sich in den unabhängigen Staaten, in denen sich die Regierung und die höhere Verwaltung ausschließlich in den Händen der Autochthonen befinden. Afrikanische Journalisten und ausländische Beobachter prangern oft an, was sie als »Tribalismus« bezeichnen. Gemeint ist, dass sich die Afrikaner den traditionellen Gesamtgesellschaften mehr verbunden fühlen als den neuen Staaten. Das ist zwar richtig, jedoch äußert sich diese Verbundenheit mit der engeren Heimat der traditionellen Zeit in der Hauptsache darin, dass die Mächtigen diejenigen unter ihren Mitbürgern bevorzugen, die dem gleichen Stamm oder häufiger noch der gleichen lineage angehören. Aus diesem Grund wirkt der »Tribalismus« übrigens auch als zerstörende Kraft in den jungen Nationalstaaten. Denn die Mitbürger aus den übrigen Stämmen können sich nicht mit einer neuen Nation identifizieren, die ihnen von einer Verwandtschaftsgruppe im weiteren Sinne (es sei daran erinnert, dass man unter einem »Stamm« jene traditionellen Gesellschaften versteht, deren Mitglieder sich alle als Nachkommen eines gemeinsamen Ahnen betrachten) oder einer Verwandtschaftsgruppe im engeren Sinne (Clan oder lineage) in Beschlag genommen scheint.

Im Afrika der Dörfer ... bilden die Verwandtschaftsbeziehungen auch heute noch den wichtigsten Rahmen für das Leben des einzelnen. Im Afrika der Städte -- und insbesondere der Hauptstädte -- spielt die Blutsverwandtschaft mit den Herrschenden eine nicht unbedeutende Rolle im Kampf um die Maden. Nicht dass diese Verwandtschaftsbeziehungen absolut unerlässlich wären, sie bilden aber stets nützliche Abkürzungen auf dem Weg zu den mit einträglichen Machtbeziehungen verbundenen Positionen."

[Maquet, Jaques <1919 - >: Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen in Afrika. -- München : Kindler, ©1971.  -- (Kindlers Universitäts Bibliothek). -- Originaltitel: Societé et pouvoir en Afrique (1971). -- S. 65 - 69.]


1.2. Zum Beispiel: Verwandtschaft in Aktion auf den Philippinen



Abb.: Karte der Philippinen (©MS-Encarta)

Alice Aarau, Alfredo und Grace Roces beschreiben die philippinischen Verwandtschaftssysteme "in Aktion" so:

"Situation: Ein ausländischer Historiker entdeckt während eines Forschungsaufenthalts in Iloilo einige faszinierende alte Bücher und Dokumente im Besitz zweier älterer Damen. Er bringt sein großes Interesse zum Ausdruck und bittet um Erlaubnis, die verstaubten Wälzer studieren zu dürfen. Vergeblich, er trifft auf nichts als Ablehnung und Argwohn. Erst nach sechs Monaten hartnäckiger Verhandlungen erlauben ihm die beiden Damen Einblick in die Bücher. Der Grund: Ihn begleitet eine Filipina, die angeregt mit den Damen plaudert und nach einer langen Unterhaltung, die rein gar nichts mit den Büchern zu tun hat, diese selbstredend untersuchen und lesen darf. Erstaunt ruft der Ausländer aus: »Wie ist Ihnen dies gelungen? Ich habe sechs Monate gebraucht, um das Vertrauen der beiden zu gewinnen!« Die Filipina erklärt ihm: »Ich habe kein sonderliches Interesse an den Büchern gezeigt, habe sie nicht einmal angeblickt. Zuerst habe ich von mir erzählt und erklärt, ich sei die Nichte von jemandem, den sie kennen, und befreundet mit einer anderen Person, die sie ebenfalls kennen, und habe mich so in ein Netz gegenseitiger Bekanntschaften eingebracht.«

Die Bedeutung solch oberflächlicher, persönlicher Unterhaltungen entgeht sehr oft dem Ausländer, der gern schnell zur Sache kommt (und dabei häufig mit der Tür ins Haus fällt). Doch wer der andere ist, versteht der Filipino erst, wenn er ihn in seine Verwandtschaftsgruppe einordnen und in freundlichen Wechselbezug oder feindlichen Gegensatz zu anderen Gruppen setzen kann.

Die grundlegende soziale Einheit bei den Filipinos ist die Kernfamilie aus Vater, Mutter und Kindern, hinzu kommt die erweiterte Familie, die die Blutsverwandten beider Seiten, also von Vater und Mutter, einschließt. Der Einfluss der Familie durchdringt alle Facetten der philippinischen Gesellschaft. Sie ist die ursprüngliche Einheit gemeinsamen Handelns, um die sich soziale, ökonomische und religiöse Aktivitäten drehen. Religion ist zu einem beträchtlichen Teil auf die Familie und das Heim bezogen. Ökonomische Aktivitäten wie Landwirtschaft, Fischen und Handwerk beziehen im allgemeinen alle erwachsenen Familienmitglieder in gemeinschaftlicher Arbeit mit ein, oft helfen auch die älteren Kinder. Die sogenannten Korporationen (Unternehmen) auf den Philippinen sind charakteristischerweise in Familienbesitz. Vetternwirtschaft in Regierung und Geschäftsleben ist weit verbreitet: sie zeigen eine Widerspiegelung des Zusammenhalts der Familie.

Die filipina Familie zeigt große Solidarität, betont Loyalität und Unterstützung für Blutsverwandte, oft unter Missachtung sozialer Organisationen oder größerer Zusammenhänge wie die der Stadt oder der Nation ... Im typischen barrio oder Dorf sind politische Organisationen nur schwach entwickelt. Gruppenaktivitäten werden auf der Basis der Familienverbindung und gemeinsamer ökonomischer oder offizieller Interessen organisiert. Führungspersönlichkeiten werden von den wichtigen Familien gestellt und sind hauptsächlich von Reichtum und Familiengröße bestimmt.

Der Zusammenhalt der Familie beeinflusst auch stark die zwischenmenschlichen Beziehungen, besonders unter den Gruppen. Eine Beleidigung eines Mitglieds gilt als Angriff gegen die ganze Familie. Andererseits bietet die Familie ein zuverlässiges Auffangnetz für ihre Angehörigen, im Gegensatz zu den oft zerbrechlichen Beziehungen zu Nicht-Verwandten ...

Die Verwandtschaftsgruppe und der Ausländer"

[...] "Die Verwandtschaftsstrukturen bestimmen das Verhalten der Filipinos, wobei ihre besonderen Wertvorstellungen häufig aber nur innerhalb der Gruppe Anwendung finden. Außenseiter gelten als Freiwild, bei ihnen wird ein anderer Wertmaßstab angelegt. So müssen Sie zum Beispiel damit rechnen, dass Sie als Tourist mehr bezahlen müssen als andere, doch sobald Sie als Gast oder Freund eines Gruppenmitglieds erkannt worden sind und nicht mehr als durchreisender Ausländer gelten, wird man auch Ihnen einen fairen Preis machen." [...]

Beide Familienlinien zählen

Anders als in matrilinearen oder patrilinearen Gesellschaften gehören auf den Philippinen sowohl die Verwandten des Mannes als auch der Frau zur Kernfamilie. In der filipina Verwandtschaftsgruppe knüpft eigentlich das Kind die Verwandtschaftsbande, da seine Verwandtschaft, von Großeltern, Onkeln und Tanten angefangen, beide Familien verbindet. Kinder sind deshalb in den Verwandtschaftsgruppen sehr wichtig." [...]

Compadrazco -- Die Patenschaft

Als Verwandte zählen natürlich auch die entferntesten Vettern und Cousinen. Darüber hinaus vergrößert sich die Verwandtschaftsgruppe und wächst, außer durch Heirat auch durch andere Rituale, über die Blutsverwandten hinaus. Die Spanier haben christliche Riten eingeführt, die den Filipinos zur Ausweitung der Verwandtschaftsgruppen dienen." [Aarau, S. S. 44 - 48]

Gemäß Aarau und Roces spielt das christliche Ritual der Taufpatenschaft eine wesentliche Rolle die Verwandtschaftsgruppe zu vergrößern. Er Kind kann bis zu sechs oder acht Paten erhalten. Patenonkel und -tante gelten als die zweiten Eltern des Kindes und haben entsprechende Pflichten. Neben den üblichen Geschenken zu Festen gehört dazu z.B. auch die Unterstützung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz.  Die Patenonkel und -tanten werden zusammen mit den Eltern des Kindes zu "compadres" und dadurch ein Teil der Verwandtschaft. Höhere Beamte sind als Patenonkel besonders erwünscht, denn man kann von ihnen entsprechende Unterstützung für das Patenkind erwarten. [vgl. Aarau, S. 47f.]

"Verwandte sind wichtig, aber ...

Das mit Anleihen bei christlichen Ritualen versehene Compadre-System sichert das Anwachsen der erweiterten Familie und erlaubt zugleich eine flexible Entwicklung der Verwandtschaftsgruppe außerhalb des sozial und ökonomisch inzestuösen Gefängnisses der Blutsverwandten. Ein Umsiedler aus einer Kleinstadt kann durch das Compadre-System Teil einer Verwandtschaftsgruppe in Manila werden. Der einzelne verlässt sich, wenn er Hilfe braucht, zunächst auf die engsten Verwandten, zögert indes nicht, soziale Beziehungen zu Nicht-Verwandten aufzunehmen, die aus räumlichen Gründen besser ansprechbar sind oder höhere Leistungen und wirtschaftlichen Nutzen versprechen. Die soziale Gruppe, die ein Individuum um sich versammelt, verbindet also Familienangehörige mit frei gewählten Freunden und Bekannten.

Als Mitglied einer Verwandtschaftsgruppe ist das Individuum nicht einfach eine passive Einheit der Familie, in die es hineingeboren wurde. Der einzelne definiert und gestaltet seine soziale Umgebung durch Heirat und persönliche Auswahl, geht Compadre-Beziehungen nach eigener Wahl mit anderen innerhalb und außerhalb seiner Verwandtschaft ein. Diese Situation wurde mit einem treffenden englischen Wortspiel gekennzeichnet: Relatives are important, but the importance is relative. (»Verwandte sind wichtig, aber ihre Wichtigkeit ist relativ.«)

Ein Führer durch das Verwandtschaftssystem

Sie müssen das komplizierte Geflecht der Verwandtschaftsgruppen auf den Philippinen nicht vollständig durchschauen: auch viele Filipinos haben nicht bewusst darüber nachgedacht. Es ist aber wichtig, von diesem Netz der Beziehungen zu wissen, um so das gesellschaftliche Zusammenspiel seiner einzelnen Fäden aus dem richtigen Blickwinkel betrachten zu können. Was westliche Augen als offene Vetternwirtschaft in Familienbetrieben, ja bis hin zu Regierungsinstitutionen, erkennen würden, mag durchaus als Anpassung an das Verwandtschaftssystem gedeutet werden. Nur wenn dies tatsächlich Unheil auslöst, Inkompetenz und Korruption Vorschub leistet, wird diese Günstlingswirtschaft auch für Filipinos zu einem ernsthaften Verstoß und zu einer Gefahr.

Ein Beamter auf den Philippinen ist zerrissen zwischen seiner öffentlichen Aufgabe und seinen verwandtschaftlichen Verpflichtungen. Dies mag man als Widerspruch oder Dualität sehen, auf jeden Fall kennzeichnet es die gegenwärtige philippinische Gesellschaft. Ein Polizist vernachlässigt ganz offensichtlich seine Pflichten, wenn er den Schuldigen, der zufällig sein Sohn ist, nicht festnimmt. Seine Verwandten hingegen wären der Ansicht, er missachte seine väterlichen Pflichten, wenn er seine Macht nicht dazu verwendet, seinen Sohn zu schützen, der zufällig gegen das Gesetz verstoßen hat.

Ein Polizist würde niemals seinem Patenonkel einen Strafzettel ausstellen, um so weniger, wenn dieser auch Beamter wäre. Denn wie könnte ein Patenkind, das seinem ninong seine Stelle verdankt, sich derart undankbar zeigen?! Diese Haltung prägt den gesamten öffentlichen Dienst auf den Philippinen." [...]

"Die Verwandtschaftsstruktur übt jedoch nicht nur Druck auf Individuen aus, sondern auch auf jene, die die Gruppe bedrohen, indem sie einem Mitglied Schaden zufügen." [...]

"Die philippinische Gesellschaft ist ein Universum von Verwandtschaftsgruppen, die allesamt gleichermaßen Druck ausüben. Was für den Rest der Gesellschaft als unangemessen gilt, wird übersehen, wenn es einen Verwandten betrifft. Ein anderes Verhalten brächte die Gruppe in Verlegenheit, und sie könnte ihre Selbstbeherrschung verlieren, wenn ihr amor-propio verletzt ist.

Rivalität zwischen Verwandtschaftsgruppen kennzeichnet die philippinische Gesellschaft und Politik. Selbst im Ausland weisen filipina Gemeinschaften zwei oder mehr rivalisierende Organisationen auf. Der westliche Besucher wird sich freuen, nach einiger Zeit als Teil einer Gruppe angesehen zu werden, dafür aber plötzlich feststellen, dass er damit zugleich die Ablehnung einer gegnerischen Gruppe auf sich gezogen hat.

Es ist wichtig, nicht zu eingebunden und engagiert für eine Gruppe einzustehen, wenn man in einem größeren sozialen Zusammenhang arbeitet. Derjenige meistert die, Situation am besten, der das Wohlwollen von möglichst vielen Gruppen genießt." [Aarau, S. 54 - 56]

[Aarau, Alice ; Alfredo Roces ; Grace Roces: Reisegast auf den Philippinen. -- 2. Aufl. -- Dormagen : Iwanowski, 1998. -- ISBN 3923975759. -- S. 44 - 48, 54 - 56. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Weiterführende Ressource:

An anarchy of families : state and family in the Philippines / ed. by Alfred W. McCoy. -- Manila : Ateneo de manila University Press, ©1994. -- 542 S. : Ill. -- ISBN 971-550-128-1


2. Frau und Mann



Abb.: Nicht nur romantische Liebe führt zu kaputten Ehen (©IMSI)

Ausführlich zu Frau und Mann siehe:

Entwicklungsländerstudien / hrsg. von Margarete Payer. -- Teil I: Grundgegebenheiten. -- Kapitel 15: Frau und Mann : Schwerpunkt Afrika / von Sibylle Luptovits und Friederike Gerland. -- URL: http://www.payer.de/entwicklung/entw15.htm. -- Zugriff am 14.11.2000

Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist sehr unterschiedlich: es reicht von völliger Unterordnung der Frau bis zur zumindest theoretischen Gleichberechtigung, ja in seltenen Fällen (z.B. Khasi in Meghalaya, Indien) zur auch öffentlichen Unterordnung des Mannes. Besonders für Frauen in führenden Positionen kann es schwierig werden, als solche akzeptiert zu werden. Auch werden in manchen Kulturen (besonders muslimischen) unabhängige Frauen sehr schnell als sexuelles Freiwild betrachtet. Hier hilft nur ein selbstbewusstes Auftreten.

Die Gewohnheit in asiatischen Ländern, dass das Knüpfen von geschäftlichen Beziehungen den gemeinsamen Besuch von eindeutigen Nachtclubs und Bordellen einschließt, macht es für Frauen schwierig, nicht "draußen vor" zu bleiben. Auch hier hilft nur ein selbstbewusstes, bestimmendes Auftreten und die (hoffentlich) von klein an eingeübte Fähigkeit, ein klares Nein zu signalisieren bzw. zu sagen.

Wichtig ist auch, nicht in Kleidung, Aussehen oder Verhalten so aufzutreten, dass es in der Zielkultur durch Missverständnis zur Interpretation als -- von der Senderin unerwünschtes -- Signal kommt. Zu Kleidung und Körpersignalen in muslimischen Ländern s. oben.

Eine gute Hilfe für Geschäftsfrauen, mit länderspezifischen Tipps ist:

Axtell, Roger E. ; Briggs, Tami ; Corcoran, Margaret ; Lamb, Mary Beth: Do's and taboos around the world for women in business. ... New York [u.a.] : Wiley, ©1997. -- 252 S. -- ISBN 0471143642. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}


2.1. Zum Beispiel: Verliebte Studierende in Iran



Abb.: Karte von Iran (©MS-Encarta)

Kirsten Winkler stellt aufgrund eigener Begegnungen in Iran die Situation von verliebten Studierenden in Iran dar:

"Nachdem die iranische Gesellschaft ganz allgemein beschrieben wurde, soll nun am Beispiel zweier Studenten aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, mit denen mein Mann und ich uns angefreundet haben, ganz konkret auf die doch sehr gegensätzliche Lebensweise der iranischen Bevölkerung eingegangen werden.

Wie bereits dargelegt, lässt sich die Bevölkerung des Landes grob einteilen in einen streng religiösen Teil, dem vorwiegend die Menschen der unteren Schichten zuzurechnen sind, und einen weniger religiösen und stark westlich beeinflussten kleineren Teil, der sich fast ausschließlich aus Menschen der oberen Schichten zusammensetzt. Dieser unterschiedliche Grad der Religiosität äußert sich nicht nur in der Ausübung der religiösen Pflichten, sondern in der gesamten Lebensweise, ihrer Einstellung zu Bereichen wie Liebe, Sexualität, Ehe. Es wäre jedoch zu einfach zu sagen, alle wohlhabenden Familien des Landes seien unreligiös und alle ärmeren Familien religiös, wenn das tendenziell auch zutreffen mag. Deshalb sollen die innerhalb der iranischen Gesellschaft tatsächlich bestehenden Unterschiede anhand der Beispiele zweier Studenten geschildert werden, die zwar verschiedenen Gesellschaftsschichten angehören, sich aber beide für ein Universitätsstudium entschieden haben, also in Zukunft einmal zu den Besserverdienenden gehören werden. Durch ihre unterschiedliche Erziehung stellen sie jedoch andere Erwartungen an ihr Leben.

Ihre Gemeinsamkeiten lassen sich an wenigen Punkten festmachen: Beide sind Anfang 20. Reza studiert Englisch, Mehrdad Veterinärmedizin. Gemeinsam ist beiden, dass sie sich in der Universität in eine Kommilitonin verliebt haben. Das ist an sich nichts Besonderes und ereignet sich tagtäglich an Universitäten in aller Welt, im Iran jedoch sollen die Maßnahmen zur Geschlechtertrennung genau das verhindern.


Abb.: Iranerin in Tschador vor Wand mit Slogan von Ayatollah Khomeini (1900 - 1989): "I confidently say that Islam will bring the super powers down." (©Corbis)

Kontakt zwischen den Geschlechtern an iranischen Universitäten soll durch die Verschleierung der Frauen und eine strenge Geschlechtertrennung vermieden werden. Für den Besuch der Universität reicht es nicht aus, dass Studentinnen Mantel und Kopftuch tragen, vorgeschrieben sind der Tschador [Ganzkörperverhüllungstuch] oder Mantel und Maghnae [Kapuze]. Außerdem haben Studentinnen in den hinteren Reihen Platz zu nehmen, wo sie von ihren männlichen Kommilitonen nicht beobachtet werden können. Während der Vorlesung oder eines Seminars sollen die Kontakte zwischen den Geschlechtern, auch bei Diskussionen, möglichst gering gehalten werden, außerhalb der Veranstaltungen sind sie ganz verboten. Nach der Vorlesung über das soeben Gehörte bei einer Tasse Tee weiterzudiskutieren ist zwischen den Geschlechtern nicht gestattet. So sieht man innerhalb des Universitätsgeländes Männer und Frauen stets getrennt durch die Gegend laufen. Die Kontrollen bezüglich der Einhaltung der Geschlechtertrennung sind streng. Studentenwohnheime auf dem Unigelände sind nach Geschlechtern geordnet, eines für Männer, eines für Frauen und eines für Ehepaare. Es braucht nicht extra erwähnt zu werden, dass Männerbesuche im Frauenwohnheim und auch umgekehrt Frauenbesuche im Männerwohnheim strengstens verboten sind. Die einzelnen Wohnheime unterstehen Kontrolleuren der Pasdaran [Revolutionsgarde]. Doch trotz aller Bemühungen, so ganz klappt die Geschlechtertrennung an den iranischen Universitäten nicht, trotz Verschleierung der Frauen verlieben sich junge Leute ineinander.

Reza und Mehrdad

Reza wohnt in einem Studentenwohnheim, seine "Verlobte" Mariam bei ihren Eltern. Mariam haben wir nicht kennengelernt, Reza selbst sieht sie außerhalb der Universität nicht besonders häufig, und wenn, dann im Hause ihrer Eltern. Er hätte es höchst unpassend gefunden, zu viert etwas in Teheran zu unternehmen. Mariam studiert Englisch im selben Semester wie Reza und befürwortet, wie uns Reza mitteilte, das Tragen des Tschador innerhalb der Universität, damit sie und ihre männlichen Mitstudenten sich auf ihr Studium konzentrieren können. Überhaupt sei es für die Frauen erstrebenswert, nicht aufgrund ihres Äußeren begehrt, sondern aufgrund ihres Charakters, ihrer inneren Werte und ihres Wissens geschätzt zu werden. Dafür biete der Tschador beste Gewähr.

Mehrdad wohnt mit zwei weiteren Studenten in einer Wohngemeinschaft, seine Freundin Seda lebt bei ihrer Großmutter. Mehrdad hat uns seine Freundin vorgestellt, und wir haben mehrere Abende mit den beiden in seiner Studentenbude verbracht. Sie studiert im selben Semester wie er und unterwirft sich nur widerwillig der vorgeschriebenen Verschleierung.

Beiden Paaren gemeinsam ist, dass sie uns offen und ehrlich von ihren Problemen erzählt und uns dadurch einen Einblick in ihr Leben und das ihrer Familie gegeben haben. Sie haben im Prinzip dieselben Probleme, die sich durch ihr Verliebtsein ergeben. Ihre Religion, der Islam, offenbart an mehreren Stellen des Koran, dass Sexualität ein Bestandteil der Ehe und außerhalb der Ehegemeinschaft eine Sünde ist. Was macht man nun im Iran, wenn man sich in eine Kommilitonin verliebt hat? Die Probleme sind dieselben, doch werden sie höchst unterschiedlich gelöst.

Reza und Mariam

Als wir Reza kennenlernten, war er ziemlich traurig und auch verzweifelt. Mit seiner Mutter und seiner Schwester hatte er die Familie seiner "Verlobten" aufgesucht, um über eine mögliche und baldige Heirat zu sprechen. Doch Mariams Familie lehnte eine Heirat zwischen den beiden mit der Begründung ab, dass Reza zwar sehr nett, aber leider zwei Jahre jünger sei als Mariam. Die wahre Begründung der Ablehnung ist wohl eher darin zu suchen, dass er noch mitten im Studium steckt und nicht absehbar ist, wann er dieses beenden und damit in der Lage sein wird, eine Familie zu ernähren. Wenn man nun noch die Militärzeit hinzuaddiert, die ihm auch noch bevorsteht, wird Mariam eher in der Lage sein, eine Familie zu ernähren. Und das entspricht nun ganz und gar nicht den islamischen Vorstellungen einer Ehegemeinschaft.

Der übliche Ablauf einer Eheschließung im Iran sieht so aus, dass ein Mann sich erst dann mit Heiratsabsichten trägt, wenn er bereits einige Zeit im Berufsleben steht, über eine eigene Wohnung oder ein Haus verfügt und den zukünftigen Schwiegereltern vorrechnen kann, was er einer Frau alles bieten und wie viele Kinder er ernähren kann. Deshalb sind Ehemänner im Regelfall um etliche Jahre älter als ihre Frauen. Aus dieser Warte betrachtet, ist die Entscheidung von Mariams Familie durchaus verständlich, wenn sie auch für die beiden sehr schmerzhaft ist.

In arrangierten Ehen spielt Liebe eine nur untergeordnete Rolle. Es geht primär um materielle Sicherheit. Liebe und Zuneigung ergeben sich vielleicht im Laufe der Zeit oder auch nicht. Sie sind jedenfalls nicht Voraussetzung für eine islamische Eheschließung.

Nun ist Mariam bereits über 20 Jahre alt und könnte nach iranischem Gesetz eigentlich auch ohne Einwilligung ihres Vormundes heiraten. Doch die Tradition, die in allen islamischen Ländern eine sehr große Rolle spielt, steht dagegen. Traditionell sind die Eltern der Frau für die Eheschließung zuständig. Die Frage, ob die Eheschließung einer Jungfrau ohne Einwilligung ihres Vormundes anzuerkennen sei, ist unter schiitischen Geistlichen umstritten. Unumstritten dagegen ist, dass eine Frau, die bereits verheiratet war, also verwitwet oder geschieden ist, selbständig die Wahl ihres zukünftigen Ehepartners treffen und auch den Ehevertrag allein aufsetzen darf. Einer Jungfrau unterstellt man, dass sie aus ihrer Unerfahrenheit heraus leicht zu überrumpeln sei, auf Liebesschwüre und Versprechungen eines Mannes hereinfalle und deshalb unter Umständen die falsche Wahl treffen werde. Ihr Vater dagegen kenne die Schlichen der Männer ganz genau und solle deshalb die Wahl des Ehemannes für seine Tochter treffen. Würde Mariam gegen den Willen ihrer Familie heiraten, würde das eventuell den Bruch mit ihrer Familie zur Folge haben. Und davor schrecken Mariam und Reza zurück.

Die beiden leben streng nach den islamischen Geboten. Obwohl sie sich lieben, haben sie sich bislang noch nicht geküsst, aber er hat sie in ihrem Elternhaus schon ohne Kopftuch gesehen -- nicht jedoch ohne einen Mantel. Mehr wollten und wollen sie nicht, denn wie gesagt, Sexualität hat nur innerhalb der Grenzen einer Ehe stattzufinden.

Sie lieben sich und wollen nicht gegen ihren Glauben verstoßen. Sie sind jedoch verzweifelt und wissen nicht, wie ihre Geschichte weitergehen soll. So beugen sie sich zunächst einmal der Entscheidung von Mariams Familie, haben sich aber zugleich geschworen, nicht nachzugeben, falls ihre Eltern eines Tages andere Partner für eine Ehe vorschlagen. Lieber wollen sie gar nicht heiraten und ewig aufeinander warten.

Das ist echte Liebe. Und davon gibt es in islamischen Ländern nicht allzu viel. Deshalb sind Geschichten wie diese traurig, wenn zwei Menschen sich lieben und nicht zusammenkommen können. Mit einem Ratschlag wie 'setzt euch doch einfach über das Verbot hinweg' ist ihnen auch nicht geholfen. Sie sind in dem Glauben erzogen worden, dass eine voreheliche Freundschaft eine Sünde ist und die Jungfräulichkeit bis zur Eheschließung bewahrt werden muss. Deshalb würden zwei derart gläubige Menschen wie Mariam und Reza auch nicht glücklich werden, wenn sie sich über die bestehenden religiösen und gesellschaftlichen Gebote hinwegsetzen würden. Sie können und wollen die Ehre ihrer Familien nicht aufs Spiel setzen. Irgendwann wird Reza sein Studium beendet und seinen Militärdienst abgeleistet haben und eine Familie ernähren können. Das dauert zwar noch ein paar Jahre, aber vielleicht schwindet in der Zwischenzeit der Widerstand von Mariams Familie. 

Vielleicht wird irgendwann einmal in näherer Zukunft auch in islamischen Ländern die Entwicklung dahin gehen, dass die Freiheit, den Ehepartner selbst auszuwählen, auch jungen Frauen gewährt wird. Und auch der Prophet Mohammad wird in einigen seiner Hadithe [mündliche Überlieferung] dahingehend zitiert, dass er gesagt haben soll, dass Mann und Frau durch Liebe miteinander verbunden sein sollen. Doch es gibt eben auch genügend Hadithe, die besagen, dass sich ein Ehepaar vor der Hochzeit nicht näher kennenlernen soll.

Mehrdad und Seda

Einen anderen Weg haben Mehrdad und Seda beschritten. Mehrdad kommt aus einer Familie, in der die Religion, der Islam, nicht so streng praktiziert wird. Weder gehen die einzelnen Familienmitglieder täglich in die Moschee, noch beten sie regelmäßig zu Hause. In Mekka waren sie noch nicht, obwohl sie sich eine Pilgerfahrt durchaus leisten könnten, und während des Fastenmonats Ramadan fasten sie nur nach außen hin. Diese kurze Charakteristik deutet bereits an, dass die Einhaltung der religiösen Gebote, zu denen auch der Verzicht auf eine voreheliche Freundschaft zwischen den Geschlechtern zählt, eine nicht ganz so große Rolle in seiner Familie spielt. Ähnlich sieht es auch in der Familie seiner Freundin aus.

Ganz bewusst wurde Mariam die Verlobte von Reza genannt, während Seda eben die Freundin von Mehrdad ist, nicht mehr und nicht weniger. Das macht schon die Unterschiede deutlich. Während Reza seine Verlobte heiraten will, verfolgt Mehrdad andere Pläne. Auch er hat sich in eine Mitstudentin verliebt. Doch wer weiß schon, ob diese Liebe von langer Dauer sein wird. Auch er steckt mitten im Studium und hat seine Militärzeit noch vor sich. Aber er ist jetzt verliebt und möchte nicht noch Jahre warten. Zumal er ja auch nicht weiß, gar nicht wissen kann, ob er in fünf Jahren noch in seine Freundin verliebt sein wird. Und umgekehrt, ob sie noch in ihn verliebt sein wird.

Also haben sich die beiden dafür entschieden, nicht zu warten, und die Gefahren, die eine verbotene Freundschaft, also Zina, mit sich bringt, auf sich zu nehmen. Zina, des verbotenen Geschlechtsverkehrs, in ihrem Fall zwischen Ledigen, beschuldigt zu werden, würde für sie bedeuten, wenn es ganz schlimm kommt, mit 100 Peitschenhieben bestraft und darüber hinaus vielleicht noch zwangsverheiratet zu werden. Sie sind sich der drohenden Gefahren bewusst, nehmen sie aber in Kauf.

Mehrdad und Seda haben etliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um die Gefahr einer Entdeckung zu verringern. In der Universität, wo sie sich kennengelernt haben, reden sie, seit sie miteinander befreundet sind, nicht mehr miteinander. Sie sitzen in derselben Vorlesung, aber sie grüßen sich nicht, beachten sich nicht, kennen sich nicht. So soll es nach den Vorstellungen des islamischen Staates ja ohnehin sein, aber es halten sich nicht alle Studenten daran. Mehrdad und Seda schon. Ein Dozent könnte Verdacht schöpfen. Und ob die beiden jedem Kommilitonen trauen können, ist ungewiss. Es sitzen genug Studenten und Studentinnen in den Veranstaltungen, die von der Richtigkeit und Wichtigkeit der Geschlechtertrennung überzeugt sind.
Auch außerhalb des Universitätsgeländes lassen sie sich nach Möglichkeit nicht zusammen blicken, es gibt also kaum gemeinsame Spaziergänge oder Restaurantbesuche. Sie kennen zwar einige Restaurants und Cafés, die selten kontrolliert werden und daher relativ sicher sind. Doch überall kann die Pasdaran lauern, in Uniform oder Zivil. Verabredungen müssen mit größter Vorsicht getroffen werden. Würde ein Dozent oder die Pasdaran die beiden innerhalb oder außerhalb der Uni zusammen sehen und ihr Verwandtschaftsverhältnis überprüfen, wäre ihnen der Rauswurf aus der Universität gewiss. Jedes Treffen muss also genauestens geplant werden. Sie wissen, wo besonders große Gefahren lauern, welche Stadtteile oder Straßenzüge regelmäßig kontrolliert werden. Besonders in den Abend- und Nachtstunden, in denen sich eine anständige Frau am besten überhaupt nicht mehr in der Öffentlichkeit aufhält, werden die Kontrollen verschärft.

Wir haben uns mehrere Abende hintereinander mit den beiden in der Wohnung von Mehrdad getroffen und haben erlebt, wie schwierig sich eine gemeinsame Autofahrt gestalten kann. So fahren sie kreuz und quer durch die Stadt, um Hauptstraßen, die besonders häufig kontrolliert werden, zu meiden. Den direkten Weg nach Hause zu benutzen ist zu gefährlich. So wird jeder Schleichweg wahrgenommen, um den Kontrollwagen der Pasdaran zu entgehen, die hinter jeder Ecke stehen können. An einer Straßenkreuzung, an der wir längere Zeit zu warten hatten, erlebten wir, dass uns einer der Kontrollwagen direkt gegenüber stand und seine Insassen zu uns herüberblickten. Den beiden blieb fast das Herz stehen, und sie atmeten tief durch, als die Gefahr vorüber war. Es war wirklich eine Irrfahrt durch die gesamte Stadt, und mehrmals mussten sich die beiden Männer an Bord, Mehrdad und mein Mann Axel, ducken, damit sie von außen nicht gesehen werden konnten. An einer Ampel in der Innenstadt, an der wir ebenfalls länger zu stehen hatten, schauten Passanten, die direkt am Wagen vorbeigingen, in denselben hinein, entdeckten die beiden, die sich mal wieder duckten, natürlich sofort und fingen an zu lächeln. Eine solche Situation kommt wohl häufiger vor, kann aber wirklich gefährlich werden, wenn der oder die Falsche in den Wagen schaut. Bei diesen gemeinsamen Fahrten haben wir hautnah miterlebt, welche Schwierigkeiten eine "verbotene" Liebe im Iran bedeuten kann.

So wurde uns auch mehr als deutlich vor Augen geführt, dass keine Person in ihrem Umkreis, der sie nicht 100prozentig vertrauen, von ihrer Freundschaft erfahren darf. Ihre beiden Familien sind eingeweiht, haben zwar Verständnis für sie, das heißt, sie wollen ihre Freundschaft nicht unterbinden, stehen aber natürlicherweise jeden Tag und jede Minute fürchterliche Ängste aus und bitten sie deshalb, mehr als vorsichtig zu sein. Seda darf aus diesem Grunde nicht bei Mehrdad übernachten, weil das zu gefährlich wäre.

Mehrdad wohnt, wie bereits erwähnt, in einer Wohngemeinschaft, Seda bei ihrer Großmutter. Diese beiden Wohnungen sind die einzigen Orte in der ganzen Stadt, wo sie sich einigermaßen sicher fühlen können. Im Studentenwohnheim zu wohnen wäre besonders für Seda nicht sehr lustig, weil sie ständig kontrolliert würde und zudem Rechenschaft über ihre Aktivitäten abzulegen hätte, wenn sie einmal erst später am Abend heimkäme. Und wenn sie beide im Wohnheim wohnen würden, hätten sie überhaupt keinen Ort für sich. Die beiden Mitbewohner von Mehrdad haben übrigens auch eine Freundin. Mehrdad und Seda stehen mit ihren Problemen also nicht allein da.

Doch müssen die beiden nicht nur vor den Kontrollen der Pasdaran Angst haben, sondern auch vor einer ungewollten Schwangerschaft. Uneheliche Kinder gibt es nicht im Iran. Spätestens bei einer Schwangerschaft müssten sie heiraten, und zwar sofort, damit die Zeitspanne zwischen Hochzeit und Geburt nicht zu deutlich offenbart, dass die Empfängnis bereits vor der Hochzeit stattgefunden hat. Verhütung ist eigentlich kein Problem im Iran. Jedes Ehepaar, das sich noch keine oder keine Kinder mehr wünscht, kann zu verschiedenen Verhütungsmethoden greifen. Eine unverheiratete Frau hat jedoch keine Möglichkeit, sich beim Arzt die Pille verschreiben zu lassen.

Eine mögliche Lösung?

Reza hält die göttlichen Gebote des Islam ein und wird deshalb auch keine Probleme mit den Gesetzen der Scharia [islamisches Recht] bekommen. Doch eigentlich lehnt der Islam Enthaltsamkeit ab, weil die sexuelle Befriedigung zu den Grundbedürfnissen des Menschen zählt und sexuell unbefriedigte Menschen eine Gefahr für die islamische Gemeinschaft darstellen. Mehrdad kümmert sich nicht um die göttlichen Gebote und verstößt damit zugleich gegen die islamischen Gesetze der Scharia. Er macht sich der Zina schuldig. Nach islamischer Auffassung ist er mit seinem Verhalten bereits ganz konkret zur Bedrohung der Gesellschaft geworden. Würden sich alle Mitglieder der Gemeinschaft so verhalten wie er und gegen die göttlichen Gebote verstoßen, würde sie zugrunde gehen.

Das zwölferschiitische Recht hält, rein theoretisch, für beide Fälle die Lösung all ihrer Probleme parat: die Zeitehe. Mit dem Eingehen einer Zeitehe bestünde für beide Paare die Möglichkeit, ihre Liebe zu legalisieren. Beide Paare könnten für die Dauer ihres Studiums eine Zeitehe schließen und später entscheiden, ob sie nun eine Dauerehe eingehen wollen oder sich trennen bzw. ob die Eltern von Mariam dann ihre Zustimmung zu einer Dauerehe geben.

Für die Schließung einer Zeitehe benötigt eine Frau, auch eine unerfahrene Frau, die zum erstenmal heiratet, nicht die Einwilligung ihres Vormundes. Auch den Ehevertrag, der die Dauer der Ehe und die Höhe des Brautgeldes festlegt, darf sie eigenverantwortlich aushandeln. Auch ihre Familie dürfte dagegen wenig einzuwenden haben, müsste keine Sorgen haben, ob die beiden jetzt "Dummheiten" begehen. Schiitische Geistliche argumentieren, dass für eben solche Fälle die Zeitehe da sei.
Die Vorteile, die schiitische Geistliche sehen, liegen darin, dass junge Leute Zina umschiffen, dabei aber noch keine Entscheidung für das ganze Leben treffen müssen. Wenn in solchen Fällen dann nach einiger Zeit einer Familiengründung vom Finanziellen her nichts mehr im Wege steht, können sie sagen, ja, jetzt heiraten wir dauerhaft, oder wir lassen es bleiben. Der Frau, die im letzteren Fall in eine Ehe mit einem anderen Partner nun nicht mehr unberührt gehen würde, entstünden aus ihrer Zeitehe keine Nachteile, weil die Zeitehe vom schiitischen Recht klar anerkannt wird.

Doch für beide Paare stellt die schiitische Institution der Zeitehe keine wirkliche Alternative zu ihrem momentanen Zustand dar. Sie hat einen schlechten Ruf und wird, außer von einigen Geistlichen, die sie noch immer propagieren, mit Prostitution in Verbindung gebracht. Nur so ist es zu verstehen, dass junge Leute im Iran, die verliebt sind, keine Zeitehe eingehen wollen, auch wenn diese über einen längeren Zeitraum hinweg abgeschlossen sein sollte.

Die beiden Beispiele, die keineswegs Einzelfälle im Iran sind, sollen hier nicht wertend dargestellt werden. Weder die eine noch die andere Handhabung ist meines Erachtens richtig oder falsch. Die Geschichte dieser beiden Paare, die sich wahrscheinlich gegenseitig belächeln oder auch verurteilen würden, soll den europäischen Lesern vielmehr zeigen, wie junge Leute im Iran zum Thema Sexualität stehen. Wie überall im islamischen Raum entscheiden sich junge Leute, wenn sie verliebt sind, je nachdem wie sie erzogen wurden, für eine voreheliche Freundschaft, oder sie warten auf die Ehe. Zahlreiche junge Leute akzeptieren auch heute noch die Entscheidung ihrer Eltern ohne Widerspruch, wenn diese einen Ehepartner für sie auserkoren haben. Aber es sind immer weniger Frauen in den islamischen Ländern, die sich eine Ehe aufzwingen lassen, in der ihnen der Partner so ganz und gar nicht zusagt."

[Winkler, Kirsten: Kulturschock Iran. -- 3. Aufl. -- Bielefeld : Rump, 2000. -- (Reise Know-How). -- ISBN 3894161604. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


3. Eltern und Kinder



Abb.: Propaganda für Einkindehe, China (©Corel)


Abb.: China (©Corel)


Abb.: Indien (©Corel)

Die Tatsache, dass man Kinder hat, kann die Kommunikation sehr erleichtern. Es gibt viele Kulturen (z.B. Indien), in denen es völlig unverständlich ist, dass ein verheiratetes Paar freiwillig auf Kinder verzichtet. Manche verheiratete kinderlose Frauen helfen sich damit, dass sie für solche Fälle Kinder "erfinden".

Im Umgang mit Kindern fremder Kulturen sind allerdings manche Tabus zu beachten, insbesondere bezüglich von Verhaltensweisen, die den Neid böser Wesen hervorrufen könnten (s. oben) und Verhaltensweisen, die -- wie die Nennung des wirklichen Namens (s. oben)  -- bösen Wesen Macht über das Kind geben könnten.


3.1. Zum Beispiel: Rund um die Geburt in Malaysia und Singapur



Abb.: Karte von Malaysia und Singapur (©MS-Encarta)

Die Bevölkerung Malaysias und Singapurs setzt sich aus drei ethnischen Gruppen zusammen, die ihre kulturellen Eigenheiten behalten haben:

Alice Aarau und JoAnn [!] Craig schildern die unterschiedlichen Verhaltensweisen rund um die Geburt sowie das, was man bei Geschenken zur Geburt eines Kindes beachten sollte:

Malaien:

"Ein malaiisches Baby ist ein glückliches Baby! Es wird in eine warmherzige und liebevolle Gemeinschaft geboren. Seine Eltern ziehen es mit Freundlichkeit und Zärtlichkeit auf. Kleinkinder werden nur selten gescholten oder bestraft, vielmehr durch gute Beispiele und Lob erzogen. An körperlicher Nähe und Zärtlichkeit fehlt es einem Baby nicht. Die Malaien wissen, wie wichtig es ist, dass ein Baby aufmerksame Zuwendung erhält, und Väter, Mütter, Geschwister und Verwandte lassen ihm emotionale und körperliche Zärtlichkeit zukommen. Fast alle Besucher Malaysias sind von den glücklichen, spielenden und lächelnden Kinder beeindruckt.

Während der Zeit der Schwangerschaft beachten die Eltern viele aus der Tradition überkommene Verbote:

Heutzutage begeben sich viele Frauen zur Geburt ins Krankenhaus. Malaiinnen auf dem Lande ziehen Hausgeburten mit Hilfe von Hebammen vor. Für diese sprechen zahlreiche Gründe, darunter die wichtige Rolle des Vaters bei den unmittelbar nach der Geburt vollzogenen Ritualen:

Eine malaiische Mutter wird -- es sei denn, dies wäre zwingend erforderlich -- nie ihr Kind künstlich ernähren. Man schreibt der Muttermilch außerordentliche Kräfte zu. So glaubt man, dass die Muttermilch sofort in das Blut ihres Kindes übergeht und das Stillen einen Respekt und eine Nähe nährt, die das ganze Leben andauern. Überdies meint man, die Muttermilch stärke den Geist wie auch den Körper des Kindes, helfe seinen Glauben und Charakter entwickeln und festige das geistige Band zwischen Mutter und Kind so sehr, dass nichts ihre Beziehung wird zerstören können. Das Kind wird so lange gestillt, bis es aus eigenem Willen die Brust der Mutter ablehnt. In Augenblicken starker körperlicher oder gefühlsmäßiger Belastung nimmt die Mutter das Kind oft an die Brust, gleich ob es hungrig ist oder nicht, ob sie Milch hat oder nicht.
Die Malaien erkennen das seelische Bedürfnis des Kindes nach Tröstung und Sicherheit an. Sie wissen, dass das körperliche Verlangen nach Nahrung nur einen Teil der Bedürfnisse eines Kindes ausmacht. In dieser Beziehung beginnen manche westliche Kulturen erst wieder zu begreifen, was die Malaien seit Jahrhunderten instinktiv und aus Erfahrung wissen und anwenden.

Das Kind erhält binnen zwei Wochen nach seiner Geburt einen Namen, damit dieser in die Geburtsurkunde eingetragen werden kann. 24 Tage nach der Geburt wird die Namensgebung zu Hause mit einer religiösen Feier begangen. Ein aufwendiges kenduri folgt.

Geschenke zur Geburt

Eine junge Mutter empfängt nach der Geburt keine Geschenke, doch Gaben für das Baby, Kleidung etwa, werden gern entgegengenommen. Schenken Sie keine Spielzeughunde. Anders als bei Chinesen, bestehen keine Tabus hinsichtlich der Anzahl oder Farbe der Geschenke. Helle oder Pastellfarben werden jedoch bevorzugt. Besuche können ab dem zweiten Tag nach der Geburt jederzeit abgestattet werden."

Chinesen:

"Chinesen zählen die Lebensjahre anders als wir: Ein Neugeborenes gilt als einjähriges Kind und wird mit jedem chinesischen Neujahr ein Jahr älter. Ein Baby also, das einen Monat vor Neujahr geboren wurde, wird demnach am Neujahrstag als zweijährig bezeichnet, obwohl es erst vier Wochen alt ist.

Die wichtigste Feier nach der Geburt eines Kindes ist die »Ein-Monat«Feier. Freunde werden eingeladen, erlesene Speisen aufgetragen und hartgekochte Eier mit rotbemalten Muscheln verteilt. Das Baby erhält Geschenke. Diese Feier besitzt nur beim Erstgeborenen, ob Sohn oder Tochter, Bedeutung. Die Feste für die nachfolgenden Kinder fallen kleiner aus und werden weniger sorgfältig vorbereitet. (Manchmal verzichtet man dann auf eine Feier und lässt Freunden und Verwandten lediglich die Festkuchen und roten Eier zukommen.)

Mit der »Ein-Monat«-Feier geht der erste, rituelle Haarschnitt des Kindes einher. Manchmal hebt die Mutter die Haare zusammen mit der getrockneten Nabelschnur in einem Krug auf. Wird das Kind älter und streitlustig, werden die Haare in kochendes Wasser getaucht, danach getrocknet und erneut aufbewahrt. Den Sud lässt die Mutter das Kind trinken, um es für alle Zeit von seiner Zanksucht zu kurieren. (Anmerkung: Keine der Mütter, die wir nach diesem Brauch befragten, hatte ihn an ihren eigenen Kindern vollzogen. Doch alle gaben an, ihre Mütter hätten ihnen eingeschärft, ihn unbedingt anzuwenden.) Beschneidungen sind bei Chinesen nicht üblich.

Tipps für Geschenke zur Geburt

Südinder:

"Man glaubt, dass während einer Dauer von 28 Tagen nach der Geburt Mutter und Kind sich in einem Zustand geistiger Gefahr befinden. Die Mutter hat daher etliche Vorsichtsmaßnahmen zu beherzigen: Sie muss eine strenge Diät einhalten; sie darf das Haus nicht verlassen; täglich wickelt man ihren Körper neu ein und gießt während des Bades heißes Wasser auf ihren Bauch, damit er sein früheres Aussehen wiedererlangt.

Das Kind erhält seinen Namen nicht vor dem 28. Tag. Ab diesem Tag gilt das Kind als außer Gefahr, und es findet eine Feier statt, zu der Freunde und Verwandte eingeladen werden. Man setzt das Kind auf den Schoß seines Vaters oder eines Verwandten und flüstert ihm seinen Namen leise ins Ohr. Von diesem Augenblick an ist es unter diesem Namen bekannt und wird bei diesem gerufen.

Mehrere Monate reibt und massiert die Mutter sanft den Kopf des Säuglings. So soll der Kopf die gewünschte Form erhalten mit abgeflachter Stirn, wohlgeformter Oberlippe und verfeinertem Nasenrücken. Täglich reibt sie die Augen des Kindes mit Öl ein, indem sie kreisende Bewegungen über dem Rand des oberen und unteren Augenlids ausführt. Zart dehnt sie die Haut der Augenumgebung, damit die Augen breiter und runder werden. Mit Sesamöl wird das Baby am ganzen Körper gesalbt. Eine ältere Frau unterrichtet die junge Mutter in dieser aufmerksamen und aufwendigen Babypflege.

Tipps für Glückwunsche zur Geburt

[Aarau, Alice ; Craig, JoAnn [!]: Reisegast in Malaysia + Singapur. -- Domagen : Iwanowski, ©1994. -- ISBN 3923975740. -- S. 107ff., 63f., 143f. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]


4. Freunde und Bekannte


"Ein treuer Freund in der Not? Ja! denn geriet er in Not, so ließ er nicht ab selbst von denjenigen Freunden, die er sonst ganz vernachlässigt, ganz vergessen hatte."

[Aus der Leichenrede auf Kater Muzius. -- In: Hoffmann E.T.A.: Lebensansichten des Katers Murr, 1820]

Neben Verwandtschaft sind Freundschaften und Bekanntschaften ein wichtiges soziales Netz. Das Spektrum erfasst dabei ein weites Feld von sozialen Beziehungen, von idealistischen "Herzensfreundschaften" bis zu "Freunderln" und "Amigos". 

Matthias Claudius (1740 - 1815) charakterisiert Freundschaft und ihre Abarten so:

"Ich habe dir in der vorigen Lektion Feindschaft erklärt, und wie man dazu gelangen könne, und wann ein ehrlicher Kerl sie nicht scheuen müsse. Heute von der Freundschaft.

Von der spricht nun einer: sie sei überall; der andre: sie sei nirgends; und es steht dahin, wer von beiden am ärgsten gelogen hat.

Wenn du Paul den Peter rühmen hörst; so, wirst du finden, rühmt Peter den Paul wieder, und das heißen sie denn Freunde. Und ist oft zwischen ihnen weiter nichts, als dass einer den andern kratzt damit er ihn wieder kratze, und sie sich so einander wechselsweise zu Narren haben; denn, wie du siehst, ist hier, wie in vielen andern Fällen, ein jeder von ihnen nur sein eigner Freund und nicht des andern. Ich pflege solch Ding »Holunderfreundschaften« zu nennen. Wenn du einen Holunderzweig ansiehst, so sieht er fein stämmig und wohlgegründet aus; schneidest du ihn aber ab, so ist er inwendig hohl und ist so ein trocken schwammig Wesen darin.

So ganz rein geht's hier freilich selten ab, und etwas Menschliches pflegt sich wohl mit einzumischen; aber das erste Gesetz der Freundschaft soll doch sein: dass einer des andern Freund sei.

Und das zweite ist, dass du's von Herzen seist und Gutes und Böses mit ihm teilest, wie's vorkömmt. Die Delikatesse, da man den und jenen Gram allein behalten und seines Freundes schonen will, ist meistens Zärtelei; denn eben darum ist er dein Freund, dass er mit untertrete und es deinen Schultern leichter mache.

Drittens lass du deinen Freund nicht zweimal bitten. Aber, wenn's Not ist und er helfen kann; so nimm du auch kein Blatt vors Maul, sondern gehe und fordre frisch heraus, als ob's so sein müsste und gar nicht anders sein könne.

Hat dein Freund an sich das nicht taugt; so musst du ihm das nicht verhalten und es nicht entschuldigen gegen ihn. Aber gegen den dritten Mann musst du es verhalten und entschuldigen. Mache nicht schnell jemand deinen Freund, ist er's aber einmal, so muss er's gegen den dritten Mann mit allen seinen Fehlern sein. Etwas Sinnlichkeit und Parteilichkeit für den Freund scheint mit zur Freundschaft in dieser Welt zu gehören. Denn wolltest du an ihm nur die würklich ehr- und liebenswürdigen Eigenschaften ehren und lieben, wofür wärst du denn sein Freund; das soll ja jeder wildfremde unparteiische Mann tun. Nein, du musst deinen Freund mit allem was an ihm ist in deinen Arm und in deinen Schutz nehmen; das granum salis versteht sich von selbst, und dass aus einem Edlen kein Unedles werden müsse.

Es gibt eine körperliche Freundschaft. Nach der werden auch zwei Pferde, die eine Zeitlang beisammenstehen, Freunde und können eins des andern nicht entbehren. Es gibt auch sonst noch mancherlei Arten, und Veranlassungen. Aber eigentliche Freundschaft kann nicht sein ohne Einigung; und wo die ist, da macht sie sich gern und von selbst. So sind Leute, die zusammen Schiffbruch leiden und die an eine wüste Insel geworfen werden, Freunde. Nämlich das gleiche Gefühl der Not in ihnen allen, die gleiche Hoffnung und der eine Wunsch nach Hülfe einigte sie; und das bleibt oft ihr ganzes Leben hindurch. Einerlei Gefühl, einerlei Wunsch, einerlei Hoffnung einigt; und je inniger und edler dies Gefühl, dieser Wunsch und diese Hoffnung sind, desto inniger und edler ist auch die Freundschaft, die daraus wird.
Aber, denkst du, auf diese Weise sollten ja alle Menschen auf Erden die innigsten Freunde sein? Freilich wohl! und es ist meine Schuld nicht, dass sie es nicht sind."

[Claudius, Matthias <1740 - 1850>: Asmus omnia sua secum portans oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen. -- Teil 4. -- Breslau, 1783. -- S. 352 - 354. -- In: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. -- Studienbibliothek. --  Berlin : Directmedia, 2000. -- 1 CD-ROM. -- ( Digitale Bibliothek ; Band 1). -- ISBN 3898531015. -- S. 19120. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie diese CD-ROM  bei amazon.de bestellen}] 

Freundschaft spielt auch im Buddhismus eine sehr wichtige Rolle. Im Sigâlovâdasutta -- Der Unterweisung Sigâlaka's, einem Grundtext der buddhistischen Laienethik werden falsche Freunde von echten Freunden so unterschieden (man beachte die Parallelen zum Lutheraner Matthias Claudius!):

Falsche Freunde (Feinde, die sich wie Freunde geben)

  1. der, der nur nimmt
    1. er nimmt nur
    2. er fordert für wenig viel
    3. er tut nur etwas, wenn anders für ihn daraus ein Nachteil erwächst
    4. er dient seinem Freund nur aus Eigennutz
  2. der, der in Worten der Größte ist
    1. er redet über seine vergangenen Großtaten
    2. er redet über zukünftige Großtaten
    3. er sympathisiert mit Nutzlosem
    4. gegenwärtigen Aufgaben geht er aus dem Weg
  3. der Schmeichler
    1. er lobt Schlechtes
    2. er lobt Gutes
    3. ins Gesicht spricht er schön
    4. hinter dem Rücken schimpft er
  4. der Gefährte auf dem Weg abwärts
    1. er ist Saufkumpan
    2. er ist Kumpan beim Herumstreunen
    3. er ist Kumpan bei Festveranstaltungen
    4. er ist Kumpan beim Würfelspiel


Abb.: Freundschaft als Saufkumpanei: so stellte sich der preußische Historienschinkenmaler Anton von Werner (1843 - 1915) Freundschaft vor: Farbskizze zu Mosaik Amicitia, 1872

Echte Freunde

  1. der Hilfsbereite
    1. er hütet den Nachlässigen
    2. er hütet des Nachlässigen Hab und Gut
    3. dem Freund in Gefahr bietet er Zuflucht
    4. wenn etwas zu tun oder zu geben ist, tut oder gibt er doppelt so viel wie er gebeten wurde
  2. der Freund in Freud und Leid
    1. er erzählt dem Freund seine Geheimnisse
    2. er behält die Geheimnisse des Freundes für sich
    3. im Unglück verlässt er seinen Freund nicht
    4. er gibt sein Leben für seinen Freund
  3. der, der einem sagt, was nützlich ist
    1. von Bösem hält er ab
    2. zu Gutem hält er an
    3. er sagt einem, was man noch nicht weiß
    4. er erklärt einem den Weg in einen Himmel
  4. der Mitleidige
    1. er freut sich nicht über Missgeschick
    2. er freut sich über Wohlergehen
    3. wenn einer über den Freund Böses sagt, wehrt er ab
    4. wenn einer über den Freund Gutes spricht, lobt er

[Sigâlovâdasutta : Dîghanikâya. -- Nalanda ed. --  III, 185 - 187]

Freundschaften und Bekanntschaften haben u.a. die Zwecke:

Freundschaft und Bekanntschaft untersucht man mit soziometrischen Methoden. Das Folgende ist ein Beispiel für eine dieser Methoden, das Soziogramm:


Abb.: Soziogramm "bester Freunde/Freundinnen"

Imogen Seger (geb. 1915), deren sehr lesenswertem Buch diese Abbildung entnommen ist, gibt dazu folgende Erklärung:

" Jeder Kreis stellt eine Person dar, der Buchstabe und die erste Zahl sind der Code für diese Person, die zweite Zahl bedeutet ihre Stellung auf einer Skala des sozialen und wirtschaftlichen Status. Jeder Pfeil zeigt an, dass eine Person die andere als »besten Freund« oder »beste Freundin« genannt hat. Die Befragten konnten so viele »beste« Freunde angeben, wie sie wollten (vgl. dazu auch die Tabelle). M 1 ist ein Arzt mit sehr hohem Sozialprestige und hohem Einkommen; M 19 ist ein Friseur mit relativ niedrigem Status. Diese beiden Männer waren in ihrem etwa 1000 Einwohner zählenden Dorf in Vermont, USA, die einzigen, die sich gegenseitig als »besten Freund« bezeichneten, obwohl andere Einwohner sie ebenfalls mehrfach nannten. Die Untersuchung ist eine Anwendung der soziometrischen Methode auf einen ganzen Ort (leichter und häufiger ist die Anwendung auf geschlossene Gruppen wie Schulklassen, Angestellte in einem Büro etc.) und basiert nicht auf Beobachtung des Verhaltens, sondern auf Befragungen; erfahrungsgemäß neigen Befragte dazu, als »besten Freund« jemanden mit Prestige zu nennen. Das Diagramm zeigt, wie sich um das Freundespaar Arzt-Friseur ein Kranz von mehr oder weniger bedeutenden »Satelliten« gebildet hat, so dass Arzt und Friseur den Mittelpunkt eines sozialen Kreises in dem Dorf bilden. Mehrere solche Kreise bilden die informelle soziale Struktur des Ortes, die sich teilweise mit ihrer wirtschaftlichen und formalen Struktur überschneidet (nach Lundberg und Lawsing)."

Freundeskreise
Häufigkeit, mit der die sechs Hauptpersonen des Soziogramms als »beste Freunde« genannt wurden
Person direkte Nennung indirekte Nennung insgesamt
M 1 (Arzt) 8 26 34
M 19 (Friseur) 6 26 32
B 12 6 15 21
W 16 4 8 12
S 10 3 8 11
W 10 2 4 6

"Diese Tabelle stellt in Zahlen dar, was die Zeichnung veranschaulicht: Der Arzt (M 1), der selber nur den Friseur (M 19) nennt, wird von 8 Personen direkt als »bester Freund« genannt. Diese 8 Leute wiederum werden von insgesamt 26 Personen als »beste Freunde« bezeichnet und heben dadurch indirekt den Status des Arztes. Er und der Friseur bilden so das Zentrum eines Freundschaftskreises."

[Seger, Imogen <1915 - >: Knaurs Buch der modernen Soziologie. -- München [u.a.] : Droemer-Knaur, ©1970. -- (Exakte Geheimnisse). -- S. 228 - 229.]


5. Zum Beispiel: Die gente bien Boliviens


"Familienbetrieb Bolivien
Die Kreise der gente bien waren und sind verwoben und verwickelt. Der oberste Gewerkschaftsführer (auch er gehört inzwischen zur Elite) ist Schwiegervater der Tochter des Besitzers der wichtigsten Bank des Landes. Dieser seinerseits war Schwiegersohn einer Ex-Präsidentin, die von ihrem eigenen Cousin weggeputscht wurde und bei den Wahlen mit eben jenem Gewerkschaftsführer gemeinsam kandidiert hatte, der im übrigen einen Halbbruder hat, der einer der wichtigsten Minister während der Banzer-Diktatur war, und so weiter und so fort. Ein nicht zu durchschauendes Knäuel von Verwandtschaften und Verschwägerungen. Manchmal hat man den Eindruck, Bolivien sei auch heute noch nichts anderes als ein schlecht geführter Familienbetrieb." [Pampuch; Echalar, S. 121 s. unten]


Abb.: Karte von Bolivien (©MS-Encarta)


Abb.: Sucre, Bolivien (©Corbis)

Ein gutes Beispiel für die Beziehungsnetze aus Abstammung, Verwandtschaft, Freundschaft und Bekanntschaft gibt die bolivianische Oberschicht, die gente bien [wörtl. = die guten Leute]:

"Kreolen sind die in Lateinamerika geborenen Nachkommen der Spanier. Auch wenn gelegentlich adelige Spanier in die neue Welt gelangten, die meisten Einwanderer stammten aus bescheidenen Verhältnissen: Arme, Enterbte, Ausgestoßene. In Amerika aber wurden sie und ihre Nachkommen schnell zur Elite. In der Kolonialgesellschaft gab es kaum arme Kreolen so wie es kaum reiche Indianer gab.

Doch die Spanier vermieden (im Gegensatz zu den puritanischen Einwanderern im Norden Amerikas) den Kontakt zu den Einheimischen keineswegs. Es gab keine Apartheid -- im Gegenteil. Mit ihrem kosmopolitischen Hintergrund (Aragon beherrschte im 15. Jahrhundert das Mittelmeer) zögerten die Konquistadoren nicht, sich mit den Einheimischen zu vermischen und Kinder zu zeugen. Schon [Francisco] Pizarro [1478 - 1541, eroberte 1532/33 das Inkareich] heiratete eine Inka-Prinzessin, mit der er eine Reihe von Kindern hatte. Jede der großen alteingesessenen Familien in Bolivien hatte einige indianische Vorfahren, auch wenn dies kaum noch sichtbar ist. Dennoch entwickelten die Kreolen sehr bald ein eigenes Klassenbewusstsein, das sich ausschließlich an spanischen Werten orientierte, während die indianische Kultur systematisch herabgewürdigt wurde. Wie hätte sonst auch die Ausbeutung der Indianer legitimiert werden können? Die Mestizen, die Cholos, wurden -- sofern sie nicht völlig in den besseren Familien aufgingen -- gleichermaßen verachtet.

Dieses Denken und dieser Dünkel veränderten sich auch in der Republik nicht. Am Ende des 19. Jahrhunderts, den letzten goldenen Jahren Sucres [Hauptstadt Boliviens], entfernte sich dessen Oberschicht nicht selten auch geographisch von ihrem Land. Die reichen und mächtigen Familien Sucres leisteten sich lange Reisen nach Europa, einige von ihnen wurden zu herausragenden Figuren der Belle Epoque. Erzogen in Europa und stets den Blick auf Europa gerichtet, redeten sich diese Leute ein, Europäer zu sein, und begannen, Bolivien als eine europäische Dependance zu betrachten. Schließlich waren sie ebenso raffiniert und kultiviert wie der Herzog von Windsor. Die Indianer hatten in diesem Weltbild keinen Platz. Sie waren für die Oberschicht ein faules, schlecht erzogenes und lasterhaftes Volk, dessen äußerste Armut selbstverschuldet war. Nur wenige Cholos [Mestizen] schafften den Weg in die Oberschicht.

Bis 1952 hielt diese entfremdete Elite die Macht des Landes in den Händen. Ausgestattet mit einem exquisiten Geschmack und dem dazu nötigen Geld kaufte und sammelte sie in Europa Möbel, Geschirr, Gemälde, Mode, Kunst, immer vom Feinsten.

Mit der Agrarreform [1953] brach dieser Lebensstil zusammen. Die alten Herren mussten von heute auf morgen umsatteln und sich einer neuen Situation stellen. Die traditionellen Einkünfte flossen nicht mehr, die Großgrundbesitzer mussten den Schmuck und die Möbel verkaufen und anfangen zu arbeiten. 

Natürlich ging es nicht allen so schlecht, viele waren weitsichtig gewesen und hatten sich neben der Landwirtschaft noch andere Einnahmequellen gesichert. Sie behielten auch nach der Agrarreform ihren Status und ihre ökonomische Macht. Andere fanden nach einiger Zeit in neuen Geschäften ihr Auskommen. Doch als Klasse waren die Großgrundbesitzer am Ende. Die Zeit vor 1952 wurde ihnen zur verklärten goldenen Zeit, und jeden Abend verfluchten sie Victor Paz [geb. 1907, Gründer des MNR, Staatspräsident von Bolivien 1952 - 1956 und 1985 - 1990], die MNR [Movimento Nacionalista Revolucionario] und die Revolution [vom 9.4.1992]. Heute verfluchen sie nur noch die Revolution.

Doch auch wenn die Latifundisten [Großgrundbesitzer] von der Bühne abtraten, die Oberschicht insgesamt überlebte die Revolution. Die Zusammensetzung veränderte sich ein bisschen, einige neue Mitglieder kamen hinzu, aber die gesellschaftlichen Unterschiede zur Masse des Volkes blieben. „Gente bien", „gente de buena familia", die „besseren Kreise" und die „guten Familien" gibt es heute genauso wie früher. Woran erkennt man sie? Mario Vargas Llosa [geb. 1936], der peruanische Romancier, der seine Kindheit in Bolivien verbracht hat, beschreibt sie als „Leute, die sich gut anziehen, gut reden und gut riechen". Das entspricht insofern der Wahrheit, als bis heute in Bolivien weder Kunst noch Literatur, weder warmes Wasser noch Seife für die große Masse des Volkes zu einer Alltäglichkeit geworden sind.

Die „gente bien" sind im Verhältnis zur Gesamteinwohnerschaft des Landes eine sehr kleine Gruppe. Auch wenn sie nicht mehr die alleinigen Besitzer des Landes sind, so kontrollieren sie es doch noch immer. Sie bewegen sich in einer Welt der einflussreichen Zirkel, der alten Freundschaften, der Kameraderie aus der gemeinsamen Schulzeit an einer der wenigen guten Schulen des Landes. Denn weil La Paz inzwischen der Regierungssitz ist, wo Politik und Wirtschaft gemacht werden, sind dort natürlich die meisten „gente bien" zu finden. In den guten Vierteln am Boden des Kessels. Eng beieinander, wo jeder jeden (samt seiner Familiengeschichte) kennt. Denn natürlich spielen die Familienbande eine äußerst wichtige Rolle."

[Pampuch, Thomas <1948 - > ; Echalar, Agustín A. <1960 - >: Bolivien. -- 3., aktualisierte Aufl. -- München : Beck, 1999. -- (Beck'sche Reihe ; 813). -- ISBN 3406441130. -- S. 118 - 120. -- {Wenn Sie HIER klicken, können Sie dieses Buch  bei amazon.de bestellen}]

Wie weit diese Oberschicht sich  mit den neuen Machtverhältnissen unter dem indigenen Präsidenten Evo Morales (geb. 1959, seit Januar 2006 Präsident)  abfindet, lässt sich von der Ferne schlecht beurteilen.


Zu Kapitel 5, Teil II: Bünde